Das Ringen um die anthroposophische Gesellschaft

image_printFür längere Texte empfehle ich vorherigen Ausdruck

Immer wieder neu stellt sich das Ringen um die Frage ein, was eigentlich wirklich die anthroposophische Gesellschaft sei und wie mit ihr – so, wie sie derzeit im äußeren Leben auffindbar scheint – zu verfahren wäre. Die Diskussion wird innerhalb wie außerhalb des nach der anthroposophischen Gesellschaft benannten Dornacher Vereins immer wieder neu aufgeworfen, und bindet Kräfte, Zeit und Einsatz von Menschen, die in unbezweifelbar allerbester Absicht handeln.

Zur Frage der Mitgliedschaft und Mitarbeit in der anthroposophischen Gesellschaft habe ich in der Vergangenheit bereits mehrere Stellungnahmen abgegeben, von denen zwei ja auch in ENB 14/2022 und 22/2022 veröffentlicht wurden1. Nun war ja der Nachweis eines für die Sache wichtigen Zitates offen geblieben, in dem Rudolf Steiner „immer wieder darauf aufmerksam machte, dass geistige Initiativen, wenn sie zu irdischen Institutionen werden, verkannt werden und sich in ihr Gegenteil verkehren müssen, wie ich damals in meiner ersten Stellungnahme formulierte.

Einige Aussagen Rudolf Steiners zum Thema hatte ich in der zweiten veröffentlichten Stellungnahme bereits angeführt, nun kam mir eine weitere unter die Augen, die die Sache vielleicht noch unmissverständlicher formuliert. Ich will daher hier darauf hinweisen und ein paar Gedanken daran anschließen. Die hier gemeinte Aussage:

„Die Sache ist nämlich wie bei einem Pendel: die Kraft zum Hinaufschwung wird beim Herunterschwingen als Fallkraft gewonnen. Wie also gerade die entgegengesetzte Kraft angesammelt wird beim Herunterschwung, die dann verbraucht wird beim Hinaufschwung, so ist es in rhythmischer Folge im geschichtlichen Leben der Menschheit. Was Sie für ein gewisses Zeitalter finden können als die vollkommene soziale Ordnung, überhaupt als irgendeine Ordnung: wenn Sie es realisieren, so verbraucht es sich und führt nach einiger Zeit wiederum in die Unordnung hinein. Das Evolutionsleben ist nicht ein solches, daß es gleichmäßig aufsteigend ist, sondern das Evolutionsleben verläuft in Ebbe und Flut, verläuft in einer Wellenschwingung. Und durch das Beste, was Sie einrichten, wenn Sie es realisieren auf dem physischen Plan, rufen Sie Zustände hervor, welche nach der entsprechenden Zeit die Vernichtung desjenigen bewirken, was Sie eingerichtet haben. Es würde ganz anders um die Menschheit stehen, wenn man dieses unerbittliche Gesetz der Notwendigkeit im geschichtlichen Geschehen gehörig erkennen würde Man würde dann nicht glauben, daß man im absoluten Sinne ein Paradies auf Erden begründen kann, aber man würde genötigt sein, hinzuschauen auf das zyklische Gesetz der Menschheitsevolution. Und indem man eine absolute Beantwortung der Frage: Wie soll das soziale Leben sich gestalten? – ausschließt, wird man das Richtige tun, wenn man fragt: Was muß für unser Zeitalter getan werden? Was erfordern gerade die Impulse unseres fünften nachatlantischen Zeitalters? Was will sich in Wahrheit umsetzen? – Indem man sich bewußt ist, daß dasjenige, was man realisiert, sich im zyklischen Umschwunge notwendigerweise wieder vernichten wird, muß man sich klar sein, daß man nur in dieser relativen Weise, indem man die Entwickelungsimpulse eines bestimmten Zeitalters erkennt, auch sozial denken kann. Man muß mit der Wirklichkeit arbeiten. Man arbeitet gegen die Wirklichkeit, wenn man glaubt, mit abstrakt-absoluten Idealen irgend etwas ausrichten zu können.“2

Vor dem Hintergrund dieser Darlegung von Rudolf Steiner stellt sich mir die Frage, inwieweit die äußeren Strukturen, die zu Rudolf Steiners Zeit mit der freien Geistgemeinschaft der anthroposophischen Gesellschaft verbunden wurden, um deren Existenz in der physischen Welt zu unterstützen, heutzutage überhaupt noch relevant sein können. Hat eine Bemühung um eine Aufrechterhaltung dieser Strukturen – auch bei umfassenden Reformen – überhaupt einen Sinn, der der geistigen anthroposophischen Gesellschaft dienlich sein kann? Oder bindet die Auseinandersetzung damit nicht gerade die Gedanken, Gefühle und Willensimpulse der damit befassten Menschen an etwas notwendig Untergehendes?

