Freie Geistgemeinschaft oder äußere Institution?
Ergänzende Anmerkung zu meiner Stellungnahme
In ENB1 14/2022, S. 14f wurde eine Stellungnahme von mir zur Frage der Mitgliedschaft in der anthroposophischen Gesellschaft veröffentlicht2. Der abschließende Absatz führte zu Nachfragen. Ich schrieb damals:
„Nur der Vollständigkeit halber sei zum Abschluss darauf hingewiesen, dass Rudolf Steiner vielfältig und immer wieder darauf aufmerksam machte, dass geistige Initiativen, wenn sie zu irdischen Institutionen werden, verkannt werden und sich in ihr Gegenteil verkehren müssen. Beides gut voneinander zu unterscheiden, und die äußere Institution, wenn sie ihrem Zweck nicht mehr angemessen dient, aufzugeben oder wenn möglich gänzlich neu zu fassen scheint für manche Menschen schwer oder gar nicht denkbar. Notwendig könnte es trotzdem sein.“
Insbesondere wurde nach einer Quelle für die entsprechenden Hinweise Rudolf Steiners gefragt. Dazu möchte ich feststellen, dass ich meine, sicher zu wissen, dass es eine Aussage Rudolf Steiners gibt, die den im ersten Satz des Abschnitts umrissenen Sachverhalt klar zum Ausdruck bringt, ich diese nach meiner Erinnerung fast wörtlich so formulierte Aussage aber derzeit nicht belegen kann3.
Das ändert meiner Ansicht nach aber nichts an der Aussage selbst, und auch nicht daran, dass sie ganz offensichtlich mit den geistigen Tatsachen zusammenstimmt, von denen Rudolf Steiner bei diesem Thema immer wieder sprach. In diesem Sinne stehe ich zu meiner Aussage; sollte ich das Zitat wiederfinden, werde ich es unmittelbar zur Verfügung stellen. Die Aussage selbst möchte ich aber im Folgenden ein wenig illustrieren. Möglicherweise wirft das auch ein zusätzliches Licht auf die in ENB 15/2022 mitgeteilte4 und in ENB 16/2022 anfänglich diskutierte5 Aussage Rudolf Steiners zur Dreigliederung.
Geistesleben
„In dem einen der drei Glieder des sozialen Organismus strebt diese Idee [von der Dreigliederung des sozialen Organismus]6ein Zusammenwirken von Menschen an, das ganz auf den freien Verkehr und die freie Vergesellschaftung von Individualität zu Individualität begründet ist. In keine vorbestimmte Einrichtung werden da die Individualitäten hineingezwängt.“7
Nimmt man diese Aussage ernst, so kann es keine äußerlichen Institutionen geben, die diesen freien Verkehr erst ermöglichen, denn sie würden durch ihre äußeren (rechtlichen und/oder wirtschaftlichen) Setzungen gerade etwas „vorbestimmen“. Eine Befreiung des Geisteslebens kann daher niemals irgendwie von außen erfolgen, sondern ist nur als eine Selbstbefreiung aus dem Geiste heraus denkbar. Die sinnvolle Regulierung aller anderen Bereiche geht ja gerade vom Geistesleben aus. Äußere Institutionen, die dem Geistesleben dienen sollen, können also allenfalls verwalten, was vom Geistesleben ausgeht, und dies auch nur in Sinne einer Selbstverwaltung.
Eine solche Auffassung geht von der Tatsache aus, dass es sich bei der Dreigliederung um eine Idee handelt, die existierende Verhältnisse beschreibt (analog der Dreigliederung des menschlichen Organismus), aber nur gesund wirken kann, wenn sie im menschlichen Bewusstsein erfasst und geltend gemacht wird. Dann ist sie geistige Tatsache und keine Utopie8.
Institutionen
„Was hinzukommen muß, ist die lebendige Anschauung, die für dieses Erdenleben auch mit dem Tod rechnet, die sich bewußt wird: Wir machen in der Gegenwart Institutionen, die notwendigerweise auch untergehen müssen, weil sie schon das Todesprinzip in sich tragen, die gar nicht wollen einen ewigen Bestand haben, die gar nicht daran denken, etwas Bleibendes zu sein. Wodurch kann denn aber so etwas realisiert werden ? (…) wenn man erkennen wird: Wir leben im Reich der Phrase, unter dem das bloße Wirtschaftsleben, der bloße wirtschaftliche Imperialismus glimmt –, dann wird man rufen nach dem Geiste, der unsichtbar, aber in der Wirklichkeit waltet.“9
„Die «soziale Frage» (…) wird für jeden Augenblick der weltgeschichtlichen Entwickelung neu gelöst werden müssen. Denn das Menschenleben ist mit der neuesten Zeit in einen Zustand eingetreten, der aus dem sozial Eingerichteten immer wieder das Antisoziale hervorgehen läßt. Dieses muß stets neu bewältigt werden. Wie ein Organismus einige Zeit nach der Sättigung immer wieder in den Zustand des Hungers eintritt, so der soziale Organismus aus einer Ordnung der Verhältnisse in die Unordnung. Eine Universalarznei zur Ordnung der sozialen Verhältnisse gibt es so wenig wie ein Nahrungsmittel, das für alle Zeiten sättigt. Aber die Menschen können in solche Gemeinschaften eintreten, daß durch ihr lebendiges Zusammenwirken dem Dasein immer wieder die Richtung zum Sozialen gegeben wird.“10
Ich lese daraus: die (ja unbezweifelbar äußere) Institution AAG hat möglicherweise das Ende ihres Lebenszyklus erreicht, weil sie verkannt wird, für mehr gehalten wird als für ein vorübergehendes Verwaltungsinstrument, sich darum vom Sozialen ins Antisoziale verkehrt und damit den ursprünglichen Geistimpuls der Anthroposophie dem Reiche Ahrimans (der äußeren Welt also) öffnet.
