Vom Einswerden mit der geistigen Welt

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Der freie Mensch als Mit-Schöpfer im Weltprozess

Wie nimmt man teil an diesem äußeren Leben? Man informiert sich über das, was in der Welt vorgeht; man informiert sich so, daß man sich gewissermaßen in sein Erleben hin­eintragen läßt, was durch diesen oder jenen Anstoß in das Leben hereinkommt. Man gibt sich irgendeiner populären Agitation hin. Man untersuche nur einmal, wieviel in die­sem Hingeben an eine populäre Agitation dem eigenen Willen entsprießt und wieviel einfach darauf zurückzuführen ist, daß man mitgenommen wird von dem, was da an­stürmt aus den Wogen des Lebens! Und vieles, vieles könnte ich Ihnen anführen von dem, was in das Denken hereinstürmt, das Denken beherrscht, ohne daß der Wille des Menschen selbst in dieses Denken unmittelbar hineinwirkt.

Das war gerade die geschichtliche Aufgabe bei Abfassung meines Buches «Die Philoso­phie der Freiheit», darauf hinzuweisen, wie Freiheit des Menschen überhaupt nur mög­lich ist, wenn dieses unwillkürliche, träumerische Denken nicht da ist, sondern Impulse aus dem vollbewußten Willen heraus sich geltend machen. Dieses Denken – welcher Na­tur ist es denn ? Wann ist es wirkliches Denken ? – Wenn es wirklich aus dem vollbewuß­ten Willen kommt, wenn wir den Gedanken so fassen, daß wir selbst es sind, die den Ge­danken fassen. In dem Augenblicke, wo der Gedanke uns faßt, sind wir nicht mehr frei. Nur wenn wir aus unserer Kraft, aus unserem Wesen heraus den Gedanken fassen kön­nen, sind wir frei.“ (Rudolf Steiner: Geistige und soziale Wandlungen in der Menschheitsentwi­ckelung. GA 196. – Dornach, 1992. S. 110f)

Mensch und Welt

Die vorige Betrachtung1 führte zu der Einsicht, dass Mensch und Welt nur als eine Einheit exis­tieren können; jede Seite für sich kann weder Sein noch Entwicklung haben. Der Mensch, der sich als von der Welt geschiedenes, mit ihr aber durch den Leib verbundenes seelisch-geistiges Wesen erlebt, ist aus der Weltentwicklung hervorgegangen, ohne die Welt also nicht möglich. Die Welt als vom Menschen geschiedenes, ihn erst hervorbringendes Ganzes, ist aber als solche nur solange und insofern vorhanden, als der Mensch als die Welt Erkennender ihr gegenüber ritt. Sonst gäbe es niemanden, der ihre Existenz überhaupt feststellen könnte. Ohne denjenigen aber, der ihre Existenz erlebt und erkennt, kann über die Welt nichts gesagt werden; ihre geisti­gen Grundlagen, die Gesetze ihres Werdens sind ohne ein sie erkennendes Wesen gar nicht vorhanden. Ohne diese geistigen Grundlagen aber kann auch die Welt nicht sein.

Insofern kann man davon sprechen, dass der Weltprozess sich das Instrument seiner Selbster­kenntnis im Menschen erst erschaffen habe. Aber auch diese Einsicht ist nur vorhanden im selbstbewussten menschlichen Denken. Die heute erlebte Trennung von (geistig-seelisch leben­dem) Menschen und äußerer, gegenüberstehender, scheinbar geist- und seelenloser Welt ist nur ein Glied es gesamten Entwicklungsprozesses dieser Selbst-Erkenntnis des Welt-Ganzen im Menschen. Es bekommt daher diese einzelne, akute Situation ihren Sinn nur durch den Blick auf das Ganze, das Mensch und Welt betrachtet.

Das Ganze denken

Diese Einheit zu erkennen, stößt auf besondere Schwierigkeiten, denn es ist ja gerade ein Cha­rakteristikum jeder Eerkenntnis, dass in ihr zwei von einander verschiedene Wesenheiten oder Funktionen – das Erkannte und der Erkenner nämlich – gerade möglichst klar von einander un­terschieden werden müssen, gewissermaßen „aus einander gehalten“. Sonst ist nicht auszuma­chen, ob das zu Erkennende dem Erkenner bloß etwas vorgaukelt, was gar nicht vorhanden ist, oder ob umgekehrt der Erkenner in seiner Erkenntnis Gesichtspunkte zur Geltung bringt, die dem Erkannten nicht entsprechen, es also verändern und insofern die Erkenntnis verfälschen.

