Aufwachen für das Kommende

In den zwei Artikeln über „Den Anderen nach-denken“ (=> hier und => hier) versuchte ich, auf einige grundlegende Aspekte und Wirkungen menschlicher Begegnungen aufmerksam zu machen, insbesondere im Hinblick auf die Frage, wohin die menschliche Gesellschaft sich entwickeln kann. Von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus komme ich hier nochmals auf die Bedeutung der menschlichen Begegnung im Zusammenhang der Gesamtentwicklung der Menschheit in unserer Zeit zurück.

Bewusstseinszustände

„Aufwachen!“ – dieser Anruf zielt darauf, den Angerufenen zu einer Veränderung seines Bewusstseinszustandes zu veranlassen. Bewusstseinszustände kennen wir beim Menschen drei grundsätzlich verschiedene – abgesehen von den unzähligen Varianten davon, die im täglichen Leben vorkommen. Diese drei Zustände sind das Wachbewusstsein, der Traum und der traumlose Schlaf. Wir sind heutzutage gewöhnt, diese drei Zustände mehr wie von außen, im Hinblick auf den menschlichen Leib zu betrachten. Dann scheint der eigentliche individuelle Mensch im Schlaf wie verschwunden: es ist eben nur noch der Leib da, ohne sichtbaren Ausdruck der Seele. Hier sollen diese drei Zustände von der Innenperspektive aus betrachtet werden.

Das Wachbewusstsein ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihm sowohl Sinneseindrücke als auch das Selbst-Bewusstsein des Menschen vorhanden ist. Der Mensch erlebt also eine Welt und weiß außerdem davon, dass er selber dieser Welt gegenübersteht, sie erlebt und durch sein Tun beeinflusst. Was er nicht wahrnehmen kann, ist er selber als der Erlebende, denn er ist selber die Formseite dieses Bewusstseinszustandes, also die Art und Weise, in der die Inhalte erlebt werden. Diese selber ist zunächst kein eigenständiger aktueller Inhalt, kann es auch nicht sein, sondern immer nur im Rückblick auf schon Vergangenes. Im Wachzustand Erlebtes können wir – mehr oder weniger, im Grundsatz aber sehr wohl – im Nachhinein erinnern. Und wir haben durch unser Selbstbewußtsein Möglichkeiten, selber den Ablauf der Ereignisse zu beeinflussen.

Daneben kennen wir den Traumzustand. Was wir in ihm erleben, können wir in der Regel nur insoweit erinnern, als sich dieses Erleben im Aufwachen in den Wachzustand noch fortsetzt. Wir erleben im Traum wohl auch Inhalte, die oftmals sehr ähnlich sind den Inhalten des Wachzustandes, soviel können wir wissen. Aber die Art des Erlebens ist eine andere. Wir sind im Traum nur eingeschränkt oder gar nicht in der Lage, unsere Eigenständigkeit gegenüber dem Verlauf des Erlebten zu behaupten, während des Traumes inne zu halten und uns auf uns selber zu besinnen. Wir sind gleichsam hineingezogen in das Geschehen und mit ihm verbunden, haben kaum oder gar keine Möglichkeiten, den Ablauf der Ereignisse mit zu bestimmen. Dennoch verändert das Erleben uns selber, ähnlich wie im Wachbewusstsein. Traumbewusstsein ist eben auch Bewusstsein.

Schließlich kennen wir auch noch den traumlosen Schlaf. Mancher mag es seltsam finden, diesen Zustand als einen Bewusstseinszustand zu bezeichnen. Aber es ist doch so: das Bewusstsein selber findet dort statt, wo die erlebten Inhalte eben nicht sind: Sinnesinhalte, Vorstellungsinhalte, Seelenregungen, Träume, Erinnerungen usw. Es ist sich selber – wie oben schon gesagt – nicht als Inhalt präsent. Es ist eben die Form, in der Inhalte auftreten können. Und wenn keine Inhalte auftreten, für die wir eine Wahrnehmungsmöglichkeit haben, dann bedeutet dies ja noch nicht, dass das Bewusstsein selber nicht vorhanden ist. Es ist nur inhaltsleer. Und weil wir bisher keine Möglichkeit haben, das Selbstbewusstsein aufrecht zu erhalten, wenn keine gegebenen Inhalte da sind, vergisst das Bewusstsein dann auch sich selber. Das nennen wir „Schlaf“.

Nacheinander – Ineinander

Gewöhnlich betrachten wir diese Bewusstseinszustände also solche, die zeitlich nacheinander stattfinden, nicht gleichzeitig. Wenn wir traumlos schlafen, haben wir keine Weltinhalte und wissen auch von uns selber nichts. Im Traum haben wir Weltinhalte, die sich sehr von dejenigen im Wachzustand unterscheiden können, im Grundcharakter ihnen aber ähnlich sind: das Bewusstsein steht den erlebten Inhalten gegenüber und folgt ihnen. Im Wachzustand kommt der bewusste, verändernde Zugriff des seiner selbst bewussten Menschen auf die erlebte Welt hinzu.

Aus dem Schlaf finden wir durch den Traum in die Welt des Wachens, und aus dem Wachen sinken wir durch das Träumen in den Schlaf. Das jedenfalls sehen wir als den „Regelfall“ an, aus unserem Erleben. Wenn wir wach sind oder träumen, schlafen wir nicht traumlos, wenn wir träumen, sind wir nicht wach und schlafen auch nicht traumlos, und wenn wir im Tiefschlaf sind, träumen wir nicht und wachen auch nicht. Das ist zunächst unser Erleben im Durchgang durch das tägliche Leben.

Aber man kann die Sache auch anders betrachten, als eine Art Ineinander dieser drei Zustände, jeweils bezogen auf bestimmte Inhalte. Wenn wir wach der Welt begegnen und unser Bewusstsein mit ihren Inhalten erfüllen, vergessen wir uns selbst (siehe oben), schlafen also für uns selber. Hingabe an die Wahrnehmung der Welt lässt also das Bewusstsein von uns selber „in den Schlaf“ sinken. Umgekehrt kann es bei hoher Konzentration auf ein eigenes Tun geschehen, dass wir alles, was nicht mit diesem Tun zusammenhängt, vergessen. In einem Sonderfall, der Meditation, kann es sogar geschehen, dass wir uns so auf unsere eigene innere Tätigkeit und die dabei auftauchenden Seeleninhalte konzentrieren, dass die äußere Sinneswelt uns augenblicksweise gänzlich entschwindet. Dann wachen wir für unsere Seele und schlafen für die Außen-Welt. Und was sich an alle Seeleninhalte – innere wie äußere – als ein Gefühl knüpft, hat Traumcharakter. Es ist nur begrenzt dem vollbewussten Einfluss zugänglich, ist geeignet, uns mit zu reißen wie das Geschehen in einem Traum, und oftmals auch, unseren Willen aufzurufen und zu lenken.

Was unser eigenes Tun, den Prozess der eigenen Willensentfaltung betrifft, wurde ja oben schon angedeutet, dass wir davon in der Regel kaum eine Wahrnehmung haben. Wir nehmen nur wahr: da ist innerseelisch ein Vorsatz, und anschließend erleben wir, wie dieser Vorsatz im Tun realisiert wird oder nicht. Wie wir es fertigbringen, dass aus dem erlebten Vorsatz (der sich aus einer Vorstellung oder einem Gefühl ergeben kann) die ausgeführte Tat wird, das erleben wir nicht. Darüber gibt es nur Theorien, Denkmodelle und dergleichen. Wir wissen es, wenn wir wahrhaftig bleiben wollen, aus dem eigenen Erleben nicht. Das bedeutet, dass wir für das eigentliche Wollen schlafen.

In der Zeit

Und eine weitere Beobachtung können wir machen bezüglich der Bewusstseinszustände in unserem Leben in der Zeit.

Wofür können wir wachen? Das Wachbewusstsein ist zunächst ein Duales, in dem das eigentliche Erleben und der Inhalt gegenüberstehen. Darum können wir wachen für alles, was schon geworden ist, was einen Gegenstand für uns abgeben kann, dem wir uns gegenüberstellen können. Das sind dann also Sinneseindrücke (die sich immer auf etwas beziehen, was schon da ist), Vorstellungsinhalte, Gedanken, auch Erinnerungen; bei etwas Bemühung können wir uns auch unseren eigenen Gefühlen so gegenüberstellen, brauchen dann aber schon denkende Besinnung dazu. Generell kann man also sagen, dass alles, was in unserem Denken als Inhalt auftaucht, Inhalt des Wachbewußtseins ist. Alles dies kommt uns aus der Vergangenheit zu, ist Gewordenes. Mit dem Denken fassen wir also das Vergangene.

Wofür schlafen wir? Für alles, was noch in der Zukunft liegt, von dem wir also noch keinen Inhalt fassen können. Es ist dies der Bereich, in den hinein auch all unser Wollen gerichtet ist, und in den hinein wir durch unseren Willen wirken. Wir selber als unwahrgenommener Teil unserer alltäglichen Bewusstseinsverfassung sind also etwas Zukünftiges, was erst noch werden soll. Wir kennen uns eben selber noch nicht, können uns selber noch nicht gegenübertreten. Wer sich selber so betrachtet, wird kaum in die Versuchung kommen, sich selbst als feststehendes Mass aller Dinge anzusehen. Denn er selber und seine Taten sind Glied eines noch unbekannten Ganzen – der Zukunft, die eben noch nicht in die Dualität des Wachens getreten ist.

