Tanzen – was soll das eigentlich?

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Tanzende in Lorient/Bretagne

Zum Tanzen gehört Musik.  Zwar gibt es stummen, theatralischen Ausdruckstanz, aber er hat alle Elemente des Tanzens mit Musik, ist gleichsam eine seltene Sonderform, die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Die Regel ist: zum Tanzen gehört Musik.

Musik hat Melodie, hat Zusammenklang und hat Rhythmus, in je unterschiedlicher Gewichtung. Und der Tanz ist Erleben der Musik mit dem ganzen Leib, vor allem im Rhythmus. Reine Melodie und reiner Zusammenklang regen noch nicht (unbedingt) zum Tanzen an. Dazu braucht es den Rhythmus.

Wozu also sich rhythmisch zur Musik bewegen?

Da geht der Weg der Entwicklung von den alten mythisch geprägten, rituellen Kreis- und Reihentänzen über die Formationstänze hin zum Paartanz, und noch weiter bis zum Ausdruckstanz des Einzelnen, der keine Gemeinschaft außer der mit der Musik mehr braucht. Das entspricht dem kulturellen Entwicklungsgang der Menschheit – von der großen Gemeinschaft unter göttlicher Führung (oder durch als gottgleich angesehene Menschen) über gottgewollte Monarchen, Nationen, Volksgemeinschaften, Stämme, Clans, Sippen, Nachbarschaften zur Kleinfamilie – bis hin eben zum Einzelnen, der etwas für sich sein will und tief im Herzen letztlich doch niemanden über sich erträgt und duldet. Allgemeine Kultur und Tanzkultur folgen hier dem gleichen soziologischen Grundgesetz.

Aber: damit sind wir heute an einer Art Endpunkt angelangt. Weiter kann die Zersplitterung, die Vereinzelung nicht gehen. Ein Einzelner ist ein Einzelner. Punkt.

Beim Tanz ist das Festhalten am Paartanz zu einem großen Teil der Tradition geschuldet (die sich aber vielerorts schon völlig auflöst), und zu einem Teil ganz einfach: Balz. Das liegt nun einmal in der Triebnatur des Menschen. (Nebenbei: die läßt man mit steigendem Alkoholspiegel und damit zunehmender Enthemmung leichter raus. Ein Grund dafür, dass das Tanzen oft erst zu später Stunde so richtig in Fahrt kommt?). Aber auch das bleibt zersplittert: die Paare für sich (Ausnahme: Folkloretänze, die vorwiegend choreographische Formationen in den Vordergrund rücken).

Wozu also tanzen? Zum Selbstausdruck? Zur Balz? Zur Traditionspflege?

Es gibt mehr. Wenn wir zurückschauen schauen wir auch voraus. Vor dem Paar und der Kleingruppe (Formation) war die große Gemeinschaft aller. Wir können sie wieder erleben, in Kreis- und Kettentänzen. Polig Monjarret, der große Aufzeichner der bretonischen Musiktradition im Beginn des 20. Jahrhunderts, bekämpfte die „modernen“ Paartänze. Dass er dabei vielleicht auch ziemlich moralinsauer argumentierte, tut hier nichts zur Sache. Er (und seine Mitstreiter) haben dafür gesorgt, dass in der Bretagne heute ein ganz besonderes Gemeinschaftserlebnis zum Alltag gehört: die vielen Reihen- und Kreistänze, mit einer Musik, die alle modernen Einflüsse aufnehmen und verarbeiten kann, Tänze, die so Jung und Alt gleichermaßen ansprechen und die niemanden einzeln am Rande stehen lassen. Übrigens auch: wirkliche Tänze, die den Gliedern anderes abverlangen als das Abschreiten vorgegebener Formen oder den ungeordneten Ausdruck persönlicher Emotionen. Mit dieser Tanz-Gemeinschafts-Kultur hat die Bretagne die ständig wachsende Balfolk-Bewegung – eine Art moderner Folk-Tanz? – entscheidend mit geprägt. Vielleicht können wir davon lernen.

Mich hat eine Erzählung Martin Luserkes (1880-1968) in seiner „Reise zur Sage“ außerordentlich beeindruckt. Er schildert darin, wie er in der Bretagne einen der letzten alten Barden erlebt. Vom Gesang und Geigenspiel des Barden in eine Art gemeinsam bewegte Tanz-Trance versetzt, nehmen die Menschen auf, was er ihnen bringt. Das ist ein anderes Erzählen als das heutige, in dem die Inhalte nur noch oberflächlich den Kopf durcheilen, „News“, mit denen der Einzelne nichts mehr verbindet, und die ihn daher auch zunehmend kalt lassen. Vielleicht ist das auch nötig bei all den Schrecklichkeiten, die da täglich auf uns eindringen. Ohne diese Oberflächlichkeit würden wir das vielleicht gar nicht aushalten.

Wie aber, wenn eine neue, selbstgewollte, selbstgesuchte und selbstgestaltete Art und Weise entstünde, in der wir uns singend, tanzend, sprechend im gemeinsamen rhythmischen Tun so stärken könnten, dass wir auch all die Schrecklichkeiten nach-ERLEBEN könnten, ohne daran zu zerbrechen? Könnte uns das Wege zeigen, das ja überall vorhandene Böse nicht nur zu benennen, auch nicht nur als Problem aus der Sicht räumen zu wollen, sondern es wirklich zu verstehen und damit – wirklich ÜBERWINDEN zu lernen?

Ich denke, daß dabei der Einzelne an seine Grenzen stößt. Das „Du“ im anderen erlebt, zeigt erst die Wege zu einem neuen sozialen Miteinander, zu einem NEUEN „Wir“. Wer DIESES „Wir“ sucht, das aus dem freien Wollen jedes Einzelnen entsteht und doch ein Gemeinsames ist, leistet dadurch schon auch etwas für den Frieden. Suchen wir dieses Zukünftige im gemeinsamen Tanz, nicht nur mit dem „erwählten“ Partner, sondern in der großen Gemeinschaft. In den begeisternden Ketten- und Kreistänzen aus der Bretagne und anderswoher! Es lohnt sich, „för uns Dochters und Söhns, för uns Land, för uns all un för elk un een“, wie es in der ostfriesisch-niederdeutschen Übertragung einer bretonischen Hymne an die Salzküsten Europas heißt (Borders of Salt/Boorden van Salt, von Dan ar Braz, ostfriesisch Em Huisken).

© Stefan Carl em Huisken 2014

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