Geisteswissenschaft und Hellsichtigkeit

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Die Wahrheitsfrage – Dilemma unserer Zeit

Was im Folgenden dargestellt wird, ist ein weiterer Versuch, Denkwege, die unserer Zeit nötig aber ungewohnt sind, so darzubieten, dass für den unvoreingenommenen Leser ein genauer Nachvollzug möglich ist und er dadurch beim Lesen eine kleine Übung im ungewohnten Denken absolvieren kann. Daher scheint es sinnvoll, eingangs auf diese Intention aufmerksam zu machen, aus der dann auch die Bitte hervorgeht, der Darstellung zunächst einfach denkend zu folgen und Einwände – welcher Art auch immer – bis zum Schluss zurückzustellen. Ein solches Vorgehen wird dazu beitragen, dass der Nachvollzug der gemeinten Denkwege ungehindert vonstatten gehen kann, und so ein wahres Bild der geistigen Grundlagen unserer Erkenntnis entstehen kann, in dem Methode und Inhalt sich vollkommen entsprechen, ja Eines werden.

Wie entsteht Erkenntnis?

Wenn wir über einen Gegenstand – sinnlich oder geistig – etwas wissen wollen und nicht nur meinen, dann ist es erforderlich, dass wir uns genaue Rechenschaft geben können über die Methode, die wir anwenden, um zu den Wahrnehmungen, die wir von diesen Gegebenheiten haben, einen angemessenen Begriff hinzu zu fügen.

Dass eventuell auch die vorliegenden Wahrnehmungen falsch oder verfälscht sein können, spielt dabei keine Rolle – denn bei der Beurteilung der Richtigkeit der Wahrnehmungen taucht dasselbe Problem wieder auf: wie können wir zutreffend beurteilen? Einen Maßstab zur Beurteilung unseres eigenen Erkenntnisprozesses können uns nur eigene Beobachtungen verschaffen, die für uns selber unbezweifelbar vorliegende Tatsachen darstellen, und zu deren Beurteilung wir nichts heranziehen müssen, was außerhalb der eigenen Beobachtung liegt. Dann überschauen wir das Ganze der Erkenntnis und können feststellen, ob alles zueinander stimmt.

Genau so müssen wir daher auch mit unseren vornehmsten Erkenntnisinstrument, dem Denken, verfahren.

Kontrolle des Denkens

Eine solche Beschäftigung des Denkens mit sich selbst widerstrebt uns zunächst, vielleicht weil wir unterschwellig ahnen, wie unkontrolliert es im Alltag bei uns verläuft. Da reihen wir nicht bewusst Schritt an Schritt, sondern springen von Eingebung zu Eingebung: „… da fällt mir ein …“ – woher denn eigentlich? Bewusst einen Gedanken an einen anderen anzuschließen, ist uns ungewohnt, und manchmal Schwerstarbeit. Aber ohne diese Arbeit bleibt jedes Urteil, das wir abgeben, letztlich bodenlos, bloße Meinung.

Und so lebt unsere Zeit in der (für unsere Bequemlichkeit förderlichen) Auffassung, dass es Wahrheit eben nicht gibt, sondern nur Meinungen. Und die Welt und das Leben werden dann eben von denen beherrscht, die ihre Meinung zum Beispiel durch Manipulation oder Gewalt am besten geltend machen können. Wie aber, wenn diese Meinung, es gäbe keine Wahrheit, falsch wäre?

Um zur Wahrheit in dieser Sache zu kommen, bleibt also nur der anstrengende Weg des Selber-Denkens, keinen „Einfällen“ („Invasionen“) zu folgen, sondern eines aus dem anderen Schritt für Schritt zu entwickeln, oft gerade gegen meine Vorlieben und Wünsche ( … die Bequemlichkeit zum Beispiel).

Wissenschaft

Genau das ist aber Wissenschaft: beim Beurteilen und Erklären einer Tatsache methodisch so vorzugehen, dass keine unbeobachteten Einflüsse das Urteil unbemerkt beeinflussen können, und dadurch dann auch nicht unbemerkt persönliche Sympathie oder Antipathie oder sonstige, in der Person des Wissenschaftlers liegende Eigenschaften das Ergebnis verfälschen. Das kann man gegenüber der Natur und ihren Gegenständen ebenso anwenden wie im Umgang mit geistigen Beobachtungen, ganz zuerst vor allem dem eigenen denkenden Beurteilen gegenüber. Gegenüber der Natur kommt dies im Aufbau von Experimenten zum Tragen; im Geiste ist der Experimentator sein eigener Versuchsaufbau.

