Von der Rettung der Welt
Heilsam ist nur, wenn
im Spiegel der Menschenseele
sich bildet die ganze Gemeinschaft;
und in der Gemeinschaft
lebet der Einzelseele Kraft.
Dies ist das Motto der Sozialethik
Rudolf Steiner1
Von der Rettung der Welt
und der Dreigliederung des sozialen Organismus
„Die Welt“ als das Ganze der mir gegenüberstehenden Gegebenheiten ist eine in sich in unterschiedlichen Regionen oder „Welten“ gegliederte, wie ich in Heft 11 von „DIE LAHNUNG – Mitteilungen für individuelle Entwicklung und Lebenskunde“ aufzuzeigen versuchte2. Sie erscheint der Betrachtung durch den heutigen Menschen als fertiges, feststehendes Werk, das dem Walten von Lebensprozessen entsprossen ist; diese wiederum sind Ausdruck eines zielgerichteten Wollens (nicht unbedingt bewusst oder gar selbstbewusst) – ich schrieb damals auch von Intentionen als geistige Tatsachen, die gleichsam Offenbarung dieses Wollens sind; schließlich findet sich das Wesen allen Geschehens in einer geistigen Region, in der es keinerlei Differenzierung räumlicher oder zeitlicher Art gibt, in der aber doch alles zugleich als Möglichkeit angelegt ist. Dieser letzteren Region gehört auch das Ich des Menschen an, insofern es diese „Welten-Anschauung“ in sich realisiert und so zum Träger der Selbst-Bewusstwerdung des betrachteten Welt-Ganzen wird.
Der Mensch ist also in diesem Sinne einerseits letztes „Werk“ in einer aufeinanderfolgenden Reihe von sich entwickelnden Gegebenheiten, und demgegenüber zugleich das erste Werk, das seinen eigenen Ursprung in sich hervorzubringen in der Lage ist, zunächst in einer abstrakt anmutenden geistig-denkerischen Innenschau auf sein eigenes Erleben der Welt. Damit ist aber in ihm im Prinzip – das heißt in der Form des Selbstbewusstseins – zugleich der Ursprung des Ganzen gegeben.
Dieser Ursprung ist im noch undifferenzierten Sein nicht in der Lage, sich seiner selbst bewusst zu werden. Dazu muss er sich offenbaren – was das Auftreten einer ersten Trennung von Wahrnehmungsinhalt (den eigentlichen Offenbarungsinhalten) und wahrnehmendem Wesen (als Offenbarung des Wollens, dass nämlich Wahrnehmung sein möge) einschließt. Offenbarung ist also unmöglich ohne Wirksamkeit in dem Sinne, dass sie als Voraussetzung und Folge gleichermaßen ihre eigene Entgegennahme einschließt. Die Offenbarung läuft in die Intention zur Schaffung eines wahrnehmenden Wesens ein, welche wiederum in Ihrer Wirkung ein solches Wesen hervorbringt – als Werk.
Rudolf Steiner schildert drei Formen des Seins: des wesenhaften, noch undifferenzierten, unentwickelten (Steiner nennt es auch „involvierten“) Seins; des sich offenbarenden, also sich entwickelnden („evolvierenden“) Lebens; und schließlich der dadurch bewirkten gestalteten Form. Diese Dreiheit nennt er die drei Logoi, oder auch die Dreifaltigkeit aus Vater, Sohn oder Wort, und Heiligem Geist3.
Erst im Menschen, als letztem Werk dieses Evolutionsprozesses, tritt ein gänzlich vom Vater unabhängiges Wesen auf, das also notwendig die Trinität der drei Logoi als unmittelbar Gegebenes verlieren musste; nur durch diese Unabhängigkeit kann der Mensch ein vollgültiges, selbständiges Spiegelbild des Urgrundes sein: der Mensch als Gottes Bild.
Es ist sprechend, wie Steiner als erste Schöpfung der Allmacht das Chaos bezeichnet, das „Tohuwabohu“ des alten Testamentes also. Erst im zweiten Schritt, im eigentlichen Evolutionsprozess, wird alles nach Maß und Zahl geordnet („All-Weisheit“), um schließlich im dritten Schritt, in der „All-Liebe“ vom Prinzip der Sympathie (Anziehung) und Antipathie (Abstoßung) durchdrungen zu werden4.
