Aufwachen für das Kommende

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In den zwei Artikeln über „Den Anderen nach-denken“ (=> hier und => hier) versuchte ich, auf einige grundlegende Aspekte und Wirkungen menschlicher Begegnungen aufmerksam zu machen, insbesondere im Hinblick auf die Frage, wohin die menschliche Gesellschaft sich entwickeln kann. Von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus komme ich hier nochmals auf die Bedeutung der menschlichen Begegnung im Zusammenhang der Gesamtentwicklung der Menschheit in unserer Zeit zurück.

Bewusstseinszustände

„Aufwachen!“ – dieser Anruf zielt darauf, den Angerufenen zu einer Veränderung seines Bewusstseinszustandes zu veranlassen. Bewusstseinszustände kennen wir beim Menschen drei grundsätzlich verschiedene – abgesehen von den unzähligen Varianten davon, die im täglichen Leben vorkommen. Diese drei Zustände sind das Wachbewusstsein, der Traum und der traumlose Schlaf. Wir sind heutzutage gewöhnt, diese drei Zustände mehr wie von außen, im Hinblick auf den menschlichen Leib zu betrachten. Dann scheint der eigentliche individuelle Mensch im Schlaf wie verschwunden: es ist eben nur noch der Leib da, ohne sichtbaren Ausdruck der Seele. Hier sollen diese drei Zustände von der Innenperspektive aus betrachtet werden.

Das Wachbewusstsein ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihm sowohl Sinneseindrücke als auch das Selbst-Bewusstsein des Menschen vorhanden ist. Der Mensch erlebt also eine Welt und weiß außerdem davon, dass er selber dieser Welt gegenübersteht, sie erlebt und durch sein Tun beeinflusst. Was er nicht wahrnehmen kann, ist er selber als der Erlebende, denn er ist selber die Formseite dieses Bewusstseinszustandes, also die Art und Weise, in der die Inhalte erlebt werden. Diese selber ist zunächst kein eigenständiger aktueller Inhalt, kann es auch nicht sein, sondern immer nur im Rückblick auf schon Vergangenes. Im Wachzustand Erlebtes können wir – mehr oder weniger, im Grundsatz aber sehr wohl – im Nachhinein erinnern. Und wir haben durch unser Selbstbewußtsein Möglichkeiten, selber den Ablauf der Ereignisse zu beeinflussen.

Daneben kennen wir den Traumzustand. Was wir in ihm erleben, können wir in der Regel nur insoweit erinnern, als sich dieses Erleben im Aufwachen in den Wachzustand noch fortsetzt. Wir erleben im Traum wohl auch Inhalte, die oftmals sehr ähnlich sind den Inhalten des Wachzustandes, soviel können wir wissen. Aber die Art des Erlebens ist eine andere. Wir sind im Traum nur eingeschränkt oder gar nicht in der Lage, unsere Eigenständigkeit gegenüber dem Verlauf des Erlebten zu behaupten, während des Traumes inne zu halten und uns auf uns selber zu besinnen. Wir sind gleichsam hineingezogen in das Geschehen und mit ihm verbunden, haben kaum oder gar keine Möglichkeiten, den Ablauf der Ereignisse mit zu bestimmen. Dennoch verändert das Erleben uns selber, ähnlich wie im Wachbewusstsein. Traumbewusstsein ist eben auch Bewusstsein.

Schließlich kennen wir auch noch den traumlosen Schlaf. Mancher mag es seltsam finden, diesen Zustand als einen Bewusstseinszustand zu bezeichnen. Aber es ist doch so: das Bewusstsein selber findet dort statt, wo die erlebten Inhalte eben nicht sind: Sinnesinhalte, Vorstellungsinhalte, Seelenregungen, Träume, Erinnerungen usw. Es ist sich selber – wie oben schon gesagt – nicht als Inhalt präsent. Es ist eben die Form, in der Inhalte auftreten können. Und wenn keine Inhalte auftreten, für die wir eine Wahrnehmungsmöglichkeit haben, dann bedeutet dies ja noch nicht, dass das Bewusstsein selber nicht vorhanden ist. Es ist nur inhaltsleer. Und weil wir bisher keine Möglichkeit haben, das Selbstbewusstsein aufrecht zu erhalten, wenn keine gegebenen Inhalte da sind, vergisst das Bewusstsein dann auch sich selber. Das nennen wir „Schlaf“.