Die Rache der Geister
„Der irrigste Glaube, den jemals die Menschheit hat hegen können, das ist der – wenn ich mich trivial ausdrücken darf –, daß die Geister es sich gefallen lassen, ignoriert zu werden. Fassen Sie es meinetwillen auf als einen Egoismus, als eine Selbstsucht der Geister, aber in der geistigen Welt gilt eine andere Terminologie als hier in der sinnlich-physischen Welt. Also fassen Sie es meinetwillen auf als einen Egoismus der Geister, aber die Geister rächen sich, wenn sie ignoriert werden hier. Es ist ein Gesetz, es ist eine eherne Notwendigkeit: Die Geister rächen sich. Und unter den mancherlei Charakteristiken, die man geben kann für die Gegenwart, ist auch diese richtig, daß man sagen kann: Die Rache der Geister dafür, daß man sie so lange ignoriert hat, das ist das gegenwärtige Menschheitschaos. (…) Es ist ein geheimnisvoller Zusammenhang zwischen dem, was menschliches Bewußtsein ist, und den zerstörerischen Kräften des Weltenalls, gerade den Untergangskräften des Weltenalls. (…) er besteht so, daß das eine als Ersatz für das andere auf der einen Seite dienen kann oder auf der andern Seite dienen muß …“11
Sollte eine solche Aussage nicht auch für die Anthroposophie und die anthroposophische Gesellschaft gelten? Von verschiedenen Seiten ist dargelegt worden, wie vielleicht eine Notwendigkeit sich darin ausspricht, dass die äußere Institution AAG vielfach nicht (mehr) dem eigentlichen Geist der anthroposophischen Gesellschaft (der Gesellschaft von freien Individuen, die sich geistig einander zugesellen) zu entsprechen scheint12. Wenn etwas diskutiert werden muss, ist es ja keine unmittelbar erfahrene Wahrheit mehr. Solche Wahrheit aus dem individuellen Wollen der beteiligten Geist- und Menschenwesen neu zu fassen, wäre dann eine aktuelle Aufgabe der anthroposophischen Gesellschaft, wiederum verstanden als freier Zusammenschluss von mit der Anthroposophie arbeitenden Individualitäten13.
1Ein Nachrichtenblatt, Näheres unter https://einnachrichtenblatt.org
2Auf dieser Website hier zu finden: Wer ist Mitglied der anthroposophischen Gesellschaft?
3trotzdem ich über Wochen immer wieder intensiv nach dem Zitat gesucht habe
4vgl. ENB 15/2022, S. 10: „Die Dreigliederung war an eine kurze Zeit gebunden“
5vgl. ENB 16/2022, S. 1-9
6sinngemäß ergänzt SCeH
7Steiner, Rudolf: Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915-1921. GA 24. – Dornach, 1961, S. 70
8vgl. dazu die Vorrede und Einleitung zum 41. bis 80. Tausend dieser Schrift in Steiner, Rudolf: Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft. – Stuttgart, 1920, S. 5 ff
9Steiner, Rudolf: Geistige und soziale Wandlungen in der Menschheitsentwickelung. Dornach, 1992, S.285
10Steiner, Rudolf, wie Anm. 8, S. 10, Hervorhebung SceH
11Steiner, Rudolf: Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis. – Dornach, 1999, S. 16f
12vgl. z.B. Barkhoff, Martin: Kulmination, Grab und goldene Zeit der Anthroposophie. Voraussagen Rudolf Steiners werden Wirklichkeit. Manuskriptdruck Kooperative Dürnau, 2019; Delor, Andreas: Das Ereignis Rudolf Steiner im Lebenswerk von Sigurd Böhm und Judith von Halle – Borchen, 2018, v.a. Kapitel 6 „Rudolf Steiners Wiederkehr“
13Ergänzend kann in diesem Zusammenhang hingewiesen werden auf Rudolf Steiners Darstellungen zu dem notwendigen Zerstörungsherd, den der Mensch in sich trägt, und seinem Verhältnis zur Außenwelt in GA 207, sowie von mir: „Individuelle Entwicklung: von der Drei zur Vier“, in: DIE LAHNUNG – Mitteilungen für individuelle Entwicklung und Lebenskunde, Nr. 8 – Juni 2022, S. 3ff
Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.