Macht und Freiheit – sind wir eigentlich „sozial“?
Warum wir einander brauchen
Jeder Mensch – das kann man wohl kaum bestreiten – kann immer nur einen Ausschnitt der ganzen Wirklichkeit erkennen. Dabei spielt es auch keine Rolle, ob jemand meint, er sei allwissend und sowieso viel besser als alle anderen. Denn dann erkennt er eben nur den Ausschnitt aus der Wirklichkeit, der auf dieser Grundlage erkennbar ist. Der berühmte Balken im eigenen Auge gehört dann nicht dazu.
Wer sich selber weiter entwickeln will, wird deswegen versuchen, die (inneren und äußeren) Wirklichkeitsausschnitte, die andere erkennen, für sich selber ebenfalls verfügbar zu machen. Wer sich nicht entwickeln will, weil er vielleicht meint, er habe das nicht nötig, interessiert sich dann auch nicht für die Gesichtspunkte Anderer. Der einzige Weg, über den vom Anderen erlebten Wirklichkeitsausschnitt etwas Fundiertes in Erfahrung zu bringen, ist aber das Gespräch. Im besten Falle führt dann ein Gespräch dazu, dass man einander versteht, d.h. also weitestgehend in die Lage kommt, vom Gesichtspunkt des Anderen aus die Welt zu betrachten, seinen Wirklichkeitsausschnitt gewissermaßen nachzuvollziehen.
Für die eigene Weiterentwicklung braucht also ein jeder das Gespräch mit anderen. Das ist eine Tatsache, um die wohl so schnell niemand herum kommt.
Gespräche führen ist schwer
Ein Gespräch zu führen ist eine schwierige Sache. Es erfordert nämlich auf beiden Seiten die Bereitschaft, erstens auf den anderen zu hören, seine Wege durch das Gesprochene nachzugehen, und zweitens offen und ehrlich das eigene Erlebte darzustellen. Beides hat so seine Tücken.
Nehmen wir als erstes das eigene offene Sprechen. Man kann sich leicht dabei ertappen, dass man Dinge auslässt, verzerrt darstellt oder sogar erfindet, einfach weil die Wahrheit entweder vor dem eigenen oder – und das kommt sehr oft vor – vor dem angenommenen Urteil des anderen ungünstig zu beurteilen ist. Und wer ist schon gerne Opfer eines ungünstigen Urteiles? Man muss sich nur klar werden, was durch jede Unwahrheit entsteht: neue Unwahrheit nämlich, im Anderen, der das Gesprochene für wahr nimmt. Und schon sieht er mich als jemanden an, der ich gar nicht bin. Dabei ist es ganz unwichtig, ob er mich als besser oder schlechter ansieht, unwahr bleibt es allemal.
Was aber kann mich veranlassen, wegen eines eigenen oder fremden (angenommenen) Urteils die Unwahrheit zu sprechen? Doch eigentlich nur – Unfreiheit. Ich fühle mich durch das entsprechende Urteil ja veranlasst, mir selber eine Entwicklungschance zu nehmen, denn ich störe das Gespräch, mache es vielleicht bodenlos. Ich wirke also an der eigenen Unfreiheit mit – und an der des Anderen.
Und das zweite, das Zuhören: das ist für viele ja noch schwieriger, denn es erfordert, für eine Zeitlang die eigenen Gedanken und Urteile hintan zu stellen, um erst einmal den anderen zur Geltung kommen zu lassen. Da macht sich schnell die Furcht bemerkbar, sich selbst zu verlieren, und schon ist man innerlich, ohne es dem anderen zu sagen, ständig dabei, seine eigenen Sichtweisen denen des anderen entgegen zu stellen, sprich: nicht mehr zu zu hören, sondern innerlich wieder selber zu reden.
Auch das ist Unfreiheit: die Angst davor, sich selber zu verlieren. In dieser Hinsicht sind wir alle wohl mit wenig Selbstvertrauen ausgestattet.
Darum ist es schwer, wirkliche Gespräche zu führen.
