Geisteswissenschaft

Geisteswissenschaft

Geisteswissenschaft handelt – recht verstanden – vom real im täglichen Leben wirksamen Geist. Jede Idee entspringt im Geist – oder haben Sie schon einmal eine Idee mit Augen gesehen oder mit Händen fassen können? Ohne Ideen gäbe es aber keine Entwicklung, denn jede Entwicklung lebt von der fortwährenden Realisation einer Idee in der Welt. Ganz egal, ob es um naturgegebene oder menschengemachte Entwicklungsprozesse geht. Ideen sind für uns innerlich – im Geiste – fassbar. Wir Menschen sind also ganz zweifellos Träger des Geistes. Auch jede Wissenschaft gründet sich auf Ideen. Ohne eine Wissenschaft von den Ideen, ihrer Entstehung im Denken und ihrer Entwicklung im Leben – ohne eine ganz praktische Geisteswissenschaft also – wird eine Grenze zwischen Glauben und Wissen nur schwer zu ziehen sein.

Eine solche Wissenschaft kann aber nur vom Menschen ausgehen, denn nur in ihm ist für uns das Geistige fassbar. Sie muss daher zugleich Wissenschaft vom Menschen sein. Und sein Kennzeichen, die individuelle Freiheit, mit einbeziehen.

Rudolf Steiner

Eine solche Wissenschaft wurde von Rudolf Steiner (1861-1925) ausgehend von seiner »Philosophie der Freiheit« unter dem Namen »Anthroposophie« (= Weisheit vom Menschen aus) zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründet. Der Name »Anthroposophie« wird inzwischen für sehr unterschiedliche Bestrebungen verwendet (und manchmal mißbraucht). Ich verstehe darunter ausschließlich die gerade gekennzeichnete Art von Geisteswissenschaft.

Zeitgemässe Wissenschaft

Eine wirklich zeitgemäße Geisteswissenschaft hat heute damit zu rechnen, dass der Geist in immer mehr Menschen als Realität auftritt, von ihnen als evidente Wahrheit erlebt wird. Menschen, die so erleben, verlangen zu Recht von der Geisteswissenschaft Orientierung über das von ihnen Erlebte. Demgegenüber versagt die traditionelle interpretierende Geisteswissenschaft. Die erlebten Tatsachen bleiben aber und werfen Fragen auf. Seit zwei Jahrhunderten beherrscht die Auffassung vom Geist als »Überbau«, als etwas von der eigentlichen, außerhalb liegenden Wirklichkeit Abstrahiertem (=»Abgezogenem«) die Wissenschaft. Reales Geist-Erleben nimmt dieser Ideologie nach und nach ihre alles andere ausschließende, das Geistesleben allein prägende Bedeutung.
Die heutige Wissenschaft, die mit aller Macht den erkennenden Menschen aus dem Erkenntnisprozess zu auszulöschen sucht, kann nicht anders, als immer unmenschlichere Verfahren und Ergebnisse zu zeitigen. Der immer unfasslichere äußere Aufwand, den diese Art Wissenschaft zum Erreichen neuer Erkenntnisse treiben muss, lässt sie immer mehr zu einer Geheimlehre, einer Wissenschaft für wenige Auserwählte, also zu einer neuen Art von »Esoterik« werden. Und hier gilt sicher: Wissen ist Macht.
Es ist das Verdienst Rudolf Steiners (1861-1925), die Haltlosigkeit dieser veräußerlichten Art Wissenschaft anhand zweifelsfrei nachvollziehbarer, im Prinzip jedem Menschen zugänglicher Denkbewegungen aufgezeigt zu haben (»Wahrheit und Wissenschaft«, »Die Philosophie der Freiheit«). Damit wird zugleich ein neuer, für jeden Menschen nachvollziehbarer, weil rein aus dem heutigen Menschsein geborener Weg zu Erkenntnis und Wissen gangbar gemacht. In diesem Sinne nannte Rudolf Steiner die von ihm vertretene Erkenntnisart »Anthroposophie«, d.i. Weisheit und Erkenntnis vom Menschen aus.

Geistige Revolution

Rudolf Steiner steht damit im Beginn einer geistigen Revolution, die bis heute nicht angemessen wahrgenommen geschweige denn gewürdigt wird: die Befreiung der Erkenntnis aus den Fesseln überkommener Bande, und damit die Befreiung des sich selbst erkennenden Individuums schlechthin.

Dazu ein anonymer Text, der Goethe zugeschrieben wird:

Hinter uns liegt die Revolution des Bürgers,
in welcher das Individuum sich
aus den ehernen Banden dunkler Vergangenheit
zu befreien trachtete.
Nunmehr erleben wir
den Anfang der Revolution durch die Maschine,
von welcher noch keiner weiß,
wohin sie uns alle führen mag:
denn sie stößt uns die Pforten des Künftigen auf.
Aber kommen wird sie dann – und sei`s auch erst in mehr denn hundert Jahren –
die große Revolution, die Revolution des Menschen,
die da aufräumt mit den Albernheiten unserer Kreatur,
ich meine die Revolution des Bewusstseins schlechthin.Doch was soll’s? – Das offenbar Geheimnis ist’s,
in dem ein jeder schon, kindlichen Gemüts,
sein Leben lang sich selbst benennt.Der von Ewigkeit zu Ewigkeit sich selbst Produzierende ist’s,
der noch keinen Namen hat, – es sei denn einmal unsern eigenen.

© Em Huisken 2012