In der vorigen Ausarbeitung2 wurde gezeigt, dass der Abgrund zwischen dem geistig-seelisch erlebenden Menschen und der ihm erscheinenden Welt jedenfalls vom heutigen Menschen nur auf Denkwegen bewältigt werden kann, die das sich selber beobachtende und sich in der den­kenden Beobachtung selbst erschaffende Denken zu ihrem Ausgangs- und Zielpunkt machen. Indem der rein geistige Vorgang der Selbstbeobachtung des Denkens sich selbst zum Gegen­stand macht, also aus sich selbst heraustritt als ein „Etwas“, ein von sich selbst getrenntes Ge­genüber, erschafft er sich selber in einer geistigen Welt. Das so sich selber beobachtende Den­ken bildet darin nach, was der Weltprozess aus sich selbst als erkennenden Menschen hervor­gebracht hat, durch den er seiner selbst erst „gewahr“ wird: dasjenige, was Wahrheit gibt.

Indem die sich selbst beobachtende Selbstbeobachtung des Denkens im Sinne der vorigen Ab­handlung dem Menschen erst das Wahrheitskriterium gibt, kann der Mensch seiner selbst be­wusst werden als berufen,dem geistigen Urgrund und Ziel der Entwicklung erst zum wahren Sein zu verhelfen. Denn durch seine Erkenntnisarbeit erschafft er erst die geistigen Grundlagen für sein eigenes Werden aus der Welt heraus3. Leistete der Mensch dies nicht, so zerstörte er damit seine eigene Entstehungsgrundlage und damit sich, seine Vergangenheit und Zukunft gleich mit: also alles, was er als „Welt“ erleben kann.

Ein Ganzes ist ein Ganzes. Nichts darf dabei verloren gehen. Welt und Mensch sind ein solches Ganzes.

Die Aufgabe unserer Zeit

Wie schon erwähnt, stellen sich die Aufgaben und Denkwege in dieser Form dem heutigen Menschen. Die Menschen der Urzeit mögen anders dazu gestanden haben, ebenso wie die Menschen der Zukunft ein anderes Verhältnis zu dem hier eben Dargestellten begründen mö­gen. Was ist aber nun das Charakteristische, Grundlegende unserer Zeit, auf das in den Gedan­kengängen, von denen hier die Rede ist, hingewiesen wurde?

Das ist zweifellos der Blick auf die Anforderung an uns Heutige, eine radikale (im Wortsinne, also „an die Wurzel gehende“) Abkehr von allem Glauben an die alleinige Gültigkeit äußeren Weltwissens zu vollziehen, und darin die unentrinnbare Notwendigkeit der Mitwirkung des Menschen und der Menschheit in der Gestaltung der Gesamtentwickelung anfänglich zu reali­sieren. Ohne dass der erkennende Mensch im denkenden Beobachten seiner eigenen Bewusst­werdung diese Bewusstwerdung erst erzeugt, wird die für das Ganze von Mensch und Welt in seiner Entwicklung erforderliche Selbsterkenntnis verfehlt.

Die zukünftige Entfaltung des im Uranfang Angelegten würde verhindert. Damit aber würde im Ewigen, d.h. überzeitlichen, die Existenz von Mensch und Welt insgesamt ausgelöscht. Denn die Vergangenheit kann im Geiste nicht existieren ohne die Zukunft, und ohne beide gibt es keine Gegenwart. In dieser Gegenwart ist eben der Mensch derjenige, auf den es ankommt: leistet er nun die ihm obliegende (Selbst-)Erkenntnis-Aufgabe oder nicht?

Man sieht, es geht hier nicht um irgendwelche Kinkerlitzchen; es geht schlicht um Sein und Nicht-Sein des Ganzen aus Mensch und Welt. Die Verantwortung dafür ruht nun nicht mehr im schützenden Schoß einer allmächtigen Gottheit; sie ist Schicksal und Kern des Menschen. Sie ist im Menschen gleichsam „aus der geistigen Welt geboren“. Wer sie nicht annimmt und weiterhin als bloßes „Denkmodell“ neben anderen möglichen ansieht, nimmt den denkenden Menschen als Tatsache und notwendiges Glied es Ganzen nicht ernst – und damit also auch sich selbst.