Gespräche führen ist leicht
Und gleichzeitig ist es ganz leicht. Denn, wenn wir uns klar machen, dass ja jeder Gegensatz, wenn er erst klar erkannt ist, auch überwunden werden kann, dass also der Freie es nicht nötig hat, den Freien zu etwas zwingen zu wollen, sondern gerade von ihm profitiert, indem er etwas Neues lernt, sich selber entwickelt und so wissender, größer, bedeutender wird, wenn wir also einfach ehrlich miteinander umgehen, bei allen Gegensätzen, die wir miteinander haben, dann sind wir schon auf dem Weg, eine Welt des friedlichen Miteinanders zu schaffen.
Denn was geschieht, wenn einer mit dem anderen nicht sprechen will, weil er dessen Gesichtspunkte ablehnt? Dann ist nur noch der Kampf um die Macht möglich, nach dem Motto: der Stärkste wird sich schon durchsetzen. Und was schafft das bei den beteiligten Menschen? Neue Unfreiheit und eine Ausweitung der allgemeinen Unwahrhaftigkeit. Eine Welt der Lügen breitet sich aus. Kennen wir das nicht? Und dann werden immer größere Anstrengungen unternommen, immer mehr Aufwand wird getrieben, um mehr Macht über den jeweils anderen zu gewinnen, für die eigene Weiterentwicklung bleibt dann schon erst recht gar kein Interesse mehr übrig, keine Kraft, keine Zeit, und der allgemeine Stillstand geht langsam über in den Zerfall alles Sozialen und damit den Verfall des Menschlichen überhaupt. Und damit lässt sich viel schwerer leben als mit der Furcht vor der eigenen Unvollkommenheit.
Es ist – um ein Gespräch auch bei äußersten Gegensätzen zu ermöglichen – eigentlich nur eines nötig: die Angst vor eigenen und fremden, unausgesprochenen oder ausgesprochenen Urteilen über das eigene Tun einmal außer Acht zu lassen. Dann kann man auch mit Überzeugung vertreten, was man wirklich als das Seine erlebt. Der schlimmste Fanatiker wird dadurch, dass er sich rückhaltlos äußert, verstehbar, wodurch ein realistischer Umgang mit ihm und seinem Tun möglich wird. Versteckt er sich allerdings hinter irgendwelchen schöngeistigen Moralitäten – lügt also, einmal platt gesagt – dann hat der andere kaum eine Chance. Er muss dann mit einem Lügengebilde umzugehen versuchen und wird ständig dabei scheitern.
Gespräche schaffen Freiheit
Jede eigene Unwahrhaftigkeit zwingt den jeweils anderen, etwas anderes zu denken als die Wahrheit. Unwahrhaftigkeit schafft dadurch Machtverhältnisse. Und die haben ganz grundsätzlich eigentlich nichts mit Freiheit zu tun.
Ein offenes Gespräch schafft dagegen Freiheit. Denn es gibt dem Gegenüber die Möglichkeit, seinen Horizont zu erweitern, sein durch das individuelle eigene Schicksal notwendig eingeschränktes Weltbild zu erweitern, der Wahrheit also immer näher zu kommen, und dadurch immer weniger auf Raten, Vermuten, Glauben und dergleichen angewiesen zu sein.
Das hat nichts damit zu tun, dass die Öffnung dem anderen gegenüber ja niemals vollkommen sein kann. Es kommt nur darauf an, wie die Gesprächspartner miteinander umgehen. Es ist ja natürlich auch gar nicht möglich, Urteile aus einem Gespräch gänzlich heraus zu lassen. Aber welche Urteile worüber sind schädlich, welche, können förderlich sein, für mich selber und für den anderen?
Person und veröffentlichtes Verhalten
Das ist bei kurzem Nachdenken eigentlich leicht zu klären. Auch wenn ich größtmögliches Bemühen voraussetze, wird das Ideal völliger Wahrhaftigkeit wohl niemals ganz erreicht werden können. Schließlich hat ja jeder Mensch eine begrenzte Weltsicht, und damit auch begrenzte Fähigkeiten, kann also irren. Jedes geäußerte Urteil kann also auch falsch sein.
Nimmt allerdings jeder der Partner nur auf dasjenige Bezug, was er selber oder der andere bereits geäußert hat, so gibt es kein Problem. Es kann ja durch Nachfragen geklärt werden, ob man den anderen richtig verstanden hat. Und Urteile erfolgen dann nur über das, was man gemeinsam weiß. Und das ist immer nur die Summe des gemeinsam nach außen gesetzten Verhaltens, also gleichsam die Summe des „Veröffentlichten“. Darüber ein Urteil zu äußern, lässt den anderen frei – so frei jedenfalls, wie er in sich selber wirklich ist, und jedenfalls dann, wenn ich meine eigenen Urteilsgrundlagen ebenfalls angebe.
