Vom Sterben in den Geist

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Das Einswerden mit der Welt im inspirierten Handeln

Unser Zeitalter ist beherrscht vom Geist der Furcht. Unser Dasein ist bodenlos geworden. Wir können es nicht mehr verstehen und versinken darum in Angst und Furcht vor dem Unverstandenen. Umso fester klammern wir uns an das, was wir glauben zu verstehen – unsere eigene, persönliche Weltanschauung also. Mit allem, was wir haben, verteidigen wir sie – ihr Verlust würde uns ins Bodenlose stürzen lassen. Die Furcht davor bringt Hass hervor. Hass auf alles, was mir fremd ist, auf alles, was ich nicht verstehe. Unsere ganze Kultur beruht auf der verdrängten Furcht vor der Wahrheit – der Wahrheit des Todes, des Kontrollverlustes, der Endlichkeit des Irdischen. Die Wahrheit lässt sich aber nicht endlos unterdrücken.

Der vereinzelte Mensch im geistleeren Raum

Jeder Mensch ist individuell, einzigartig. Was er mit seinen Sinnen wahrnimmt, was er dazu denkt, fühlt und will, kann niemand so wie er wahrnehmen, denken, fühlen. Wer kann schon durch die Augen des Anderen sehen?

Was wir aber mit den Sinnen wahrnehmen, ist niemals die ganze Wahrheit des Seins. In der Sinneswahrnehmung erscheint uns das Sein. Was es aber letztendlich ist, wissen wir nicht. Wir erleben es jedenfalls nicht unmittelbar als wahr; das unmittelbare Erleben beschränkt sich auf die Erscheinung.

Was diese Erscheinung konfiguriert, ihr zugrunde liegt, ist also letztlich etwas, was wir nur durch innere Tätigkeit herausfinden können: indem wir denken, die Wahrnehmungen durch Begriffe ordnen und zueinander in Beziehung setzen. Ohne unsere eigene Tätigkeit wäre das Ganze der Welt für uns heutige Menschen nur eine ungeordnete Ansammlung von Wahrnehmungen – nichts, was wir wirklich verstehen könnten.

Nun ist unsere eigene Tätigkeit leider auch etwas Unsicheres. Auch bei unserem Denken, Fühlen und Wollen können wir zunächst nicht wissen, ob es Wahres hervorbringt; wir können uns ja irren, es können unbemerkt Vorurteile einfließen oder Denkfehler passieren. Ebenso wie ein geschädigtes Sinneswerkzeug uns Wahrnehmungen verzerren kann, kann unsere eigene Tätigkeit uns täuschen.

Wir schweben also sozusagen haltlos zwischen unverstandenen Wahrnehmungen und fehleranfälliger Eigentätigkeit, ohne irgendwo Aussicht auf sichere Wahrheit. Es ist selbstverständlich, dass jeder Einzelne sich da seine eigene Weltanschauung baut, um sich darin in Sicherheit zu bringen. Nur sind alle diese Weltanschauungen Illusionen: sie haben keine unmittelbar erlebte Wahrheit als Grundlage, auf der aufgebaut werden könnte.

Alle heutige Wissenschaft funktioniert nach diesem Prinzip: man hat Wahrnehmungen, und man baut sich zur Erklärung Gedankengebäude, sogenannte „Theorien“. Für die alten Griechen waren Theorien noch als wahr erlebte begriffliche Welterklärungen, bestehend aus Gedanken, die man wahrnahm. Davon kann ja heute keine Rede mehr sein: was wir an Gedanken haben, ist aus unserer eigenen Tätigkeit erwachsen. Und die ist individuell, im Rahmen unserer individuellen Weltanschauung.

Was der Grieche also noch als geistige Tatsache erlebte – den Gedanken – das bringen wir als individuell-persönliches Produkt hervor, indem wir uns auf Wahrnehmungen der äußeren Sinne oder im Innern der Seele beziehen. Die Wahrnehmung gibt uns aber nicht preis, was sie so konfiguriert hat, wie sie ist. Dazu müssen wir immer denken. Und denken ist eine unsichtbare, nicht-sinnliche Tätigkeit, vielleicht begleitet von leiblichen Erscheinungen (Gehirnströmen z.B.); aber auch die Ansicht, die Gehirnströme seien die Ursache der Gedanken, ist schon – erdacht, und damit geistig, nicht-sinnlich, erst einmal eine Theorie.

So leben wir Heutige in einem geistleeren Raum. Den Geist, der diesen Raum konfiguriert, können wir nicht erleben, wir können darüber zunächst nur theoretisieren. Dadurch wird Wahrheit irreal, beliebig, fällt der Meinung des Individuums anheim. Dadurch werden wir alle aber auch einsam, denn niemand kann unsere individuelle Welt-Anschauung wirklich ganz nachvollziehen. Wir können nur noch in Kompromissen miteinander auskommen, oder einfach einander glauben. Wahrheit wird heute also zu einer Frage des Glaubens oder des ausgehandelten Kompromisses.