Und dazwischen träumen wir. In jedem Augenblick der Gegenwart, jetzt, jetzt, jetzt und jetzt wieder. Die Gegenwart ist also nur die Grenze, halb wach und halb Schlaf, zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Niemals klar fassbar und doch auch nicht im Dunkel des Schlafes versinkend. Und wenn wir etwas davon wissen, ist es schon Vergangenheit. Was die nächste Sekunde bringt, können wir nur vermuten, ahnen, wollen, bis wir sie erleben. Wir schwingen unaufhörlich zwischen dem der Vergangenheit Gegenüberstehen und der Einheit des Zukünftigen.

Menschenbegegnung

All diese Zustände spielen gleichsam oszillierend, ineinander übergehend, eine Rolle bei jeder Begegnung von Menschen. Wie in den beiden in der Einleitung angegebenen Artikeln gezeigt, können wir mit unserem Wachbewusstsein, also vor allem den Sinneswahrnehmungen und den Gedanken, entweder unserem eigenen Wollen folgen, oder uns dem eines anderen hingeben. Beides gleichzeitig geht zunächst nicht. Versinken wir ganz im Denken des Anderen, so schlafen wir für uns selber. Halten wir unser eigenes Denken dem anderen entgegen, so erleben wir unsere eigenen Gedanken und schlafen für die des Anderen.

Wollen wir einen Anderen also wirklich verstehen, so bleibt uns nur der Weg, uns seinem Gang des Denkens hin zu geben. Dann versinkt aber unser eigenes Selbstbewusstsein, vergisst sich selbst. Das ist der Grund, warum es so schwer ist, längeren Gedankengängen eines Anderen aufmerksam zu folgen, ohne – einzuschlafen. Es sei denn, er baut immer wieder Pausen für uns ein, in denen wir aufwachen können. Oder – und das wäre ja dann das anzustrebende Ideal – wir lernen nach und nach, den Anderen so in uns zu erleben, wie er sich selber erlebt. Dann erst ist die volle Hingabe erreicht, und wir können ihn ganz verstehen. Dafür müssen wir in diesem Verstehens-Augenblick aber auch die eigene irdische Persönlichkeit ganz vergessen.

Gegenseitiges Verstehen erfordert dann, dass beide Seiten sowohl dem Anderen hingegeben zuhören können, als auch beim Sprechen sich immer bemühen, den Anderen so in die eigene Darstellung aufzunehmen, dass er darin sich selber finden kann. Dann bleibt er auch wach. Dann hätten wir die wahren Begegnung des Menschen mit sich selbst im Anderen.

Menschheitsentwicklung

Der Mensch, wie er heute geworden ist, erlebt sich zunächst als Einzelner, Vereinzelter. Denn seine Welt kann niemand genau wie er erleben, und seinen Werdegang hat niemand genau wie er durchlaufen. Darin sind sich aber alle Menschen gleich.

Wir können noch davon wissen, dass dies nicht zu allen Zeiten so war. Wie auch bei manchen Naturvölkern noch heute üblich, erlebten die Menschen sich in früheren Zeiten viel mehr als Bestandteil eines größeren Ganzen, das sie als über dem Einzelnen stehend ansahen. Es gibt Berichte von Angehörigen solcher Völker, die es wie eine wirkliche Selbstvernichtung erlebten, wenn sie aus dem Stamm ausgestoßen wurden; der Tod war weniger schlimm, denn dann blieb man dem Ganzen, dem als eigentliches Selbst erlebten Stamm weiter verbunden. All das ist aber nicht mehr zeitgemäß; nur Rest aus uralten Zeiten rumoren noch in nationalistischen, völkischen und anderen Ideologien. Dass sie der heutigen Zeit nicht mehr entsprechen, läßt sich unschwer an der zerstörerischen Wirkung erkennen, die sie in der heutigen Gesellschaft ausüben, vor allem dadurch, dass sie nicht das klare, wache Denken, sondern direkt untergründig gärende Emotionen ansprechen. Der wirklich in der heutigen Zeit angekommene Mensch ist das vereinzelte, selber denkende und dadurch frei gewordene Individuum, das sich ganz selbstverständlich niemals einer übergeordneten Gesamtheit unterordnen, allenfalls selbstbestimmt einordnen will.

In dieser Vereinzelung liegt aber ein Riesenproblem. Jedes Einzelnen Welt unterscheidet sich von derjenigen jedes Anderen. Gegensätze entstehen so immer schneller und leichter, und mit dem Verfall der alten Gruppenstrukturen, mit dem Verfall von festen Moralregeln reduziert sich die Regulierung des Miteinanders auf ein durch äußere Gewalt gestütztes Einander-möglichst-wenig-Schaden.

Ausblick

Schauen wir noch einmal auf die Zeit: früher lebten die Menschen in größeren Zusammenhängen, sahen darin ihre eigene Menschlichkeit, und lebten daher auch aus von diesen größeren Zusammenhängen geprägten inneren Haltungen, Ganz selbstverständlich nahm jeder Einzelne Rücksicht auf das Wohl des für ihn sichtbaren Ganzen. Wer sich daraus löste, wurde verstoßen.

Heute sind wir gleichsam alle solche Verstoßene. Jeder kennt zunächst wirklich nur sein eigenes Erleben, und kann nur aus diesem entscheiden, was er tun und lassen will. Insofern ist er frei. Jeder Versuch, diesen Riesenschritt in die Freiheit des Einzelnen zurückzudrehen, die Menschen wieder zu Ent-individualisieren und zu reinen Gruppenwesen zu machen kann heute nur als der Versuch angesehen werden, den Menschen zu versklaven. Von sich aus ist er nicht mehr bereit, bedingungslos sich einem vorgegebenen sogenannten „Höheren“ zu unterwerfen. Auf die Spitze getrieben, scheint daher eine Art Krieg aller gegen alle unausweichlich.

Dennoch: Nein! Denn wir können – und wollen aus innerstem Bedürfnis – den Anderen kennen lernen. Denn er ist unser Spiegel. Wir brauchen ihn, um zu uns selber zu kommen. Was uns davon abhält, diesem Bedürfnis zu folgen, sind die Überbleibsel uralter Vergangenheit und die Furcht vor unserer Unfähigkeit, uns dem Anderen hinzugeben und darin doch wir selber zu bleiben. Fähigkeiten lassen sich aber nicht einfach so erwerben, sie wollen geübt werden. Und je mehr Menschen es üben, den Anderen durch hingebendes Zuhören verstehen zu wollen – auch und gerade dann, wenn uns nicht Sympathie zu ihm hin zieht – desto mehr kann einer im anderen aufleben, aufwachen, desto mehr können wir lernen, eben nicht einzuschlafen, wenn wir uns dem Anderen hingeben. Je mehr wir den Anderen wirklich verstehen, desto mehr können wir uns ihm auch verständlich machen, indem wir seine Denk- und Erlebenswege in unseren Sprechen und Tun berücksichtigen.

Dann kann nach und nach, in Äonen, so wie auch die heutige Menschheit entstanden ist, eine neue gemeinsame „Identität“ der Menschen entstehen, eine, die nicht den Einzelnen ausschließen muss, wenn er den vorgegebenen Regeln nicht folgt, sondern die dann die Kraft entfalten kann, scheinbar divergierende individuelle Wege aus freiem Wollen zu einander zu lenken. Die dafür nötige, frei wollende Hingabe an den Anderen ist aber nichts anderes als die Liebe.

Ein solches, aus Liebe geborenes „Gemeinschafts-Ich“ ist gleichermaßen unviersell und individuell, denn es schließt den Vereinzelten nicht aus, sondern braucht ihn und seinen freien Willen als seine eigene Vorbedingung. Es knüpft an bei dem, was schon heute alle Menschen in gewissem Sinne gleich macht: das freie Erleben der Welt als mehr oder weniger (noch) unbekanntes Geist-Wesen.

In der Vereinzelung und den menschheitlichen Problemen, die dadurch entstehen und in unserer Zeit kulminieren, können wir daher einen Aufruf sehen, aufzuwachen für das Kommende, das sich ankündigen und realisieren kann in jeder wirklich bewusst durchlebten Menschenbegegnung, aufzuwachen also im „Hineinschlafen“ in den Anderen, und damit für den kommenden, zukünftigen MENSCHEN.

Auf dass der MENSCH sich selber mache, und nicht gemacht werde durch irgendwen oder irgendwas!




Der Spiegel des Individuellen – Den Anderen nach-denken II

In => diesem Artikel wies ich darauf hin, dass Verständnis von Mensch zu Mensch nicht bedeuten muss, Gedanken, Haltungen und andere „Weggefährten“ eines anderen Menschen zu übernehmen. Das Entscheidende geschieht vielmehr im Nach-Gehen oder Nach-Denken seiner Entwicklungswege. Von einem anderen Gesichtspunkt aus möchte ich darauf hier noch einmal eingehen.

Wodurch lebt mein „Ich“?

Leben ist Veränderung, niemals Stillstand. Ein erreichter Zustand kann also niemals ein wirklich „lebendiger“ sein, denn er ist Zustand, also keine Bewegung, keine Veränderung. Jeder irgendwann erreichte Zustand ist also gleichsam „tot“, und sein Erschaffen beinhaltet auch den Sterbeprozess, der diesen Zustand als Endprodukt schließlich hervorbringt.

Nun ist mein „Ich“ aber gerade dasjenige in mir, was durch jede Veränderung, jede Entwicklung erst hindurchgeht, diese also erlebt, erst zu Leben macht. Ohne das erlebende Ich würden nämlich die jeweils vorübergehenden, vom Ich durchlaufenen Zustände nicht meinem Leben zugehörig anzusehen sein, kein sich entwickelndes Ganzes ergeben, sondern zunächst vielleicht verbunden mit anderen Lebensprozessen erscheinen, in Bezug auf mich aber „tot“ bleiben, eben Zustände, die ich beobachte, die aber nicht mit meinem Leben verbunden sind.

