Zur Begriffsbildung in der Geisteswissenschaft

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Für alle Darstellungen aus der Geisteswissenschaft ist zu bedenken, dass die Art der Begriffsbildung eine andere ist als gewohnt. Während wir im Alltag, vor allem bezogen auf äußere Gegenstände vor allem feststehende, definierende Begriffe, manchmal sogar nur Namen im Sinne „angehefteter Etiketten“ verwenden – so, wie es eben der damit erfassten Werkwelt im Raum entspricht, wo alle Gegenstände nebeneinander, getrennt voneinander erfasst werden müssen – gelten im Geiste ganz andere Gesetze.

Allein schon, wenn wir bestimmte Verhältnisse durch Anwendung von Naturgesetzen beschreiben wollen, tritt dieses „Andere“ ansatzweise auf: es gelten fast in allen Fällen mehrere, unterschiedliche Naturgesetze gleichzeitig, im Zusammenwirken und einander beeinflussend. Im Geistigen durchdringt sich also alles, hat keine definierbaren Grenzen gegenüber allem anderen und wirkt ineinander, gleichzeitig, am gleichen Ort. Wenn ein Einfluss sich ändert, ändern sich alle anderen auch entsprechend. Das Eine kann in das Andere übergehen und umgekehrt.

Um dieses Ineinanderwirken zu beschreiben und zu verstehen, benötigt man daher bewegliche Begriffe, die sich dem Objekt anpassen und wandeln können. Ich nenne diese Art der Begriffsbildung hier einmal „metamorphosierend“, im Sinne der Metamorphose1 als Entwicklungsübergang des Einen in das Andere. Nur solche Begriffe können auch Verhältnisse begreifen, die erst noch entstehen sollen, noch unbekannt sind, also zukünftig. Sie beschreiben dann gleichsam ein Ziel als Entwicklungsprozess, und bilden sich fort, indem die Zeit vorschreitet und die Ausgangspunkte des Begreifens verändert.

Ein solcher Vorgang des Begreifens ist weniger eine Frage der Aufnahme und Verarbeitung von Inhalten als vielmehr ein persönlicher Entwicklungsvorgang des Begreifenden: er muss seine Tätigkeit den Vorgängen anpassen, die im Bereich der begriffenen Inhalte vonstatten gehen; es handelt sich also vorrangig um ein Erüben von Fähigkeiten. Insofern ist auch das Lesen von Texten oder das Anhören von Vorträgen aus der Geisteswissenschaft etwas Anderes als Üblich: im Mitgehen mit dem Gedankengang erübt der Leser oder Zuhörer gleichsam im Ansatz den Weg zur Erkenntnis der Inhalte2.

Damit ist das Nachverfolgen geisteswissenschaftlicher Darstellungen bereits ein erster Schritt des Einübens einer neuen Erkenntnismethodik, deren Erlernen (als geisteswissenschaftlicher „Erkenntnisweg“) weitreichende Anforderungen an den Menschen stellt, damit aber ebenso weitreichende Wirkungen zeitigen kann. Es liegt auf der Hand, dass in einer kurzen hinweisenden Bemerkung wie dieser nur ein erster Hinweis gegeben ist. In allen wirklich geisteswissenschaftlichen Darstellungen werden notwendigerweise immer neue Aspekte dieses Geschehens zur Sprache kommen. Dieser Lernvorgang kann insofern niemals als wirklich abgeschlossen angesehen werden; dies weniger als Drohung, mehr als eine Art Verheißung erleben zu können, gehört auch zu den Dingen, die der Mensch im Umgang damit sich aneignen kann.

Man sollte das bei allen Darstellungen dieser Art berücksichtigen.

© Stefan Carl em Huisken 2023

1vgl. zum Beispiel den Wikipedia-Artikel zur Metamorphose in der Mythologie: https://de.wikipedia.org/wiki/Metamorphose_(Mythologie)

2Dass gerade und nur diese beiden Situationen – die persönliche Begegnung in einem Vortrag oder das Lesen eines Textes – die Freiheit wahren können, habe ich an anderer Stelle bereits ausgeführt: vgl. Stefan Carl em Huisken: Menschenbegegnung, geschriebenes Wort, Ton- und Bildaufzeichnungen. – In: DIE LAHNUNG – Mitteilungen für individuelle Entwicklung und Lebenskunde, Nr. 10, S. 26ff oder im Internet Kurzlink https://ogy.de/xdu1.


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