Damit macht uns diese Situation aber auch frei. Denn es gibt für uns keine Wahrheit mehr, die von jedem Menschen als selbstverständlich gültig erlebt werden kann. Und diese Freiheit können wir – von der vereinzelten Situation aus – im Aushandeln von Kompromissen immer in zwei Richtungen nutzen, die beide von der Macht geprägt sind: wir können den Anderen zwingen, uns zu glauben, oder der Andere zwingt uns, ihm zu glauben. Das Leben wird also zu einer Machtfrage.

Mit dieser Feststellung haben wir aber etwas Entscheidendes erreicht: wir haben eine Situation beschrieben, die bei einigermaßen ehrlichem Nachdenken jeder bei sich selber feststellen kann. Und wir können wissen, dass alle anderen in genau derselben Situation sind: vereinzelt im geistleeren Raum leben zu müssen, und nichts zu haben als sich selbst, um damit zurecht zu kommen. Diese Situation ist also etwas Allgemein-Menschliches, das unmittelbar als wahr erlebt werden kann. Damit wäre ein Ausgangspunkt gefunden, von dem aus alles Weitere Denken über Mensch und Welt beurteilt werden könnte. Man muss sich nur trauen, sich darauf einlassen.

Dass die Mehrzahl der Menschen genau diese Situation nicht wahrnimmt, sich auch wehrt dagegen, sie für sich selber festzustellen, ist nur zu verständlich. Die Bodenlosigkeit des eigenen Seins ist schwer erträglich, und ruft Furcht in uns auf. Aber nur durch sie sind wir als menschliche Individuen frei.

Realisieren wir diese Freiheit nicht, und behaupten sie nicht für uns selber, so bleibt uns kein Weg als der des Glaubens, der Über- und Unterordnung der Menschen untereinander, nach dem Maßstab der Macht. In unserer Zeit wehren sich die Menschen gegen den Blick in den Abgrund.

Was dadurch geschieht, treibt aber immer mehr in die Vereinzelung, jetzt nicht innerlich – dagegen wehren sich die Menschen ja gerade – aber nun äußerlich, durch Vorschriften, soziale Ausgrenzung, Hass und Hetze, die durch äußere Vereinzelung („Social Distancing“ – was vielleicht treffender „Antisocial Isolation“ genannt werden sollte) die innere Vereinzelung vertiefen. Allerdings ist jetzt die Freiheit nicht dabei, da die eigenständige Erkenntnis der Situation fehlt. Sie wird ersetzt durch dasjenige, was uns als virtuelle Realität durch die volle Wucht der mediengemachten Welt erreicht.

Die Wahrheit lässt sich eben nur begrenzt unterdrücken, sie fordert ihr Recht ein. Wollen wir aus dieser Vereinzelung heraus finden, so kann dies nur gelingen, indem wir aus uns selber Wege gehen, die immer weiter vertiefte Zersplitterung der Einzelnen zu überwinden. Wie gezeigt, ist die Besinnung auf die Wahrheit der inneren Situation jedes heutigen Menschen ein Ansatz dazu, sich bewusst von Gleich zu Gleich zu begegnen.

Das Ich als Entwicklungs-Zentrum

Die Einsicht in die Bodenlosigkeit des eigenen Seins im Denken, Fühlen, Wollen führt uns zum Zweifel an aller Wahrheit dessen, was wir als eigene Welt-Anschauung in uns tragen. Nun ist Zweifel aber letztlich die Grundlage für das Erreichen eines Wissens; der Glaube muss dagegen jeden Zweifel ablehnen, denn er würde sich selber dadurch entkräften. Wer nicht zweifelt, wird willfähriges Instrument dessen, an den er glaubt, also nicht frei, sondern Untertan. Zweifel an der eigenen Welt-Anschauung produziert also notwendig Zweifel an derjenigen des Anderen und hilft dadurch der Freiheit voran.

Von wem aber geht dieser Zweifel aus, wenn er denn wirklich frei machen soll? Das kann nur ich selber sein, als Souverän in meinem eigenen (Welt-Anschauungs-)Hause. Ich selber bin es letztlich auch, der anfängt zu unterscheiden zwischen Glaube und Wissen, zwischen Wahrheit, Täuschung, Irrtum und Lüge. Ständig bin ich aktiv in der Handhabung aller meiner inneren und äußeren Wahrnehmungen. Aber: weiß ich eigentlich, wer ich bin?

Schon, wenn ich mir selber eine Vorstellung über mich selbst mache, meiner irgendwie aus der Vergangenheit entstandenen, gewordenen Selbstvorstellung also nicht einfach glaube, sondern an ihr zweifele, zerspalte ich mich in zwei. Einer ist der, der diese Vorstellung hervorbringt, der also in seiner Tätigkeit lebt und schafft und daher niemals etwas sein kann, denn das, was ist, was er betrachten kann, schafft er ja gerade. Und der andere „Ich“ ist eben der, den ich mit der Vorstellung von mir zu fassen versuche. Nur: immer, wenn ich gerade solche eine Vorstellung fertig habe und zu fassen versuche, bin ich in diesem Augenblick schon wieder ein anderer, nämlich der, der diese Vorstellung betrachtet und nicht mehr ihr Hervorbringer. Was ich also von mir in Vorstellungen fassen kann, ist immer ein Vergangenes.