Dadurch, dass ich erlebend diese Zustände durchlaufe, verbinde ich sie mit mir, mit meinem Leben. Durch jede neue Verbindung, die ich so schaffe, verändere ich aber mich selber. Denn mein Leben wird reicher an „Weggefährten“, die ich mit ihm verbunden habe, und jeder neue „Gefährte“ schafft für mich neue Möglichkeiten.

Was Ich als sich entwickelndes Individuum jeweils werde, und welche Erlebens-Möglichkeiten mir dadurch zuwachsen, ergibt sich also aus meinen eigenen Taten und Impulsen. Mein Ich lebt durch sich selbst. Zwar ist es zunächst als ein durch fremden Einfluss Gewordenes entstanden (die Weltentwicklung hat mich auf geheimnisvolle Weise hervorgebracht). Je mehr ich mich aber auf das Gewordene verlasse, desto mehr stütze ich mich auf Totes, erlebe auch nichts Neues; und je mehr ich eigene Initiative hervorbringe und mit meinem Leben verbinde, desto mehr lebe ich durch mich selbst.

Leben ist Sterben

Mit jedem Schritt, den ich durch mein Leben gehe, produziere ich neue, gewordene Zustände, die ich als Ergebnisse hinter mir lasse. Jede Situation, die ich durchlebe, wird notwendig zu einer vergangenen. Wie das Wort „vergangen“schon sagt: die lebendige Situation vergeht.

Vergehen ist Sterben, Verlust des Lebens also. Jedes Leben produziert aber Vergehendes, ein solches Vergehendes, mit dem das Leben sich verbunden hat und damit auch nach und nach vergeht. Paradox zunächst, aber doch in gewissem Sinne wahr: Das Leben verzehrt sich selber, bringt den Tod hervor, einfach weil es Leben ist.

Allerdings: ist dieses Leben dasjenige des Ich, so lebt es durch sich selbst, und – stirbt fortwährend durch sich selbst ab. Ein tiefes Geheimnis unserer Zeit ist damit angesprochen. Viele Bestandteile unserer individuellen „Lebenswelten“ – also der jeweiligen individuellen Welt, in der das Ich sein Leben fristet – sind heute von Sterbeprozessen betroffen: das Sterben von Tier- und Pflanzenarten, der Verlust der Lebenskraft des Menschen (wir als Zeitgenossen werden immer kränker), ja, der Verlust der Lebenskraft des Gesamtorganismus „Erde“ sind unübersehbar. Das Absterben der Erde als Ganzer ist Gegenstand vielfältiger Theorien und Prophezeihungen geworden. Woher soll neues Leben kommen?

Schlafen und Wachen

In jedem Menschenleben gibt es einen „kleinen Bruder“ des Todes: den Schlaf. Ebenso wie der Schlaf unser Bewusstsein auslöscht bis zum nächsten Erwachen, stellen wir uns den Tod vor: als Auslöschen unseres Bewusstseins, aber so, dass dem Tod eben kein Aufwachen folgt, sondern dass das Auslöschen endgültig sei. Darum fürchten wir uns vor dem Tod, lieben ihn nicht, sondern versuchen, ihn von uns fern zu halten. Denn wir selber sind Leben, wollen leben.

Das bisher Geschilderte vorausgesetzt, können wir aber wissen, dass wir selber in genau dem Bereich leben, in dem wir im Schlaf – und im Tod – gänzlich versinken. Unser eigenes Erleben beobachten wir nicht; wir nehmen nur das Gewordene, also schon abgestorbene wahr. Wir selber sind also nicht von dieser wahrgenommenen Welt, die uns umgibt. Wir leben dort, wohin Schlaf und Tod uns führen wollen.

Das hat durchgreifende Bedeutung für das menschliche Zusammenleben. Der Andere ist – wie im =>vorigen Artikel gezeigt – in der selben Situation wie ich. Auch der Andere lebt also in der Welt, in die der Tod führt. Hören wir also einem Anderen wirklich zu, versuchen, seine (Denk-)Wege mit zu gehen, so erfordert das, dass wir gleichsam in ihn „hineinschlafen“, uns selber so lange aufgeben, wie wir den Anderen mit-leben wollen. Die Furcht vor dem endgültigen Selbstverlust, also dem eigenen Tod klingt immer mit, wenn wir uns ganz auf einen Anderen einzulassen versuchen. Nur zu verständlich, dass wir immer wieder zu uns selber zurück wollen, unser Eigenes ihm entgegen halten, und dabei sehr oft überhören, auf welche Wege er uns mitnehmen könnte, was aus seinen Wegen zu uns spricht. Wir sind also gleichsam – unbewußt – ständig im „Krieg“.

Das ist eine sehr antisoziale Seite, die aber jeder Mensch heute in sich trägt. Kein Wunder, dass es zwischen den Menschen so viel Mißgunst, Ablehnung und Streit gibt. Nur, wo der Andere mir nützt – also meiner inneren und äußeren Welt aus Sinnesdingen, Gedanken, Gefühlen, Willensimpulsen, einschließlich der gewordenen Vorstellung meiner selbst, die ich meistens „Ich“ zu nennen pflege –, nur da ist er für mich erträglich, denn nur da ist für mich Sicherheit. Ansonsten ist der Andere mein Feind, denn ließe ich mich auf ihn ein, auf sein wirkliches Leben, so könnte er mich auslöschen.

Kein Wunder auch, dass wir der Erde gegenüber, der Natur insgesamt, mit allen Tieren, Pflanzen darin, so sehr geneigt sind, nur das Tote, Feststellbare gelten zu lassen. Das ist nämlich die Erscheinung der Welt, die uns gegenüber steht, in der für jeden Menschen individuellen Konfiguration, die er eben erleben kann. Was diese Welt werden läßt, ihr Leben ist, stammt aus demselben Reich, in dem ich selber lebe. In diese Welt des Lebens komme ich nur im Schlaf oder – im Tod. Und dann weiß ich nichts mehr davon. Davor habe ich Furcht, und bleibe deswegen im Erklären der Welt lieber bei der Erscheinung: der toten, sicheren, festen Erscheinung

Sich selber fremd

Schauen wir uns das an: das „Ich“ lebt in einem Bereich, den es zunächst selber nicht wahrnehmen kann, der ihm unbewusst ist. Es ist dieser Bereich der Unbewusstheit, in den wir in jedem Schlaf versinken und – jedenfalls nehmen wir das an – auch im Tod. Aber auch das Leben und Werden der Welt findet in diesem Bereich statt: wir können nicht mit-erlebend erkennen, wie das Leben entsteht, können es jedenfalls nicht in feste Vorstellungen fassen, auf die wir uns stützen können. Kein Wunder: die feste Vorstellung ist ein Gewordenes, Vergangenes, also: Totes, darum kann sie das Leben nicht fassen.

Auch unsere Vorstellung von uns selber ist letztlich immer eine gewordene, also tote. Nur, dass wir – genügende Wachheit und Aufmerksamkeit vorausgesetzt – diese Vorstellung ständig verändern und immer wieder an die neue Situation anpassen können, das Gewordene also immer wieder neu, in jedem Augenblick überwinden können, unsere Selbst-Vorstellung also immer wieder neu aus unserem Leben hervorbringen können. Das „Ich“ lebt in seinem eigenen Tun (s.o.). Und da wir die Veränderung selber vornehmen, durchleben wir ihr Entstehen und wissen, darum, wie sie zustande kommt.

Beginnen wir zu erkennen, wie wir auf diesem Wege unser eigenes Sterben produzieren, in immer neuen gewordenen Vorstellungen von uns selber, können wir erkennen, wie wir selber ein Ausdruck sind des wohl stärksten Gegensatzes, den wir kennen, des Gegensatzes von Tod und Leben nämlich. Das „Ich“ ist Leben, das sich durch sich selbst produziert als Totes, als Vorstellung von sich selbst, als Person in der Wahrnehmungswelt, die sich in dieser Welt selbst erscheint, in der so vieles auftritt, aber niemals das Leben selbst. Die Oberfläche all der schaffenden Wesen der Welt, die wir um uns her erleben, ist immer nur eine todgeweihte. Das Leben wirkt woanders. Von mir wahrnehmen kann ich zunächst auch nur diese Oberfläche, das Gewordene.

So ist auch das, was uns aus dieser Welt in Bezug auf unser eigenes Leben entgegen kommt, eben dasjenige, was uns dem Tode näher bringt. Unser Schicksal nämlich, dasjenige, was als Bestandteil unserer individuellen Umwelt in Form der „Weggefährten“ nach und nach uns beigeordnet wird, von uns mehr oder weniger ergriffen und mit unserem Leben verbunden. Auch darin leben wir selber. All das, was mir da zukommt, gehört zu mir, meinem Ich, meiner Individualität. Es kommt so wie mir niemandem anders zu, allenfalls diejenigen Teile davon, die zum Beispiel als Zeiten-, Völker- oder Menschheitsschicksal angesehen werden können.

Auch in den Figuren, durch die mein äußeres Schicksal mich leitet, lebe ich also selber auf. Denn sie gehören zu mir, meiner Entwicklung, meinem Leben.

Spiegel des Individuellen

All das Geschilderte, das Leben und Sterben aus der Welt heraus in die geistige, lebendige Welt hinein, findet nun nicht nur in mir statt, sondern in jedem Menschen. Ich kann ja an jedem Menschen erleben, dass er in der selben Situation wie ich ist: aus einem unwahrgenommenen Ich heraus eine Welt erlebend und miterschaffend, die ihm gegenüber steht. Nirgendwo in dieser Welt kann er sich selber als Lebendigen wahrnehmen, nur immer dasjenige von sich, was geworden ist.