Solche Urteile vermehren dann die Summe des gemeinsam „Veröffentlichten“ und sind damit wieder dem Urteil des anderen zur Verfügung gestellt. Was außen vor bleibt, ist dann das Urteil über den anderen als Mensch. Denn selbst wenn ich die Weltsicht eines anderen praktisch vollkommen nachvollziehen kann, verinnerlicht habe, ist eines ganz unmöglich: ich kann – jedenfalls in der irdischen Welt – nicht mit dem anderen identisch werden. Ich kann also niemals wirklich wissen, wie und wer der Andere ist. Begnügt sich nun jeder so gut es geht damit, nur das von einem selbst und vom anderen Veröffentlichte zu beachten, und Urteile eben nur im Hinblick darauf zu fällen, so wird der andere ihn immer verstehen können. Das heißt ja dann nicht, dass er dasselbe Urteil auch sein eigen nennt. Verstehen ist nicht Gutheißen.
Daraus ergibt sich die einfache Regel, nur das zur Beurteilung heranzuziehen, was der andere im Prinzip auch zur Verfügung hat, weil es ihm bekanntgegeben ist. Man kann ja sein Urteil erläutern, oder nachfragen, wenn ein anderer sein Urteil erläutert und man versteht es nicht.
Dadurch kann es niemals Urteile über Personen geben, und die Würde des Menschen bleibt im Rahmen des Gespräches immer gewahrt. Die Aussage: „Du schadest dem sozialen Leben, dein Verhalten ist zerstörerisch“ ist eben doch etwas ganz Anderes als die Aussage: „Du bist ein schlechter Mensch“. Im ersten Fall ist jedes Gespräch weiterhin möglich, im zweiten ist es mit der Aussage bereits beendet. Denn wer diese Aussage tätigt, erhebt sich moralisch über den anderen, erklärt sich schon mit diesen weniger Worten für besser, von gleichsam „göttlichem“ Standpunkt aus.
Was ist das „Soziale“?
Aus dieser Betrachtung ergibt sich, dass das eigentlich „Soziale“ immer dasjenige ist, was sich im konkreten irdischen Zusammenleben abspielt. Der Raum „zwischen den Menschen“ sozusagen wird immer so sein, wie die Menschen, die dort zusammenwirken, es möglich machen. Leben viele Unfreie zusammen, die unwahrhaftig miteinander umgehen, weil sie sich sonst vor ihrer eigenen Unvollkommenheit fürchten müssen, so wird dieser „Zwischenraum“ von Unwahrhaftigkeit und Machtgezänk erfüllt sein. Freie werden einfach miteinander reden – Gespräche führen also.
Nun gibt es aber das eine ebenso wenig wie das andere: nur Freie oder nur Unfreie. Die menschliche Gesellschaft ist immer eine Mischung aus allen möglichen Zwischenstufen. Was aber immer gleich ist, das ist die Tatsache, dass in jeder menschlichen Gesellschaft jeder Einzelne jederzeit sich weiterentwickeln kann. Der „Zwischenraum“ ist also der gemeinsame Selbstentwicklungsraum für alle. Denn – kehren wir zum Anfang zurück – für die eigene Entwicklung braucht jeder den anderen. Je mehr sich der andere von mir unterscheidet, desto größer ist meine Chance, mich im Gespräch, im Zusammenwirken mit ihm zu entwickeln.
Darum wird gerade der weit Fortgeschrittene für jede Kleinlichkeit, für jede Äußerung größter Unfreiheit Verständnis aufbringen, denn sie bietet ihm, dem Freien – neue Entwicklungsmöglichkeiten. Denken wir nur recht daran, dann erledigt sich mancher Streit von alleine.
Das „Soziale“ ist eben keine Frage von Machtkämpfen. Es findet sich erst, wenn das Zusammenleben der Menschen ganz grundsätzlich als der gemeinsame Weg zur Selbstentwicklung jedes Einzelnen hin zu größtmöglicher Freiheit eines Jeden angesehen wird.
© Stefan Carl em Huisken 2019