Indem ich aber nun immer auf Neue meine Vorstellung von mir zu verändern trachte, die jetzige Situation in sie zu integrieren versuche, bringe ich wieder den Schaffenden ins Spiel. Im Miterleben der Veränderungen, die ich selber hervorbringe, durchlebe ich nach und nach mein eigenes Schaffen, also: mich als Schaffenden, den, den ich eben nicht in eine feste Vorstellung fassen kann. Ihn lerne ich dabei kennen, also: mich selber, als lebendigen, tätigen Hervorbringer.

Damit schaffe ich für mich eine neue Kategorie von Wahrnehmungen, nämlich diejenige von Lebendigem, das immer in Entwicklung ist, niemals fest und abgeschlossen. Alle Sinneswahrnehmung, die ich sonst habe, bezieht sich immer auf einen Zustand, einen Augenblick, etwas Feststehendes, also: Totes. Leben ist darin nur zu finden in der Bewegung, die lebendige Entwicklung erst hervorbringt. Im Verfolgen meiner eigenen Selbst-Entwicklung im fortdauernden Nachführen der Vorstellung von mir nach Maßgabe der selbstgeschaffenen Veränderungen schaffe ich also mir selber ein Organ für das Lebendige, ja, werde selber dazu.

Nun kann man natürlich sagen, dass dasselbe ja auch anhand aller anderen lebendigen Prozesse der Welt geschehen könnte. Warum also gerade bei mir selber und meiner Selbst-Entwicklung ansetzen? Die Antwort ist einfach: nur dort, wo ich selber weiß, wie und durch wen oder was etwas zustandekommt, kann ich von wahren Tatsachen reden. Bei allem anderen bleibt es zunächst dabei, dass alles Denken darüber – und sei es noch so hingebungsvoll – den Charakter einer Theorie hat. Denn der schaffende Geist, der darin wirkt, ist mir noch unbekannt, ich weiß nicht, wie er wirkt. Das ist bei mir selber anders. Indem ich selber Vorstellungen von mir schaffe, kenne ich deren Ursprung, denn ich bin es selbst, und ich kennen den Entstehungsprozess, denn ich habe ihn selber ausgeführt. Zwar kann ich darüber immer nur im Rahmen von gewordenen Vorstellungen etwas sagen, habe aber als Korrekturmaßstab immer mich selber dabei.

Und da ich weiß, dass dasjenige, was sich als Schaffendes darin betätigt, das ICH, allen Menschen eigen ist, und daher alle Menschen sich auf diesen Weg der Selbst-Entwicklung des ICH begeben können, kann ich auch wissen, dass jeder Mensch dieses Wahrheitskriterium gleichermaßen in sich trägt.

In diesem Charakter des menschlichen Ich als Entwicklungs-Zentrum aller individuellen Welt-Anschauungen liegt ein Universelles, aus dem heraus die individuellen Welt-Anschauungen und die Personen, die sie in der Welt darleben, zu einander finden können, denn sie tragen es ausnahmslos alle in sich, so unterschiedlich die Inhalte ihrer Anschauungen, ihre Erscheinungswelten auch sein mögen..

Zeit-Räume

Im Verfolgen meiner eigenen Tätigkeit im fortlaufenden Bilden und Umbilden einer Selbst-Vorstellung durchlebe ich einen Vorgang, in den ich bei entsprechender Besinnung und Übung jederzeit wieder eintreten kann – immer auf der Grundlage der dann erreichten Vorstellung von mir selber. Ich bilde in mir dabei die Fähigkeit heran, bewegliche, sich entwickelnde Vorstellungen zu erbauen.

Nun kann ich einen weiteren Schritt tun, indem ich diese sich entwickelnde Vorstellung als solche zum Gegenstand der Betrachtung zu machen versuche. Wohlgemerkt: nicht zum Gegenstand im Sinne des Konstatierens und Aufzählens von Entwicklungsstationen – das mache ich ja ständig, im lebendigen Prozess – sondern indem ich die Situation selber, in der dies alles geschieht als meine eigene erleben lerne. Ich – der Schaffende, Ich – der (als Vorstellung zunächst) Hervorgebrachte, und jetzt Ich – der dies alles betrachtet.

Es wird auffallen, dass das Aufschwingen zu diesem Zustand – Rudolf Steiner nennt ihn in seiner „Philosophie der Freiheit“ einen „Ausnahmezustand“1 – höchste Anstrengung und Aufmerksamkeit benötigt. Lasse ich auch nur einen Augenblick nach im Erschaffen dieses Zustandes (als der „Schaffende“), so bricht er sofort in sich zusammen. Er ist also nicht etwas, was man einmal erwerben kann und dann einfach immer „hat“, sondern er ist nur da, wenn und solange ich das will.