Doch, er kann das individuelle Leben wahrnehmen, an einer Stelle: im anderen Menschen, dem Spiegel des Individuellen. Den Anderen nach-denken – nicht seine „Weggefährten“ zu übernehmen, sondern sein Leben ein Stück mit zu gehen! – ist ein Weg, sich selber zu begegnen. Nur steht uns da die Furcht im Wege, die uns sofort überkommt, wenn wir unser eigenes Selbst-Bewusstsein hingeben sollen, um den anderen zu er-leben. Ja, es ist wahr: wir er-leben den anderen, schenken ihm Leben durch diese Tat. Wir geben ihm – und uns selber! – den Tod, wenn wir uns nur auf uns selbst zurückziehen, auf unserem und seinem Sicheren, Festen, schon fertig Gewordenen beharren.

Ganz unbewusst, im Reich des eigenen Er-Lebens, in das wir durch den Erdentod erst ganz hineinkommen werden, tun wir dies immerwährend. In jedem auch noch so kurzen Zuhören lebt es, dieses In-den-Anderen-Hineinschlafen und Zu-sich-selber-Aufwachen. Wir könnten sonst niemals wirklich verstehen, was ein anderer sagt oder uns bedeutet, könnten höchstens dasjenige, was er für unsere eigene gewordene, irdische Persönlichkeit ist, mit Sympathie oder Antipathie begleiten. Nur die uns selber betreffende Nützlichkeit des Anderen als Weltgegenstand wäre dann noch für uns von Bedeutung. Wer auch nur ein Kleines über diese Auffassung vom Anderen hinauskommt, ist schon ein Stück weit mit ihm mit gegangen, hat ihn ohne es zu merken, nach-gedacht und mit sich selbst verbunden. Nur fehlt dann das Bewusstsein davon, was geschehen ist.

Man könnte an dieser Stelle viele empirische Befunde anführen, die diese Darstellung untermauern: die gesamte Nachahmung kleiner Kinder fällt in diesen Bereich, bis hin zu Messungen, die zeigen, dass der Sprachorganismus eines intensiv Zuhörenden (auch schon von Neugeborenen!) zeitgleich die Bewegungstendenzen des Sprechenden nachbildet. Zeit-gleich, nicht eine Winzigkeit später. Der Zuhörende lebt also unbewusst mit dem Sprechenden mit, erlebt ihn nach, lebt für die Zeit des Zuhörens im selben geistigen Raum wie der Sprechende, lebt dessen Intentionen mit, wird zum Spiegel des Sprechers. Und spricht dieser aus einem Erleben der Wege des Zuhörers heraus, dann kann dieser das Sprechen wie aus sich selbst heraus erleben, als wie von ihm selber gesagt. Dann hat der Sprecher es geschafft, im äußeren Sprechen innerlich wachend so in den Zuhörer „hinein zu schlafen“, dass er wie aus diesem selber sprechen kann.

Im Anderen auferstehen

Der Sprecher, der von außen zu mir spricht, sein Sprechen aber wie aus mir selber erklingen läßt, hat etwas geschafft, was jedem Menschen zunächst durch die Furcht verbaut ist. Er ist in mich hinein eingeschlafen, und doch dabei wach geblieben. Mehr noch: er hat dann sein eigenes Leben so mit mir verbunden in der (geistigen) Welt, in der wir beide leben, das es meines geworden ist, und meines seins!.

Darum ist und bleibt er aber doch er selber, denn er steht mir ja gegenüber und spricht zu mir. Er ist gleichsam in seine Erscheinung hinein gestorben, ist geworden, was er mir im Außen nun ist, und ist gleichzeitig in mir selber zu neuem Leben gekommen. Aber ich habe dasselbe getan, ihm mein Leben geschenkt, mein Mit-Erleben, indem ich es gewagt habe, mich den Wegen, die er mich führt, gänzlich zu überlassen. Wir tun beide das gleiche, aber doch anders: ich schlafe für mich selber im Irdischen, nehme mich nicht wahr, gebe mich dem äußeren Sprechen des Anderen hin, und lasse ihn in mir auferstehen, indem ich ihn nach-denke; der Sprecher schläft im Innern für sich selber, läßt mich in sich wirken, das heißt aber mich, den Lebendigen, um mich in seinem Sprechen im Außen auferstehen zu lassen.

So kann menschliches Zusammen-Leben neue Gemeinschaft wirken: im Wechsel zwischen dem In-den-Anderen Hineinschlafen und dem Für-mich-selber-Aufwachen, je nach Rolle, die jeder gerade im Äußeren spielt. So wacht jeder im anderen auf und dadurch für sich selbst, wird so bewusst zum Spiegel des Individuellen.

Auf dieser Grundlage kann aber niemals wirklicher Streit entstehen, nur Verständnis für das fremde Wollen, das durch die ganz anderen „Weggefährten“ des Anderen notwendig als ein Fremdes erscheinen muss. So kann das „Den-Anderen-Nachdenken“ helfen, eine neue Gemeinschaft entstehen zu lassen, in der wirkliche Freiheit möglich wird.

© Stefan Carl em Huisken 2020




Den Anderen nach-denken hilft

Wie finden wir den Weg zum Anderen, gerade auch zu dem, der uns wie ein Feind gegenüber steht? Nur wenn uns das gelingt, kann der Krieg zwischen den Menschen, das Einander-Vernichten-Wollen zu einem Ende kommen. Ein Versuch.

Denkwege

Wer denkt, geht dabei Wege – von einem Gedanken zum anderen, um Gedanken herum, auf sie zu, je nachdem. Was er dabei durchmacht, sind Veränderungen seiner selbst, durch Willensimpulse, Zu- und Abneigungen, Unklarheiten, kurz: Qualitäten, die er selber mit den Gedanken verbindet.

Die Gedankeninhalte bleiben zunächst gleich, egal, was der einzelne dabei erlebt. So wie ein Baum, an dem ich vorübergehe, ein mathematisches Problem, das mich reizt, es zu lösen, oder ein Gefühl, das mich befällt, oder ein Ziel, das ich anstrebe, sich ja zunächst nicht ändert durch meine Art, mich dazu zu stellen. Aber all dies wird zu einer Art „Weggefährten“, indem sich mein Umgang damitändert. Und mein Umgang mit all diesen „Weggefährten“ prägt mein Erleben auf dem Weg, ist das, was mich auf dem Weg verändert.

„Mein Weg“ ist also nur äußerlich – gewissermaßen – durch die (Denk-)Welt beschrieben, die ich dabei durchlaufe. Innerlich ist damit auf die Veränderungen gedeutet, die ich selber dabei durchmache: meine Entwicklung also.

Ich und Welt

Der „äußerliche“ Weg ist also zu beschreiben als die innere oder äußere Weltgegend, die ich durchlaufe; der „innerliche“ Weg findet an mir selber statt, dem Gehenden, Erlebenden. Während ich einen Weg gehe, bin ich tätig (gehen) und aufnehmend. Auf die Inhalte dieses Tuns und Aufnehmens, auf die „Weggefährten“ also, richtet sich zunächst meine Aufmerksamkeit: auf meine Taten und Wahrnehmungen. Was ich in der Regel nicht mit meiner Aufmerksamkeit umfasse – auch zunächst gar nicht umfassen kann – bin ich selber, der Tätige, Wahrnehmende, einschließlich der Veränderungen, die ich durchlaufe.

Es ist und bleibt eben so: was ich wahrnehmen will, muss schon da sein. Bezogen auf meine eben durchlebte Veränderung heißt das: wenn ich sie wahrnehme, ist sie schon eine gewesene, vergangene, schon „Weggefährte“, und gerade jetzt findet wieder etwas Neues mit mir statt. Das kann ich dann gleich wahrnehmen, in Zukunft, dann, wenn es schon – ist.

Es besteht also ein grundlegender Unterschied zwischen mir und der Welt. Ich tue, lebe, wese. Sobald ich sagen kann: ich bin, rede ich schon von etwas Gewordenem, nicht mehr Tätigen, nicht mehr aus sich selber lebenden. Dann bin ich mir Welt geworden.

Der Andere

Innerhalb dieser vielen unterschiedlichen inneren und äußeren „Weggefährten“ gibt es aber eine Art Ausnahmeerscheinung: den anderen Menschen. Bei ihm kann ich nämlich wissen: es geht ihm im Prinzip genauso wie mir. Auch er lebt mit seinen „Weggefährten“, verändert sich durch die Begegnungen, und kann seine eigene Veränderung erst kennen, wenn sie schon geschehen ist. Er ist also im Grundsatz dasselbe wie ich, nur ein bisschen anders, vor allem durch die anderen „Weggefährten“, und von mir eben als „außen“ erlebt, und nicht von „innen“. Aber auch das ist ja gleich: ihm geht es mit mir genauso wie mir mit ihm.

Dennoch haben wir ein untrügliches Wissen: der Andere, das ist ein Mensch, einer, der ebenso wie ich „ich“ zu sich selber sagt (in welcher Sprache denn auch immer, das tut hier nichts zur Sache). Und das können wir beide jeder erstmal nur zu uns selber sagen, zu dem Tätigen, Wesenden, Erlebenden also, und dann auch zu dem, was sich aus diesem Tun, Wesen, Erleben in der Vorstellung von uns selber als neuer da-seiender „Weggefährte“ ergibt.

Fremdeln

Es ist ja ein Grundphänomen unserer Zeit, dass wir einander – und uns selber – so fremd sind. Wir haben nur immer das im Bewusstsein, was schon ist, also einen bestimmten Zustand schon erreicht hat, in dem es uns gegenübertreten kann. Das gilt für uns selber genauso wie für den anderen Menschen.