Das Denken ist eine innere, nicht durch äußere Sinne gegebene Tatsache, also geistig, übersinnlich, ebenso wie jedes Gefühl, jeder Willensimpuls oder letztlich auch ich selbst1 so, wie ich mich erlebe2. Gehe ich geistigen Gegenständen gegenüber wissenschaftlich im obigen Sinne vor, so betreibe ich ganz wörtlich Geisteswissenschaft.

Form und Inhalt

Dabei ist es unbedeutend, welchen konkreten geistigen Inhalt ich untersuche; was zählt, ist die Methode, die nichts Unbeobachtetes als Einflussgröße im Prozess duldet. Das wissenschaftliche Vorgehen ist also die Bildung einer Erklärungsform für einen Inhalt, und diese Erklärungsform kann ich dann als gültig ansehen, wenn in ihre Bildung nichts einfließt als der beobachtete Gegenstand und meine vollbewusste Tätigkeit.

So etwas ist nicht einfach: man versuche einmal, zum Beispiel die Entstehung eines Bleistiftes sich innerlich zu erklären so, dass nichts herangezogen wird, was nicht unmittelbar mit dem vorher Vorhandenen so zusammenhängt, dass mir dabei der Zusammenhang völlig klar ist. Abgesehen davon, dass es uns sehr schwer wird, ohne Abschweifung mehr als einige Sekunden bei der Sache zu bleiben, werden wir sofort innerlich von „Einfällen“ überflutet, die sich jetzt aus angelernten, aber meist ins Unbewusste gesunkenen Zusammenhängen ergeben. Wir werden also sofort wieder durch eine Inhaltsfülle von der kontrollierten Erkenntnismethode abgelenkt.

Über die Wahrheit einer geistigen Tatsache ist aber ein Urteil nur auf dem Wege der inneren Kontrolle des Denkens und Beurteilens möglich; den äußeren Weltgegenständen gegenüber kann jeder Irrtum, jeder Methodenverlust durch genaue Beobachtung dieses gegebenen Inhaltes selbst korrigiert werden. Das hat zu unserer Gewohnheit geführt, uns beim Denken von den Inhalten leiten zu lassen, den äußeren (Sinnes-)Inhalten ebenso wie den inneren (Wunsch- und Vorlieben-)Inhalten.

Geistige Wahrnehmung

Üben wir aber kontrollierte Erkenntnismethodik systematisch an nicht-sinnlichen Inhalten (wie zum Beispiel der Beobachtung des Denkens), so erlernen wir dabei die bewusste Gestaltung von zeitlichen inneren (Erkenntnis-)Prozessen, bei denen wir immer sagen können, was wie woraus hervorgeht – also das Gestalten von inneren Tätigkeitsformen, die wir den Inhalten entgegentragen. Diese Tätigkeit ist gewissermaßen eine freie, die aber dann immer sagen kann, wie das zustande kommt, was sie hervorbringt. Solche Übung nennt man auch Meditation; in diesem Falle aber eine, die sich nicht in die reine Wahrnehmung zurückfallen lässt, sondern gerade die eigene Aktivität steigert, konzentriert, um sich eine Erklärung des (selbstgestalteten) Untersuchungsgegenstandes zu schaffen.

Diese Untersuchungsgegenstände sind dann völlig selbstbewusst erarbeitete Inhalte, die nur so lange existieren, wie sie auch hervorgebracht werden. Sie sind keine aneinandergereihten Worte, sondern mühsam erarbeitete innere Bilder des Untersuchten und seiner Zusammenhänge. Es geht also gerade darum, die Sache selbst sich durch unsere Tätigkeit aussprechen zu lassen, nicht aus ihr irgendwelche abstrakten, allgemeinen Regeln aufzustellen, die man dann immer gleich reproduzieren und auf andere vermeintlich gleich geartete Inhalte anwenden kann, oder auch bestimmten Nutzen aus der Sache zu ziehen.

Man beginnt dadurch nach und nach in solchen inneren Bildern zu denken, und nicht mehr in abstrakten Gesetzen oder „aus dem Bauch“ gefühlt durch irgendwie sich assoziativ angliedernde andere Inhalte. So entwickelt man ein neues (geistiges) Sinnesorgan für geistige Wahrnehmungen. Bei einiger Übung fallen einem dann solche Bilder – Imaginationen – auch bei anderen Gegenständen zu, die man noch nicht selber in der geschilderten Weise genau kontrolliert untersucht hat. Der Unterschied zu beliebigen Traumbildern ist aber, dass solche Bilder den Weg zu ihrer Entstehung stets einschließen, und daher ihre Gültigkeit immer durch den Menschenverstand überprüft werden kann.