Die Selbst-Wahrnehmung im Ausnahmezustand gibt es also nur aus eigener Anstrengung, von „des ICHes Gnaden“ sozusagen. Erreiche ich ihn, begegne ich aber darin mir selber als Selbst-Erschaffer, und ich erarbeite mir im Weg dahin den Umgang mit beweglichen Vorstellungen, lebendigen Vorstellungen also, in denen sich Entwicklungsgänge wie in einem inneren Tableau betrachten lassen.

Ich lerne dabei innerlich Zeit-Räume zu erschaffen, die ich aus eigenem Erleben überschauen kann. Was früher ist und später, was sich wie woraus entwickelt, es wird nach und nach sichtbar vor dem inneren Auge. So entsteht ein innerliches Bild des Lebendigen. Was ich da betrachten kann, ist noch nicht das Lebendige selbst, denn es fasst nur das, was ich daran durchlebt habe. Aber es ist dies ein Bild eines völlig Geistigen, von etwas, was es in der Sinnenwelt überhaupt nicht gibt, wovon sie nur immer in ständiger Bewegung befindlicher Ausdruck ist.

In immer wiederholter Bemühung kann ich mir so eine neue Fähigkeit anerziehen, erüben, die Rudolf Steiner die Imagination nennt. In der Imagination wird die Zeit zum Raum, in inneren Bildern erfasst. Als Garant für die Wahrheit dessen, was ich in ihr erlebe, kann mir der immer wieder erübte Ausnahmezustand dienen, denn in ihm schaue ich alles, was es zum Entstehen der Imagination braucht. Was von Außen herandringt und den Ausnahmezustand stört, verzerrt auch die Imagination.

Im Schau-Platz der Seele

Im genannten Ausnahmezustand kann ich erschauen, inwieweit meine irdische Persönlichkeit (das schon Erreichte, das sich in meiner Selbstvorstellung niederschlägt) mit meinem schaffenden Geist-Kern (der Hervorbringer) übereinstimmt. Inwieweit passen also mein Bild von mir und meine schaffende, aber niemals voll bewusste wahre Individualität zusammen? In mir, dem Betrachter, lebt gleichzeitig der Hervorbringer der geänderten irdischen Persönlichkeit, der sich entwickelnden Selbst-Vorstellung – und damit ein Selbst-Erzieher.

Indem ich meine Selbst-Entwicklung beginne zu überschauen als Zeiten-Raum, bilde ich der Gesamt-Situation etwas Neues ein: die ersten Ansätze wirklicher Freiheit als eine Ausdrucksart meiner geistigen Individualität. Und diese Individualität umfasst jetzt wirklich individuell, nämlich unteilbar, Ausgangspunkt und Ziel des Menschen im geistigen Erschaffer und Betrachter, zwischen denen in ständiger Entwicklung die irdische Person sich bewegt. In jedem MENSCHEN drücken sich Ursprung und Ziel des Menschenseins, der Mensch-HEIT aus2.

Der immer wieder neu zu erringende Aufbau des Ausnahmezustandes ist daher ein freier Beitrag des individuellen Menschen zum Ganzen, der Mensch-HEIT. Er geht hervor aus ihm selber, wie er sich selber schaffend sich in seiner Seele erscheinen kann. Der Wille zum Leben, wie er sich so durch die irdische Person frei darlebt, kann von niemandem „angeordnet“ werden. Er entsteht allein aus dem Menschen selber, aus Liebe zum Leben.

Ich selber, wenn ich beginne, mich eigenverantwortlich und selbst-bewusst selber zu entwickeln, bin also mein Beitrag zum Ganzen – falls und solange ich es will. Meine Seele ist der Platz, in dem und von dem aus dies geschaut werden kann. Und vergessen wir nicht eines: zu mir gehört meine ganze Welt, die Erscheinung der mich umgebenden Welt also, wie sie in mir auftritt, mich geprägt hat, mich hervorgebracht hat, und in die ich hineinwirke.

Losreißen vom Gewordenen

In meinem Tun reiße ich mich dann aber los von all dem, was mich hervorgebracht hat und mir in der mich umgebenden Welt wie feststehend erscheint. Ich folge nicht mehr einfach all dem, was mir als äußere Wahrnehmung gegeben ist und durch in mir schon vorhandene Denkmöglichkeiten diese Wahrnehmungen gewohnheitsmäßig ordnet. Denn ich baue lebendige, sich entwickelnde Vorstellungen in mir auf, die ohne mein Dazutun niemals vorhanden wären. Diese Vorstellungen sind nur innerlich-geistig fassbar. Nur aus dem lebendigen, selber schaffenden Menschen sind Vorstellungen vom Leben erreichbar.