Uns selber gegenüber haben wir aber einen entscheidenden Vorteil: dadurch, dass wir die Veränderungen durchlaufen haben, die der Weg bis hierhin provozierte, haben wir uns mit diesen Veränderungen, mit dem darin waltenden Leben verbunden, denn es ist ja unser eigenes. Es waren unsere eigenen Wahrnehmungen, Taten, Willensimpulse, Gefühle, die uns veränderten.

Dadurch werden wir zwar einerseits, wenn wir die gewordene Vorstellung von uns selber betrachten, uns selber etwas fremd (jedenfalls dann, wenn wir uns nicht derartig in uns selber verlieben, dass wir uns sofort durch unsere Gefühle, Willensimpulse und dergleichen wieder innigst mit dieser Vorstellung von uns selber verbinden, also uns eigentlich gar nicht um die Vorstellung von uns selber kümmern, sondern nur um das Schaffen eines Verhältnisses dazu). Andererseits wissen wir aber durch das, was wir durchlebt haben, wie es zu diesem Zustand unserer Selbst gekommen ist; da sind wir uns selber nah.

Das ist bei dem Anderen nicht gegeben. Dieses „Wie“ kennt er nur selber, ebenso wie ich es bei mir selber weiß. Dies ist der Grund für jeden Streit, der zwischen Menschen entstehen kann. Sehe ich nur die Äußerung, die Tat des Anderen, und weiß nicht, wie er dazu gekommen ist, so zu handeln, sich zu äußern, kann die Fremdheit nicht weichen. Ich kann mich – also den lebenden, tätigen, wesenden in mir – nicht mit dem anderen verbinden. Wir bleiben einander gegenüber, und können bestenfalls Kompromisse miteinander machen, schlimmstenfalls, wenn unsere „Weggefährten“ zu unterschiedlich sind, uns streiten, bekämpfen, bis hin zu dem Wunsch, den Anderen vernichten zu wollen, da er uns stört auf unseren Wegen.

Den Anderen nach-denken

Der einzige Weg, einander wirklich zu verstehen, wäre es also, wenn wir in der Begegnung uns weniger für die „Weggefährten“ des anderen – seine gewordenen Haltungen, Standpunkte, Meinungen also – interessierten als für seine Art, zu leben, zu denken, zu wollen. Denn nur in dem aktuell Werdenden, in der Art zu sprechen, (Denk-)Wege zu gehen, zeigt sich, wie der Andere wirklich im Leben ist. Das andere sind eben nur die „Weggefährten“, und welche diesem oder jenem Menschen auf seinem Weg begegnen und zu eigen werden, bestimmt er nicht immer nur selber. Aber so leben, tun, sprechen wie dieser eine, individuelle Mensch, kann eben nur dieser eine individuelle Mensch selber.

Gehen wir seine Wege mit, so gut es geht, so durchleben wir mindestens ansatzweise dasjenige, was er selber auch durchlebt. Wir gehen also seinen Weg ein Stück weit mit. Und dann können wir den Vorteil nutzen, den wir haben, wenn wir selber Wege gehen: wir können wissen, wie das gegangen ist. Wir denken ihn sozusagen nach. Nicht nur seinen Weg – das wären die „Gefährten“ – sondern wirklich ihn selbst.

Dasjenige, was der Kern des Anderen ist, sein lebendiger Kern, sein Leben, wird ein wenig zum Teil unserer selbst. Wir nehmen ihn sozusagen auf in uns selber. Dann erst lernen wir ihn wirklich verstehen. Dazu gehört aber das wirkliche Mitgehen, das Zuhören, in den Anderen „Hineinkriechen-Wollen“. Und natürlich, jeder kann sich so verhalten, dass eben dies „Hineinkriechen“ schwer wird. Aber auch dadurch verrät er etwas … und stellt uns damit besonders anspruchsvolle Aufgaben.

Wer bin ich?

Aber hoppla: wenn ich das zu viel mache, werde ich ja nach und nach der andere. Und wo bleibe ich, ich selber? Genau dieses „Hoppla“ ist der Grund, warum wir das so wenig tun: den anderen nach-denken. Wir fürchten, uns selber zu verlieren, und wenden uns schnell vom Anderen ab zu uns selber, um uns unserer selbst wieder zu versichern.

Man kann das vergleichen mit Schlafen und Wachen. Wach bin ich dann, wenn ich eine Welt mir gegenüber habe, von der ich mich innerlich abstoßen kann, die ich als etwas erlebe, was ich nicht selber bin. Wenn ich schlafe, versinkt diese Welt der Wachheit, des Gegenübers in die Unbewusstheit. Wachsein und bei mir selber sein gehören also zusammen, ebenso wie Schlafen und – beim Anderen sein.

Nun kann ich aber wissen, dass doch diese Wachwelt, in der ich mir auch meiner selbst bewusst werden kann, die ich geradezu brauche, um mir meiner selbst bewusst zu werden, eben meine individuelle ist. Niemand kann sie zunächst erleben so wie ich. Und innerhalb dieser individuellen Welt kommt eben der Andere vor. Er lebt also sowieso schon in mir – nur unerkannt, noch fremd.

Durch ihn habe ich aber eine unermessliche Chance: Wege zu mir selber zu finden. Denn bei dem anderen Menschen weiß ich eines: ihm geht es im Prinzip wie mir. Bei einem Löwen, einem Gewitter, einer Ringelblume kann ich das zunächst nicht wissen. Die sagen nämlich alle nicht „ich“ zu sich selber. Will ich aber finden, wie es zu meinem Schicksal gekommen ist – wie also meine „Weggefährten“ dazu gekommen sind, mir über den Weg zu laufen – reichen die gewordenen Tatsachen nicht. Ich muss ihre Lebenswege kennen lernen. Und genau das kann ich am Anderen lernen: Lebenswege nach zu gehen – an jedem Anderen, gerade auch an denjenigen, die mir nicht so einfach gefallen wollen. Denn ich habe mit jedeem Menschen etwas gemeinsam: den Kern des „Ich“.

Dann finde ich den Weg zu mir selber, dem wirklich Lebenden, durch den Anderen. Jeder ist mir dann eine Chance, zu mir selber zu finden, gerade dadurch, dass ich mich auf ihn einlasse, die Furcht überwinde, mich selber zu verlieren. Denn ich verliere mich, meine Lebendigkeit, mein Leben also, gerade dadurch, dass ich nur auf meinem schon Gewordenen, meiner Vorstellung von mir, meinem „Weggefährten“ beharre, und den Lebendigen in mir darum nicht zu Geltung kommen lasse.

© Stefan Carl em Huisken 2020




Der Weise – Der Krüppel – Was uns bleibt

Ein Triptychon

Der Weise

Geh‘ nun, geh‘, du Frucht des Bösen,
Geh‘ die ersten Schritte selbst.
Sollst die Rätsel selber lösen,
Die du dir vor Augen hältst.

Kannst es nicht? Dir fehlt die Frage,
Die aus dir den Weg gebiert.
Was du selbst dir gibst, das trage
Dass es dich als Krone ziert.

Was aus Leiden und Fragen den Wanderer führt,
Was die Seele in Schmerzen zerreißt,
Die Herzen füllt mit erwollten Plagen –

Das öffnet die Wege, die es dir weist.
Die Wege zu selbst gelebten Tagen:
Das Neue, wie es dem Weisen gebührt.

Der Krüppel

Nur mit Mühe und Schmerzen den Steilpfad empor
Ohne Ziel kriecht zu Berg, der sich selber verlor,
Kann nicht stehen, nicht gehen, nicht leben, nicht sterben.
Doch ist er es, der einstmals den Himmel soll erben.

Kein Gesang, kein verständliches Wort kann die Kehle
verlassen und dringen von Seele zu Seele.
In Verwirrung und ohne ein leitendes Ziel
Durch das Leben sich quälend ist alles zu viel.

Doch ihn treibt unbesiegbare Kraft.
Was er will, kann niemals geschehen.
Er lässt es nicht los, trägt es durch in den Tod.

Sein Blick erschaut, was noch niemand gesehen.
Er kann es fassen, in höchster Not.
Wohl dem, der den Krüppel in sich erschafft.

Was uns bleibt

Was uns bleibt, ist die Mitte, die alles trägt.
Was noch niemand sah, keiner kann oder will,
und doch täglich lebt, ohne Sinn und Ziel,
Aus dem Quell, der alle Taten wägt.

Niemals quellen wilde Taten
Ohne Sinn aus tiefem Schlund.
Immer kannst du selber raten
Was dir zukommt aus dem Grund.

Trage, was weise,
Denke es gut,
Fühle es wesen,
in dir, in mir.

Wer ist es denn, den du fühlst, denkst, trägst?
Schaffst du ihn selber – wer ist sein Gott?
Wer ist sein Herz, sein Leib, sein Geist?
Selbstsein, im Denken, im Fühlen, im Tun?

Im Leiden
Im Tragen
Erstehe.

© Stefan Carl em Huisken 2020




Menschen-Regieren

Es gibt ein Land, wo Menschen sich regieren.
Es ist nicht hier und ist nicht dort,
Und willst du niemals es verlieren,
So suche es an keinem andern Ort.

Denn finden kann’s nur, wer schon ewig lebt
Im Strom des Lebens, ihn zu steuern,
Und im Geheimen nach dem Ziele strebt,
den MENSCHEN aus sich selber zu erneuern.

Was geworden ist, es muss zersplittern,
Dass jeder Splitter sich zum Einen schafft.
Vor diesem Ziel nicht zu erzittern,
erweckt dem MENSCHEN neue Lebenskraft.

Jeder Splitter, der sich selbst dem Ganzen schenkt,
Hat schon sein Schicksal dem des MENSCHEN einverleibt.
Wohin das ICH die EIG’NEN Schritte lenkt:
Es schafft das Neue, das im Wechsel bleibt.