Nacheinander – Ineinander

Gewöhnlich betrachten wir diese Bewusstseinszustände also solche, die zeitlich nacheinander stattfinden, nicht gleichzeitig. Wenn wir traumlos schlafen, haben wir keine Weltinhalte und wissen auch von uns selber nichts. Im Traum haben wir Weltinhalte, die sich sehr von dejenigen im Wachzustand unterscheiden können, im Grundcharakter ihnen aber ähnlich sind: das Bewusstsein steht den erlebten Inhalten gegenüber und folgt ihnen. Im Wachzustand kommt der bewusste, verändernde Zugriff des seiner selbst bewussten Menschen auf die erlebte Welt hinzu.

Aus dem Schlaf finden wir durch den Traum in die Welt des Wachens, und aus dem Wachen sinken wir durch das Träumen in den Schlaf. Das jedenfalls sehen wir als den „Regelfall“ an, aus unserem Erleben. Wenn wir wach sind oder träumen, schlafen wir nicht traumlos, wenn wir träumen, sind wir nicht wach und schlafen auch nicht traumlos, und wenn wir im Tiefschlaf sind, träumen wir nicht und wachen auch nicht. Das ist zunächst unser Erleben im Durchgang durch das tägliche Leben.

Aber man kann die Sache auch anders betrachten, als eine Art Ineinander dieser drei Zustände, jeweils bezogen auf bestimmte Inhalte. Wenn wir wach der Welt begegnen und unser Bewusstsein mit ihren Inhalten erfüllen, vergessen wir uns selbst (siehe oben), schlafen also für uns selber. Hingabe an die Wahrnehmung der Welt lässt also das Bewusstsein von uns selber „in den Schlaf“ sinken. Umgekehrt kann es bei hoher Konzentration auf ein eigenes Tun geschehen, dass wir alles, was nicht mit diesem Tun zusammenhängt, vergessen. In einem Sonderfall, der Meditation, kann es sogar geschehen, dass wir uns so auf unsere eigene innere Tätigkeit und die dabei auftauchenden Seeleninhalte konzentrieren, dass die äußere Sinneswelt uns augenblicksweise gänzlich entschwindet. Dann wachen wir für unsere Seele und schlafen für die Außen-Welt. Und was sich an alle Seeleninhalte – innere wie äußere – als ein Gefühl knüpft, hat Traumcharakter. Es ist nur begrenzt dem vollbewussten Einfluss zugänglich, ist geeignet, uns mit zu reißen wie das Geschehen in einem Traum, und oftmals auch, unseren Willen aufzurufen und zu lenken.

Was unser eigenes Tun, den Prozess der eigenen Willensentfaltung betrifft, wurde ja oben schon angedeutet, dass wir davon in der Regel kaum eine Wahrnehmung haben. Wir nehmen nur wahr: da ist innerseelisch ein Vorsatz, und anschließend erleben wir, wie dieser Vorsatz im Tun realisiert wird oder nicht. Wie wir es fertigbringen, dass aus dem erlebten Vorsatz (der sich aus einer Vorstellung oder einem Gefühl ergeben kann) die ausgeführte Tat wird, das erleben wir nicht. Darüber gibt es nur Theorien, Denkmodelle und dergleichen. Wir wissen es, wenn wir wahrhaftig bleiben wollen, aus dem eigenen Erleben nicht. Das bedeutet, dass wir für das eigentliche Wollen schlafen.

In der Zeit

Und eine weitere Beobachtung können wir machen bezüglich der Bewusstseinszustände in unserem Leben in der Zeit.

Wofür können wir wachen? Das Wachbewusstsein ist zunächst ein Duales, in dem das eigentliche Erleben und der Inhalt gegenüberstehen. Darum können wir wachen für alles, was schon geworden ist, was einen Gegenstand für uns abgeben kann, dem wir uns gegenüberstellen können. Das sind dann also Sinneseindrücke (die sich immer auf etwas beziehen, was schon da ist), Vorstellungsinhalte, Gedanken, auch Erinnerungen; bei etwas Bemühung können wir uns auch unseren eigenen Gefühlen so gegenüberstellen, brauchen dann aber schon denkende Besinnung dazu. Generell kann man also sagen, dass alles, was in unserem Denken als Inhalt auftaucht, Inhalt des Wachbewußtseins ist. Alles dies kommt uns aus der Vergangenheit zu, ist Gewordenes. Mit dem Denken fassen wir also das Vergangene.