Alles, was in die mir gegebenen Erscheinungswelt vorkommt und nicht von mir selber aus mir selber bewusst erschaffen wurde, verändert sich aber auch, ist also in Entwicklung. Habe ich erst an mir selber erlernt, wie lebendige Vorstellungen erschaffen und betrachtet werden können (im wiederholten Durchleben erschaffen, er-kannt, er-fahren), so wächst in mir ein neues Organ, das in der Imagination Bilder des Lebendigen geben kann, die ich aufgrund eigener Erfahrung des Wahrnehmungweges prüfen und in ihrer Wahrheit beurteilen kann.

Die geistig-wahre Lebenswelt, die mich umgibt und die mir durch die Sinne (auch die inneren Sinne der Seele) ihre Erscheinung gibt, ist mir ja zum allergrößten Teil (noch) unbewusst. Ich kenne nur ihre Erscheinung. Jetzt kann ich aber lernen, meine selbstgewollte Lebens-Erfahrung zu erweitern, und die Welt der Erscheinungen immer weiter zu enträtseln. All das, was schaffend die Erscheinungen um mich her hervorgebracht hat, es wird jetzt ins Bewusstsein aufgenommen. Ich lebe mich in die Welt hinein, und die Welt lebt immer mehr in mir, indem ich ihre Sprache zu entziffern beginne.

So wirke ich daran mit, all das, was mich umgibt, durch mein Tun reicher zu machen, sein Leben mit Bewusstsein zu er-fahren. Das ist etwas ganz anderes, als die Erscheinungen der Welt her zu nehmen, um ihnen dann die Ordnung aufzuzwingen, die ich mir, die Erscheinungen kombinierend, erdacht habe. Lebens-Erfahrung ist keine theoretische Lebens-Erklärung. Sie ist existenzielles Verbinden mit dem Erfahrenen, und wird erkannt im Imaginieren des Lebendigen.

Ich-Vorstellung und Imagination

Durch den Ausnahmezustand, in dem ich mir selber begegne als Einheit aus meiner Selbst-Vorstellung, ihrem Erschaffer und ihrem Betrachter, lerne ich, eine Imagination meines aktuellen Zustandes aufzubauen. Sie gibt mir Orientierung und Maß. Die darin vorkommenden Erscheinungsformen meiner selbst als Erschaffer und Betrachter sind aber zunächst gleichsam Hohlformen: ich erlebe sie in ihrer Wirkung, nicht aber als anschaubaren Weltgegenstand wie alle anderen Dinge meiner inneren und äußeren Welt.

Es gibt aber einen Weltgegenstand – zugleich viele Weltgegenstände, die aber alle eines zeigen – der mich selber spiegeln kann: das ist jeder andere Mensch. Von ihm kann ich wissen, dass er in derselben Situation ist wie ich. Er mag sich mehr oder weniger seiner Lage bewusst sein als ich, aber das bedeutet im Grundsatz nichts anderes, als dass er eventuell in seinem Entwicklungsstand vergangene oder zukünftige Erscheinungsmöglichkeiten meiner selbst spiegelt.

Wohl sind seine Weltinhalte andere als meine: die kenne ich aber nicht, kann ich auch nicht kennen. Durch die Augen des Anderen kann ich nicht schauen, und sein Seeleninneres bleibt mir zunächst verschlossen. Wohl aber kann ich an ihm mit-erleben, wie er sich entwickelt. Seine Entwicklungswege, seine Denk-Wege kann ich versuchen, mit zu gehen, um ihn kennen zu lernen und in ihm einen Spiegel meiner selbst.

In jedem Menschen, und sei er mir in seiner Stellung zur Welt und seiner Lebensführung noch so fern, kann ich doch eine Seite meiner selbst kennen lernen. Denn der andere Mensch erscheint mir in meinem individuellen Leben. Gerade diejenigen, die mir schwere Aufgaben stellen, zeigen mir, wo ich mir die größten Entwicklungsmöglichkeiten im mit-durchlebenden Verständnis ihrer Individualität erringen kann. Nicht das Angenehme, mir schon eigene hilft mir zur Entwicklung; das macht nur bequem. Was meine ganze Kraft fordert, um es innerlich mit zu gehen, kann die Macht in mir wecken, das Fremde zu überwinden und mir frei zu Eigen zu machen.

Zersplitterung in einem Boot

Aller Gegensatz, den es zwischen den gewordenen Auffassungen, Gewohnheiten, „Standpunkten“ und Lebensweisen geben kann, er wird aufgehoben im verstehenden mit-denken der Wege des Anderen. Darin erst kann ich dann erkennen lernen, dass wir als Menschen wirklich „in einem Boot“ sitzen. Alle sind wir in individueller Entwicklung, und dadurch sind wir Menschen, und als solche gleich. Daraus erst kann sich ergeben, was Recht unter Menschen ist, lebendiges Recht, das sich aus dem Mensch-Sein aller ergibt. Das heutige geschriebene, bis in Einzelheiten aus der Vergangenheit festgelegte und damit tote, ent-individualisierte Recht ist ein Überbleibsel der Römerzeit. Können wir es überwinden und neu, lebendig denken?

Alle irdischen Menschen sind sich darin gleich, und doch verschieden in den inneren und äußeren Orten ihrer Fortentwicklung. Alle irdischen, und im Irdischen voneinander geschiedenen Menschen entstammen einer gemeinsamen Vergangenheit (wenn wir die auch nicht im Einzelnen bewusst erkennen), und sie gehen in eine gemeinsame Zukunft, an der jeder Einzelne gleichermaßen mitwirkt. Nur die Furcht hält uns davon ab, uns der Bodenlosigkeit der Vereinzelung im Irdischen zu stellen und sie gerade dadurch, durch unsere Freiheit also, weiter zu entwickeln, in eine neue Gemeinschaft hinein.

Die Furcht vor mir selber begegnet mir aber in jedem anderen Menschen und ruft mich an, sie zu erkennen. Wer sich der Unsicherheit, die im nach-denkenden Verstehen des Anderen liegt, nicht stellen will, wird den Anderen ablehnen. Je nach Stärke der Furcht kann Ablehnung in Hass und Streit ausarten. Überall da, wo es uns nicht gelingt, einander in unseren Entwicklungswegen mit zu erleben, wird sich also Uneinigkeit unter den Menschen ausbreiten.

Wo dieser Streit aber im Inneren des individuellen Menschen, durch ihn selber in seiner Seele im Überwinden der Furcht vor der Bodenlosigkeit ausgefochten wird, kann auch die Einsicht wachsen, dass wir alle auf dem selben Weg in eine gemeinsame Zukunft sind. Wo also die gewordene Welt waltet, ohne vom Menschen neu belebt zu werden, wird sie sich durch immer weitere Vereinzelung der Menschen, durch immer größere Zersplitterung in streitende Parteien darleben.

Wenn die Mensch-HEIT, also das allen gemeinsame Wie des Lebens eines jeden Menschen, sich nicht genügend auf sich selbst besinnt, um seine Fortentwicklung frei aus eigenem Wollen zu betreiben, wo die Welt also, und in ihr alle anderen Menschen, vom sich entwickelnden Ich verstoßen und allein gelassen wird, da wird Zerstörung wirken, die dann jeden Menschen betrifft. Mangelnde Besinnung in der Menschheit auf ihren eigenen, in jedem Individuum lebenden Kern wird also Selbst-Zerstörung statt Selbst-Entwicklung zur Folge haben.

Exkurs: Wegleitung

Wir können uns glücklich schätzen, dass es eine Wegleitung gibt bei unserer Suche nach unserem menschlichen und menschheitlichen Kern. Als ein letzter Spross alter Philosophie und gleichzeitig Erschaffer eines grundlegenden Neubeginnes ist uns Rudolf Steiner in seinem Werk, der anthroposophischen Geisteswissenschaft gegeben. Er ist für uns Heutige, für unsere Zeit der Bringer eines neuen Denkens von uns selbst und von der Welt.

Dabei sind viel weniger, als man das heutzutage meistens meint, seine unzähligen Ausführungen über die verschiedensten Themen entscheidend, die sich in mehreren Tausenden von Vorträgen finden, die er Anfang des 20. Jahrhunderts gehalten hat. Viel wichtiger sind seine von Anfang an für die Öffentlichkeit bestimmten Schriften, durch deren Nachdenken wir auf den Weg zu uns selber gebracht werden können. Genau dies war seine erklärte Absicht, das hauptsächliche Ziel seiner Arbeit: Menschen auf den Weg zu bringen.

Alle entscheidenden Sprünge in der Menschheitsentwicklung sind markiert durch das Auftauchen von Individualitäten, die die Aufgaben, die das Leben ihrer Zeit der menschlichen Gesellschaft stellte, in ihrer Tätigkeit erkennbar machten und neue Wege zum Umgang mit diesen Aufgaben aufzeigen konnten. Das grundsätzliche Erkenntnisproblem unserer Zeit – die charakterisierte Vereinzelung im geistleeren Raum – wurde durch Rudolf Steiner Zeit seines Lebens beschrieben, und Wege zu seiner Lösung (auch diejenigen, auf die dieser Text hinweist) aufgezeigt.

Aber die Furcht davor, dass der individuelle Kern des Menschen eben nicht in einer festen Vorstellung zu fassen ist, sondern dass der Mensch sich selber in einem Ringen existenzieller Art zu einem neuen Organ zur Wahrnehmung dieses Kerns aus Freiheit erst erziehen muss – diese Furcht hat immer wieder verhindert, dass die Wegleitung, die Rudolf Steiner in seinen Schriften uns bietet, angenommen und genügend zur Geltung gebracht wurde. Aus solcher Furcht auch sind Bestrebungen entstanden, sein Werk zu einer Weltanschauung unter vielen herabzuwürdigen. Sie ist aber etwas Besonderes, denn sie gibt eine Lösung von durch die Zeiten gehenden philosophischen Grundproblemen (vgl. die Bücher „Wahrheit und Wissenschaft“, „Die Philosophie der Freiheit“ und „Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“) und auf dieser Grundlage Wege zum Aufbau neuer Erkenntnismöglichkeiten3.

Lebendiger Maßstab

Dadurch, dass ich in der Begegnung mit dem Anderen mein eigenes selbst-entwickelndes Tun gleichsam von ihm aus, in einem menschheitlichen, und gemeinsamen Sinne, also im Geiste kennen lerne, indem ich mir belebte, immer in Entwicklung befindliche Bilder, Imaginationen davon aufbaue, wird die menschliche Entwicklung und damit auch meine eigene für mich beschreibbar, umsetzbar in Wort und Tat. Ich bekomme einen Maßstab für das, worin der Andere, jeder Andere ebenso wie ich selber lebt.

Handle ich aus diesem allen Menschen eigenen Geist heraus, so handle ich

  • frei, denn der Maßstab geht aus mir selber und meinem Tun hervor und zeigt mich im Allgemein-Menschlichen
  • aus Liebe, denn es gibt keinen Grund für meine Taten außer meinem Wollen
  • individuell, denn in solchen Taten, die aus dem Mit-Erleben des Anderen in der Welt hervorgehen ist der Gegensatz von Ich und Welt, der mich in die Vereinzelung stellte, aufgehoben; meine Tat wird Teil der Welt, die aber als meine Welt ein Teil meiner Individualität ist.
  • Selbstlos – aber NICHT Ich-los! – indem ich nicht an einer gewordenen Vorstellung von mir und meiner Welt hänge, die ich behalten will, sondern im selbstgewollten Werden eine Vorstellung von mir als Werdendem darlebe.

Der darin errungene Maßstab ist keiner, der als unveränderliches Ideal immer wieder die Angleichung an sich selbst erzwingt, sondern ein lebendiger, der mich und letztlich alle anderen Menschen universell umfasst. Durch mein Handeln gebe ich der Welt eine „Vorstellung“ von mir (ich gebe sozusagen eine Vorstellung im Welt-Theater), die im Grundsatz die ganze Welt einschließlich aller anderen in Freiheit aufzunehmen geeignet ist (in meiner erlebten Erscheinungswelt). Je mehr dies gelingt, kann es auch in der Welt heilend, einend wirken, und damit dem Göttlichen ähnlicher, das einst diese Welt der Vielfalt einschließlich meiner selbst mit all ihren Gegensätzen als seine in sich einige Tat hervorbrachte.

Wir heutige Menschen leben allerdings wie „auf Gottes Geheiß“ aus dem einigen Gotteswerk hinausgeworfen, vereinzelt und damit frei – ja, man kann sagen: ,,vogelfrei“. Im Aufnehmen, Miterleben und Aussprechen (auch in der Sprache der Tat) der Welt, wie ich sie erkenne, füge ich mich diesem Ganzen der Schöpfung erneut hinzu und werde so zum Mit-Erschaffer der Welt der Zukunft. Ich trage damit etwas Neues hinein in die Zukunft, nämlich die Freiheit und die Liebe.

Mit-Schöpfer im Geist

Unbewusst schaffe ich ja schon immer mit an der Entwicklung der Welt der Zukunft. Mein an der bestehenden, gewordenen Welt haftendes Bewusstsein einschließlich der Vorstellung von mir als Gewordenem, gleichsam „vorläufig fertigem“ Menschen muss ständig aufgelöst werden, damit neues Leben eintreten kann.

Die gewordene Sinneswelt, so wie sie mir erscheint, erkenne ich als tote Erscheinung, die erst wieder neues Leben erhält, indem ich sie mit-erlebend in meine Selbstentwicklung aufnehme. Aber was sich daraus ergibt, ist wiederum neues Fertiges, Totes. Ich wirke also dauernd mit an meinem Ersterben in die Welt hinein, am Schaffen von mit meiner Entwicklung verbundenen toten Erscheinungen. In jeder Hingabe an die Erscheinungen, um ihren lebendigen Gang mit zu erleben, ist also auch eine Art selbstgewähltes Sterben.

Dieses Sterben meint aber hier nicht ein äußerliches Absterben oder Vergehen meines Leibes, sondern ein Absterben des von mir ausgehenden Lebendigen in die Welt hinein, als Bestandteil ihres Lebens, das in die Zukunft führen soll.

Nicht ohne Grund findet sich hier das Wort vom Tode. Der geistig-seelische Bereich, in dem ich tagtäglich schaffend tätig lebe, ist nicht zeitlich-räumlich und damit nicht in feste Vorstellungen zu fassen. Er ist ewig wesenhaft4 und damit auch Garant für die Ewigkeit meiner Individualität, jeder Individualität des Menschen, und existiert damit über den Tod hinaus.

Im bewussten Handeln aus mir selbst, als selbstbewusstes Geistwesen im Ausnahmezustand aus eigener Kraft hervorgebracht, handle ich nicht mehr aus dem Irdischen Sein heraus, sondern aus dem Werden. Jedes Bild, auch jede Imagination von Entwicklung, die ich mir dabei erarbeitet habe, ist immer nur Ausfluss dieses geistigen Schaffens und muss ihm daher weichen. Handle ich also ganz aus dem Geiste, so ist mein Handeln inspiriert.

Rudolf Steiner schildert in den Beschreibungen des geist-erschaffenden Übungsweges des Menschen, wie die Imagination, also das Bild des Lebendigen, das aber als solches, als Bild, schon ein Totes ist, erst wieder überwunden werden muss zugunsten einer aufnahmebereiten, wachen Leere des Bewusstseins, damit die Inspiration konkret in unsere Seele eintreten kann.

Im Denken des Denkens, in der Beobachtung des Denkens im Ausnahmezustand können wir uns wach halten in dem Augenblick, in dem wir sonst als irdische Person einschlafen würden. Wo also in der Hingabe an das Mit-Erleben des Anderen, dann auch an das Mit-Erleben des Weltenlebens ansonsten unser irdisches Bewusstsein erlöschen würde, können wir lernen, wach zu bleiben.

Der Tod trägt das Leben

Das wache Selbst-Bewusstsein inspiriert in die Welt zu tragen, ist wie ein frei gewolltes, waches Sterben in die Welt und ihren sie bewegenden Geist. In diesem Sterben, der Welt Neues geben, tritt sie aber auch in den Menschen ein, der sie er-lebt, ihr so neues, geistiges Leben gibt. Der Weltengeist, von uns aufgenommen, erlebt durch uns sich selbst und kann so seiner selbst bewusst werden.

Damit dies geschehen konnte, brachte der Weltengeist die Welt und die Erde mit dem Menschen zustande, dem er das Leben schenkte, und dafür die Welt gleichsam in den Menschen hinein ersterben lassen musste. Diese Situation haben wir heute zum Ausgangspunkt: als Menschen stehen wir vor den erstorbenen Erscheinungen, kennen nicht mehr den unmittelbar lebendigen Geist, sind aus ihm „hinausgeworfen“. Das Leben ist aber uns geschenkt, ist unser, und wenn es in der Welt sein soll, müssen wir es ihr wiederum schenken. Dann erst werden wir, wovon das Wort spricht, dass der Mensch dem Gotte zum Ebenbilde erschaffen wurde.

Habe ich also aus mir selber, im irdischen Leben aus freiem Wollen geübt, mein Leben der geistigen Welt zu schenken, so kann ich das im Irdischen erworbene Selbst-Bewusstsein behalten, aus eigener Kraft, ohne die irdische Welt weiter dafür zu benötigen. Ich bleibe mir also gleichsam im Tode selber erhalten. Dies ist der Sinn des Wortes von Angelus Silesius:

„Stirb, ehe du noch stirbst, damit du nicht darfst sterben,
Wenn du nun sterben sollst; sonst möchtest du verderben.“5

Leben ist Eigen-Tätigkeit es Geistes. Ohne Leben ist kein Tod – und ohne Tod kein Leben! Wir sind zuinnerst verbunden mit dem Leben, durch das wir gehen. Wir müssen es aber der Erscheinungswelt, dem Tode also überlassen, wenn wir uns selber und die Menschheit im Leben halten wollen. Im Sterben in den Geist des Weltenganzen, dem ich selber unteilbar, individuell angehöre, liegt also ein Mittel, der Furcht, die unser irdisches Leben beherrscht, in Freiheit und Liebe Einhalt zu gebieten.


1Vgl. Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit.– Dornach, 1973, S. 40

2Die Nachsilbe -heit geht aus einem noch im Mittelhochdeutschen vorhandenen Wort heit = „Art und Weise“ hervor. Ursprung und Ziel des Menschen geben ihm also Bewusstsein davon, wie er im Irdischen ist.

3Seine Werke sind dadurch gekennzeichnet, dass sie vom Leser die Bereitschaft fordern, sich unvoreingenommen nach-denkend auf sie einzulassen. Man kann sich aus ihnen nicht „neutral informieren“ über das, was Rudolf Steiner mit ihnen bewirken wollte. So wie es aus der Bodenlosigkeit unserer vereinzelten Existenz der heutigen Zeit keinen Weg gibt außer der freien und selbstverantwortlichen Umbildung der eigenen Individualität im Ausnahmezustand, gibt es auch keinen Weg, Rudolf Steiner wirklich zu verstehen und zu würdigen, wenn man sich dem Risiko, das mit jedem selbstgewollten, freien Denken und Handeln verbunden ist, nicht stellen will.

4Das Wort „Wesen“ hat ursprünglich die Bedeutung „Art zu leben“. Was also „west“, das drückt seine Art zu leben aus, ist das dem Leben zugrunde Liegende, sein Charakter, seine Art und Weise. Auch die Verwandtschaft mit dem Wort „weisen“ zeigt etwas: es bedeutet ursprünglich „machen oder zeigen, dass etwas west“.

5Johannes Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann oder geistreiche Sinn- und Schlussreime. – Zürich: Manesse, 1986. IV, Nr. 77, S. 257. Es gibt eine eingängigere, vereinfachte Version dieses Spruches, für die ich aber keinen Beleg finden konnte: Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt.

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