Mensch und Kosmos aus der Sicht der Geisteswissenschaft

Vorbemerkung:

Für alle Darstellungen aus der Geisteswissenschaft ist zu bedenken, dass die Art der Begriffsbildung eine andere ist als gewohnt. Während wir im Alltag, vor allem bezogen auf äußere Gegenstände vor allem feststehende, definierende Begriffe, manchmal sogar nur Namen im Sinne „angehefteter Etiketten“ verwenden – so, wie es eben der damit erfassten Werkwelt im Raum entspricht, wo alle Gegenstände nebeneinander, getrennt voneinander erfasst werden müssen – gelten im Geiste ganz andere Gesetze.

Allein schon, wenn wir bestimmte Verhältnisse durch Anwendung von Naturgesetzen beschreiben wollen, tritt dieses „Andere“ ansatzweise auf: es gelten fast in allen Fällen mehrere, unterschiedliche Naturgesetze gleichzeitig, im Zusammenwirken und einander beeinflussend. Im Geistigen durchdringt sich also alles, hat keine definierbaren Grenzen gegenüber allem anderen und wirkt ineinander, gleichzeitig, am gleichen Ort. Wenn ein Einfluss sich ändert, ändern sich alle anderen auch entsprechend. Das Eine kann in das Andere übergehen und umgekehrt.

Um dieses Ineinanderwirken zu beschreiben und zu verstehen, benötigt man daher bewegliche Begriffe, die sich dem Objekt anpassen und wandeln können. Ich nenne diese Art der Begriffsbildung hier einmal „metamorphosierend“, im Sinne der Metamorphose1 als Entwicklungsübergang des Einen in das Andere. Nur solche Begriffe können auch Verhältnisse begreifen, die erst noch entstehen sollen, noch unbekannt sind, also zukünftig. Sie beschreiben dann gleichsam ein Ziel als Entwicklungsprozess, und bilden sich fort, indem die Zeit vorschreitet und die Ausgangspunkte des Begreifens verändert.

Ein solcher Vorgang des Begreifens ist weniger eine Frage der Aufnahme und Verarbeitung von Inhalten als vielmehr ein persönlicher Entwicklungsvorgang des Begreifenden: er muss seine Tätigkeit den Vorgängen anpassen, die im Bereich der begriffenen Inhalte vonstatten gehen; es handelt sich also vorrangig um ein Erüben von Fähigkeiten. Insofern ist auch das Lesen von Texten oder das Anhören von Vorträgen aus der Geisteswissenschaft etwas Anderes als Üblich: im Mitgehen mit dem Gedankengang erübt der Leser oder Zuhörer gleichsam im Ansatz den Weg zur Erkenntnis der Inhalte2

Man sollte das bei allen Darstellungen dieser Art berücksichtigen.

Zustand und Prozess

Unsere heutige Lebensverfassung ist so geworden, dass wir vor allem und oft ganz einseitig nur den jeweils aktuellen Welt-Zustand ins Auge fassen, und dabei aus dem Blick verlieren, was diesem Zustand vorausgegangen ist, und vor allem, auf welchen Wegen sich das Heutige aus dem Vorigen entwickelt hat. Wir sind im Alltag meist so in das gerade Gegenwärtige verstrickt, dass gar nicht dazu kommen, den Werdeprozess der Gegenwart zu berücksichtigen. Ohne diesen Prozess im Bewusstsein zu haben, können wir aber gar nicht beurteilen, welche Rolle die gegenwärtige Situation sozusagen als „Schnappschuss“ im Gesamten spielt.

Dieser uns mindestens teilweise unbewusst bleibende Teil der Gegenwart ist aber immer mit dem aktuell vorhandenen Zustand gegeben – als dessen Unbewusstes, das aber vorhanden ist und wirkt. Wir bewahren es in unserer Erinnerung, wenn auch nicht immer fehlerfrei und unverzerrt.

Bewusstes und Unbewusstes

Insofern kann man auch sagen, dass zu uns, zu unserem Unterbewussten der gesamte Werdeprozess der gegenwärtigen Welt-Situation gehört, sozusagen vom Weltenanfang an; denn wir selber, unsere eigene Existenz, beinhaltet ja auch einen Werdeprozess, einschliesslich des gesamt-menschheitlichen – nur eben gänzlich unbewusst. Was uns hat werden lassen, als wirkende Macht in einem Lebensvorgang, kristallisiert sich gleichsam in eine Situation, die in sich nicht lebt, aber Teil eines Lebensprozesses ist. Indem wir dies bemerken, beginnen wir das zunächst uns unbewusste Leben – unserer selbst, der Welt, der Menschheit – zunächst erahnend in unser Inneres aufzunehmen. Wir selbst als Teil der Gesamt-Situation, jeder einzelne als sein persönliches eigenes Erlebniszentrum, nehmen so im Geiste das erstorbene Werk – die aktuelle Situation – in unser eigenes (geistiges) Wesen auf und beleben es im Innern neu, suchen zumindest Wege, das zu tun. So können wir lernen, die Gesamtsituation besser zu verstehen3.

Werden und Schaffen

Was also bisher einfach aus seinem eigenen Wesensantrieb geschehen und uns als solches geworden ist, erwirken wir im Bewusstsein neu und machen es zu unserem Eigenen. In der Regel nehmen wir ja an, dass dasjenige, was in unserem Eigenwesen – bewusst oder unbewusst – vorhanden ist, etwas von allem anderen Getrenntes sei. Das ist erklärlich, haben wir unsere Begriffe doch fast ausschliesslich an den Gegenständen der Aussenwelt gebildet, in der dort, wo ein Gegenstand ist, kein zweiter sein kann – das ist im Raume so. Aber dieses wache Gegenstandsbewusstsein ist eben nur ein Teil unseres Wesens, wie wir gesehen haben: der gesamte Bereich des Unterbewussten gehört ebenso zu uns, und dort ist keineswegs ausgemacht, dass jedes Einzelne nur neben dem Anderen bestehen kann. Die Dinge können schon bei abstrakten Naturgesetzen ineinandergreifen: in jedem Naturgegenstand gelten unzählige Naturgesetze gleichzeitig, gemeinsam, durchdringen sich und wirken zusammen. Naturgesetze sind geistige Tatsachen. Sobald sie im Geiste erfasst werden in ihrem Ineinanderwirken, strukturiert sich das vorher nur festgestellte, irgendwie vor sich gehende Werden zu einem sinnvollen geistigen Ganzen.

Dabei kann festgestellt werden, dass mein eigenes Bewusstsein, meine Denktätigkeit, mit den wirkenden Naturgesetzen zusammenarbeitet, ebenfalls als geistige Tatsache. Mein Verstehen ist das Ergebnis. Damit ist wiederum darauf gedeutet, dass im Geiste eben nicht eines neben dem anderen ist, damit also auch nicht mein geistiges Inneres (Denken) getrennt vom geistigen Inneren der Welt, der Natur – Ich und Welt wirken ungetrennt ineinander, mein Geist und der Weltengeist sind von einer Art, ich bin gleichsam wie ein Naturgesetz oder ein Lebensweg ein Tropfen aus dem Ozean der gesamten Weltengeistigkeit. Damit ist meine Bewusstseinsarbeit, die die lebendigen Prozesse des Ineinanderwirkens im Geiste erfasst, ein Beitrag zur Neubelebung der gewordenen, gleichsam kristallisierten Situation, in der ich lebe.

Ein erster Blick

So ist das Tor geöffnet zu einem geistigen Blick auf den Zusammenhang von Mensch und Kosmos. Ich, als irdische Person, erkenne mich als Bestandteil des Weltenlebens, aus dessen Verständnis sich aber erst die Grundlage ergibt, meine eigene Bedeutung im Ganzen und damit auch die Bedeutung des mich umgebenden Kosmos für mich zu erkennen und zu beurteilen. Mein denkender Beitrag zum Ganzen belebt das Gewordene; jedes Denken ist auch Tat (wie auch jede Tat Denken beinhaltet) und verändert damit die Situation, bewegt sie, entwickelt sie weiter. Was ich will, aus eigenem Entschluss (also nicht getrieben von diesem oder jenem), ist so als Wille schon dem Ganzen einverleibt. Äußere Tatsache wird aus dem Willen erst, wenn die Kräfte der Welt dazukommen, im Bewusstsein damit verbunden werden.

In der Regel nehmen wir ja an, wir könnten selber in der Welt etwas bewusst ganz alleine bewirken. Das ist aber ein Irrtum. Von einem in unserem Inneren auftauchenden Wollen haben wir bewusst ja nur unsere Vorstellung davon – wie oft irren wir uns in uns selber und bewirken ganz anderes, als wir selber meinten? Die Kräfte, die daraus ein Weltereignis machen sind uns ganz unbewusst. Wir haben darüber nur angelernte Theorien: ist nicht die einfachste Handbewegung – recht betrachtet – ein Mysterium? Es kommt also darauf an, unsere Willenskraft, die sich im Leben zeigen soll, so auszurichten, dass dabei Weltenkräfte bewusst mitwirken können.

Wir müssen an dieser Stelle ein paar einfache Klärungen vornehmen; im Menschen wie im gesamten Kosmos lassen sich ja mehrere unterschiedliche Existenzebenen beschreiben:

a) Das sinnlich Erfahrbare, was uns als gegebene, fertige Aussenwelt in jedem einzelnen Augenblick gegenübertritt im Raum. Ich nenne dies einmal „physische Welt“.

b) Dasjenige geistige Kraftwesen, das die Bewegungen und Veränderungen der sinnlichen Gegenstände bewirkt (im eigenen Leib, der auch etwas Physisch-Sinnliches ist, wie auch in der sonstigen Welt), in mehr oder weniger gesetzmäßiger aber (fast immer) unberechenbarer, eben lebendiger Art und Weise. Ich nenne dies das „Ätherische“, im Einklang mit vielen in unserer Lebenswelt irgendwie bedeutsamen geistigen Lehren. Das wesentliche Element dieses Kraftwesens ist die Zeit.
Ein Sonderfall in diesem Bereich sind Gesetzmäßigkeiten, die in sich unveränderlich und berechenbar sind und so gleichsam ätherisch erscheinen aber eigentlich physisch (feststehend, abgrenzbar) sind: mechanische, physikalische etc. tote Gesetzmäßigkeiten des Maschinellen. Unsere heutige offizielle Wissenschaft ist weitgehend auf diesen physisch-gesetzmäßigen Bereich beschränkt.

c) Dasjenige geistige Wesen, das ein inneres Erleben vom Physischen und Ätherischen hat, und durch Kräfte der Anziehung und Abstoßung in den ineinanderwirklenden Lebensprozessen Richtungen und Wirkungsweisen bestimmt. Ein solcher allgemeiner Begriff ist hier hilfreich, denn er ist sowohl auf den Menschen als auch auf den Kosmos anwendbar. Der Mensch bewegt Gedanken, Gefühle, Willensimpulse in die Welt hinein aufgrund der Antriebe, die sich ihm aus Sympathie und Antipathie ergeben. Ebenso bewegen sich die Gestirne (und auch unsere Erde, wir selber) im Zusammenhang von Anziehungs- und Abstoßungskräften (Magnetismus, sogenannte „Schwerkraft“, dann aber auch die „Leichtekraft“, die Pflanzen und Menschen aufrichtet – wie und warum eigentlich?). Die Gestirne dabei als tote Materie anzusehen, ist dasselbe, wie den Menschen als einen Materieklumpen mit elektrisch verursachter Illusion einer Seele anzusehen – der Mensch selber ist aber Geistwesen4. Auch die Gestirne und ihre Gruppierungen und Bewegungen sind in diesem Sinne wesenhaft! Diese Welt der das Leben aus dem Inneren heraus steuernden Kräfte kann man daher auch die astrale nennen – also die Sternenwelt.

d) Und dann gibt es uns selber als Geistwesen, die eben in einem physischen, einem ätherischen und einem astralen Leib leben. Wir verstehen einander oft ebenso wenig, wie wir die in den Sternen, in den anderen Weltbereichen (Pflanze, Tier, Mineral) lebenden Wesen verstehen.