Der Mensch ist das Maß

So erklärt sich die Unerbittlichkeit, mit der alle Vorgänge unserer Zeit auf uns einwirken. Lesen wir darin die Sprache des Menschheitsschicksales: „Erkenne dich selbst!“, so ruft es uns zu. Wenn der Mensch nun aber zu Maß und Gestalter der Zukunft werden soll, so muss er zuerst sich selbst als dieses Maß und diesen Gestalter erkennen – erschaffend erkennen! – und da­durch auch die Bedeutung dieses seines Schicksales. Verfehlt er diese Erkenntnis – sein Schick­sal also –, so wird er in die Irre gehen müssen, denn er kann dann nur diesem oder jenem, aus alten Zeiten in unsere Gegenwart hinein wirkenden Impuls folgen und diesen fortsetzen. Das grundstürzend Neue, das dem Menschen heute obliegt – uns Zeitgenossen also – wird sich dann vorerst nicht vollziehen können.

Damit kommt aber auch der Gestaltung des Verhältnisses eine neue Bedeutung zu, das der in­dividuelle Mensch zu seiner Umgebung und damit auch zu den anderen Menschen gewinnen kann. Es muss dieses Verhältnis die im Ganzen intendierte Einheit ermöglichen, das heißt also eine Erkenntnis der sozialen Welt (also auch aller nicht-menschlichen Wesenheiten der Erde und des Kosmos) immer den individuellen Menschen und sein denkendes Selbstbewusstsein ein­schließen so, dass soziale Welt und Einzelseele sich entsprechen, der denkende Mensch, der sich selber zum Maß für die Wahrhaftigkeit aufschwingt, also auch im Verhältnis der Menschen untereinander und zur Natur zur Richtschnur werden kann.

Wie wenig ist davon heute schon realisiert! War die griechische Geisteskultur nur möglich, weil eine großer Teil der Bevölkerung als Sklaven von ihrer Menschenwürde ferngehalten wurden, war die mittelalterliche Geisteshöhe der Scholastik vor allem der Fortsetzung alter Herrschaftsst­rukturen in Leibeigenschaft und Macht des Klerus geschuldet, so ist der heutige äußerlich-materielle relative Wohlstand in einem großen Teil der zivilisierten Welt ein Produkt des Um­gangs mit der Arbeit des Menschen als Ware auf dem Arbeitsmarkt und als Kostenfaktor; der Unterschied zu antiken Sklaven oder mittelalterlichen Leibeigenen ist graduell, kann doch nie­mand seine Arbeitskraft verkaufen ohne selber mit ihr mit gehen zu müssen.

Alle Wirren, Unruhen, Kämpfe und Kriege der neueren Zeit stehen damit im Zusammenhang, dass die Menschen nun immer mehr vor die Aufgabe gestellt sind, sich selber zu wohlverstan­denen Dreh- und Angelpunkt der Entwicklung zu machen, dieser Aufgabe aber in keiner Weise gerecht werden, ja, sich geradezu mit aller Kraft gegen die Einsicht in diese Aufgabe und die da­mit verbundene Verantwortung wehren.

Aber der Mensch hat diese Aufgabe, und er wird sie erfüllen müssen. Wenn nicht aus eigenem, freiem Willen, so dann unter Zwang. Nur wird die erzwungene Aufgabenerfüllung das Wichtigs­te entbehren: das Herzblut und die Würde des selbständigen, freien Menschen, der sich zum lie­benden Mitschöpfer mach von allem, was ihn selbst einst hervorbrachte.

Schöpferwille

Ziehen wir eine Art Resümee des bisherigen Denkweges, so erkennen wir uns heutige Men­schen als aufgerufen, in uns, in unserem denkenden Geist das Prinzip des Weltenwerdens zu realisieren, das wohl Goethe einmal den „von Ewigkeit zu Ewigkeit sich selbst Produzierenden“ nannte4. Jeder Einzelne von uns, der dies energisch anstrebt, trägt ein neues Denken in das so­ziale Leben hinein, aus dessen lebendigem Fluss erst eine neue Gestaltung des sozialen Lebens möglich werden kann. Es liegt ja auf der Hand, dass hier niemand jemals die „allein richtigen Rezepte“ für das endgültige Erreichen eines wie immer gedachten „paradiesischen“ irdischen Lebens hervorbringen kann. Soll das Soziale leben, so wird es in ständigem Zusammenwirken der beteiligten konkreten irdischen Menschen immer wieder neu gefunden werden müssen. Le­ben kann es ja nur im Willen der Mitwirkenden.

Dieser Wille aber ist erwachsen aus der Vergangenheit, dem Werden des heutigen Menschen, der aus dem Geist herabstieg in die irdische Welt, um dort sich selber kennen zu lernen5. Was dieser Mensch schon kennt, erschauen kann in sich und seiner Welt, all die „Begabungen“ also, die er aus dem Geiste schon mitbringt in die Gegenwart, sie müssen sich ausprägen können in seinem Willen und in seinen Strebensrichtungen. Wie anders ist aber das Bildungssystem unse­rer Zeit, das als obersten Grundsatz die Zurichtung der werdenden Menschen im Hinblick auf ihre Nützlichkeit im herrschenden System der Lohnsklaverei hervorhebt!

