Rantschilwis Weg – Leseprobe
Abreise
Nur kurz und beiläufig berührten seine Füße wechselweise die Erde, wie zur kurzen Orientierung für den nächsten langen Laufschritt, der ihn in einem weiten Bogen vorantrug, bis wieder eine neue Ausrichtung der Bewegung nötig schien. Rantschilwi bemerkte selbst kaum, wie er über den Boden dahin flog, in einer eleganten, entspannten Bewegung, die immer nur kurz von der Berührung seiner Füße mit der Erde neu belebt wurde.
Rantschilwi – sein Name würde in unserer Sprache etwa „Der-alles-sieht“ oder „Scharfes Auge“ bedeuten – Rantschilwi war erfüllt von seinem Ziel und seiner Aufgabe, denen er entgegeneilte. Risuhn, die „Welterleuchterin“, erhellte ihm seinen Weg vom Himmel herab. Manchmal trat sie in sein Gesichtsfeld, wenn sich die Richtung seines Laufes änderte, weil der Untergrund es erforderte. Dann sahen auch seine Augen sie, ringförmig umgeben von dem vielfarbigen Schein der Luft, die ihn von einem Fuß-Aufsetzen zum anderen trug, oft mehr als zehn Mannslängen weit. Risuhn: die große Führerin, ohne die niemand seinen Weg in der Welt finden könnte.
Rantschilwi bemerkte all dies nur am Rande, denn für ihn gab es im Augenblick nur sein Ziel und seine Aufgabe, die zu erfüllen er auf dem Wege war. Er war aus seinem Heimatort, dem etwas nördlich der Mitte Androulans gelegenen Dorf Bocibao aufgebrochen, als der Drontang, der „Verkünder des Thronn“ ihn, Rantschilwi, aus allen Bewohnern seines Heimatortes dazu bestimmt hatte, Auge zu sein für alle bei dem Ereignis, das nun eintreten sollte, ganz im Südosten auf der äußersten Landzunge, wo die weißlichen Schwaden immer dichter wurden und der Boden aufhörte zu tragen. Dort also, wo Bagua, der unergründliche Ozean begann.
Im Thronn, den wir Heutige etwa „Wo-der-Urgrund-spricht“ nennen würden, war der Kerduonc eingekehrt. Kerduonc – der „Der-uns-die-Welt-gibt“ würde sein Name etwa heute lauten können, oder auch „Der Weltenhärter“. Seitdem waren viele Dinge anders geworden. Nur die Drontangi konnten den Thronn noch finden, durften sich dort aufhalten, alle anderen wurden ohne es zu merken vom Wege abgebracht.
Als der Drontang ihn, Rantschilwi, auf der Dorfversammlung bestimmt hatte, waren die Bilder wieder aufgestiegen von Begegnungen der Vorfahren mit den Drontangi, damals noch zu vorbestimmten Zeiten am Ort des Thronn, wo der Urgrund direkt durch seine Diener sprach. Aber seit der Kerduonc dort angekommen war, verband sich mit dem Namen des Thronn sogleich auch das Gefühl einer großen Gefahr für jeden, der sich diesem Ort unberufen näherte. So suchte niemand ernsthaft den Weg, sondern man mied die mit Büschen bewachsene Ebene, die den Thronn umgab, mit heiliger Scheu.
Mit diesem Gefühl einer großen Gefahr, die mit dem Thronn, dem „Mund des Urgrundes“ verbunden sein könnte, war vieles schwieriger geworden. Bis in die kleinsten Verrichtungen des Tages konnte man bemerken, dass alles, was Rantschilwis Vorfahren noch als selbstverständlich und immer gleich erlebt und getan hatten, nun Pflege und Aufmerksamkeit brauchte. Eine Pflege und Aufmerksamkeit zwar, die jeder von sich aus, ohne Zweifel und in größter Selbstverständlichkeit aufbrachte, aber anders als bei den Vorfahren war es eben doch. Und diesen Unterschied spürte jeder, wenn die Begegnung mit dem Drontang oder ein Weg an der großen Buschebene vorbei in ihm die Bilder aufrief von den Erlebnissen der Vorfahren.
All dies lebte in Rantschilwi als ein großes, zusammenfassendes inneres Bild von seiner Aufgabe, während er gleichzeitig dahin lief, in großen Bögen durch die manchmal weißlich, manchmal vielfarbig schimmernde Luft schwebend von einem Fußtritt zum nächsten.
Eben ging sein Lauf an der Hügelkette entlang, hinter der die Buschebene begann. Am Ende der Hügelkette verlangsamte er seinen Lauf, um bei einer kleinen Strauchgruppe am letzten Hügel gänzlich inne zu halten. Hier würde er Holang treffen, „das große Ohr“, einen entfernten Verwandten aus dem Dorf Riyara im Westen, am Fuße des Androun, des Zentralgebirges auf Androulan. Zusammen würden sie mit dem Vijageda weiterreisen, das dort bei den Büschen für sie bereit lag. Der weitere Weg ging über weiches Land, das den Füßen nicht genügend Kraft und Richtung gab für einen guten Lauf. Mit dem Vijageda könnten sie beide darüber hin schweben, bis zu der Landzunge, die das Ende ihrer Reise bildete.
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