Dies Land des MENSCHEN neu zu bauen
Im ICH, nur aus ihm selbst, nicht hier, nicht dort,
Erschafft die wundersamen Auen
Des neuen Lebens durch das Weltenwort.

Wer nun sich rafft und Antwort spricht
Auf diesen Ruf, der durch das Chaos klingt,
In dem das Alte hoffnungslos zerbricht:
In ihm lebt Neues, das die Zukunft bringt.

Die Ordnung; die schon ewig lenkt,
Was dann in jedem Einen neu ersteht:
Sie lebt in diesem Einen, wo sie Taten senkt
in Weltentiefen – und das Wort verweht.




Dämonisierte Zone „Corona“

Die Situation, in die die menschliche Gesellschaft derzeit geraten ist, scheint aussichtslos. Gespalten wie nie ziehen die Parteien übereinander her und bekriegen sich, ohne jede Aussicht auf Verständigung. Jede Seite betont die Schuld der anderen an dieser Situation. Immer ist es die andere Seite, die jede Einigung torpediert, indem sie nicht tut, was man ihr als Vorbedingung jeder Einigung vorschreiben möchte. Das ist die eigentlich gefährliche Seuche, eine „dämonisierte Zone“.

Corona-Gläubige und Corona-Leugner

Die Bezeichnungen, die die Opponenten einander geben, sprechen für sich. Die eine Seite („Gläubige“) weiß natürlich, dass sie recht hat und im Besitz der Wahrheit ist. Daher kann jeder, der dies nicht akzeptieren will, nur ein „Leugner“ sein, jemand, der Tatsachen einfach abstreitet. Und deswegen ist der Vorwurf, „gläubig“ zu sein, ein völlig infamer Angriff – man weiß doch um die Tatsachen. Und die andere Seite weiß eben die Wahrheit auch: dass sich nämlich bei aufrechtem Wahrheitsstreben alles anders darstellt als die andere Seite behauptet, und diese deswegen nur aus „Gläubigen“ bestehen kann. Notabene: Jede Seite befindet sich aus eigener Sicht im Besitz der Wahrheit, die aber der Wahrheit der anderen Seite entgegengesetzt ist.

Die inhaltlichen Argumente, mit denen da übereinander her gezogen wird, können an dieser Stelle beiseite gelassen werden. Wo es zwei Wahrheiten gibt, die sich unversöhnlich gegenüberstehen, nützt eine dritte wenig bis nichts. Einzig die Frage nach der Grundlage der „Wahrheiten“ beider Seiten kann vielleicht helfen, das beiden Seiten Gemeinsame ausfindig zu machen.

Was ist Wahrheit?

Als Wahrheit kann eigentlich nur dasjenige bezeichnet werden, was für jeden Menschen gleichermaßen bei entsprechender Bemühung als Tatsache erkennbar ist. Alles andere sind nur Teilwahrheiten, subjektives Für-wahr-Halten (also Glauben) und damit Grundlagen für einen handfesten Streit.

Nun ist seit Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ die Auffassung zur (fast) alleinherrschenden Lehre geworden, dass die wahre Wirklichkeit (bei Kant das „Ding an sich“) unerkennbar ist für den Menschen. Will man also etwas erkennen, bleibt nur die Möglichkeit, sich etwas über dieses „Ding an sich“ zu denken und dieses durch Beispiele, Belege, Experimente etc. möglichst plausibel zu machen. Wirkliches Wissen entsteht dadurch aber nicht. Es bleibt letztlich nur eines: an das Erdachte, an die so erläuterte Theorie also, zu glauben.

Das menschliche Erkennen unserer Zeit aus dieser Kalamität hinauszuführen, war Intention Rudolf Steiners. Ich habe Aspekte davon in diversen Beiträgen auf meiner Website und anderswo versucht zu verdeutlichen, unter anderem in „Wahrheit, Glaube, Weltanschauung – Wo ist Wirklichkeit?“ und „Was Not tut – Wohin führt die „Krise“?“. Die eingehenden, grundlegenden Darstellungen dazu finden sich bei Rudolf Steiner in seinen Schriften „Wahrheit und Wissenschaft“ und „Die Philosophie der Freiheit“. Darauf kann ich hier nur hinweisen.

Ohne Denken keine Wahrheit

Der Ansatz zur Suche nach der Wahrheit gelingt nur an der Stelle, die für alle Erkenntnis unverzichtbar ist: dem eigenen Denken. Ohne Klarheit darüber, wie das eigene Denken vonstatten geht und wie es in kontrollierte, bewußte Bahnen gebracht werden kann, ist ein Urteil über die Ergebnisse dieses Denkens nicht möglich.

Ganz ungeachtet der Frage, ob wir alles andere erkennen können oder nicht, steht eines für das Denken außer Frage: da wir es selber tun müssen, um es überhaupt untersuchen zu können („Denken über das Denken“), liegt es grundsätzlich in unserer Macht, es so zu lenken, wie wir es wollen. Wir können es, sonst könnten wir es gar nicht bemerken.

Gleichzeitig hat das „Denken über das Denken“ aber auch den Vorzug, dass dafür nichts anderes nötig ist, als das Denken selbst. Alle Voraussetzungen, die wir machen können, sind letztlich – erdacht. Und damit sind diese Voraussetzungen dann offensichtlich von uns selber so gewollt, ebenso wie die dadurch aufgerichteten Schranken für das Erkennen. Oder wir verzichten darauf, solche Voraussetzungen zu machen und versuchen energisch, das Denken nur aus sich selbst zu verstehen.

Das Problem kann an dieser Stelle nicht eingehend bearbeitet werden – allein die Identifizierung des Problems hilft aber im Gang der Darstellung an dieser Stelle weiter.

Wissen und Glauben

Man kann nämlich fragen, inwieweit die heute sich so unversöhnlich gegenüber stehenden Parteien der „Gläubigen“ und „Leugner“ im Irrtum sind, wenn sie davon ausgehen, selber die Wahrheit besser zu kennen als die andere Seite. Beide Seiten behaupten, auf der Grundlage gängiger wissenschaftlicher Modelle und Methoden der Wahrheitssuche zu arbeiten, und beide werfen jeweils der anderen Seite vor, dies nicht oder nicht ausreichend zu tun. Es ist offensichtlich: keiner hat tatsachlich Wahrheit.

Es ist ja kein Wunder, dass eine Einigung so kaum möglich erscheint. Die „Wahrheiten“ beider Seiten unterscheiden sich zu sehr, als dass auf der Ebene der jeweils für wahr gehaltenen Inhalte eine Annäherung möglich wäre. Das Problem liegt darin, wie die beiden Seiten denken, das heißt also auch, wer die einzelnen Akteure des Streites sind und wie sie urteilen. Das eigentliche Problem ist also weniger eines der Inhalte, als eines der Personen und ihrer Denkwege in Bezug auf die Wahrheit.

Person und Verhalten

Nun gehört es ja zu jedem einigermaßen eskalierten Streit, dass die Streitenden auch über die Person des jeweils anderen genauer Bescheid zu wissen vermeinen als der andere selbst. Das sorgt dann dafür, dass der Streit weiter eskaliert, denn es geht auch hier weiter um Inhalte. Jedenfalls macht man die unterstellte Persönlichkeitsstruktur des jeweils anderen zu einem solchen bestreitbaren Inhalt. Allein die Bezeichnungen, die für einander gewählt werden, machen dies deutlich.

Es kann aber niemand wirklich wissen, was auf welche Art und Weise Grundlage der Persönlichkeit des anderen ist. Wir haben als möglichen gemeinsamen Ausgangspunkt nur das dem jeweils anderen gezeigte Verhalten. Das läßt sich beschreiben, und Konsequenzen daraus lassen sich ableiten, auch immer so, dass dabei Interpretationen über mögliche Absichten vermieden werden können (vgl. dazu Dieter Brüll: Der Anthroposophische Sozialimpuls. – Schaffhausen, 1984).

„Bewußtseinslöcher“

Verweigert eine Seite das Gespräch, gibt also auch auf Fragen keine oder für die andere Seite unzureichende Auskunft über Gründe und Anlässe ihres Verhaltens, so sorgt sie dafür, dass auf der anderen Seite „Bewußtseinslöcher“ entstehen, Bereiche also, für die es nur Fragen gibt, aber keine Antworten. Solche „Bewußtseinslöcher“ sind dann Anlaß für Spekulationen, da ja die andere Seite sich das Verhalten nicht anders erklären kann. Und das eigene Verhalten dieser anderen Seite wird sich dann natürlich auch an diesen eigenen Spekulationen orientieren und dadurch dazu neigen, die Tatsachen entsprechend zu deuten.

„Bewußtseinslöcher“ zu schaffen ist daher eines der besten Mittel, Konflikte zu eskalieren, da hierdurch davon abgelenkt wird, die jeweils andere Seite wirklich zu verstehen. Es ist dies also ein Täuschungsmanöver, das den anderen in die Unsicherheit stößt und die eigenen Intentionen verschleiert. Dadurch wird eine Zone geschaffen, die keine der Konfliktparteien beherrscht, die aus dem Bewußtsein entschwindet. Wer darauf aus ist, Konflikte zu eskalieren, kann kein besseres Mittel verwenden. Genau dies kann dann wieder als Vorwurf verwendet werden und Anlaß sein, darüber zu spekulieren, warum jemand an der Eskalation des Konfliktes interessiert sein könnte. Die Sache gewinnt so mit ziemlicher Sicherheit „Fahrt“.