Wir, als Gesamtheit der Menschen, sind nun als Gewordene jeder einzelne Bild des Urgrundes. Was im Vater noch als Chaos, als Ungeordnetes doch aber Eines war, ist im Menschen nun in der Mannigfaltigkeit, im chaotischen Durcheinanderwirken der Einzelmenschen anfällig für den Zerfall, die Zerstörung, ist dem Tode verfallen. Die menschliche Gesellschaft ist insofern ja auch Bild der Zerstörung des einheitlichen Ganzen, denn was Mensch ist, tritt in der Vielheit auf. Erst wenn der einzelne Mensch in die Lage kommt, sich selber als einen gültigen Ausdruck der geistigen Urform „Mensch“ zu verstehen, die doch in jedem einzelnen Exemplar den Vatergott spiegelt, und darin den Aufruf erkennen kann, die ihm geschenkte All-Liebe zur Erlösung der Welt zu verwenden, kommt neues Leben in das ansonsten ersterbende Werk hinein.
Um diesen Schritt gehen zu können, braucht der Mensch allerdings – und genau in diesem Punkte – Anleitung und Hilfe. Diese wurde ihm zuteil, als der Vatergott sich im Sohn – dem Weltenwort – verhüllte, und sich so seinem Spiegelbilde – dem Menschgeist – offenbarte im Christus5. Geht der Mensch also erkennend, das heißt, dem Gegebenen Begriffe entgegentragend, mit dem Christusereignis um, so kann er dadurch den Sinn seines eigenen Daseins erfahren. Damit macht er sich zum Offenbarer des in ihm selbst gespiegelten ersten Logos, des Vaters, und stellt sein Tun (zum Beispiel im Begriffe-Bilden) dadurch in den Dienst der zweiten Logos, des Christus, der erst geordnet Leben und Entwicklung dem Chaos hinzufügt.
Aus diesem inneren Entwicklungsschritt kann darum eine Ordnung des äußeren Chaos im Zusammenwirken der Menschen hervorgehen. Diese Ordnung muss dann so sein, dass sie ein Spiegelbild dessen gibt, was der Mensch im Blick auf sein eigenes gewordenes Sein im Geiste als sich selber erkennen kann. Dieser Blick fällt letztlich auf das Bild der drei Logoi, wie sie sich im heutigen Menschen als Werk darleben, aber so, dass es den Charakter des Selbstbewusstseins bekommt. Der Mensch tritt also hier als darum Ringender auf, sich selbst als Evolution des Göttlichen zu erleben.
Was Rudolf Steiner als „Dreigliederung des sozialen Organismus“ beschrieb, die notwendig in das Leben der Menschen unserer Zeit hineinkommen müsse, ist also kein irgendwie ausgedachtes System zur Erlangung eines möglichst glücklichen Lebens für alle, sondern ein auf ernster Selbsterkenntnis des Einzelnen fußender Schritt hin zur Erlösung aller Wesen, aller Welt. Rudolf Steiner beschreibt diese Situation auch so: „Das Wort verhüllt sich im Geist und offenbart sich dem Vater“6. Wie sich der Vatergott im Christus verhüllte um sich dem ins Werk gefallenen (Menschen-)Geist zu offenbaren, so verhüllt sich nun der Christus-Sohn – das Wort – im Geist, also im Menschen, um sich dem Vater zu offenbaren. Das ist die wahre Bedeutung des paulinischen Wortes: „Nicht ich, der Christus in mir“!
Wer also aus der Erkenntnis der im eigenen Wesen sich realisierenden Trinität heraus sein Leben bewusst zur Offenbarung des Christus macht, der sich im egoistischen, an der Sinnenwelt hängenden Einzel-Ich verhüllt, wird zum wahren Mitarbeiter der Schöpfung im Werk Gottes. Ganz konkret bedeutet dies, seinen inneren lebendigen Geist-Anblick der Trinität zum Ausgangspunkt seines Handelns zu machen, sein eigenes Geistesleben also zu befreien von den Egoismen und Gewohnheiten der eigenen gewordenen Person, und so zu einem lebendigen, konkreten menschlichen Quell einer wirklich frei errungenen „Dreigliederung des sozialen Organismus“ zu werden. Die von Rudolf Steiner immer wieder als unverzichtbarer Anfang einer sozialen Umgestaltung geforderte „Schaffung eines freien Geisteslebens“ wird auf diese Weise konkret und kann sofort, von jedem Einzelnen in Angriff genommen werden.