Ein Bild von Mensch und Kosmos

Damit ist der erste Blick getan auf unser eigenes geistiges Dasein ebenso wie auf das Wesenhafte im Kosmos. Jeder von uns erlebt seinen eigenen, individuellen Kosmos – das ist unvermeidlich, denn jeder hat seinen eigenen, einzigartigen Schauplatz in sich selber als seinem „Weltenzentrum“. Die sinnliche Wahrnehmung kann nicht anders als unterschiedlich sein zwischen den Menschen – niemand hat dieselben Sinneswahrnehmungen wie ich, kann „durch meine Augen schauen“ – das ist das Gesetz des physischen Welt, in der eben dort, wo ein Leib ist, kein zweiter sein kann, damit aber auch die Menschen unweigerlich – in dieser Hinsicht – immer allein und voneinander getrennt sind. Je weiter wir aufsteigen ins Ätherische (Lebensgesetzliche) und Astrale (Antriebsmäßige, im Sinne von Sympathie/Anziehung und Antipathie/Abstoßung), desto mehr haben wir Gemeinsamkeiten, wirken wir ineinander.

Die Grundsituation, ein Ich in einem Leib (physisch, ätherisch, astral) in einer gegebenen Werkwelt zu sein, ist für alle Menschen gleich, universell. Da, wo wir also gänzlich voneinander getrennt sind, im Ich, sind wir daher zugleich in der allergrößten Einheit. Mit solchen Gedanken betreten wir zugleich im Bewusstsein die Welt der Geistwesen, die sich in ihrem Wirken im Leben und in der Materie ausprägen.

Was die Welt uns zukommen lässt, kann so nach und nach wie in einem Bild zu einem Verständnis gebracht werden. Im Mittelalter (und in dessen Traditionen, die bis in die heutige Zeit wirken) hat man so den Begriff des Schicksals (und damit auch der Gottesstrafe) aufgefasst: als wesenhafte Antwort der Weltenwesen auf unsere Taten. Wir können dies nicht mehr gleichermaßen. Uns würde das auch unfrei machen, denn wir erleben zunächst diese Weltenwesen nicht unmittelbar, und müssten dann also den Erklärungen der Gottesgelehrten einfach glauben. Für uns ist es darum nötig, zu verstehen und uns selber ein lebendiges Bild davon zu machen. Das wird aber nur dann ein wahres Bild werden, wenn wir das voll bewusst tun können: in Ansehung unserer Sinneserlebnisse, im beobachtenden Durchleben der darin sich ausprägenden Kräftewirkungen, und im denkenden Verstehen der die Kräfte steuernden Antriebe – also wahr ist es nur dann, wenn es ganz aus dem Ich kommt, aus dem Geiste, und so die Seelen-, Lebens- und physischen Kräfte frei bewusst gestaltend gebraucht.

Lebenswege erfühlen

Dann wird auch unser Gefühl ein anderes: nicht mehr unbewusste Emotion (also durch Welt-, Körper- und erlebte Seelenprozesse „fremd“-gesteuert), sondern bewusst gestaltendes, wie tastendes Hinauswirken in die Welt aus dem Zentrum des Ich heraus. Das Gefühl wird dann zu einem immer objektiver sich entwickelnden Erkenntnisinstrument. Es zeichnet die Lebenswege erkennend nach, die mir aus meinem Kosmos heraus mein Schicksal mitteilen. Solange ich dies Schicksal nicht bewusst miterleben kann, bleibe ich unfrei; erst wo ich es mir objektiv gegenüberstellen kann, verstehen kann – also in inneren Bildern, Zeitgestalten, „Tönen“ gleichsam seine Sprache vernehme – werde ich frei zu einem selbstbewussten Umgang damit. Ich trete dann gleichsam in ein Ringen mit dem Kosmos ein, werde zum Atlas, der den Kosmos auf seinen Schultern trägt.

Einschub: Atlas, der Träger des Himmelsgewölbes
Vereinfachend gesagt, ist Atlas in der griechischen Mythologie ein Nachfahre des Kronos, des Geistes der notwendigen, gleichmäßigen Entwicklung in der Zeit, der im Titanenkampf gegen die neuen, selbständig gewordenen Götter des Zeus auf des Kronos Seite stand. Nach dem Sieg des Zeus und seiner Scharen wurde Atlas für seine Treue zur notwendigen, damit also unfreien Entwicklung (Kronos) damit bestraft, dass er das Himmelsgewölbe zu tragen hatte, um nun für alle Zeiten eine Wiederholung eines solchen Götterkampfes zu verhindern. Der Mensch, der eine solche Aufgabe bewusst ergreift – den Kosmos also mit sich selber eins werden zu lassen, ihn somit in sich selber zu tragen und sich selber damit gleichzeitig dem Kosmos bewusst verstehend hin zu geben – wird gleichsam zu einem „modernen Atlas“. Den Titanenkampf schildern fast alle Mythologien in der einen oder anderen Art; er kommt auch in der germanischen Mythologie vor, dort als Krieg zwischen Wanen und Asen – also den alten und den neuen Göttern.

Freiheit und Liebe

Ich selber fühle dann die Welt und gestalte sie mitwirkend um; sie wirkt aus sich in Notwendigkeiten, wie der ganze Kosmos. Erst durch das Mitwirken des sich selber befreienden Ich kommt etwas Neues in den Kosmos hinein: die Freiheit, und mit ihr die wahre Liebe, die ohne Freiheit nur getriebenes Habenwollen bleibt. Die Liebe ist also die kosmische Aufgabe des Menschen: sie in Freiheit – durch Bewusstsein – zu entwickeln. Je mehr wir uns frei wollend, aus eigenem Antrieb studierend der Welt, dem Kosmos zuwenden, und den Menschen (also uns selber) als sinnvolles und notwendiges (die Not wendendes!) Glied dieses Kosmos begreifen lernen, desto mehr können wir unsere Aufgabe erfüllen.

Alle Angst um unser kleines irdisches Persönchen wird uns nach und nach fader Abglanz von kleingeistigem irdischem Egoismus. Unser wahres Menschenwesen liegt in unserer kosmischen Aufgabe und ist unzerstörbar und ewig – wenn wir uns denn aufschwingen, und es wirklich so wollen.

© Stefan Carl em Huisken 2023

1vgl. zum Beispiel den Wikipedia-Artikel zur Metamorphose in der Mythologie: https://de.wikipedia.org/wiki/Metamorphose_(Mythologie)

2Dass gerade und nur diese beiden Situationen – die persönliche Begegnung in einem Vortrag oder das Lesen eines Textes – die Freiheit wahren können, habe ich an anderer Stelle bereits ausgeführt: vgl. Stefan Carl em Huisken: Menschenbegegnung, geschriebenes Wort, Ton- und Bildaufzeichnungen. – In: DIE LAHNUNG – Mitteilungen für individuelle Entwicklung und Lebenskunde, Nr. 10, S. 26ff oder im Internet Kurzlink https://ogy.de/xdu1.

3Ein ganz simples Beispiel, das wohl jeder kennt: man hat irgendwo einen Gegenstand abgelegt, den man nun nicht mehr wiederfinden kann, weil man sich den Ablageort nicht genau genug eingeprägt hat. Man kann ihn aber wiederfinden, indem man den Weg bis zum Ablegen innerlich zurückverfolgt: was habe ich getan, nachdem (oder bevor) ich den Gegenstand ablegte?

4vgl. Stefan Carl em Huisken: „Geistwesen Mensch“, in: DIE LAHNUNG – Mitteilungen für individuelle Entwicklung und Lebenskunde Nr. 10, S. 4ff, im Internet Kurzlink https://ogy.de/8dz2


Cover Wahnsinn und Denken Kosmos

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Zur Begriffsbildung in der Geisteswissenschaft

Für alle Darstellungen aus der Geisteswissenschaft ist zu bedenken, dass die Art der Begriffsbildung eine andere ist als gewohnt. Während wir im Alltag, vor allem bezogen auf äußere Gegenstände vor allem feststehende, definierende Begriffe, manchmal sogar nur Namen im Sinne „angehefteter Etiketten“ verwenden – so, wie es eben der damit erfassten Werkwelt im Raum entspricht, wo alle Gegenstände nebeneinander, getrennt voneinander erfasst werden müssen – gelten im Geiste ganz andere Gesetze.

Allein schon, wenn wir bestimmte Verhältnisse durch Anwendung von Naturgesetzen beschreiben wollen, tritt dieses „Andere“ ansatzweise auf: es gelten fast in allen Fällen mehrere, unterschiedliche Naturgesetze gleichzeitig, im Zusammenwirken und einander beeinflussend. Im Geistigen durchdringt sich also alles, hat keine definierbaren Grenzen gegenüber allem anderen und wirkt ineinander, gleichzeitig, am gleichen Ort. Wenn ein Einfluss sich ändert, ändern sich alle anderen auch entsprechend. Das Eine kann in das Andere übergehen und umgekehrt.

Um dieses Ineinanderwirken zu beschreiben und zu verstehen, benötigt man daher bewegliche Begriffe, die sich dem Objekt anpassen und wandeln können. Ich nenne diese Art der Begriffsbildung hier einmal „metamorphosierend“, im Sinne der Metamorphose1 als Entwicklungsübergang des Einen in das Andere. Nur solche Begriffe können auch Verhältnisse begreifen, die erst noch entstehen sollen, noch unbekannt sind, also zukünftig. Sie beschreiben dann gleichsam ein Ziel als Entwicklungsprozess, und bilden sich fort, indem die Zeit vorschreitet und die Ausgangspunkte des Begreifens verändert.

Ein solcher Vorgang des Begreifens ist weniger eine Frage der Aufnahme und Verarbeitung von Inhalten als vielmehr ein persönlicher Entwicklungsvorgang des Begreifenden: er muss seine Tätigkeit den Vorgängen anpassen, die im Bereich der begriffenen Inhalte vonstatten gehen; es handelt sich also vorrangig um ein Erüben von Fähigkeiten. Insofern ist auch das Lesen von Texten oder das Anhören von Vorträgen aus der Geisteswissenschaft etwas Anderes als Üblich: im Mitgehen mit dem Gedankengang erübt der Leser oder Zuhörer gleichsam im Ansatz den Weg zur Erkenntnis der Inhalte2.

Damit ist das Nachverfolgen geisteswissenschaftlicher Darstellungen bereits ein erster Schritt des Einübens einer neuen Erkenntnismethodik, deren Erlernen (als geisteswissenschaftlicher „Erkenntnisweg“) weitreichende Anforderungen an den Menschen stellt, damit aber ebenso weitreichende Wirkungen zeitigen kann. Es liegt auf der Hand, dass in einer kurzen hinweisenden Bemerkung wie dieser nur ein erster Hinweis gegeben ist. In allen wirklich geisteswissenschaftlichen Darstellungen werden notwendigerweise immer neue Aspekte dieses Geschehens zur Sprache kommen. Dieser Lernvorgang kann insofern niemals als wirklich abgeschlossen angesehen werden; dies weniger als Drohung, mehr als eine Art Verheißung erleben zu können, gehört auch zu den Dingen, die der Mensch im Umgang damit sich aneignen kann.

Man sollte das bei allen Darstellungen dieser Art berücksichtigen.

© Stefan Carl em Huisken 2023

1vgl. zum Beispiel den Wikipedia-Artikel zur Metamorphose in der Mythologie: https://de.wikipedia.org/wiki/Metamorphose_(Mythologie)

2Dass gerade und nur diese beiden Situationen – die persönliche Begegnung in einem Vortrag oder das Lesen eines Textes – die Freiheit wahren können, habe ich an anderer Stelle bereits ausgeführt: vgl. Stefan Carl em Huisken: Menschenbegegnung, geschriebenes Wort, Ton- und Bildaufzeichnungen. – In: DIE LAHNUNG – Mitteilungen für individuelle Entwicklung und Lebenskunde, Nr. 10, S. 26ff oder im Internet Kurzlink https://ogy.de/xdu1.


Cover Wahnsinn und Denken Hellsichtigkeit

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Geisteswissenschaft und Hellsichtigkeit

Die Wahrheitsfrage – Dilemma unserer Zeit

Was im Folgenden dargestellt wird, ist ein weiterer Versuch, Denkwege, die unserer Zeit nötig aber ungewohnt sind, so darzubieten, dass für den unvoreingenommenen Leser ein genauer Nachvollzug möglich ist und er dadurch beim Lesen eine kleine Übung im ungewohnten Denken absolvieren kann. Daher scheint es sinnvoll, eingangs auf diese Intention aufmerksam zu machen, aus der dann auch die Bitte hervorgeht, der Darstellung zunächst einfach denkend zu folgen und Einwände – welcher Art auch immer – bis zum Schluss zurückzustellen. Ein solches Vorgehen wird dazu beitragen, dass der Nachvollzug der gemeinten Denkwege ungehindert vonstatten gehen kann, und so ein wahres Bild der geistigen Grundlagen unserer Erkenntnis entstehen kann, in dem Methode und Inhalt sich vollkommen entsprechen, ja Eines werden.