Gesunder Menschenverstand

Das mir wie jedem gesunden Menschen gegebene, bisher aber noch ungenannte Kriterium der Beurteilung ist der sogenannte „gesunde Menschenverstand“, der nämlich durchaus beurteilen kann, ob ein Schritt wirklich bewusst aus dem vorigen hergeleitet werden kann, jedenfalls dann, wenn er sich nicht auf vorgefasste Urteile, sondern nur auf sich selbst stützt. Er ist es auch, der es ermöglicht, durch einen Anderen vorgebrachte Berichte von Tatsachen zu beurteilen, auch wenn man selber keine Wahrnehmung davon hat, egal, ob es um sinnliche oder übersinnliche Tatsachen handelt.

Der bewusst imaginative Hellseher kann daher von jedem Menschen bezüglich seiner Zuverlässigkeit beurteilt werden. Kann er nämlich nachvollziehbar angeben, wie er zu seinen Erkenntnissen kommt, also zu den erzählten Inhalten auch die lebendigen Bildbegriffe und ihren Bildeprozess liefern, so bleibt er nichts schuldig.

Anders ist es bei Menschen, die über nicht-sinnliche Wahrnehmungen ohne vorhergehenden Aufbau einer wissenschaftlichen Erkenntnismethode für den Geist verfügen. Sie erzählen dann von ihren Wahrnehmungen, verwenden aber Begriffe dafür, die sie am Umgang mit sinnlichen Inhalten erlernt haben. Begriffe sind eben innerliche Formen, die sich mit Inhalten der Wahrnehmung verbinden, ihnen auch entsprechen müssen, damit sie „passen“, nicht einfach Worte, die den Inhalten angeheftet werden. Und die Anwendung unpassender Begriffe gaukelt dem Empfänger solcher Mitteilungen dann vor, er könne das lebendige Wesen der geistigen Wahrnehmungen mit seinen im Alltag erworbenen Begriffen fassen, was dann dazu führen kann, dass Wahrnehmungen durch die Begriffsweise verzerrt, unterdrückt oder auch hinzuhalluziniert werden. Das ist genauso wie bei schlecht oder fehlerhaft ausgebildeten Körpersinnen den Sinnestatsachen gegenüber.

Es gibt sicher auch Menschen mit angeborener Hellsichtigkeit, die sich dann mühsam die richtigen Begriffe zu ihren Wahrnehmungen bilden konnten. Das ist aber ganz sicher eine Minderheit. Es erfordert ja das Losreißen der Erkenntnismethode von den Inhalten; und gerade solche Hellsichtigen werden von inneren Bildinhalten geradezu überflutet. Da kostet es dann noch mehr Kraft als für einen „Normalmenschen“, um Kontrolle über das eigene Denken im Bilden von imaginativen Begriffen zu bekommen; nur sehr wenige können das.

Die heutige Situation

Warum ist das heute so? Wir leben in einer Zeit, in der die Wahrnehmungsinhalte ihre Begriffe nicht mehr unmittelbar „mitliefern“ – wir müssen sie uns selber erarbeiten. Dadurch sind wir aber auch frei geworden vom „geistigen Zwang“ durch diese mitgegebenen Begriffe und Notwendigkeiten. Dies ist die Grundlage für alle Irrtums- und Zerstörungsmöglichkeiten, über die der Mensch heutzutage verfügt. Darum hat er sich auch anhand seiner Sinneswahrnehmungen allerlei Theorien zurechtgedacht, die dann stimmen oder auch nicht, also nur als Meinungen gelten können und damit dem Machtkampf um die „richtige Meinung“ ausgeliefert sind.

Zu früheren Zeiten lebten die Menschen geführt durch gezielt ausgewählte und dafür geschulte Personen, die noch die Fähigkeit hatten, die wahren, lebendigen Bildbegriffe zu den Wahrnehmungen zu empfangen: Mysterienpriester, Gottkönige und ähnliche Persönlichkeiten. An dieses Geführtwerden hat sich die Menschheit gewöhnt; das äußere Führungssystem übernahmen die Kirchen, sich jetzt auf die durch sie gepflegte Tradition der überlieferten Offenbarung berufend, und später der Staat, ein gleichsam „göttliches Gesetz“ repräsentierend, das über den Menschen steht. Heute sind die Inhaber dieses Führungssystems noch ganz andere Gruppen.