Selbsterkenntnis wird so zur Christuserkenntnis, von der aus die All-Liebe des Menschen in die werdende Menschheit einströmen kann; nur die Erkenntnis ermöglicht die richtige Unterscheidung. Der Einzelne, der im Anderen wie in sich selbst den verhüllten Christus erkennt, kommt zu einer anderen Auffassung vom Recht im sozialen Leben, als sie allen denkbaren Utopien eignet; dort ist Recht immer nur möglich als verabredetes, dann aber über jedem Einzelnen stehendes, festes Regelwerk, das der Gewalt zu seiner Durchsetzung bedarf. Der durchchristete Mensch bedarf keiner Gewalt, um dem anderen – Christusträger wie er selber – menschenwürdig zu begegnen.
Gewiss wird ein solcher Zustand der menschlichen Gesellschaft, der letztlich alles geschriebene Recht überflüssig macht, noch lange auf sich warten lassen7. Entstehen kann er aber dennoch nur, wenn die Wenigen, die heute schon aus christlicher Selbsterkenntnis im sozialen Miteinander zu leben versuchen, nicht nachlassen in ihrem Streben, und vor allem die Erkenntnisgrundlagen für ein wirklich lebendiges „demokratisches“ Miteinander immer mehr Verbreitung finden. Dreigliederung entsteht im sozialen Organismus nicht durch Anwendung irgendwelcher Systeme, sondern durch ernste Arbeit jedes Einzelnen an sich selbst. Darin liegt die „Gleichheit“, die die Menschen im Rechtsleben erfahren können.
Und schließlich, wenn der christlich erkennende Mensch sich dem allen Menschen eigenen Welten-Erden-Wesen zuwendet, so wird ihm das jedem Wesen angemessene Teilen dessen, was allen gemeinsam aus der Schöpfung des Vaters zukommt, eine Selbstverständlichkeit sein. In gemeinsamer Arbeit im Weltenlaufe all die Dinge, die aus dem ursprünglich göttlichen Leben ebenso wie der Mensch selbst in die Werkwelt gefallen und so dem Wirken des „widerrechtlich Fürsten der Welt“ anheimgefallen sind, in den eigenen Geist aufzunehmen durch eine geistgemäße Wissenschaft, und sie so schon in der Erkenntnis einer ersten Erlösung zuzuführen, wird die gemeinsame Richtschnur wirklich „brüderlichen“ Handelns der Menschen werden. Nur, was ich wirklich kenne und um seiner selbst willen achte, kann ich in meinem Handeln angemessen würdigen; das gilt für Menschen ebenso wie für Tiere, Pflanzen, Steine, die Elemente ebenso wie alle geistigen Wesen, die den Erscheinungen der Werkwelt zugrundeliegen.
Genau wie bei der „Schaffung eines freien Geisteslebens“ kommt es also im Rechts- und Wirtschaftsleben auf den Einzelnen an, auf seinen Erkenntnismut, sein Erkenntnisschaffen. Weil die Menschen nicht erkennen, was in jedem Einzelnen veranlagt ist als Richtschnur eines wirklich menschenwürdigen Umganges miteinander, bleibt das Chaos bestehen und geht nicht über in ein geordnetes Miteinander. Jeder Einzelne, der aus Erkenntnis zu handeln versucht, ändert das Ganze. Nur so kann die Welt gerettet werden aus der Erstarrung in zerstörerischen Machtkämpfen, die aus triebhaften, dumpfen oder ideologisch-maschinenhaftem Egoismus entstehen müssen. Leitschnur kann dabei der Blick auf die drei Logoi in ihrer Realisierung im selbsterkennenden Menschen werden.
Also: frisch ans Werk?
© Stefan Carl em Huisken 2023
1Steiner, Rudolf: Wahrspruchworte. GA 40. – Dornach, 1975. S. 256.
2em Huisken, Stefan Carl: Was ist die Welt? – In: DIE LAHNUNG, Nr. 11, S. 7 ff. Hier auf der Website unter https://emhuisken.de/was-ist-die-welt/
3vgl. Steiner, Rudolf: Bewusstsein – Leben – Form. Grundprinzipien der geisteswissenschaftlichen Kosmologie. GA 89. – Dornach, 2015. S. 237. .pdf im Internet: https://odysseetheater.org/GA/Buecher/GA_089.pdf
4vgl. ebd., S. 238
5vgl. ebd.
6ebd.
7Ebenso wie umgekehrt der Hereinbruch der römisch-juristischen Denkweise ins Germanische z.B. bei den Friesen erst spät dazu führte, dass lebendig gefühltes und in der Gemeinschaft praktiziertes Recht überhaupt aufgeschrieben wurde.
Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.