Wofür schlafen wir? Für alles, was noch in der Zukunft liegt, von dem wir also noch keinen Inhalt fassen können. Es ist dies der Bereich, in den hinein auch all unser Wollen gerichtet ist, und in den hinein wir durch unseren Willen wirken. Wir selber als unwahrgenommener Teil unserer alltäglichen Bewusstseinsverfassung sind also etwas Zukünftiges, was erst noch werden soll. Wir kennen uns eben selber noch nicht, können uns selber noch nicht gegenübertreten. Wer sich selber so betrachtet, wird kaum in die Versuchung kommen, sich selbst als feststehendes Mass aller Dinge anzusehen. Denn er selber und seine Taten sind Glied eines noch unbekannten Ganzen – der Zukunft, die eben noch nicht in die Dualität des Wachens getreten ist.

Und dazwischen träumen wir. In jedem Augenblick der Gegenwart, jetzt, jetzt, jetzt und jetzt wieder. Die Gegenwart ist also nur die Grenze, halb wach und halb Schlaf, zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Niemals klar fassbar und doch auch nicht im Dunkel des Schlafes versinkend. Und wenn wir etwas davon wissen, ist es schon Vergangenheit. Was die nächste Sekunde bringt, können wir nur vermuten, ahnen, wollen, bis wir sie erleben. Wir schwingen unaufhörlich zwischen dem der Vergangenheit Gegenüberstehen und der Einheit des Zukünftigen.

Menschenbegegnung

All diese Zustände spielen gleichsam oszillierend, ineinander übergehend, eine Rolle bei jeder Begegnung von Menschen. Wie in den beiden in der Einleitung angegebenen Artikeln gezeigt, können wir mit unserem Wachbewusstsein, also vor allem den Sinneswahrnehmungen und den Gedanken, entweder unserem eigenen Wollen folgen, oder uns dem eines anderen hingeben. Beides gleichzeitig geht zunächst nicht. Versinken wir ganz im Denken des Anderen, so schlafen wir für uns selber. Halten wir unser eigenes Denken dem anderen entgegen, so erleben wir unsere eigenen Gedanken und schlafen für die des Anderen.

Wollen wir einen Anderen also wirklich verstehen, so bleibt uns nur der Weg, uns seinem Gang des Denkens hin zu geben. Dann versinkt aber unser eigenes Selbstbewusstsein, vergisst sich selbst. Das ist der Grund, warum es so schwer ist, längeren Gedankengängen eines Anderen aufmerksam zu folgen, ohne – einzuschlafen. Es sei denn, er baut immer wieder Pausen für uns ein, in denen wir aufwachen können. Oder – und das wäre ja dann das anzustrebende Ideal – wir lernen nach und nach, den Anderen so in uns zu erleben, wie er sich selber erlebt. Dann erst ist die volle Hingabe erreicht, und wir können ihn ganz verstehen. Dafür müssen wir in diesem Verstehens-Augenblick aber auch die eigene irdische Persönlichkeit ganz vergessen.

Gegenseitiges Verstehen erfordert dann, dass beide Seiten sowohl dem Anderen hingegeben zuhören können, als auch beim Sprechen sich immer bemühen, den Anderen so in die eigene Darstellung aufzunehmen, dass er darin sich selber finden kann. Dann bleibt er auch wach. Dann hätten wir die wahren Begegnung des Menschen mit sich selbst im Anderen.

Menschheitsentwicklung

Der Mensch, wie er heute geworden ist, erlebt sich zunächst als Einzelner, Vereinzelter. Denn seine Welt kann niemand genau wie er erleben, und seinen Werdegang hat niemand genau wie er durchlaufen. Darin sind sich aber alle Menschen gleich.

Wir können noch davon wissen, dass dies nicht zu allen Zeiten so war. Wie auch bei manchen Naturvölkern noch heute üblich, erlebten die Menschen sich in früheren Zeiten viel mehr als Bestandteil eines größeren Ganzen, das sie als über dem Einzelnen stehend ansahen. Es gibt Berichte von Angehörigen solcher Völker, die es wie eine wirkliche Selbstvernichtung erlebten, wenn sie aus dem Stamm ausgestoßen wurden; der Tod war weniger schlimm, denn dann blieb man dem Ganzen, dem als eigentliches Selbst erlebten Stamm weiter verbunden. All das ist aber nicht mehr zeitgemäß; nur Rest aus uralten Zeiten rumoren noch in nationalistischen, völkischen und anderen Ideologien. Dass sie der heutigen Zeit nicht mehr entsprechen, läßt sich unschwer an der zerstörerischen Wirkung erkennen, die sie in der heutigen Gesellschaft ausüben, vor allem dadurch, dass sie nicht das klare, wache Denken, sondern direkt untergründig gärende Emotionen ansprechen. Der wirklich in der heutigen Zeit angekommene Mensch ist das vereinzelte, selber denkende und dadurch frei gewordene Individuum, das sich ganz selbstverständlich niemals einer übergeordneten Gesamtheit unterordnen, allenfalls selbstbestimmt einordnen will.