Die Geist-Wahrnehmung starb ab, beschränkte sich auf immer kleinere Gruppen, und mangels passender Begriffe wurde sie in unserer Zeit immer chaotischer; die „Inhaber“ der Herrschaftstraditionen wissen das und achten darauf, dass möglichst keine wahre, neue Geisterkenntnis aufkommt.

Sie ist aber da, als Möglichkeit in unserem „gesunden Menschenverstand“ und der daraus folgernden kontrollieren Selbsterziehung zum geistgemäßen Denken, das dann aus der Selbstbeobachtung die Wahrheit oder Unwahrheit einer Aussage beurteilen kann.

In früheren Zeiten unterschied man zwischen der Geist-Wahrnehmung, die lange Zeit noch Allgemeingut war, und der Einweihung, die das angemessene Begreifen dazu lieferte, in langer, kontrollierter Erziehung in den Mysterienschulen errungen. Die Eingeweihten wiederum führten die Gemeinschaft, und die Wahrheit ihres Tuns konnte jeder geistig wahrnehmen; sie stand ihnen sozusagen geistig „an die Stirn geschrieben“. Man wusste einfach: der ist Eingeweihter, dem kannst du trauen.

Heute haben wir dieses unwillkürliche Urteilsvermögen nicht mehr; dafür sind wir frei geworden. Darum aber ist alle Hellsichtigkeit ohne geistgemäße Denkschulung heute hochriskant. Sie kann zu allem Möglichen führen: Psychosen, Massenwahn in allerlei Sekten, Manipulation großer Menschenmassen und so weiter.

Rudolf Steiner sagte sinngemäß: heutzutage darf es Geistwahrnehmung ohne Einweihung (die die richtigen Begriffe liefert!) nicht mehr geben. Sonst ist die Gefahr groß, in die geistigen Fänge unguter Mächte zu geraten, die gerade davon leben, dass sie geheim bleiben, den meisten Menschen unbewusst, und die die Menschen so versklaven, indem sie ihnen insgeheim, im Unbewussten (also auch geistig-übersinnlich!) falsche Begriffe einflüstern3.

Geisteswissenschaft – so wie sie hier vertreten wird – ist also die Methode der Gewinnung wahrer Erkenntnisse aus übersinnlicher Wahrnehmung. Sie stützt sich selber, indem sie ihre Methode als etwas Übersinnlich-Geistiges ansieht, das sie selber untersuchen und verstehen kann. Die Übung der Methode führt zur Entstehung eines geistigen Organes; die Anlage dazu hat jeder Mensch, daher kann sie aus den vorhandenen Anfängen systematisch erübt werden. Solche Übung kann also zu Hellsichtigkeit führen, muss es aber nicht. Unabhängig davon können durch die Beherrschung der Methode aber Mitteilungen von Hellsichtigen auf ihre Wahrheit hin beurteilt werden.

Hellsichtigkeit ohne Geisteswissenschaft birgt viele Risiken in sich: seelische Erkrankungen, Halluzinationen, Fehlbeurteilungen der Wahrnehmungen (manchmal sogar der sinnlichen!) bis hin zum völligen Wahnsinn. Diese Risiken können durch systematische geisteswissenschaftliche Schulung überwunden, mindestens aber beherrscht werden. Trotzdem können natürlich einzelne Aussagen von nicht geschulten Hellsichtigen immer auch Wahres enthalten, ebenso wie sich auch der geisteswissenschaftlich Geschulte irren kann – wie jeder Mensch.

© Stefan Carl em Huisken 2023

1Vgl. dazu auch em Huisken, Stefan Carl: Geistwesen Mensch. – In: DIE LAHNUNG 10, S. 4ff, oder im Netz =>hier.

2Das Ich ist eine geistige Tatsache, die nur ich erlebe. Da sie für jeden anderen auf seine Weise aber auch gültig ist, ist die Tatsache des Ich individuell und allgemein zugleich.

3Jeder Guru, der verlangt, man solle sich erst ihm anvertrauen, bevor man dann später erst lernt zu verstehen, was mit einem selber geschehen ist, gehört in diese Kategorie – er missachtet nämlich die Freiheit des Individuums, die es gerade erfordert, erst zu verstehen, und sich dann bewusst und frei für das Erleben zu entscheiden.


Cover Wahnsinn und Denken Hellsichtigkeit

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.

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