Schon 1919 befand Rudolf Steiner: „Wenn nicht mehr Menschen über Menschen in der alten Art ‚regieren‘sollen, so muß die Möglichkeit geschaffen werden, daß der freie Geist in jeder Men­schenseele so kraftvoll, als es in den menschlichen Individualitä­ten jeweilig möglich ist, zum Lenker des Lebens wird6. Dieser Geist läßt sich aber nicht unterdrücken. Einrichtungen, die aus den bloßen Gesichts­punkten einer wirtschaftlichen Ordnung das Schulwesen regeln wollten, wären der Versuch einer solchen Unterdrückung. Sie würde dazu führen, daß der freie Geist aus seinen Naturgrundlagen heraus fortdauernd revol­tieren würde. Die kontinuierliche Er­schütterung des Gesellschaftsbaues wäre die notwendige Folge einer Ordnung, die aus der Lei­tung der Pro­duktionsprozesse zugleich das Schulwesen organisieren wollte.“ (Rudolf Steiner: Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Weltlage 1915-1921. GA 24. – Dornach, 1982, S. 43)

Daraus ergibt sich auch die Frage nach dem Recht, die wir ja heute so zu beantworten gewohnt sind, dass eben durch bestimmte Entscheidungsstrukturen ausgewählte Menschen zu bestim­men haben, was als allgemeines Gesetz zu gelten hat, und dadurch alle davon betroffenen Menschen zu unfreien Untertanen gemacht werden sollen. Wer aber kann dafür einstehen, dass es gerade die Weisesten sind, die diese Gesetze festlegen, und dass es gerade die Unbe­stechlichsten sind, die dann die Untertanen bezüglich der Einhaltung dieser Gesetze überwa­chen? Gibt es diese „Übermenschen“ überhaupt? Kann der freie Mensch ein solches abstraktes System als Herrscher über sich überhaupt wollen? Oder muss hier ganz Neues gefunden wer­den?7

In diesem endlichen irdischen Leben der Gegenwart kann es nur gleiche Rechte für alle geben; aber sie dürfen dann auch nur das umfassen, was bei allen Menschen gleich ist. Ihre Begabun­gen und Fähigkeiten – das ursprünglich aus dem Geiste Mitgebrachte also – können ebenso nicht für jeden gleich sein wie die Lebensbedürfnisse; was also dem Geistigen oder dem Wirt­schaftlichen angehört, fällt in allen Einzelheiten aus dem Rahmen des Rechtlichen. Zu welchen schreienden Ungleichheiten der Menschenwürde gegenüber der Versuch führt, Geistiges oder Wirtschaftliches dem sogenannten gleichen Recht zu unterstellen, erleben wir tagtäglich im All­tag der heute noch herrschenden Staatskonstrukte. Allein das Recht, seine Tätigkeitsmöglich­keiten zu realisieren, seine Begabungen also zu nutzen, und die Pflicht, dies zum Nutzen aller und mit für alle gleichen Einsatz-Rahmen auch zu tun, kann daher durch staatlich-rechtliche Festlegungen demokratisch geregelt werden.

Die allen gemeinsame Zukunft der Menschheit erwächst aber aus dem, was die Menschen aus ihrem Wollen dieser Zukunft entgegentragen. Diese Zukunft wird so werden, wie die Menschen im Hervorbringen miteinander umgehen. Arbeiten sie als freie, selbständige Menschen zusam­men, die ihre Fähigkeiten in gemeinsamem Zukunftswillen zum Wohle des Ganzen zusammen­fließen lassen, jeder den Beitrag des Anderen achtend, würdigend und ergänzend, oder suchen sie noch immer weiter das alte Herrschaftssystem aus Lohnsklaven und Kapitalisten fortzufüh­ren? Denken wir an Steiners Wort von der „kontinuierlichen Erschütterung des Gesellschafts­baues“ (s.o.)!

Die Zukunft liegt also ebenso wie die Vergangenheit in einer geistigen Welt, die der Mensch nur in innerer Tätigkeit zu erfassen in der Lage ist. Diese irdische Welt ist unser Lern- und Erzie­hungsort, der uns notwendig ist, wenn wir der Zukunft dienen und diese erst dadurch mit-erschaffen wollen. Je mehr wir auch hier, im Irdischen, die uns gegebene Möglichkeit des freien, selbstbeobachtenden Denkens als unsere Richtschnur nutzen, desto mehr können wir auch und schon in diesem irdischen Leben uns selber mit der geistigen Welt der Zukunft vereinen. Da­durch nehmen wir die Erdenwelt in die geistige Zukunft mit.