In dieser Vereinzelung liegt aber ein Riesenproblem. Jedes Einzelnen Welt unterscheidet sich von derjenigen jedes Anderen. Gegensätze entstehen so immer schneller und leichter, und mit dem Verfall der alten Gruppenstrukturen, mit dem Verfall von festen Moralregeln reduziert sich die Regulierung des Miteinanders auf ein durch äußere Gewalt gestütztes Einander-möglichst-wenig-Schaden.

Ausblick

Schauen wir noch einmal auf die Zeit: früher lebten die Menschen in größeren Zusammenhängen, sahen darin ihre eigene Menschlichkeit, und lebten daher auch aus von diesen größeren Zusammenhängen geprägten inneren Haltungen, Ganz selbstverständlich nahm jeder Einzelne Rücksicht auf das Wohl des für ihn sichtbaren Ganzen. Wer sich daraus löste, wurde verstoßen.

Heute sind wir gleichsam alle solche Verstoßene. Jeder kennt zunächst wirklich nur sein eigenes Erleben, und kann nur aus diesem entscheiden, was er tun und lassen will. Insofern ist er frei. Jeder Versuch, diesen Riesenschritt in die Freiheit des Einzelnen zurückzudrehen, die Menschen wieder zu Ent-individualisieren und zu reinen Gruppenwesen zu machen kann heute nur als der Versuch angesehen werden, den Menschen zu versklaven. Von sich aus ist er nicht mehr bereit, bedingungslos sich einem vorgegebenen sogenannten „Höheren“ zu unterwerfen. Auf die Spitze getrieben, scheint daher eine Art Krieg aller gegen alle unausweichlich.

Dennoch: Nein! Denn wir können – und wollen aus innerstem Bedürfnis – den Anderen kennen lernen. Denn er ist unser Spiegel. Wir brauchen ihn, um zu uns selber zu kommen. Was uns davon abhält, diesem Bedürfnis zu folgen, sind die Überbleibsel uralter Vergangenheit und die Furcht vor unserer Unfähigkeit, uns dem Anderen hinzugeben und darin doch wir selber zu bleiben. Fähigkeiten lassen sich aber nicht einfach so erwerben, sie wollen geübt werden. Und je mehr Menschen es üben, den Anderen durch hingebendes Zuhören verstehen zu wollen – auch und gerade dann, wenn uns nicht Sympathie zu ihm hin zieht – desto mehr kann einer im anderen aufleben, aufwachen, desto mehr können wir lernen, eben nicht einzuschlafen, wenn wir uns dem Anderen hingeben. Je mehr wir den Anderen wirklich verstehen, desto mehr können wir uns ihm auch verständlich machen, indem wir seine Denk- und Erlebenswege in unseren Sprechen und Tun berücksichtigen.

Dann kann nach und nach, in Äonen, so wie auch die heutige Menschheit entstanden ist, eine neue gemeinsame „Identität“ der Menschen entstehen, eine, die nicht den Einzelnen ausschließen muss, wenn er den vorgegebenen Regeln nicht folgt, sondern die dann die Kraft entfalten kann, scheinbar divergierende individuelle Wege aus freiem Wollen zu einander zu lenken. Die dafür nötige, frei wollende Hingabe an den Anderen ist aber nichts anderes als die Liebe.

Ein solches, aus Liebe geborenes „Gemeinschafts-Ich“ ist gleichermaßen unviersell und individuell, denn es schließt den Vereinzelten nicht aus, sondern braucht ihn und seinen freien Willen als seine eigene Vorbedingung. Es knüpft an bei dem, was schon heute alle Menschen in gewissem Sinne gleich macht: das freie Erleben der Welt als mehr oder weniger (noch) unbekanntes Geist-Wesen.

In der Vereinzelung und den menschheitlichen Problemen, die dadurch entstehen und in unserer Zeit kulminieren, können wir daher einen Aufruf sehen, aufzuwachen für das Kommende, das sich ankündigen und realisieren kann in jeder wirklich bewusst durchlebten Menschenbegegnung, aufzuwachen also im „Hineinschlafen“ in den Anderen, und damit für den kommenden, zukünftigen MENSCHEN.

Auf dass der MENSCH sich selber mache, und nicht gemacht werde durch irgendwen oder irgendwas!

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