Gleichzeitig ist der Vorwurf an die andere Seite, auf diese Weise eskalierend zu agieren, der letztlich „ultimative“ Vorwurf, um den anderen zum endgültig „Bösen“ zu erklären. Wer „Bewußtseinslöcher“ schafft, will den Konflikt, interessiert sich gar nicht für meine Intentionen und Bemühungen und will mich nur beherrschen! So kann man dann den Vorwurf formulieren. Aber: ist der Wille des anderen ein wirklich von ihm selber ausgehender bewußter, freier Wille? Weiß ich wirklich, was den anderen bewegt? Oder ist das nur meine Spekulation?

Interesse

Das kann ich nicht wissen, solange ich ihn nicht mit wirklichem Interesse danach frage, welche Beweggründe der „Gegner“ hat, und sein Antwortverhalten genau und unvoreingenommen beobachte. Das würde aber einschließen, dass ich meine eigenen Meinungen und Ansichten nicht von vornherein als seinen überlegen ansehe. Denn wirkliches Interesse setzt voraus, dass ich zunächst ohne Vorurteile versuche zu verstehen, was der andere mir sagt. Ich muß also mindestens als möglich ansehen, dass die Aussagen des anderen mich überzeugen.

Wirkliches Interesse scheinen mir heutzutage beide einander bekämpfende Seiten nicht für einander zu entwickeln. Jeder beurteilt das Verhalten des anderen nach seinen eigenen Gesichtspunkten. Und die scheinen sehr verschieden, so verschieden wie die möglichen Haltungen zum Geschehen.

Handelt der eine danach, was er eben denjenigen Wissenschaftlern glaubt, zu denen er – aus welchen Gründen auch immer – Vertrauen hat, und interessiert sich dabei eigentlich gar nicht besonders für die wissenschaftlichen Grundlagen von deren Aussagen, sondern für Handlungsanleitungen, so kann der andere von moralischen Gesichtspunkten ausgehen, die er für alle Wissenschaft als notwendig ansieht, und die er eben im Verhalten der anderen Seite verletzt sieht. Kurzum: der Streit ist sofort wieder auf der inhaltlichen Ebene, der Frage nach der „Wahrheit“ heutiger „Wissenschaft“, die redlicherweise – wie gezeigt wurde – niemals die wirkliche Wahrheit für sich beanspruchen kann.

Der Täuscher

Naturlich kann derjenige, der sich von seinen Vertrauens-Wissenschaftlern leiten läßt, getäuscht werden. Die Folge wird dann sein, dass diejenigen, die die Täuschung darin vermeinen zu erkennen, sofort dagegen halten und beginnen, dem jeweils anderen bewußte Täuschung zu unterstellen – aus welchen Gründen denn auch immer. Und schon ist der Konflikt losgetreten.

Was dabei aber vergessen wird: Beide Seiten denken über die ihnen erscheinenden Tatsachen. Sie denken nur unterschiedlich. Aber da sich beide Seiten nicht bewußt machen, dass ihr eigenes Denken es ist, was ihre Welt- und Menschenauffassung bestimmt, und daher der andere in genau derselben Situation ist, streiten sie sich über Inhalte und versuchen nicht, die Denkwege des jeweils anderen soweit mit zu gehen, dass sie einander verstehen lernen können.

Die eigentliche Täuschung liegt darum nicht im Inhaltlichen, da also, wo vielleicht eine Seite sich von irgendwelchen als wissenschaftlich deklarierten Meinungen verleiten und täuschen läßt und die andere ihre Wahrheits-Moral absolut setzt, sondern vielmehr in der Tatsache, dass beide Seiten sich nicht darüber im Klaren sind, dass es hier offenbar einen dritten Akteur gibt, der die Szenerie beherrscht.

Der dritte Akteur

Dieser dritte Akteur ist auch schwierig zu erkennen, und für Menschen, die „Denken“, „Bewußtsein“ und „Wollen“ eigentlich nur in Bezug auf Menschen für relevant halten, eigentlich unerkennbar – das ist seine Stärke, durch die er überall, wo er auftritt, sofort Zwietracht hervorruft und so dafür sorgen kann, dass niemand ihn bemerkt: man ist zu sehr mit sich selber beschäftigt.

Wer aber zumindest einmal versuchsweise die heute ja „herrschende Lehre“ vom Menschen als einer gewissen Menge strukturierter organischer Masse, die aus mehr zufälligen oder abstrakt-naturgesetzlichen Gründen in sich die Illusion einer selbständigen Wesenheit hervorruft, beiseite legen kann, kommt hier entscheidende Schritte weiter. Es liegt ja auch auf der Hand: die gerade charakterisierte Auffassung vom Menschen ist mittels Denken entstanden und setzt dieses voraus. Alles Begreifen setzt das Denken voraus. Das bedeutet aber auch, dass der denkende Mensch zunächst ein Denkwesen ist, und alle weiteren Aussagen auch über sich selbst nur auf dieser Grundlage treffen kann.

Damit ist aber der äußere Leib des Menschen nicht die Voraussetzung seiner Existenz schlechthin, sondern nur die Voraussetzung seiner Existenz in der sinnlich wahrgenommenen Welt und damit selber eine Wahrnehmung, über die man sich nur mittels den Denkens Erkenntnisse verschaffen kann. Der Mensch ist also Denkwesen, oder – um es für den üblichen Sprachgebrauch handlicher zu sagen – ein Geistwesen, das durch einen Leib in der Sinneswelt lebt. Damit werden aber auch Geistwesen denkbar, die keinen äußeren Leib haben, nicht sinnlich faßbar sind, und dem Menschen daher nur in seinem Inneren, im Denken, Fühlen und Wollen begegnen können.

Solche Geistwesen, die nur durch die Seelentätigkeiten des Menschen in die Menschen-Welt hineinwirken können, nannten die Griechen „Dämon“. Man kann die Konfliktzone, die von einem solchen Wesen regiert wird, darum „dämonisierte Zone“ nennen, ein Ausdruck, den der anthroposophische Konfliktforscher und Konfliktberater Friedrich Glasl prägte. Einen treffenderen Ausdrück sehe ich für das aktuell weltbeherrschende Konfliktfeld nicht (vgl. Friedrich Glasl: Konfliktmanagement. Bern; Stuttgart: 2002, darin v.a. Kap. 2.2, 8.4 und 10.5). Der Konflikt ist völlig entgleist, und keine der Konfliktparteien kann ihn noch aus sich selbst beherrschen.

Weltherrscher

Wer bis hierher hat folgen können, wird leicht einsehen, dass dieser dritte Akteur – der im Übrigen nur durch das Denken auffindbar ist – in beiden Parteien der Menschen wirkt, die sich derzeitig „bekriegen“ („Wir sind im Krieg“, sagte Macron zu Beginn der sogenannten Corona-Krise), und dadurch derzeit die Welt beherrscht. Er verleitet die eine Seite, meist repräsentiert durch dei staatlichen Regierungen, sich von Wissenschaftlern leiten zu lassen, die möglicherweise selber gar nicht wissen, inwieweit sie von irgendwelchen anderen Interessen beeinflußt sind, und inwieweit sie in ihrer Art, Wissenschaft zu betreiben, die keine Wahrheit liefert, von den Einflüsterungen des dritten Akteurs geprägt sind.

Wer Wissenschaft als Mittel ansieht, die Welt möglichst weitgehend den eigenen Interessen nutzbar zu machen, wird nichts Anrüchiges daran finden, deren Ergebnisse einfach zu nutzen und nicht weiter zu fragen. Er lebt gewissermaßen instinktiv eine Art Egoismus aus, ohne Verständnis dafür, wie zerstörerisch das wirken kann. Dabei wird er allerdings nicht darauf aufmerksam, wie der „Täuscher“ schon in der ausschließlichen Orientierung auf die Wissenschafts-Inhalte und im Unberücksichtigt-Lassen der Rolle des Denkens wirkt.

Wer andere Inhalte in den Vordergrund stellt, gemäß seiner Auffassung von Wissenschaft, die seinem eher moralgeprägten Welt- und Menschenbild besser entspricht, der wird das Verhalten des anderen als unverzeihlich ansehen, als unmoralisch und schädlich. Aber er stellt damit seine Weltsicht über die des anderen, gebärdet sich ebenso als Egoist.

Glaubt der eine an den Nutzen von Wissenschaft zum Umgang mit der Welt und sieht darin ihren Zweck erschöpft, stellt der andere seinen Glauben an die Notwendigkeit und Gültigkeit bestimmter moralischer Systeme in den Vordergrund, die er für unverzichtbar hält. Beide scheinen in der Welt unversöhnlich. Beide vergessen jedoch die Tatsachen gleichermaßen: beide sind doch vorhanden, also unbestreitbar tatsächlich vorhandene Menschen. Und diese tatsächlich vorhandenen Menschen müssen Wege finden, miteinander auszukommen, ohne den jeweils anderen zum „Unmenschen“ zu erklären. Das kann nur gelingen, wenn die Rolle des Denkens beim Entstehen jeder Weltanschauung berücksichtigt wird. Im Denken liegt das Verbindende (vgl. Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit. – Dornach, 1973, S. 165 f).

Wahrheit wächst nur gemeinsam

Was not tut, wenn man die derzeitige Situation einer Heilung zuführen will, ist also weder besondere Handfertigkeit im Nutzen von wissenschaftlichen Ergebnissen noch die Einigung auf ein irgendwie übergeordnetes Moralsystem. Notwendig ist vielmehr die Abkehr vom Glauben an Weltanschauungen – eigene und fremde – und die gemeinsame Bemühung, die Tatsachen hinzunehmen und zu verstehen. Und diese Tatsachen sind eben

  • die Notwendigkeit des „Denkens über das Denken“, um die Bedeutung des Gedachten beurteilen zu können
  • die Existenz eines nicht sinnlich wahrnehmbaren „dritten Akteurs“,der vor allem durch die Täuschung wirkt, und dem Menschen die Wahrheit verschleiert, auch und vor allem die Wahrheit des Denkens und damit seiner selbst
  • nützlichkeitsorientierter ebenso wie die moralorientierter Hochmut und Egoismus, die beide nur entstehen, weil das Wirken des Täuschers nicht gesehen wird
  • jeder individuelle Mensch, der unabhängig von seiner Weltsicht, Verführtheit oder Selbständigkeit doch immer Mensch ist und bleibt und als solcher Tatsache ist.