Wie entsteht Erkenntnis?

Wenn wir über einen Gegenstand – sinnlich oder geistig – etwas wissen wollen und nicht nur meinen, dann ist es erforderlich, dass wir uns genaue Rechenschaft geben können über die Methode, die wir anwenden, um zu den Wahrnehmungen, die wir von diesen Gegebenheiten haben, einen angemessenen Begriff hinzu zu fügen.

Dass eventuell auch die vorliegenden Wahrnehmungen falsch oder verfälscht sein können, spielt dabei keine Rolle – denn bei der Beurteilung der Richtigkeit der Wahrnehmungen taucht dasselbe Problem wieder auf: wie können wir zutreffend beurteilen? Einen Maßstab zur Beurteilung unseres eigenen Erkenntnisprozesses können uns nur eigene Beobachtungen verschaffen, die für uns selber unbezweifelbar vorliegende Tatsachen darstellen, und zu deren Beurteilung wir nichts heranziehen müssen, was außerhalb der eigenen Beobachtung liegt. Dann überschauen wir das Ganze der Erkenntnis und können feststellen, ob alles zueinander stimmt.

Genau so müssen wir daher auch mit unseren vornehmsten Erkenntnisinstrument, dem Denken, verfahren.

Kontrolle des Denkens

Eine solche Beschäftigung des Denkens mit sich selbst widerstrebt uns zunächst, vielleicht weil wir unterschwellig ahnen, wie unkontrolliert es im Alltag bei uns verläuft. Da reihen wir nicht bewusst Schritt an Schritt, sondern springen von Eingebung zu Eingebung: „… da fällt mir ein …“ – woher denn eigentlich? Bewusst einen Gedanken an einen anderen anzuschließen, ist uns ungewohnt, und manchmal Schwerstarbeit. Aber ohne diese Arbeit bleibt jedes Urteil, das wir abgeben, letztlich bodenlos, bloße Meinung.

Und so lebt unsere Zeit in der (für unsere Bequemlichkeit förderlichen) Auffassung, dass es Wahrheit eben nicht gibt, sondern nur Meinungen. Und die Welt und das Leben werden dann eben von denen beherrscht, die ihre Meinung zum Beispiel durch Manipulation oder Gewalt am besten geltend machen können. Wie aber, wenn diese Meinung, es gäbe keine Wahrheit, falsch wäre?

Um zur Wahrheit in dieser Sache zu kommen, bleibt also nur der anstrengende Weg des Selber-Denkens, keinen „Einfällen“ („Invasionen“) zu folgen, sondern eines aus dem anderen Schritt für Schritt zu entwickeln, oft gerade gegen meine Vorlieben und Wünsche ( … die Bequemlichkeit zum Beispiel).

Wissenschaft

Genau das ist aber Wissenschaft: beim Beurteilen und Erklären einer Tatsache methodisch so vorzugehen, dass keine unbeobachteten Einflüsse das Urteil unbemerkt beeinflussen können, und dadurch dann auch nicht unbemerkt persönliche Sympathie oder Antipathie oder sonstige, in der Person des Wissenschaftlers liegende Eigenschaften das Ergebnis verfälschen. Das kann man gegenüber der Natur und ihren Gegenständen ebenso anwenden wie im Umgang mit geistigen Beobachtungen, ganz zuerst vor allem dem eigenen denkenden Beurteilen gegenüber. Gegenüber der Natur kommt dies im Aufbau von Experimenten zum Tragen; im Geiste ist der Experimentator sein eigener Versuchsaufbau.

Das Denken ist eine innere, nicht durch äußere Sinne gegebene Tatsache, also geistig, übersinnlich, ebenso wie jedes Gefühl, jeder Willensimpuls oder letztlich auch ich selbst1 so, wie ich mich erlebe2. Gehe ich geistigen Gegenständen gegenüber wissenschaftlich im obigen Sinne vor, so betreibe ich ganz wörtlich Geisteswissenschaft.

Form und Inhalt

Dabei ist es unbedeutend, welchen konkreten geistigen Inhalt ich untersuche; was zählt, ist die Methode, die nichts Unbeobachtetes als Einflussgröße im Prozess duldet. Das wissenschaftliche Vorgehen ist also die Bildung einer Erklärungsform für einen Inhalt, und diese Erklärungsform kann ich dann als gültig ansehen, wenn in ihre Bildung nichts einfließt als der beobachtete Gegenstand und meine vollbewusste Tätigkeit.

So etwas ist nicht einfach: man versuche einmal, zum Beispiel die Entstehung eines Bleistiftes sich innerlich zu erklären so, dass nichts herangezogen wird, was nicht unmittelbar mit dem vorher Vorhandenen so zusammenhängt, dass mir dabei der Zusammenhang völlig klar ist. Abgesehen davon, dass es uns sehr schwer wird, ohne Abschweifung mehr als einige Sekunden bei der Sache zu bleiben, werden wir sofort innerlich von „Einfällen“ überflutet, die sich jetzt aus angelernten, aber meist ins Unbewusste gesunkenen Zusammenhängen ergeben. Wir werden also sofort wieder durch eine Inhaltsfülle von der kontrollierten Erkenntnismethode abgelenkt.

Über die Wahrheit einer geistigen Tatsache ist aber ein Urteil nur auf dem Wege der inneren Kontrolle des Denkens und Beurteilens möglich; den äußeren Weltgegenständen gegenüber kann jeder Irrtum, jeder Methodenverlust durch genaue Beobachtung dieses gegebenen Inhaltes selbst korrigiert werden. Das hat zu unserer Gewohnheit geführt, uns beim Denken von den Inhalten leiten zu lassen, den äußeren (Sinnes-)Inhalten ebenso wie den inneren (Wunsch- und Vorlieben-)Inhalten.

Geistige Wahrnehmung

Üben wir aber kontrollierte Erkenntnismethodik systematisch an nicht-sinnlichen Inhalten (wie zum Beispiel der Beobachtung des Denkens), so erlernen wir dabei die bewusste Gestaltung von zeitlichen inneren (Erkenntnis-)Prozessen, bei denen wir immer sagen können, was wie woraus hervorgeht – also das Gestalten von inneren Tätigkeitsformen, die wir den Inhalten entgegentragen. Diese Tätigkeit ist gewissermaßen eine freie, die aber dann immer sagen kann, wie das zustande kommt, was sie hervorbringt. Solche Übung nennt man auch Meditation; in diesem Falle aber eine, die sich nicht in die reine Wahrnehmung zurückfallen lässt, sondern gerade die eigene Aktivität steigert, konzentriert, um sich eine Erklärung des (selbstgestalteten) Untersuchungsgegenstandes zu schaffen.

Diese Untersuchungsgegenstände sind dann völlig selbstbewusst erarbeitete Inhalte, die nur so lange existieren, wie sie auch hervorgebracht werden. Sie sind keine aneinandergereihten Worte, sondern mühsam erarbeitete innere Bilder des Untersuchten und seiner Zusammenhänge. Es geht also gerade darum, die Sache selbst sich durch unsere Tätigkeit aussprechen zu lassen, nicht aus ihr irgendwelche abstrakten, allgemeinen Regeln aufzustellen, die man dann immer gleich reproduzieren und auf andere vermeintlich gleich geartete Inhalte anwenden kann, oder auch bestimmten Nutzen aus der Sache zu ziehen.

Man beginnt dadurch nach und nach in solchen inneren Bildern zu denken, und nicht mehr in abstrakten Gesetzen oder „aus dem Bauch“ gefühlt durch irgendwie sich assoziativ angliedernde andere Inhalte. So entwickelt man ein neues (geistiges) Sinnesorgan für geistige Wahrnehmungen. Bei einiger Übung fallen einem dann solche Bilder – Imaginationen – auch bei anderen Gegenständen zu, die man noch nicht selber in der geschilderten Weise genau kontrolliert untersucht hat. Der Unterschied zu beliebigen Traumbildern ist aber, dass solche Bilder den Weg zu ihrer Entstehung stets einschließen, und daher ihre Gültigkeit immer durch den Menschenverstand überprüft werden kann.

Gesunder Menschenverstand

Das mir wie jedem gesunden Menschen gegebene, bisher aber noch ungenannte Kriterium der Beurteilung ist der sogenannte „gesunde Menschenverstand“, der nämlich durchaus beurteilen kann, ob ein Schritt wirklich bewusst aus dem vorigen hergeleitet werden kann, jedenfalls dann, wenn er sich nicht auf vorgefasste Urteile, sondern nur auf sich selbst stützt. Er ist es auch, der es ermöglicht, durch einen Anderen vorgebrachte Berichte von Tatsachen zu beurteilen, auch wenn man selber keine Wahrnehmung davon hat, egal, ob es um sinnliche oder übersinnliche Tatsachen handelt.

Der bewusst imaginative Hellseher kann daher von jedem Menschen bezüglich seiner Zuverlässigkeit beurteilt werden. Kann er nämlich nachvollziehbar angeben, wie er zu seinen Erkenntnissen kommt, also zu den erzählten Inhalten auch die lebendigen Bildbegriffe und ihren Bildeprozess liefern, so bleibt er nichts schuldig.

Anders ist es bei Menschen, die über nicht-sinnliche Wahrnehmungen ohne vorhergehenden Aufbau einer wissenschaftlichen Erkenntnismethode für den Geist verfügen. Sie erzählen dann von ihren Wahrnehmungen, verwenden aber Begriffe dafür, die sie am Umgang mit sinnlichen Inhalten erlernt haben. Begriffe sind eben innerliche Formen, die sich mit Inhalten der Wahrnehmung verbinden, ihnen auch entsprechen müssen, damit sie „passen“, nicht einfach Worte, die den Inhalten angeheftet werden. Und die Anwendung unpassender Begriffe gaukelt dem Empfänger solcher Mitteilungen dann vor, er könne das lebendige Wesen der geistigen Wahrnehmungen mit seinen im Alltag erworbenen Begriffen fassen, was dann dazu führen kann, dass Wahrnehmungen durch die Begriffsweise verzerrt, unterdrückt oder auch hinzuhalluziniert werden. Das ist genauso wie bei schlecht oder fehlerhaft ausgebildeten Körpersinnen den Sinnestatsachen gegenüber.

Es gibt sicher auch Menschen mit angeborener Hellsichtigkeit, die sich dann mühsam die richtigen Begriffe zu ihren Wahrnehmungen bilden konnten. Das ist aber ganz sicher eine Minderheit. Es erfordert ja das Losreißen der Erkenntnismethode von den Inhalten; und gerade solche Hellsichtigen werden von inneren Bildinhalten geradezu überflutet. Da kostet es dann noch mehr Kraft als für einen „Normalmenschen“, um Kontrolle über das eigene Denken im Bilden von imaginativen Begriffen zu bekommen; nur sehr wenige können das.

Die heutige Situation

Warum ist das heute so? Wir leben in einer Zeit, in der die Wahrnehmungsinhalte ihre Begriffe nicht mehr unmittelbar „mitliefern“ – wir müssen sie uns selber erarbeiten. Dadurch sind wir aber auch frei geworden vom „geistigen Zwang“ durch diese mitgegebenen Begriffe und Notwendigkeiten. Dies ist die Grundlage für alle Irrtums- und Zerstörungsmöglichkeiten, über die der Mensch heutzutage verfügt. Darum hat er sich auch anhand seiner Sinneswahrnehmungen allerlei Theorien zurechtgedacht, die dann stimmen oder auch nicht, also nur als Meinungen gelten können und damit dem Machtkampf um die „richtige Meinung“ ausgeliefert sind.

Zu früheren Zeiten lebten die Menschen geführt durch gezielt ausgewählte und dafür geschulte Personen, die noch die Fähigkeit hatten, die wahren, lebendigen Bildbegriffe zu den Wahrnehmungen zu empfangen: Mysterienpriester, Gottkönige und ähnliche Persönlichkeiten. An dieses Geführtwerden hat sich die Menschheit gewöhnt; das äußere Führungssystem übernahmen die Kirchen, sich jetzt auf die durch sie gepflegte Tradition der überlieferten Offenbarung berufend, und später der Staat, ein gleichsam „göttliches Gesetz“ repräsentierend, das über den Menschen steht. Heute sind die Inhaber dieses Führungssystems noch ganz andere Gruppen.

Die Geist-Wahrnehmung starb ab, beschränkte sich auf immer kleinere Gruppen, und mangels passender Begriffe wurde sie in unserer Zeit immer chaotischer; die „Inhaber“ der Herrschaftstraditionen wissen das und achten darauf, dass möglichst keine wahre, neue Geisterkenntnis aufkommt.

Sie ist aber da, als Möglichkeit in unserem „gesunden Menschenverstand“ und der daraus folgernden kontrollieren Selbsterziehung zum geistgemäßen Denken, das dann aus der Selbstbeobachtung die Wahrheit oder Unwahrheit einer Aussage beurteilen kann.

In früheren Zeiten unterschied man zwischen der Geist-Wahrnehmung, die lange Zeit noch Allgemeingut war, und der Einweihung, die das angemessene Begreifen dazu lieferte, in langer, kontrollierter Erziehung in den Mysterienschulen errungen. Die Eingeweihten wiederum führten die Gemeinschaft, und die Wahrheit ihres Tuns konnte jeder geistig wahrnehmen; sie stand ihnen sozusagen geistig „an die Stirn geschrieben“. Man wusste einfach: der ist Eingeweihter, dem kannst du trauen.

Heute haben wir dieses unwillkürliche Urteilsvermögen nicht mehr; dafür sind wir frei geworden. Darum aber ist alle Hellsichtigkeit ohne geistgemäße Denkschulung heute hochriskant. Sie kann zu allem Möglichen führen: Psychosen, Massenwahn in allerlei Sekten, Manipulation großer Menschenmassen und so weiter.

Rudolf Steiner sagte sinngemäß: heutzutage darf es Geistwahrnehmung ohne Einweihung (die die richtigen Begriffe liefert!) nicht mehr geben. Sonst ist die Gefahr groß, in die geistigen Fänge unguter Mächte zu geraten, die gerade davon leben, dass sie geheim bleiben, den meisten Menschen unbewusst, und die die Menschen so versklaven, indem sie ihnen insgeheim, im Unbewussten (also auch geistig-übersinnlich!) falsche Begriffe einflüstern3.

Geisteswissenschaft – so wie sie hier vertreten wird – ist also die Methode der Gewinnung wahrer Erkenntnisse aus übersinnlicher Wahrnehmung. Sie stützt sich selber, indem sie ihre Methode als etwas Übersinnlich-Geistiges ansieht, das sie selber untersuchen und verstehen kann. Die Übung der Methode führt zur Entstehung eines geistigen Organes; die Anlage dazu hat jeder Mensch, daher kann sie aus den vorhandenen Anfängen systematisch erübt werden. Solche Übung kann also zu Hellsichtigkeit führen, muss es aber nicht. Unabhängig davon können durch die Beherrschung der Methode aber Mitteilungen von Hellsichtigen auf ihre Wahrheit hin beurteilt werden.

Hellsichtigkeit ohne Geisteswissenschaft birgt viele Risiken in sich: seelische Erkrankungen, Halluzinationen, Fehlbeurteilungen der Wahrnehmungen (manchmal sogar der sinnlichen!) bis hin zum völligen Wahnsinn. Diese Risiken können durch systematische geisteswissenschaftliche Schulung überwunden, mindestens aber beherrscht werden. Trotzdem können natürlich einzelne Aussagen von nicht geschulten Hellsichtigen immer auch Wahres enthalten, ebenso wie sich auch der geisteswissenschaftlich Geschulte irren kann – wie jeder Mensch.

© Stefan Carl em Huisken 2023

1Vgl. dazu auch em Huisken, Stefan Carl: Geistwesen Mensch. – In: DIE LAHNUNG 10, S. 4ff, oder im Netz =>hier.

2Das Ich ist eine geistige Tatsache, die nur ich erlebe. Da sie für jeden anderen auf seine Weise aber auch gültig ist, ist die Tatsache des Ich individuell und allgemein zugleich.

3Jeder Guru, der verlangt, man solle sich erst ihm anvertrauen, bevor man dann später erst lernt zu verstehen, was mit einem selber geschehen ist, gehört in diese Kategorie – er missachtet nämlich die Freiheit des Individuums, die es gerade erfordert, erst zu verstehen, und sich dann bewusst und frei für das Erleben zu entscheiden.


Cover Wahnsinn und Denken Hellsichtigkeit

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Mitteilungen DIE LAHNUNG als Abonnement

Im Jahre 2020 begann ich mit der Herausgabe eines Mitteilungsblattes für einen ausgewählten, mir bekannten Kreis von Personen, unter dem Titel =>„DIE LAHNUNG – Mitteilungen für individuelle Entwicklung und Lebenskunde“. Gedacht war zunächst an eine Art Korrespondenz zwischen den Lesern. Geworden ist daraus eine Art Zeitschrift, in der vorwiegend von mir, aber auch von einigen wenigen anderen Autoren immer wieder Beiträge zum übergeordneten Thema „Individuelle Entwicklung und Lebenskunde“ erscheinen.

War der Versand zunächst unabhängig von finanziellen Beiträgen der Leser, so stellte sich nun nach drei Jahren heraus, dass sich dieses Verfahren – so schön die freie Handhabung auch ist – nicht weiter beibehalten lässt. Damit wird aber der Bezug der Hefte auch frei von allen bisherigen Einschränkungen persönlicher Bekanntschaft oder Vermittlung. Die Hefte können also frei abonniert werden.

Es werden zunächst wie bisher drei Ausgaben pro Jahr erscheinen – um den Jahreswechsel herum, zu Pfingsten und zu Michaeli. Der Umfang der Hefte im Format A5 wird in der Regel mindestens ca. 30 Seiten sein, meistens mehr. Die Abonnementsgebühr beträgt 21 € pro Jahr; wer die Heft gerne erhalten möchte, diesen finanziellen Beitrag aber nicht leisten kann oder will, kann sich an mich wenden, um vielleicht eine individuelle Lösung zu finden. Eine digitale Version gibt es nicht.

Die Mitteilungen sind für Menschen bestimmt, die sich für die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners (Anthroposophie) interessieren und auch die Lektüre manchmal schwieriger Texte nicht scheuen. Aus der Verantwortung für die angemessene Mitteilung geistiger Tatsachen ergibt sich die Notwendigkeit, die Worte sehr genau zu setzen, und damit der Neigung unserer Zeit zur möglichst „einfachen“, „schlichten“ Erklärungen die Anforderung engegenzuhalten, den uns ja gegebenen gesunden Menschenverstand auch zu betätigen und möglichst intensiv zu trainieren. Ganz sicher geht es NICHT darum, irgendwelche Spezialkenntnisse welcher Wissenschaft auch immer voraus zu setzen. Die Inhaltsverzeichnisse der bisher erschienenen Hefte kann man auf der oben verlinkten Seite über die Zeitschrift herunterladen.

Wer vorab genauer wissen möchte, was hier unter „Geisteswissenschaft“ verstanden wird, sei auf den Einführungsartikel =>„Geisteswissenschaft“ auf dieser Website hingewiesen. Manche der geisteswissenschaftlichen Darlegungen aus den Mitteilungen finden sich im Übrigen ebenfalls auf dieser Website.




Von der Rettung der Welt

Heilsam ist nur, wenn
im Spiegel der Menschenseele
sich bildet die ganze Gemeinschaft;
und in der Gemeinschaft
lebet der Einzelseele Kraft.

Dies ist das Motto der Sozialethik
Rudolf Steiner1

Von der Rettung der Welt
und der Dreigliederung des sozialen Organismus

„Die Welt“ als das Ganze der mir gegenüberstehenden Gegebenheiten ist eine in sich in unterschiedlichen Regionen oder „Welten“ gegliederte, wie ich in Heft 11 von „DIE LAHNUNG – Mitteilungen für individuelle Entwicklung und Lebenskunde“ aufzuzeigen versuchte2. Sie erscheint der Betrachtung durch den heutigen Menschen als fertiges, feststehendes Werk, das dem Walten von Lebensprozessen entsprossen ist; diese wiederum sind Ausdruck eines zielgerichteten Wollens (nicht unbedingt bewusst oder gar selbstbewusst) – ich schrieb damals auch von Intentionen als geistige Tatsachen, die gleichsam Offenbarung dieses Wollens sind; schließlich findet sich das Wesen allen Geschehens in einer geistigen Region, in der es keinerlei Differenzierung räumlicher oder zeitlicher Art gibt, in der aber doch alles zugleich als Möglichkeit angelegt ist. Dieser letzteren Region gehört auch das Ich des Menschen an, insofern es diese „Welten-Anschauung“ in sich realisiert und so zum Träger der Selbst-Bewusstwerdung des betrachteten Welt-Ganzen wird.

Der Mensch ist also in diesem Sinne einerseits letztes „Werk“ in einer aufeinanderfolgenden Reihe von sich entwickelnden Gegebenheiten, und demgegenüber zugleich das erste Werk, das seinen eigenen Ursprung in sich hervorzubringen in der Lage ist, zunächst in einer abstrakt anmutenden geistig-denkerischen Innenschau auf sein eigenes Erleben der Welt. Damit ist aber in ihm im Prinzip – das heißt in der Form des Selbstbewusstseins – zugleich der Ursprung des Ganzen gegeben.

Dieser Ursprung ist im noch undifferenzierten Sein nicht in der Lage, sich seiner selbst bewusst zu werden. Dazu muss er sich offenbaren – was das Auftreten einer ersten Trennung von Wahrnehmungsinhalt (den eigentlichen Offenbarungsinhalten) und wahrnehmendem Wesen (als Offenbarung des Wollens, dass nämlich Wahrnehmung sein möge) einschließt. Offenbarung ist also unmöglich ohne Wirksamkeit in dem Sinne, dass sie als Voraussetzung und Folge gleichermaßen ihre eigene Entgegennahme einschließt. Die Offenbarung läuft in die Intention zur Schaffung eines wahrnehmenden Wesens ein, welche wiederum in Ihrer Wirkung ein solches Wesen hervorbringt – als Werk.

Rudolf Steiner schildert drei Formen des Seins: des wesenhaften, noch undifferenzierten, unentwickelten (Steiner nennt es auch „involvierten“) Seins; des sich offenbarenden, also sich entwickelnden („evolvierenden“) Lebens; und schließlich der dadurch bewirkten gestalteten Form. Diese Dreiheit nennt er die drei Logoi, oder auch die Dreifaltigkeit aus Vater, Sohn oder Wort, und Heiligem Geist3.

Erst im Menschen, als letztem Werk dieses Evolutionsprozesses, tritt ein gänzlich vom Vater unabhängiges Wesen auf, das also notwendig die Trinität der drei Logoi als unmittelbar Gegebenes verlieren musste; nur durch diese Unabhängigkeit kann der Mensch ein vollgültiges, selbständiges Spiegelbild des Urgrundes sein: der Mensch als Gottes Bild.

Es ist sprechend, wie Steiner als erste Schöpfung der Allmacht das Chaos bezeichnet, das „Tohuwabohu“ des alten Testamentes also. Erst im zweiten Schritt, im eigentlichen Evolutionsprozess, wird alles nach Maß und Zahl geordnet („All-Weisheit“), um schließlich im dritten Schritt, in der „All-Liebe“ vom Prinzip der Sympathie (Anziehung) und Antipathie (Abstoßung) durchdrungen zu werden4.

Wir, als Gesamtheit der Menschen, sind nun als Gewordene jeder einzelne Bild des Urgrundes. Was im Vater noch als Chaos, als Ungeordnetes doch aber Eines war, ist im Menschen nun in der Mannigfaltigkeit, im chaotischen Durcheinanderwirken der Einzelmenschen anfällig für den Zerfall, die Zerstörung, ist dem Tode verfallen. Die menschliche Gesellschaft ist insofern ja auch Bild der Zerstörung des einheitlichen Ganzen, denn was Mensch ist, tritt in der Vielheit auf. Erst wenn der einzelne Mensch in die Lage kommt, sich selber als einen gültigen Ausdruck der geistigen Urform „Mensch“ zu verstehen, die doch in jedem einzelnen Exemplar den Vatergott spiegelt, und darin den Aufruf erkennen kann, die ihm geschenkte All-Liebe zur Erlösung der Welt zu verwenden, kommt neues Leben in das ansonsten ersterbende Werk hinein.

Um diesen Schritt gehen zu können, braucht der Mensch allerdings – und genau in diesem Punkte – Anleitung und Hilfe. Diese wurde ihm zuteil, als der Vatergott sich im Sohn – dem Weltenwort – verhüllte, und sich so seinem Spiegelbilde – dem Menschgeist – offenbarte im Christus5. Geht der Mensch also erkennend, das heißt, dem Gegebenen Begriffe entgegentragend, mit dem Christusereignis um, so kann er dadurch den Sinn seines eigenen Daseins erfahren. Damit macht er sich zum Offenbarer des in ihm selbst gespiegelten ersten Logos, des Vaters, und stellt sein Tun (zum Beispiel im Begriffe-Bilden) dadurch in den Dienst der zweiten Logos, des Christus, der erst geordnet Leben und Entwicklung dem Chaos hinzufügt.

Aus diesem inneren Entwicklungsschritt kann darum eine Ordnung des äußeren Chaos im Zusammenwirken der Menschen hervorgehen. Diese Ordnung muss dann so sein, dass sie ein Spiegelbild dessen gibt, was der Mensch im Blick auf sein eigenes gewordenes Sein im Geiste als sich selber erkennen kann. Dieser Blick fällt letztlich auf das Bild der drei Logoi, wie sie sich im heutigen Menschen als Werk darleben, aber so, dass es den Charakter des Selbstbewusstseins bekommt. Der Mensch tritt also hier als darum Ringender auf, sich selbst als Evolution des Göttlichen zu erleben.

Was Rudolf Steiner als „Dreigliederung des sozialen Organismus“ beschrieb, die notwendig in das Leben der Menschen unserer Zeit hineinkommen müsse, ist also kein irgendwie ausgedachtes System zur Erlangung eines möglichst glücklichen Lebens für alle, sondern ein auf ernster Selbsterkenntnis des Einzelnen fußender Schritt hin zur Erlösung aller Wesen, aller Welt. Rudolf Steiner beschreibt diese Situation auch so: „Das Wort verhüllt sich im Geist und offenbart sich dem Vater“6. Wie sich der Vatergott im Christus verhüllte um sich dem ins Werk gefallenen (Menschen-)Geist zu offenbaren, so verhüllt sich nun der Christus-Sohn – das Wort – im Geist, also im Menschen, um sich dem Vater zu offenbaren. Das ist die wahre Bedeutung des paulinischen Wortes: „Nicht ich, der Christus in mir“!

Wer also aus der Erkenntnis der im eigenen Wesen sich realisierenden Trinität heraus sein Leben bewusst zur Offenbarung des Christus macht, der sich im egoistischen, an der Sinnenwelt hängenden Einzel-Ich verhüllt, wird zum wahren Mitarbeiter der Schöpfung im Werk Gottes. Ganz konkret bedeutet dies, seinen inneren lebendigen Geist-Anblick der Trinität zum Ausgangspunkt seines Handelns zu machen, sein eigenes Geistesleben also zu befreien von den Egoismen und Gewohnheiten der eigenen gewordenen Person, und so zu einem lebendigen, konkreten menschlichen Quell einer wirklich frei errungenen „Dreigliederung des sozialen Organismus“ zu werden. Die von Rudolf Steiner immer wieder als unverzichtbarer Anfang einer sozialen Umgestaltung geforderte „Schaffung eines freien Geisteslebens“ wird auf diese Weise konkret und kann sofort, von jedem Einzelnen in Angriff genommen werden.

Selbsterkenntnis wird so zur Christuserkenntnis, von der aus die All-Liebe des Menschen in die werdende Menschheit einströmen kann; nur die Erkenntnis ermöglicht die richtige Unterscheidung. Der Einzelne, der im Anderen wie in sich selbst den verhüllten Christus erkennt, kommt zu einer anderen Auffassung vom Recht im sozialen Leben, als sie allen denkbaren Utopien eignet; dort ist Recht immer nur möglich als verabredetes, dann aber über jedem Einzelnen stehendes, festes Regelwerk, das der Gewalt zu seiner Durchsetzung bedarf. Der durchchristete Mensch bedarf keiner Gewalt, um dem anderen – Christusträger wie er selber – menschenwürdig zu begegnen.

Gewiss wird ein solcher Zustand der menschlichen Gesellschaft, der letztlich alles geschriebene Recht überflüssig macht, noch lange auf sich warten lassen7. Entstehen kann er aber dennoch nur, wenn die Wenigen, die heute schon aus christlicher Selbsterkenntnis im sozialen Miteinander zu leben versuchen, nicht nachlassen in ihrem Streben, und vor allem die Erkenntnisgrundlagen für ein wirklich lebendiges „demokratisches“ Miteinander immer mehr Verbreitung finden. Dreigliederung entsteht im sozialen Organismus nicht durch Anwendung irgendwelcher Systeme, sondern durch ernste Arbeit jedes Einzelnen an sich selbst. Darin liegt die „Gleichheit“, die die Menschen im Rechtsleben erfahren können.

Und schließlich, wenn der christlich erkennende Mensch sich dem allen Menschen eigenen Welten-Erden-Wesen zuwendet, so wird ihm das jedem Wesen angemessene Teilen dessen, was allen gemeinsam aus der Schöpfung des Vaters zukommt, eine Selbstverständlichkeit sein. In gemeinsamer Arbeit im Weltenlaufe all die Dinge, die aus dem ursprünglich göttlichen Leben ebenso wie der Mensch selbst in die Werkwelt gefallen und so dem Wirken des „widerrechtlich Fürsten der Welt“ anheimgefallen sind, in den eigenen Geist aufzunehmen durch eine geistgemäße Wissenschaft, und sie so schon in der Erkenntnis einer ersten Erlösung zuzuführen, wird die gemeinsame Richtschnur wirklich „brüderlichen“ Handelns der Menschen werden. Nur, was ich wirklich kenne und um seiner selbst willen achte, kann ich in meinem Handeln angemessen würdigen; das gilt für Menschen ebenso wie für Tiere, Pflanzen, Steine, die Elemente ebenso wie alle geistigen Wesen, die den Erscheinungen der Werkwelt zugrundeliegen.

Genau wie bei der „Schaffung eines freien Geisteslebens“ kommt es also im Rechts- und Wirtschaftsleben auf den Einzelnen an, auf seinen Erkenntnismut, sein Erkenntnisschaffen. Weil die Menschen nicht erkennen, was in jedem Einzelnen veranlagt ist als Richtschnur eines wirklich menschenwürdigen Umganges miteinander, bleibt das Chaos bestehen und geht nicht über in ein geordnetes Miteinander. Jeder Einzelne, der aus Erkenntnis zu handeln versucht, ändert das Ganze. Nur so kann die Welt gerettet werden aus der Erstarrung in zerstörerischen Machtkämpfen, die aus triebhaften, dumpfen oder ideologisch-maschinenhaftem Egoismus entstehen müssen. Leitschnur kann dabei der Blick auf die drei Logoi in ihrer Realisierung im selbsterkennenden Menschen werden.

Also: frisch ans Werk?

© Stefan Carl em Huisken 2023

1Steiner, Rudolf: Wahrspruchworte. GA 40. – Dornach, 1975. S. 256.

2em Huisken, Stefan Carl: Was ist die Welt? – In: DIE LAHNUNG, Nr. 11, S. 7 ff. Hier auf der Website unter https://emhuisken.de/was-ist-die-welt/

3vgl. Steiner, Rudolf: Bewusstsein – Leben – Form. Grundprinzipien der geisteswissenschaftlichen Kosmologie. GA 89. – Dornach, 2015. S. 237. .pdf im Internet: https://odysseetheater.org/GA/Buecher/GA_089.pdf

4vgl. ebd., S. 238

5vgl. ebd.

6ebd.

7Ebenso wie umgekehrt der Hereinbruch der römisch-juristischen Denkweise ins Germanische z.B. bei den Friesen erst spät dazu führte, dass lebendig gefühltes und in der Gemeinschaft praktiziertes Recht überhaupt aufgeschrieben wurde.


Cover Wahnsinn und Denken Offenbarung des Menschen Rettung der Welt

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Wozu braucht man den Darwinismus?

Charles Darwin Darwinismus
Charles Darwin

Die Vorstellung, dass jedes höher entwickelte Wesen im Gang der Entwicklung durch eine Art „Naturzüchtung“ im sogenannten „Kampf ums Dasein“ erst entstanden ist, weil es dabei eben sich stärker zeigte als seine Konkurrenten, ist so recht nach dem Geschmack bestimmter parasitär gestimmter Menschengruppen, die ihre vorrangige Aufgabe darin sehen, andere Menschen zu beherrschen zum Zwecke der Ausbeutung. Ein solches Bild der Entwicklung, in dem immer der Stärkere den Schwächeren besiegt und verdrängt, hat – wenn es als gültig angesehen werden soll – allerdings gewisse Voraussetzungen, die kaum jemand wirklich in Rechnung zieht oder gar öffentlich benennt.

Bereits Ende des 19. Jahrhunderts, als ein solches Menschenbild, das ja auf der Grundlage von Charles Darwins Buch „Über die Entstehung der Arten“ aufgekommen ist, immer größere Bedeutung gewann, wussten klar denkende Menschen von diesen Voraussetzungen und den damit verbundenen Folgen. So zitiert Rudolf Steiner 1904 in seinem Aufsatz „Über moderne naturwissenschaftliche Anschauungen“1 den Forscher W.H. Rolph, der bereits 1884 schrieb:

„Erst durch die Einführung dieser Unersättlichkeit wird das Darwinistische Prinzip der Vervollkommnung im Lebenskampfe annehmbar. Denn nun erst haben wir eine Erklärung für die Tatsache, dass das Geschöpf, wo immer es kann, mehr erwirbt, als es zur Erhaltung seines Status quo bedarf: dass es im Übermaß wächst, wo die Gelegenheit dazu gegeben ist. … Während es also für den Darwinisten überall da keinen Daseinskampf gibt, wo die Existenz des Geschöpfes nicht bedroht ist, ist für mich der Lebenskampf ein allgegenwärtiger. Er ist eben primär ein Lebenskampf, ein Kampf um Lebensmehrung, aber kein Kampf ums Dasein.“2

Damit wird gleichzeitig klar: wer unersättlich ist, braucht den Lebenskampf, um seine Unersättlichkeit auszuleben und sie dabei auch noch als eine für den Menschen unausweichliche Naturnotwendigkeit hinzustellen. Und auch „rein menschlich“, moralisch sozusagen, steht er fein da: er ist ja nicht schuld an den Folgen, das ist eben alternativlose Naturnotwendigkeit.

Solche ausweglosen Situationen, in denen „höhere Gewalt“ dieses oder jenes alternativlos erzwingt – so wird es uns jedenfalls von gewissen tonangebenden Kreisen immer wieder eingehämmert – kennen wir aus der Gegenwart und unmittelbaren Vergangenheit ja zur Genüge. Dass die Sache vielfach nicht recht schlüssig scheint, bemerken allerdings auch immer mehr Menschen. Und dann sucht man die Schuldigen, die „bösen Menschen“ (die „bösen Darwinisten“?), denn wenn man die mit der moralischen Keule auf dem Umwege der Mobilisierung der Massen dann aus ihren Positionen vertrieben hat, so meint man, wird alles besser. Ist das wirklichkeitsnäher als das „Darwinistische Prinzip der Vervollkommnung im Lebenskampfe“?

Was man dabei übersieht, ist dies: man versucht im „Kampf ums Dasein“, im „Lebenskampfe“ nun eben auch mitzuspielen, nur von vermeintlich „höherer moralischer Warte“ aus. Die zugrundeliegende Ideologie – den „Darwinismus“ als solchen, mehr oder weniger simplifiziert – zieht man nicht in Zweifel. Man macht einfach im„Lebenskampf“ mit und bestätigt so durch die Tat dessen daseinsbeherrschende Macht, die – wie ja schon Rolph erkannte – letztlich untrennbar mit der menschlichen Unersättlichkeit verbunden scheint. Aber ist das überhaupt so?

Gewiss: die Exzesse kolonialistischer Kriege, die menschenverachtenden Wirtschaftssysteme sind ja ebenso vorhanden wie die sexuellen und drogenstimulierten Ausschweifungen mancher derzeit die Weltenlenkung darstellenden Figuren. Und dass die Unersättlichkeit parasitierender Triebtäter vor allem aus Übersee nahe daran ist, die menschliche Zivilisation insgesamt zu vernichten, kann ohne gezieltes Wegsehen und Weghören kaum noch jemand ernsthaft ableugnen. Allerdings: die Situation ist nicht ausweglos.

Abgesehen davon, dass sich das gesamte darwinistische Denkmodell ziemlich problemlos anhand von Tatsachen widerlegen lässt3, kann man solch eine Sachlage auch so lakonisch kommentieren wie Rudolf Steiner das obige Zitat von W.H. Rolph schon 1904: „Nur natürlich ist es, daß sich bei solcher Lage der Tatsachen die Einsichtigen gestehen: Die materialistische Gedankenwelt taugt nicht zum Aufbau einer Weltanschauung. Wir dürfen, von ihr ausgehend, nichts über die seelischen und geistigen Erscheinungen aussagen.“4

Die Unersättlichkeit des Menschen (eine „seelische Erscheinung“ also) ist ja nur für denjenigen eine Art unausweichlicher Zwang, der sie in seinem Denken zu einem solchen macht. Das ist dann ein Denken, das hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt und leugnet, dass es sich selber zu steuern in der Lage ist. Das wäre ja ein unbequemer Weg, auf dem man selber Verantwortung für die eigene Weltanschauung übernehmen müsste, frei und ohne Scheuklappen, selber denkend. Was daraus als Taten erflösse, müsste der Einzelne dann auch selber verantworten. Das will er allerdings vielfach nicht, und so bastelt man sich lieber ein Welt- und Menschenbild, in dem die Freiheit des Menschen zugunsten reiner Triebtäterschaft (seien es sogenannten „höhere moralische“ oder „niedere“ Triebe) zurücktritt und die Schuld daran dann weiterhin anderen – Gott, irgendeinem „Gegner“ oder eben der „unausweichlichen Weltgesetzlichkeit“ – zugeschoben werden kann.

Wer diese Situation nachhaltig durchdenkt, und daraus auch Konsequenzen ziehen will, kann gar nicht anders, als sich selber – und damit den Menschen schlechthin – als Geistwesen anzusehen, das sich selbst verloren hat und nun vor der Aufgabe steht, sich selber wiederum – dann allerdings bewusst und frei – unter Kontrolle zu bekommen.

Darum ist es in der derzeitigen Weltlage gar nicht die erste Frage, was konkret zu tun sei, sondern vielmehr, wie jeder Einzelne (und nach und nach immer mehr davon) erst einmal zur Einsicht kommen könne in die Grundlagen seines Handelns. Handeln wir wirklich selber oder überlassen wir die Steuerung unseres Willens dunklen Trieben, zu deren freier Verwendung? Oder, anders gesagt: Wer bestimmt unser Handeln – das eigene ICH oder ein dunkles Triebwesen?

Der „man“, der sich nicht einmal selber benennen mag, nicht einmal den eigenen Namen kennt, der ICH heißt, braucht den Darwinismus zur Rechtfertigung seiner Freiheits-Unwilligkeit, also seiner Bequemlichkeit. Der freie Mensch lehnt ein solches Denken in „Unausweichlichkeiten“ ab, denn es hindert ihn an der eigenen Höherentwicklung im Dienste der (eigenen) Menschlichkeit.

© Stefan Carl em Huisken 2023

1Steiner, Rudolf: Lucifer – Gnosis. Grundlegende Aufsätze zur Anthroposophie 1903-1908. GA 34. – Dornach, 1987, S. 457ff

2Zitiert nach Steiner ebd., S. 464

3Vgl. zum Beispiel Delor, Andreas: Atlantis aus aktueller hellsichtiger und naturwissenschaftlicher Sicht. Band 5a. – Borchen, 2018. S. 6ff

4Steiner, Rudolf: ebd.


Cover Wahnsinn und Denken Menschen-Werden

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Michaels Weg

Licht – Sprache der Sonne
In ihr zu denken, sprechen, tun
Zeigt Michael, der seine Frage
„Wer ist wie Gott?“
Dem Sucher vorlegt, und der schreitet
voran auf dem steinigen Pfad.

Ist Gott? Wer ist er dann?
Die Frage schon allein spricht Tod.
Nicht ist der Gott in dem
Was des Suchers Auge erfasst, sein Denken umgreift;
Er verließ des Suchers erstorbene Welt.

Was ist die Welt? Ein toter Kosmos?
Wer schuf ihn dann, aus seinem Leben?
Antwort strömt aus des Raumes Weiten nicht
Auch nicht aus Zeitenläuften.
Sie spricht in dem, der uns die Götter-Sprache
Einst selber sprechen ließ in seinem Dienst.
Nun führt uns das Sein, einer toten Welt.

Wo ist das Wesen dieser Sprache
Die zu verstehen Michael uns führt im Sprechen?
Wir können nicht mehr einfach lauschen.
Nichts wird lebendig klingen ohne unsern eignen Laut.

Denn: wer ist Gott? Er ist die Liebe
Die ihren Weg zum toten Steine sucht
In dem, der Steine kann zum Leben führen.
Der ist der Gott. Von ihm zeigt seine Sprache
Uns Michael, das Antlitz Christi.

Durch ihn spricht sie, die Liebe.
Sie spricht der Welt. Und Michael,
Er zeigt den Weg, nach dem der Sucher dürstet,
Den Weg zum Leben in der Ewigkeit.

Der Weg ist da, ein jeder kann ihn finden,
Der nur der Einfalt da, wo sie im Rechte,
Nicht hindert, sondern der ihr folgt:
Der Weg des Michael ist meiner,
Wenn ich verstehend seinem Vorbild folge
Und aus dem Leben, das in mir erstand
Durch eines Gottes Tat das meine mache.

Ja, wer ist Michael? Er ist im Menschen, der sich selbst
zum Sonnensprecher macht aus Liebe.
Er senkt das neue Leben in den Tod hinein,
Weil er das eigne Leben seinem Wege opfert,
Dem Weg, den Michael uns zeigt.

© Stefan Carl em Huisken 2023




Wie wird der Mensch?

„O Mensch, erkenne dich selbst!“ – so tönte es dem Sucher aus den alten Mysterien entgegen. Da der Mensch als Werdender aber niemals gleich bleibt, sondern immer in Entwicklung ist, kann er sich selber nur verstehen, indem er sein eigenes Werden geistig umfasst.

Das innere Erkenntnislicht entsteht aus dem Selbst-Bewusst-Werden des Menschen als einem aus dem Weltganzen gleichsam „Hinausgeworfenen“, der die Welt verloren hat und den die Welt verloren hat, und der aus alldem, was er in seinem (seelischen) Innenwesen finden kann, diesen Verlust als seinen eigenen Anfang erleben lernt, indem er seine Situation in seiner Seele anschauen lernt, bedenken lernt, mit seinem inneren Denk-Seelenlicht bescheint. Er bemerkt: Ich bin anders als die Welt, „mein Reich ist nicht von dieser Welt“.

Indem der Mensch so in innerer Besinnung auf diesen „Hinauswurf“ sein eigenes Werden nachvollziehen lernt, wendet sich der Geist, der Mensch und Welt als polar sich tragende Einheit umfasst, aus dem Menschen zur Welt, fügt dieser Welt damit etwas Neues, aus ihm selber Stammendes hinzu, und muss doch gleichzeitig bemerken, dass, was er gerade hervorbrachte, ihm im selben Augenblick wieder entgleitet. Seinen eigenen geistigen Erkenntnisprozess kann der Mensch nicht festhalten, so wie es auch der Gottesgeist mit dem seinigen nicht konnte, da dieser Prozess in ständiger Wandlung ist und nur im Tun vorhanden und anschaubar.

Zwischen Welt und Geist weben also Kräfte, welche aus beiden in unterschiedlicher Weise hervorgehen, die Einheit des jeweils individuellen Menschen. Indem der Mensch als irdisches Einzelwesen in diese gleichsam kosmische Polarität und damit als Mittelpunktswesen seines eigenen, umfassenden Seins in den Raum der Welt gestellt ist, wird er zum Träger des Ausgleichs zwischen Außenwelt und Seelengründen. Vom kosmischen Schicksal ergriffen und in diesen Mittelpunkt gestellt, findet er sich auf der Suche nach dem rechten Greifen des Ausgleichs, nach demjenigen, worin sich nach Schillers Worten Anmut und Würde ausdrücken können: der Kunst und dem Spiel.1

Der einzelne individuelle Erdenmensch, so, wie er aus dem kosmischen Schicksal heraus geworden ist als ein Mittelpunktswesen des Universums, erwacht für sein eigenes Sein, und wird dadurch zugleich diesem Mittelpunkts-Sein gerecht, indem er in seinem eigenen Erwachen die eigene, in ihrem ganzen Umfang ihm noch unbewusste Göttlichkeit bemerkt. So kann er ahnen und schauen, wie aus dem Kosmos heraus dieses ganz dem Kosmos entfremdete Wesen seiner selbst, aus sich selbst heraus, zunächst in strenger innerer Denk- oder Meditations-Arbeit den Gedanken des kosmischen Wesens und Werdens hervorzubringen beginnt, der ihm selber immer mehr zur Stütze seines eigenen Seins wird. Dadurch wird er unabhängig vom kosmischen Werden, kann aus sich selbst heraus den Weg der Freiheit betreten.

Aber er muss ertragen, dass alles, was er sich und dem Weltenprozess aus sich selber hingibt, im Augenblick der ersten Wahrnehmung des gerade Gegebenen ihm entfällt, das Leben verliert, aus einem Ergebnis seiner eigenen Entwicklung zu einem Hindernis für das Weiterschreiten wird; der Mensch schafft sich also selber Widerstände, an deren Überwindung er dann zu wachsen hat2. So wird er von einem Geschöpf des Lebens zum Mit-Schöpfer, zu einem fortlaufend sich höher entwickelnden Quell des Lebens. Der Mensch selber wird dadurch zum Quell der Lebenskraft, einem Quell, der aus dem eigenen fortwährenden Schaffen heraus nach und nach zum verlässlichen Bestandteil des lebendigen Weltganzen werden kann, da er seine Kraft eben aus sich selbst, aus dem Beobachten des eigenen Tuns immer neu zu schöpfen lernt.

Was der Mensch in der Welt schafft, unterliegt deren Gesetzen in dem Augenblick, wo es der Welt übereignet wird. Macht sich der Mensch als schaffender Kräftequell aber selbst zum Gegenstand, der ihm schließlich im Weltganzen gegenübertritt, so schenkt er sein Leben gleichsam weg, geht selber durch den Tod, verändert dieses Weltganze damit aber so, dass er ihm neues Leben einhaucht. Sein eigener Zeitenstrom des Lebens gliedert sich dem kosmischen Entwicklungsstrom ein, verrinnt in diesem. Damit werden beide – Erdenmenschenwerden und kosmisches Werden – nach und nach eines. Indem der Mensch sein eigenes Selbst-Werden der Welt schenkt, soweit er dies sich selber gegenüberstellen kann, ist er dem Weltenwerden einverwoben3.

Damit tritt er ein in den geistigen „Raum“, dem das Werden entstammt. Was der Mensch im Bewusstwerden des eigenen Wesens erschafft, wird Bestandteil des Ewigen im Weltganzen. Sein eigenes Menschsein wird damit Ausdruck und untrennbarer Bestandteil des geistigen Seins und Werdens im Ganzen der göttlichen Schöpfung; seiner Aufgabe als Mittelpunkt und Schau-Platz des Weltenwerdens kann der Mensch so gerecht werden. Dass er selber die Welt und die Welt ihn verlor, ist damit Voraussetzung für beider neue Belebung und Auferstehung in die Zukunft hinein.

Kein Mensch ohne die Welt, aber auch keine Welt ohne den Menschen.


Im Erdendasein des Christus Jesus wurde daher gleichsam exemplarisch das Wesen Gottes als Urheber aller Werdekraft, aller Weltenziele und aller Weltobjekte im Rahmen des Weltenwerdens durch den Menschen Jesus und den ihm einverleibten Christus all den „Hinausgeworfenen“, den „verlorenen Seelen“ ganz handfest als Auftrag und Verheißung gezeigt: werde wie er, indem du ihn in dir wirken lässt (also: in Form deines eigenen, freien Lebens-Werdens). Nur im Rahmen der Gesamtbewegung der Menschenentwicklung bekommt dieses Ereignis einen Sinn. Indem wir lernen, im „Buch des Lebens“ zu lesen, also in den in unserem Denken erfassten Bewegungen der Lebensvorgänge, bekommen einzelne Tatsachen so ihren guten Sinn.


Auch mit den Worten, die aus dem lebendigen Schaffen des Dichters heraus bis zu toten Buchstaben auf Papier geronnen sind, ist es so. Ihren wirklichen Sinn bekommen sie nur, wenn wir Zugang finden zu den sie hervorbringenden lebendigen Denk- und Lautbewegungen – niemals aus dem einzelnen Wort heraus oder gar aus dem, was wir gewohnheitsmäßig mit ihm verbinden.

Und auch die Sprache des Schicksals folgt diesem Gesetz: nicht die „Worte“, hier also die einzelnen Ereignisse im Gang des Lebens lassen uns diese Sprache verstehen; es sind erst die Bewegungen, welche die Abfolge der Ereignisse in unserem Leben veranlassen, durch die wir die Bedeutung der Ereignisse ermessen lernen. Wie im ewigen Gesetz von Leben und Tod, aus dem wiederum neues Leben aufsteigen soll, der Menschengeist sich selbst erschafft und sein Leben der Welt übergibt, so gibt die Sprache des Schicksals zwischen Sterben und Auferstehung dem Menschen erst den Sinn seiner selbst.

© Stefan Carl em Huisken 2023

1vgl. Schiller, Friedrich: Über Anmut und Würde. In: Schiller, Friedrich: Schriften. Schillers Werke. Band 4. – Frankfurt a.M. 1966, S. 141ff, besonders S. 170ff

2Tat dies der Gott nicht in ähnlicher Weise? Vgl. den Aufsatz „Wer ist Gott?“, https://emhuisken.de/wer-ist-gott/

3An einer eher praktischen Frage habe ich dieses Sich-Einverweben in den Weltenstrom ein wenig erörtert in meinem Artikel „Was hilft die Aufregung? – Die Kräfte wirksam nutzen“, hier: https://emhuisken.de/das-boese-was-hilft-die-aufregung-die-kraefte-wirksam-nutzen/


Cover Wahnsinn und Denken Menschen-Werden

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Was ist die Welt?

Was für eine überflüssige Frage, mag mancher denken, das ist doch ganz klar! Dass diese Frage vielleicht nicht gar so überflüssig ist, sondern vielleicht zu interessanten und wichtigen Einsichten führen kann, soll mit diesem kleinen Aufsatz versuchsweise dargelegt werden.

Zunächst: was jedem Einzelnen von uns als Welt sinnlich wahrnehmbar gegenübersteht, hat den Charakter des Gewordenen, bis zum derzeitigen Zustand Fertiggestellten, und als solches zunächst also Unveränderlichen – das in der Vergangenheit liegende Werden kann nicht mehr so beeinflusst werden, dass die vorliegende Erscheinung der Welt eine andere wird. Soll etwas anders werden, muss der vorliegenden Welt ein neuer Werdeprozess hinzugefügt werden, der dann einen veränderten Zustand der Welt zur Folge hat. Es muss also zunächst der Summe der bisherigen Werdevorgänge eine neuer Vorgang hinzugefügt werden.

Dies kann uns aufmerken lassen: der aktuelle Zustand der wahrnehmbaren Welt ist ein fester, gegebener. Jede Veränderung kann nicht aus diesem Zustand selbst erfolgen, denn dieser ist eben Zustand. Und Zustande sind Ergebnisse von Vorgängen, welche aus sich selber heraus niemals Zustände sein können, sondern diese eben hervorbringen. Prozesse als solche können also keine wahrnehmbaren Gegenstände der Sinneswelt sein, also geworden, sondern sie sind geradezu das Werden selbst.

Der sinnlich wahrgenommene Welt-Zustand kann also niemals aus sich selbst heraus Veränderung erfahren, sondern nur aus dem Reich der Zeitgestalten heraus, das heißt, der sich im zeitlichen Ablauf formenden Intentionen. Um Missverständnissen vorzubeugen: mit dem Wort „Intention“ wird hier nicht bloß auf bewußte Zielorientierungen hingedeutet, sondern einfach auf die Tatsache, dass jedem zeitlichen Ablauf das Erreichen irgendeines Zieles eignet, sei es vorher oder nachher oder gar nicht erkannt. Sobald der Ablauf beginnt, wirkt also wie aus der Zukunft heraus eine „Intention“.

Jede Veränderung des Weltzustandes hat damit ihren Ausgangspunkt außerhalb der Summe der im Weltzustand zusammengefassten Einzel-Gegenstände und Verhältnisse. Das Reich des Werdens ist ein anderes als dasjenige des Seins. Schon in den Wortklängen drückt sich das aus: durch das Walten der Intentionen entsteht die Welt in ihrer jeweiligen Verfassung.

Es ist wichtig zu bemerken, dass nur die gewordene, also „seiende“ Welt mit Sinnen wahrgenommen werden kann. Das Werden nehmen wir nicht direkt wahr, wir konstatieren es nur anhand der Unterschiede der aufeinanderfolgenden Welt-Zustände, im Rahmen unseres Mit-Erlebens. Das Werden ist also nicht Bestandteil der Sinneswelt, sondern formt diese, ist ihr in gewissem Sinne „übergeordnet“. Die Gesamtheit solcher Werdevorgänge bezeichnen wir in der Regel als das „Leben der Welt“; sofern diese Vorgänge uns als Person betreffen, als unser eigenes Leben1. Kurz und gut: der Welt eignet ein Leben, das aber, da es als Auslöser immer neuer Welt-Zustände fungiert, der aktuell seienden Sinneswelt offenbar übergeordnet ist. Dieses Leben ist selber ein Nicht-sinnliches, das man aufgrund der genannten Überordnung auch ein Übersinnliches, also Geistiges nennen könnte.

Noch „geistiger“ in diesem Sinne ist die den Lebensprozeß bestimmende Intention. Sie schließt den gesamten Prozeßverlauf einschließlich seines Anfangs- und Zielzustandes ein, ist also sozusagen ein „das Leben Bewirkendes“ und damit noch „übersinnlicher“ als das Leben selbst. Die Intention ist damit Offenbarung eines Wollens2, eines Willens also, der sich bereits ein Ziel gesucht hat.

Jede Zustandveränderung in der Sinneswelt ist damit ein im Übersinnlichen wurzelndes Offenbaren eines Wollens durch eine Intention, die das Walten des Lebens so bestimmt, dass eine gerichtete Zustandsveränderung in der sinnlich wahrnehmbaren Welt stattfindet. Wollen, Intention und Leben sind übersinnliche Entitäten, die für den Einzelnen daher nicht unmittelbar gegeben, sondern nur durch eigene Anstrengung denkend erfassbar sind3.

In einem umfassenderen Sinne kann man nun auch die ganze Summe der sinnlichen Welt-Erscheinungen zusammen mit den darin waltenden Lebensprozessen und Intentionen als „Welt“ bezeichnen, insofern sie uns in der inneren Anschauung gegenübertritt, also gleichsam „wahrgenommen“ wird. Denn auch der Intentionen- und Lebensprozess-Vorrat, der zu dem jeweils gegebenen Zustand der Erscheinungswelt gehört, ist in gewissem Sinne ein „Gewordenes“, wenngleich durch seinen übersinnlichen Charakter nicht unveränderlich, sondern in ständiger Entwicklung begriffen; bezogen auf einen bestimmten Weltzustand ist er aber ein Gewordenes. Es gibt also ganz offenbar ein noch höheres Reich außer den Sinneserscheinungen, den übergeordneten Lebensprozessen und den darin waltenden Intentionen als Ausdruck gerichteten Wollens, ein Reich, von dem aus die Gesamtheit von Zuständen, Prozessen und Intentionen beobachtet werden kann.

Bis zu diesem Punkt gekommen, scheint es auch berechtigt, in gewisser Weise von unterschiedlichen „Welten“ zu sprechen: der äußeren Welt der sinnlich-physischen Körper, der Welt der Lebensprozesse, die vielfach auch die „ätherische Welt“ genannt wird, und die Welt, aus der als Offenbarungen eines Wollens die Intentionen stammen, die in den Lebensprozessen wirken. All diesen Welten gehört der Mensch an mit dem Teil seiner Gesamtwesenheit, der ihm das Leben in der Welt vermittelt. Dadurch, dass er sich aber diesen drei Welten gegenüberstellen und dadurch einen Gesichtspunkt einnehmen kann, der über sie hinausgeht, erweist er sich gleichzeitig als Angehöriger desjenigen Reiches, das diese drei Welten umfasst und sich dadurch ihnen übergeordnet zeigt.

Sind schon die Regionen der Lebensprozesse und Intentionen als übersinnliche gewissermaßen ein „Geistiges“, so kann man diejenige Welt, aus der erst Wollen und Intentionen hervorgehen, und der der Mensch angehört, als die „eigentliche geistige Welt“ bezeichnen. In ihr wurzelt der Mensch mit seinem Ich, das sich durch sein leiblich-seelisches Leben in der Welt ausprägt. So kann er auch seine Intentionen dem Weltenwerden einverleiben.

Nun ist es aber eine Tatsache, dass die jeweilige bewusstwerdende Kombination von Intentionen, Lebensprozessen und Weltgegenständen, die für einen Menschen seine Welt bedeutet, vollkommen individuell, für jeden Menschen einzigartig ist. Was in ihm von der Gesamtheit dieser Welten bewusst, und was unbewusst auftritt, ist für jeden Menschen individuell verschieden. Dennoch kann gesagt werden, dass alle Menschen in dieser Hinsicht in derselben Welt leben. Denn auch das, was einem Menschen unbewusst bleibt – in den meisten Fällen also wohl der überwältigend große Teil der Bestandteile dieser drei Welten – gehört zu ihm, ganz individuell.

Ebenso, wie man unzweifelhaft wissen kann, dass der Bewusstseinsinhalt eines jeden Menschen ein einzigartiger, individueller ist, muss gesagt werden, dass der Inhalt eines jeden menschlichen Unbewussten völlig individuell ist; ebenso wie jeder Mensch nur einen individuellen Teil der ihm gegenüberstehenden Welten mit seinem Bewusstsein umschließt, ist der aus seinem Bewusstsein ausgeschlossene Teil des gesamten Weltenseins ein völlig individueller. Damit steht immer das Weltganze jedem einzelnen Menschen als Teil seinen ureigensten Wesens gegenüber; lediglich die Verteilung von Bewusstem und Unbewusstem ist bei jedem Menschen verschieden.

Man kann also insofern sagen, dass es eine wie auch immer geartete Welt ohne den Menschen gar nicht geben kann, denn ohne ein ihr gegenüberstehendes Ich, das ihre Existenz in allen Facetten umgreift, kann ihr Vorhandensein oder Nichtvorhandensein gar nicht festgestellt, allenfalls vermutet oder geglaubt werden. Damit ist ja nicht gesagt, dass die Welt (oder die Welten) nur von des Menschen Gnaden und von ihm bewusst oder unbewusst erzeugt würden; nur, dass es eine Welt ohne den Menschen nicht geben kann, ebenso wie ohne Welt kein Mensch existieren könnte. Beide gehören untrennbar zusammen.

Diese Zusammengehörigkeit von Welt und Mensch ist eine polare: was ihm als Welt gegenübersteht, bekommt seine Impulse aus der Region, der der Mensch entstammt, dem Reich des Geistes also. In diesem Reich des Geistes selbst kann es zunächst keine Intentionen, Lebensprozesse und Sinnesobjekte in Form von Wahrnehmungen von etwas Gewordenem geben; sie gehen ja gerade aus diesem Reich hervor und stellen sich ihm im Menschen gegenüber. Dieses „Gegenüberstehen im Sein“ ist also die Sache der Welt. Was oben als eine Art übersinnlicher Welten bezeichnet wurde, umfasst insofern immer nur diejenigen Prozesse und Intentionen, die sich bereits in der Schaffung eines bestimmten Zustandes ausgewirkt haben; die aktuell wirksamen Prozesse und Intentionen wirken ja gerade auf diesen gegenwärtigen Welt-Zustand ein, stehen ihm insofern gegenüber, so lange, bis sie sich ihm sozusagen „einverleibt“ haben.

So umschließt das Reich des Geistes alles Weltensein, denn ohne dieses Geistesreich des Ur-Wesenhaften wäre die Welt nicht; ohne die Welt aber hätte der Geist kein Feld, auf dem er sich seiner selbst bewusst werden könnte. Keine Weltgesamtheit ohne den – sagen wir es nur frei heraus: göttlichen – Geist, aber auch kein Geistbewusstsein ohne Welt. Jeder individuelle Mensch kann insofern als eine einzigartige Variante dieses Verhältnisses von Gott und Welt angesehen werden.

Man könnte auch sagen: Gott ist der Geist der Welt, in ihm hat alles Weltensein sein Urwesen, auch dasjenige des Menschen. Bezüglich des heutigen Menschen4 muss man sagen, dass er ganz grundsätzlich ein Werdender ist auf dem Wege immer umfassenderer Erkenntnis der Welt, aus der er lernen muss, das göttliche Urwesen immer mehr mit sich selber übereinstimmend zu erleben, damit also den unbewussten Teil seiner Welt immer weiter in einen bewussten umzuformen, indem er nach und nach „Denkorgane“ entwickelt, durch die er Übersinnliches in seine Anschauung aufnehmen kann; jedenfalls dann muss er dies lernen, wenn er nicht bei seinem erreichten Erkenntnisstand verbleiben und nur aus diesem heraus sein Leben fristen will.

Gleichzeitig ist aber der Mensch dasjenige Wesen, das im Prinzip, in seiner geistigen Konfiguration dem göttlichen Geiste gleicht, und das dadurch zum Werkzeug des Fortschrittes der Bewusstwerdung der gesamten Welt werden kann. Ohne ein solches Werkzeug-Wesen müsste Gott sozusagen darauf verzichten, sich seiner selbst bewusst zu werden. Hier gilt es: „Und Gott schuf dem Menschen zu seinem Bilde“ – das ist gleichermaßen Vermächtnis und Aufgabe für den Menschen.

Wenn also heutzutage aus Bereichen heraus, die den meisten Menschen unbewusst bleiben, zunehmend zerstörerische Tendenzen sich im gewohnten, gewordenen Leben der Welt geltend machen, ist es vielleicht überlegenswert, dort zu suchen, wo diese Tendenzen entspringen, und sich zu fragen, welche Intentionen aus der göttlich-geistigen Welt wohl darin walten, dass dem Menschen sein gewohntes Leben in der Welt zunehmend sauer wird, und dies gerade und vorwiegend durch diejenigen Dinge und Prozesse, die er selber in die Welt gesetzt hat unter der Verheißung einer Art ewigen, bequemen Schlaraffenland-Lebens.

Wer nicht selber mitwirkt an der Bewusstwerdung Gottes durch den Menschen in der Welt, indem er sich zurücklehnt, sich mit dem schon Erreichten zufriedengibt und ansonsten „Gott lenken“ lässt, seine eigene Welt also nicht durch eigene Erkenntnisarbeit immer mehr mit Bewusstsein durchdringen will, muss damit rechnen, dass die ursprünglichen göttlichen Intentionen in seiner individuellen menschlichen Welt so wirken, dass sie ihm die Folgen seines Tuns nachhaltig zu Bewusstsein bringen, dann allerdings ohne die Beteiligung des Menschen, weil der ja eben nicht mitwirkt.

Ohne Gott („Geisterreich“) keine Welt, ohne Welt aber auch kein Mensch. Und ohne die Mitwirkung des Menschen dann irgendwann keine Welt, und damit auch kein Mensch. Die Menschen-Welt trägt in sich die göttliche Intention der Bewusstwerdung, der sich der einzelne Mensch wohl widersetzen kann – aber mit welchen Folgen?

Die Welt scheint also für jeden Einzelnen vielleicht mehr zu bedeuten, als er sich derzeit eingesteht. Darauf wollte dieser kleine Aufsatz hinweisen.

© Stefan Carl em Huisken 2023

1Inwieweit diese Aussage evtl. im Hinblick auf technische Gegenstände modifiziert werden muss, ist andernorts zu erörtern.

2wiederum: nicht unbedingt eines irgendwie bewussten Wollens.

3Es kann sich durch ausreichende Übung des eigenen Denkens durchaus eine Art „Wahrnehmung“ solchen übersinnlichen Entitäten ergeben; sie fallen im Augenblick der Wahrnehmung in den Bereich des Gewordenen hinein. Auch ein Werdeprozeß kann in diesem Sinne „geworden“ sein, indem er immer wieder unverändert abläuft, gleichsam automatisch, maschinell.

4Für andere Zeitepochen ist durchaus ein anderes Verhältnis von Mensch und Welt denkbar.


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Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Wer ist Gott?

Ein mir sehr nahestehender Mensch, der durchaus genialische Züge hatte, sehr viel weiter dachte als viele andere und aus diesen Eigenschaften heraus künstlerisch tätig war – er malte, schrieb, erzählte Geschichten, verfasste Lieder und war im „Brotjob“ journalistisch tätig – pflegte auf die Frage nach Gott das Folgende zu antworten, sinngemäß:

„Mit Gott habe ich nichts zu tun. Entweder er ist allwissend, allweise, allmächtig – dann ist er für mein begrenztes Auffassungsvermögen zu groß, unfassbar, so dass ich mit ihm nichts anfangen kann. Oder er ist bloß mein Gedanke, dann ist er aber mir untertan und daher irrelevant, der Mühe nicht wert. Also habe ich mit ihm nichts zu tun.“

Dieser Mensch, der so dachte, ist an dem zugrunde liegenden Problem letztlich so nachhaltig gescheitert, dass er nur noch aus dem Leben scheiden konnte. Das hat ihn aber natürlich keinen Schritt weiter gebracht im Sinne einer Lösung.

Denn: wie, wenn er nun wirklich den allweisen, allmächtigen Gott gar nicht fassen konnte? Dann könnte er doch gar nicht beurteilen, ob er ihn fassen könnte in seinem Denken? Dann fehlte ihm doch der Urteilsmaßstab? Oder hat er da – unbemerkt – doch schon gleich sein eigenes Urteil über die eigene Begrenztheit Gott untergeschoben?

Und: wie, wenn er nun diesen Gott eben nur so denken könnte, wie er sich selber erkennt, nämlich begrenzt? Dann wäre Gott ihm ja „zu klein“ – ist er sich selber zu klein gewesen? War denn daran gar nichts zu ändern?

Man sieht schon an diesen relativ überschaubaren Fragen, wie sehr auch ein sonst klarer und scharfer Denker Wesentliches übersehen kann.

Die Sache hat ihren Ursprung darin, dass eben sowohl „Gott“ als auch „Ich“ als ein Statisches, also gleichsam „Fertiges“ gedacht werden – also ein Begrenztes. Das sind aber beide nicht; zumindest bei mir selber kann ich ja beobachten, dass ich mich entwickle, anders werde, vielleicht von Zeit zu Zeit sogar ein bisschen weiser – gottähnlicher? Da ich aber zunächst mich als Geschöpf ansehen muss von Mächten, die zu einem relevanten Teil außerhalb meines Bewusstseins liegen, von Mächten also, die ich einmal summarisch auch als „Gott, der Unbegriffene“ oder einfach als „Götter“ bezeichnen könnte, gleichzeitig aber die Entwicklungsfähigkeit grundsätzlich in mir angelegt ist, kann diese Fähigkeit – jedenfalls, soweit ich sie mir nicht eindeutig selber angeeignet habe – nur von eben diesen Mächten in mich gelegt worden sein. Sie müssen sie also besitzen, oder zumindest besessen haben, als sie diese Fähigkeit in mir anlegten. Damit sind aber sowohl „Gott“ bzw. die „Götter“ als auch ich im Grundsatz unbegrenzt, denn Entwicklung aus sich selbst heraus kennt erst einmal keine prinzipiellen Grenzen.

Warum also sollte nicht Gott mich als begrenztes Wesen in seine Allmacht aufgenommen haben? Denn wie entstehen Allmacht und Allweisheit? Nur aus begrenzter Macht und Weisheit, die sich selber aus sich selbst entwickeln. Woher sollte Gott seine Allweisheit und Allmacht haben als aus sich selbst? Es kann kein Wesen über ihm geben, sonst wäre er ja eben nicht – Gott, der Allweise und Allmächtige.

Also schuf er den Menschen zu seinem Bilde. Und das Bild musste alles in sich tragen, was Gott ausmacht, aber so, dass das Bild zugleich all dies erst noch aus sich selber entwickeln musste: die Allweisheit und Allmacht zum Beispiel. Denn sonst wäre es ja nicht das Bild Gottes.

Gott ist frei – Allweisheit und Allmacht sind bloß Attribute dieser Freiheit. Und zugleich ist er der Träger der Allliebe, denn er schenkt seine Freiheit, mit der Allweisheit und Allmacht, seinem Bilde, gibt sein Bestes hin. Aber er schenkt es so, dass sein Bild von alledem nichts kennt, nichts weiß, sich die Erkenntnis und das Wissen erst erarbeiten muss – als eben etwas Begrenztes, aber Entwicklungsfähiges. Den Menschen also, uns selber hat er dann erschaffen. Und der trägt in sich, in jedem Exemplar, den Gott, als Gedanken, als Bild, als Antrieb, als Wille also, als Ziel seines Wollens.

Ist der Mensch bereit, den Gott in sich, in seiner Welt, in jedem anderen Menschen so zu lieben, dass er bereit ist, seine eigene Entwicklung dem Gotte, dem anderen Menschen als Bild des Gottes, ja, auch sich selbst als Gottes Bild zu opfern, so wird er seinem göttlichen Kern und Ursprung gerecht, realisiert durch sich, was er erst werden soll.

Lehnt der Mensch sich aber bequem zurück, dann muss er damit rechnen, dass Gott es ihm gleich tut. Indem der Mensch also seine eigene Entwicklung nicht selber erringen will, sondern sie sich vom Gotte schenken lassen, so wird er erleben, wie der Gott ihn, den Menschen, gleichgültig verschmähen wird, ebenso wie der Mensch es verschmäht, sich dem Gotte hinzugeben.

Wenn der Gott sich durch den Menschen selber neu erschaffen will, so muss er seine Freiheit und damit Allweisheit und Allmacht dem Menschen schenken, in Allliebe. Und dann ist es am Menschen, ob er diese Allliebe erwidern will, in der Hingabe an sein Schicksal, das ihm den Gott vorstellt. Tut er das nicht, dann vernichtet er zugleich sich selber, denn wo kein Mensch, der den Gott erschaffen will, in fortwährender Selbstentwickelung, da ist auch kein Gott, der sich zum Menschen machen will.

So ist das eben mit der Freiheit. Sie kann sich nur in Liebe zum Fremden selbst erschaffen, oder sie zerstört sich selbst.

Der Mensch, den ich eingangs schilderte, hat diesen grundlegenden Gedanken der Entwicklung nicht denken können. Sonst hätte er im Leben – also in seiner Entwicklung in der Welt – bleiben können. Was in ihm noch lag an möglichen Liebestaten in der Welt – und ich bin sicher, das war noch viel –, ist nun für dieses sein Leben und das seiner Zeitgenossen zunächst verloren. Aber es ist ja nicht weg, einfach weg. Es ist jetzt dort, wo eben sein Unbewusstes lag, das Unbewusstsein der grenzenlosen Entwicklung – in uns allen also, die wir doch Tag für Tag im Alltag uns ähnlich benehmen wie dieser Mensch, indem wir überall Grenzen sehen, die wir nicht übersteigen zu können vermeinen.

Eine dieser Grenzen ist der Tod – aber woher wollen wir eigentlich wissen, dass der Tod eine absolute Grenze ist, nicht nur eine Schwelle, die wir im Entwicklungsgang von Zeit zu Zeit zu überschreiten haben, ebenso wie die Geburt? Wenn unsere Entwicklungsmöglichkeit vorhanden ist, wir also prinzipiell grenzenlos, dann können wir uns auch in unser und des Gottes Ewigkeit hinein entwickeln, also: Gott werden, allweise und allmächtig. Und Gott erschuf den Tod. Also steht er über ihm. Auch wenn der Tod – das eigene Geschöpf – ihm erst die Möglichkeit des ewigen Lebens in der Auferstehung verschafft. Und daran sind wir Menschen nicht ganz unbeteiligt.

Ein Beweis, dass Menschen auch im Tode noch ihre Entwicklungsimpulse fassen können, ist diese kleine Erzählung und Erörterung. Weil der Mensch, von dem ich ausging, so war, wie er war, und danach handelte, entstand dieser kleine Aufsatz. Ohne diesen Menschen wäre das wohl nicht in der gleichen Weise geschehen. Da hat der „Tote“ wohl durch mich seinen Ausdruck gesucht; einen eigenen Leib in der Welt hat er ja gerade nicht zur Verfügung, um das hier Dargestellte zu erleben, zu denken, zu schreiben. – Sind die Toten eigentlich wirklich tot, also „aus der Welt“?

Und ja. ist Gott tot? Haben wir etwas damit zu tun?

© Stefan Carl em Huisken 2023


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Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.