Tun wir dies, so werden wir Mit-Schöpfer des göttlichen Urgrundes, aus dem Mensch und Welt einst hervorgingen und in den sie wieder – dann auf einer neuen Entwickelungsstufe – einge­hen werden.

Menschen-Interesse

Rudolf Steiner sprach am 6. Februar 1920 über die Frage „Wessen bedarf die Menschheit zur Neugestaltung Europas?“. Die folgenden Worte könnte er auch heute sprechen, allerdings dann auf die Welt als Ganzes bezogen:

Das ist eben das große Unglück unserer Zeit, daß die Menschen, ohne sich nun wirklich anzustrengen, ohne Interesse zu gewinnen für die Angelegenheiten der Menschheit, aus Unterbewußtem heraus heute urteilen, das oder jenes für richtig halten, das oder jenes für unerläßlich halten. Aber die Zeit ist nicht mehr da, wo man aus dem Unbewußten heraus das oder jenes für unerläßlich halten kann. Die Zeit ist gekommen, wo nur aus dem Sachlichen heraus geurteilt werden darf, wo man sich einmal anstrengen muß, sich wirklich einen Überblick zu verschaffen über die Notwendigkeit der Zeit und über dasje­nige, was die Zeit von einem fordert. Es schnürt einem heute das Herz zusammen, wenn man Menschen begegnet, die sich nur für sich selbst interessieren. Denn das ist das große Unglück unserer Zeit, während die einzige Erlösung der Zeit darin bestehen könn­te, daß nun, nachdem das Schreckliche vor sich gegangen ist in den letzten Jahren, die Menschen sich sagen würden: Wir müssen uns für die Angelegenheiten der ganzen Menschheit interessieren, wir dürfen nicht bei dem stehenbleiben, was unmittelbar mit uns nur im Umkreise unseres Volkes sich vollzieht.“ (Rudolf Steiner: Geistige und soziale Wandlungen in der Menschheitsentwickelung. GA 196. – Dornach, 1992. S. 165)

Wieviel davon haben wir heute schon realisiert?

© Stefan Carl em Huisken 2021

1 „Der individuelle Mensch als Ausdruck und Bedingung einer geistigen Welt“. In: Die Lahnung, Mitteilungen für individuelle Entwicklung und Lebenskunde, Nr. 4. Januar 2021

2 vgl. „Der individuelle Mensch als Ausdruck und Bedingung einer geistigen Welt“, ebd.

3 Diese Tatsache kann Grund zur Beruhigung sein: der Mensch wird es leisten müssen, sonst wäre er selber gar nicht da. Allerdings: wann und unter wieviel selbstverschuldetem Leiden, das hängt vom Menschen selber ab.

4 Der Text soll von Goethes langzeitigem Sekretär Riemer im Jahre 1835 in einer Ergänzung zu seinen „Mitteilungen über Goethe“ veröffentlicht worden sein; die Quelle konnte noch nicht nachgewiesen werden. Der ganze Wortlaut steht hier: https://emhuisken.de/geisteswissenschaft/

5 Siehe wiederum „Der individuelle Mensch als Ausdruck und Bedingung einer geistigen Welt“, ebd.

6 Dass solche Gedanken Steiners unserer Zeit nicht gänzlich fernliegen, zeigt zum Beispiel ein Lied des Kabarettisten Bodo Wartke: „Was, wenn doch?“ das man hier wahrnehmen kann: https://www.youtube.com/watch?v=T1IDSzs1Ai8

7 Im Mittelalter gab es ein aufrechtes Volk, das sich selber in jedem Einzelnen nur Gott und dem Kaiser untertan, und ansonsten frei fühlte, sein eigenes Recht zu setzen. Das Recht wurde als etwas Bewegliches angesehen, das jederzeit durch Besseres ersetzt werden konnte. Recht sprachen bei diesen freien Friesen die jährlich aus der Mitte des Volkes gewählten Richter jeder Landgemeinde. Geschriebenes Recht gab es entweder als fast religiös gefühlte Verkündigung natürlicher Rechte jedes Menschen oder als eine Art Erinnerungsstütze für zukünftige ähnlich gelagerte Fälle. Ein genauerer Blick darauf lohnt. Vgl. auch z.B. hier: https://emhuisken.de/wordpress/tag/friesen/

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