Insbesondere, wenn ich die Auseinandersetzung um Beratungsgremien, Zusammenkünfte und dergleichen aus der Ferne zu verfolgen trachte, die manche ja sehr engagierte Menschen gemeinsam mit den Funktionären des derzeitigen Dornacher Vereins immer wieder veranstalten, klingt mir zusätzlich eine weitere Aussage Rudolf Steiner in demselben Band in den Ohren:

„Und sagt man: Der Mensch ist ein soziales Wesen – wie es heute geradezu Mode geworden ist –, so ist das Unsinn, denn der Mensch ist ebenso stark ein antisoziales Wesen, wie er ein soziales Wesen ist. Das Leben selber macht den Menschen zu einem antisozialen Wesen. Deshalb denken Sie sich einmal einen solchen Paradieseszustand auf Erden durchgeführt, wie es ihn gar nicht geben kann, aber wie er angestrebt wird, weil die Menschen ja immer das Unwirkliche viel mehr lieben als das Wirkliche – denken wir uns, ein solcher Paradieseszustand würde hergestellt (…). Sehr bald schon würden sich unzählige Menschen dagegen auflehnen müssen, weil sie dabei nicht Menschen bleiben können, weil in einem solchen Zustande eben nur die sozialen Triebe Befriedigung finden würden, sich aber die antisozialen Triebe sogleich regen würden. Das ist ebenso notwendig, wie ein Pendel nicht bloß nach der einen Seite ausschlägt. In dem Augenblicke, wo Sie einen Paradieseszustand herstellen, müssen sich die antisozialen Triebe regen. (…) Denn das ist eben das Leben, daß es zwischen Ebbe und Flut hin und her geht. Und wenn man das nicht verstehen will, so versteht man eben überhaupt nichts von der Welt. Man hört ja oft: Das Ideal eines staatlichen Zusammenlebens ist die Demokratie. – Gut, nehmen wir also an, das Ideal eines staatlichen Zusammenlebens sei die Demokratie. Aber, wenn man diese Demokratie irgendwo einführen wollte, so würde sie notwendigerweise in ihrer letzten Phase zu ihrer eigenen Auflösung führen. Die Demokratie strebt notwendigerweise danach, wenn die Demokraten beisammen sind, daß immer einer den andern überwältigen will, immer will einer recht haben gegenüber dem andern. Das ist ganz selbstverständlich. Sie strebt nach ihrer eigenen Auflösung. Führen Sie also irgendwo die Demokratie ein, so können Sie das in Gedanken schön ausmalen. Aber in die Wirklichkeit übergeführt, führt die Demokratie ebenso zum Gegenteil der Demokratie, wie das Pendel nach der entgegengesetzten Seite ausschlägt. Das geht gar nicht anders im Leben. Demokratien werden immer nach einiger Zeit sterben an ihrer eigenen demokratischen Natur.“3

Wäre es nicht vielleicht wünschenswert, sich hier mit noch mehr Nachdruck – fern aller äußeren Details – auch im Blick auf die Situation der anthroposophischen Gesellschaft um dasjenige zu kümmern, worauf Rudolf Steiner verwies, als er im oben zitierten Vortrag vom 1. Dezember 1918 auf eine Karte hinwies, die er zwei Jahre vorher den Zuhörern aufgezeichnet hatte:

„Sie erinnern sich, ich habe vor zwei Jahren hier eine Karte aufgezeichnet, die sich jetzt realisiert. Und diese Karte habe ich nicht nur Ihnen aufgezeichnet. Ich habe diese Karte dazumal angeben wollen, um auszusprechen, wie die Impulse von einer gewissen Seite her gehen, weil es ein Gesetz ist, daß, wenn man diese Impulse kennt, wenn man sich einläßt darauf, wenn man sie ins Bewußtsein aufnimmt, sie in einer gewissen Weise korrigiert, sie in anderes gelenkt werden können. Das ist sehr wichtig, daß man dies erfaßt.“4

Mir fällt zusätzlich dazu die Aussage Ita Wegmans ein, Dämonen könne man nicht besiegen, nur austrocknen5. Wer sich gerade gegen eine Sache mit seinen Kräften einspannt, stärkt sie dadurch, denn er erfüllt sein Bewusstsein damit und gibt seine individuelle Kraft hinein – so verstehe ich das. Sind unter solchem Gesichtspunkt die vielen Bemühungen um die Rettung der (äußeren) anthroposophischen Gesellschaft sinnvoll?

Die folgende, von Rüdiger Blankertz unter (leider nicht exakt nachgewiesenem) Bezug auf Christoph Lindenberg geschilderte Szene beim Brand des Goetheanums wirft vielleicht ein zusätzliches, erschütterndes Licht auf die Frage des Umganges mit der heute im äußeren Leben aktiven „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“:

„Nehmen wir eigentlich jene verstörende Szene zur Kenntnis, die sich am Silvesterabend 1922 in Dornach zugetragen hat? Die Zukunftsbau der Menschheitskultur, das Haus des Wortes Rudolf Steiners, brannte in dieser Nacht bis auf die Grundmauern ab. Rudolf Steiner hatte vielfach gewarnt, dass die Gefahr einer Brandstiftung seitens der (damals klerikal maskierten) Gegner besteht, gerufen und geduldet durch die der akademischen Gruppenseele verfallenden Anthroposophen. Der Brand, so Rudolf Steiner, wurde möglich, weil die Art und Weise, wie von »den lieben Freunden« in diesem »Bau des Wortes Rudolf Steiners« bei öffentlichen Anlässen zu Inhalten der Anthroposophie gesprochen wurde, als schriller Gegensatz zu den Formen dieses Baues empfunden werden musste.6 Halten wir diese Aussage gut im Gedächtnis. Und fragen wir uns: Haben wir verstanden, was das heißt? Und nun sehen wir zu, was in dieser Nacht durch Rudolf Steiner selbst geschehen ist. – Erst durch die Rauchentwicklung wurde der noch schwelende Brand entdeckt, konnte aber zunächst nicht lokalisiert werden. Schließlich stellte man fest, dass die Doppelwand des »weißen Saales« stark erwärmt war. Einige junge Leute stiegen aufs Dach, um – nach schlichter Hausfrauenphysik handelnd – die Schindeln abzuheben und das Feuer korrekt von oben zu löschen. In Kenntnis dieser Rettungsaktion aber ließ sich währenddessen Rudolf Steiner unten im Saal eine schwere Brandschutz-Axt reichen. Christoph Lindenberg beschreibt in seiner Steiner-Chronologie unter dem 31.12.1922 mit süffisantem Unterton, was nun – horribile dictu! – durch den Meister selbst geschah. Steiner sagte zu den aufgeregten, ihn umstehenden Anthroposophie-Freunden, so Lindenberg, er müsse jetzt Gewissheit haben, und begann, die zentimeterdicke Bretterwand mit der Axt zu bearbeiten. Wie gelähmt standen die Freunde dabei, keiner fiel Rudolf Steiner in den Arm, niemand wies ihn darauf hin, dass nach den elementaren Kenntnissen, die bei der Beheizung eines beliebigen Ofens zur Anwendung kommen, das Öffnen einer Luftzufuhr von unten die entschiedene Anfachung eines bloß schwelenden Feuers zur Folge haben muss. Als Steiner mit der Axt nach etlichen wuchtigen Schlägen die Wand durchbrach, schoss die Flamme, nunmehr entfesselt, in der Wandhöhlung nach oben, in Sekundenschnelle entstand ein brausender Feuersturm, vor dem sich die Helfer auf dem Dach nur mit Mühe retten konnten. Nach der Begründung seiner Entscheidung: »Wir müssen Gewissheit haben!« – die Holzwand war doch heiß! – kommentierte Rudolf Steiner die Ausführung mit den Worten: »Nun, da ist nichts mehr zu retten!« Was ist das???“7

Rüdiger Blankertz schließt an diese Darstellung eine Vielzahl wichtiger, sehr schmerzhafter Fragen an, die hier wiederzugeben zu weit führen würde – man lese selber nach8. Wenn Rudolf Steiner wirklich so handelte im Umgang mit dem Goetheanum-Bau, wie können wir Heutige dann sinnvoll handeln der äußeren, von Krisen durchschüttelten „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ gegenüber?

© Stefan Carl em Huisken 2023

1Ein Nachrichtenblatt, Näheres unter https://einnachrichtenblatt.org. Die beiden Stellungnahmen finden sich in ENB 14/2022, S. 14 ff (auf meiner Website unter https://ogy.de/5wuo) und ENB 22/2022, S. 9f (Website https://ogy.de/27dd). Weiteres unter dem Stichort „anthroposophische Gesellschaft“ auf www.emhuisken.de

2Steiner, Rudolf: Die soziale Grundforderung unserer Zeit. In geänderter Zeitlage. – Dornach, 1979, Vortrag vom 1. Dezember 1918, S. 58, Hervorhebung SCeH

3Steiner, Rudolf: Die soziale Grundforderung unserer Zeit. In geänderter Zeitlage. – Dornach, 1979, Vortrag vom 6. Dezember 1918, S. 100f

4ebd, S. 64f, Hervorhebung SCeH

5Da muß ich mal wieder die Quelle schuldig bleiben; zu gegebener Zeit taucht sie wieder auf.

6(Fussnote von Rüdiger Blankertz): Vgl. Rudolf Steiner, »An die Mitglieder«, Nachrichtenblatt vom 27. Januar 1924, II. Brief: »Das rechte Verhältnis der Gesellschaft zur Anthroposophie«, in GA 260a, S. 43

7Blankertz, Rüdiger: Die drei Feinde der Anthroposophie in uns erkennen. Oder: Wenn das eigene anthroposophische Versagen als »Rettung der Anthroposophie« gelten soll ….. Zitiert nach einer .pdf-Version des Artikels (im Netz leider nicht mehr verfügbar), S. 12f, der auch in AGORA 2022, Nr.4 veröffentlicht wurde. Das AGORA-Heft liegt mir leider nicht vor.

8Im angegebenen Heft der AGORA; der Artikel ist außerdem offenbar für ein Buch vorgesehen, dass die Edition Nadelöhr herausbringen will. Vgl. https://agora-agenda.ch/buchprojekte/


Cover Wahnsinn und Denken anthroposophische Gesellschaft

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .