Seben Seebär – Leseprobe
Und diese anderen Zeiten sollten auch bald kommen. Schneller als gedacht wuchs Seben soweit heran, dass er selber die Welt, in die er gekommen war, erforschen konnte. Ein Fischer an Bord muss sich ja um Wind und Wetter und die Netze kümmern, und kann darum selbstverständlich einen eigenwilligen Kerl wie Seben nicht in jedem Augenblick unter Kontrolle haben. Eilt Poppens Versuche, den Kleinen durch Absperrungen für die Zeit der Fangfahrt in der Kajüte zu halten, erwiesen sich schnell als zwecklos. Das markerschütternde wütende Gebrüll aus Sebens Mund war nicht lange zu ertragen, außerdem zeigte sich bald, dass man es hier mit einem außergewöhnlich kräftigen Kerl zu tun hatte, der nicht lange fackelte, wenn ihm etwas im Wege stand. Der gewandte Kletterer überstieg manche Absperrung in kürzester Zeit, und etwaige Hindernisse aus Fischernetz überstanden das Reißen und Rütteln der Kinderhände regelmäßig nur kurze Zeit. So war es bald unvermeidlich, dass Seben, den sie später den Seebär nannten, schon in ungewöhnlich zartem Alter das Fischerboot ausführlich erkundete. Auf See, versteht sich, und bei jedem Wetter. Gerade bei Wind und Seegang war Eilt Poppen von seiner Fischerarbeit so in Anspruch genommen, dass für die Kinderbeaufsichtigung nicht viel Zeit und Kraft übrig blieb. Zwar hatte sich der Fischer allerlei einfallen lassen, was auf den kleinen Fischerbooten mindestens für ungewöhnlich gelten musste – wer hatte denn schon eine komplette Reling mit Netzbespannung ums Deck, so etwas hindert doch bloß beim Auswerfen und Einholen der Netze? Die Handgriffe hier und da an Deck, wozu waren die nötig, wenn ein Fischer doch beide Hände ständig für seine Arbeit braucht? Außerdem erwiesen sich alle diese Installationen sehr schnell als wenig tauglich: der kleine Seben turnte bald wie ein Affe im Baum an Schoten, Fallen, Gaffeln und Spieren herum, dass einem Hören und Sehen vergehen konnte. Hätte Eilt Poppen nicht der Satz des Wickwiefs in den Ohren geklungen: „Die Mächte sind dem Kleinen gewogen!“, er hätte schier verrückt werden müssen. So aber gewöhnte er sich bald an die waghalsigen Ausflüge seines Sohnes, und bald verschwand manche hinderliche „Schutzvorrichtung“ wieder von Deck. So sah das Fischerboot ja auch wieder schicklicher aus.
Die Dorfbewohner von Endersiel beobachteten die Entwicklung genauestens. In so einem Fall darf einem ja schließlich nichts entgehen. Und was man gleich geahnt hatte, wurde ihnen nun eine sicher feststehende Tatsache: der Fischersohn Seben Eilts hatte einen besonderen Pakt mit den Unsichtbaren gleich bei seiner Geburt mitgebracht. Man konnte schließlich eins und eins zusammenzählen. Und wie es eben so ist mit dem Unbegreiflichen, rührt es immer eine dumpfe Furcht in den Menschen auf, eine Furcht, die sie selber als solche oft gar nicht bemerken, die sie aber doch dazu bringt, den richtigen Abstand zum Geschehen zu beachten. „De kann mehr as blot Brood eten!“ hieß es schon bald in Bezug auf Seben Eilts, den sie später den Seebär nannten, und solche Leute sind ja natürlich nützlich, wenn man ihre besonderen Fähigkeiten braucht, ansonsten hält man sie aber besser auf genügendem Abstand.
So kam es, dass der kleine Seben bei seinen seltenen Landaufenthalten nicht recht Spielkameraden finden konnte – die Kinder waren immer gerade hier und da unabkömmlich –, und auch der Fischer Eilt Poppen fand „vorsichtshalber“ an Land nur noch wenig Ansprache. Tauchte er doch einmal im Dorfkrug auf, so saß er meist allein an einem Tisch, und bald brachte er selbst bei diesen Gelegenheiten Seben mit – man wollte sich ja schließlich irgendwie die Zeit vertreiben, wenn schon sonst keiner wirklich mit einem sprach.
Auf diese Weise wuchsen die beiden – der Vater und der Sohn – nach und nach zu einem unzertrennlichen Paar zusammen, das einer nicht unfreundlichen, aber doch auf Abstand bedachten Dorfbevölkerung sein kurioses Leben als ständigen Anlass für Gerede, Gerüchte und dunkle Vermutungen präsentierte. Der unbändige Freiheitssinn des kleinen Seben steckte selbst den eigenen Vater an, so dass beide bald immer weniger Rücksicht auf Schicklichkeit und überlieferte Gewohnheit nahmen. Sie lebten einfach daher, wie es ihnen passte, manchmal fröhlich, manchmal auch mit einem etwas bitteren Spott – was ihnen wiederum wenig neue Freunde machen konnte.
Die ungewöhnliche, weil so ganz außerordentlich frühe Fischerlehre des Seben Eilts gipfelte nun in einem neuen Höhepunkt, der jedem, der noch Zweifel hatte, ganz endgültig bewies, dass dieser Junge mit den Mächten im Bunde war.
Wie es ihre Gewohnheit war, waren Vater und Sohn mit dem ablaufenden Wasser zum Fang aufgebrochen. Es waren die ersten Herbsttage, und ein kräftiger, etwas böiger Nordwest versprach unsicheres Wetter. Während die beiden sich dem Seegat zwischen den Eilanden näherten, frischte der Wind auf. Der kleine Seben mochte wohl dreieinhalb Jahre sein, und er turnte sicher an Deck umher, als sei er von Natur aus mit dem Boot, der See und dem Wind verwachsen. So sinnierte jedenfalls Eilt Poppen, während er seinen Sohn auch ein wenig stolz beobachtete.
Im Seegat stand ordentlich Seegang, das konnte man schon von Weitem sehen. Es hatte zuvor ein paar Tage heftig erst aus Südwest, dann von Westen geblasen, und die mächtig rollenden Wogen von See türmten sich, zwischen den Inseln in die Enge getrieben, zu gischtbekrönten mächtigen Wellen. Man musste schon Acht geben, wenn man da hindurch wollte. Aber Eilt Poppen kannte das: ein paar wenige steile Seen musste man nehmen, dann war man hindurch und auf gutem Weg zu den Fischgründen. Er segelte das Seegat daher mit gerefftem Großsegel und in voller Konzentration an. Seben stand derweil auf dem Vorschiff, die Hände am Vorstag, und sang aus voller Brust seinen eigenen, ganz urtümlich-schwermütigen Gesang, zu dem sich das ja schon ganz besondere Säuglingsgeschrei inzwischen entwickelt hatte. Seltsam – wenn der Junge so sang, überkam den Vater immer ein Ruhe und Furchtlosigkeit, die ihm schon im ersten Schrei seines Sohnes wie ein Lichtstrahl erschienen war.
Das Boot stieg nun die erste dieser steilen Seen im Gat hinauf. Hätte Eilt Poppen achteraus geschaut, er hätte im hinter ihm liegenden Wellental den aufgewühlten Sand des Meeresbodens sehen können. Aber dazu hatte er gar keine Zeit – das Boot musste genau im richtigen Winkel zu Seegang und Wind gehalten werden, wenn alles klar gehen sollte. Vorn stand Seben und sang aus Leibeskräften.
Auf dem Gipfel des Wellenbergs angekommen, neigte sich der Bug, um krachend in die gischtende See zu schlagen und dem nächsten Wellental entgegen zu rasen. Der Bug des Bootes verschwand einen Augenblick hinter schlagenden Segeln und schäumender See. Als er wieder auftauchte, um sofort dem nächsten zu besteigenden Wellenberg entgegen zu eilen, war das Vorschiff leer. Eilt Poppen konnte es nicht glauben, hörte er doch deutlich – viel lauter und deutlicher als zuvor – den brüllenden Gesang seines Sohnes, dessen Klang sich mit dem Rauschen und Schlagen von Wind und Wellen zu einer abenteuerlichen Symphonie verband.
Ehe Eilt überhaupt recht zur Besinnung kommen konnte, nahm ihn die nächste Woge in Beschlag. Wieder stieg das Boot gleichsam dem von dunklen Wolken verhangenen Himmel entgegen, wieder hing der Bug oben auf dem Gipfel einen Augenblick in der Luft, ehe er krachend in den hinteren Abhang der Woge fiel, um dem Wellental entgegen zu schießen. Und wieder verschwand auch ein guter Teil des Vorschiffes in schäumender Gischt. Als es wieder auftauchte, konnte Eilt Poppen mit ungläubigem Staunen beobachten, wie eine kleinere, nachfolgende Welle seinen Sohn an Bord hob und sanft vor dem Mast absetzte – einen lachenden Seben, für den das Ganze wohl mehr ein lustiges Spiel gewesen zu sein schien. Jedenfalls sang er jetzt umso kräftiger seinen Ruf der schäumenden See entgegen, und ein aufmerksamer Zuhörer konnte fast meinen, dass Wind und See ihm jetzt antworteten.
So kam es, dass auch der allerletzte Zweifel an Sebens Pakt mit den Unsichtbaren beseitigt war.
Die ganze Geschichte finden Sie in dem Buch „Geschichten vom Weltenrand“. Bestellen Sie es =>hier. Dort finden Sie auch Em Huiskens CD „Güntsied“, auf der das zur Geschichte gehörende Lied „Seben Seebär“ enthalten ist.