Erkenntnis der Wahrheit kann also nur entstehen, wenn gemeinsam, ausgehend von der für jeden gleichen Situation beim „Denken über das Denken“ daran gearbeitet wird. Da wird vor allem die Wirksamkeit des „dritten Akteurs“, des „Täuschers“ einer ausführlichen Betrachtung unterzogen werden müssen, denn er ist es, der die Menschheit in die Entzweiung treibt, der das Prinzip von „teile und herrsche“ zur Geltung bringt. Er ist sozusagen der „gemeinsame Feind“ der Parteien, der aber selber auch nur überwunden werden kann, indem man ihn nicht zum neuen, vielleicht sogar gemeinsamen „Gegner“ macht, sondern die von ihm beherrschte „dämonisierte Zone“ mit Bewußtsein durchdringt, und ihn nach und nach verstehen lernt.

Eine Art Fazit

Gewiß, man kann sagen, das sei alles bloß erdacht. Ist es ja auch, und gerade deswegen ist es eine Wirklichkeit. Wer fest dabei verharrt, dass es „Akteure“ nur als Wesen aus Fleisch und Blut geben könne, der wird in dem Hinweis auf den „dritten Akteur“ wenig finden können. Selbst wenn man noch zugeben kann, dass so ein Wesen ja von den Menschen subjektiv konstruiert werden kann, um sich die Welt zu erklären und dabei nicht nur tote Naturgesetze aufzustellen, wird man allerdings der Sache nicht gerecht.

Wer Menschen täuschen kann über ihre eigenen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, der Wahrheit nahe zu kommen, wer dies gekonnt nutzt, um die Menschen in Parteien zu zerspalten, so dass sie dabei den Spalter übersehen, und wer den Menschen gerade dadurch die Möglichkeit rauben will, eine Zukunft zu erbauen, die sie selber wollen können, der ist mehr als nur eine Ansammlung toter Gesetzmäßigkeiten.

Und er lenkt den Menschen gerade von dem ab, was ihm am nowendigsten ist: von dem Blick auf die eigene Geistnatur und die damit gegebene Möglichkeit, als Geistwesen unter Geistwesen leben zu lernen. Das ist, was ich all denjenigen zurufen möchte, die weiterhin darauf aus sind, einander zu bekriegen und vor allem die eigene Weltsicht über die des jeweils anderen zu stellen.

Alle Krisen der neueren Zeit lassen sich darauf zurückführen, dass die Menschen nicht bereit sind, aus ihrem unmittelbar-naiven irdischen Erleben bewußt und durch selbst kontrollierte eigene Bemühung im Denken zu einer Erweiterung ihrer Lebens- und Erkenntnismöglichkeiten aufzusteigen. Wer sich nicht bereit macht, für die eigene Zukunft als Geistwesen (das endet ja nicht mit dem Ablegen des Leibes) sich auch einzusetzen, wird diese Zukunft vermutlich nicht haben können; sie entsteht ja nur aus dem bewußten und gewollten Zusammenwirken der tatsächlichen, denkenden Menschen.




Wahrheit, Glaube, Weltanschauung – Wo ist Wirklichkeit?

Die „wahre Wirklichkeit“ kennen wir nicht mehr. Wir können darüber nur spekulieren und Wahrscheinlichkeiten bestimmen. Wie finden wir wieder Wahrheit? Eine Frage, die uns gerade jetzt unter den Nägeln brennen sollte.

Welt-Anschauung

Die Dinge gehen heute ineinander über. Wir nehmen etwas wahr, indem wir es ergreifen mit den uns zur Verfügung stehenden äußeren (sinnlichen) und inneren (seelischen) Mitteln. Was wir wahrnehmen, ist notwendig und unabänderlich für jeden Menschen einzigartig, und immer verschieden vom Wahrnehmungsbereich jedes anderen Menschen. Es kann eben niemand genau die inneren und äußeren Wahrnehmungen eines anderen Menschen haben.

Außerdem hat jeder seine eigene Art, das Wahrgenommene anzuschauen. Die ist ebenso individuell, denn sie ist aufgrund des individuellen Werdeganges anhand der vergangenen, sich ständig ändernden Wahrnehmungen geworden, hat sich daran herangebildet. Da schon der ganze Kreis der aktuellen Wahrnehmungen in jedem Augenblick individuell und mit dem keines anderen Menschen völlig übereinstimmend ist, gilt dies natürlich erst recht für die Folgen der vergangenen Wahrnehmungen, unsere Weltanschauung nämlich, die daran im Laufe der Zeit heranreift. „Weltanschauung“ ist hier ganz wörtlich gemeint als die Art, die Welt anzuschauen, als der Beitrag des Einzelnen also zum Aufbau eines gegliederten Ganzen auf der Grundlage der inneren und äußeren Wahrnehmungen.

Da nun dasjenige selbst, was uns zu den Wahrnehmungen verhilft, sie erst ermöglicht, für uns nicht unmittelbar und vollständig zum Kreise der Wahrnehmungen gehört – wir nehmen ja an einem Vogel zum Beispiel nicht unmittelbar wahr, was dieses Tier auf welche Art und Weise so konfiguriert hat, wie es uns jetzt in der Wahrnehmung entgegentritt, und wie unsere eigene (Sinnes-)Organisation daran mitwirkt – sind wir zur Erklärung darauf angewiesen, von uns selbst aus durch unser Denken den Wahrnehmungen einen Zusammenhang beizulegen. Dies tun wir aus unserer mehr oder weniger entwickelten Welt-Anschauung heraus. Ob dieser Zusammenhang gänzlich neu von uns selbst erdacht ist, oder anders, zum Beispiel durch Nachdenken von mitgeteilten Gedanken anderer in uns vorhanden ist, spielt zunächst keine Rolle. Ich muss immer die die Erklärung selber durch mein Denken mit den Wahrnehmungen verbinden.

Wahrscheinlichkeit

Nun stellt sich hier ein Problem: ob nämlich der von mir den Wahrnehmungen beigelegte Zusammenhang den Tatsachen entspricht, kann ich zu keinem Zeitpunkt zweifelsfrei feststellen. Die Tatsachen (oder sind es Wesen?), die den Wahrnehmungen zugrunde liegen, nehme ich ja nicht unmittelbar vollständig wahr, habe also keinen Maßstab, die Tatsachentreue meiner Erklärungen zweifelsfrei zu überprüfen. So bleibt zunächst alles im Bereich von mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit. Wie das Wort schon sagt: es scheint alles mehr oder weniger wahr. Es ist aber keine Wahrheit.

Wahrhaftige wissenschaftliche Tätigkeit der heutigen Zeit wird immer damit rechnen, dass sie über die eigentlichen Tatsachen der Wahrnehmungswelt in der Regel nur Wahrscheinlichkeiten feststellen kann. Diese Feststellung selbst allerdings – dass wir in der Regel über den Zusammenhang der Welterscheinungen nur Wahrscheinlichkeiten konstatieren können – ist eine Ausnahme-Tatsache. Denn sie kann sich jeder Mensch gleichermaßen selber aufgrund der vorangegangenen Betrachtungen klarmachen. Ihre Wirklichkeit braucht zu ihrer Bestätigung nichts außer sich selbst. Wir werden darauf zurückkommen.

Bei allen anderen Dingen haben wir zunächst nur Wahrscheinlichkeiten. Da wir aber im Alltag mit den Dingen der Welt umgehen wollen und müssen, glauben wir einfach daran, dass die aus unserer Welt-Anschauung entstandene Erklärung der wirklichen Wahrheit schon genügend nahekommt. Für den Alltag reicht dies in den meisten auch Fällen aus. Die eigentlich den Wahrnehmungen zugrundeliegenden (uns ja noch unbekannten) Tatsachen und Wesen geraten dabei in Vergessenheit, und der Glaube, in dem von uns Erlebten und Angeschauten die ganze Wirklichkeit zu haben, wird immer mächtiger. Es bleibt aber ja dabei: diese Wirklichkeit ist eine geglaubte, keine tatsächliche. Mit solchem Glauben leben wir also in etwas, was nicht wahr ist, in einer Lüge also, einer Lebenslüge.

Darin liegt aber der Grund für unsere Angreifbarkeit, für Verunsicherung, Streit und Machtstreben. Wer nicht sicher weiß, gerät sofort in Gefahr, aus seiner Bahn geworfen zu werden, wenn ihm etwas begegnet, was seiner geglaubten Welt-Anschauung widerspricht. Darauf kann man nun unterschiedlich reagieren. Wer ernsthaft nach der ganzen Wahrheit sucht, wird in jeder Infragestellung seines eigenen Weltbildes (des jeweils aktuellen Ergebnisses seiner gewordenen Welt-Anschauung) eine Gelegenheit sehen, sich weiter zu entwickeln und der wirklichen Wahrheit näher zu kommen. Nicht jeder hat allerdings die innere Kraft dazu, seine eigene Weltanschauung dauernd in Frage zu stellen, mit allen Konsequenzen, die sich daran knüpfen. Sind doch in die Bildung der eigenen Weltanschauung auch die eigenen Taten – einschließlich eventueller Irrtümer – mit eingeflossen. Die möglichen Alternativen zu einer solchen unvoreingenommenen Auseinandersetzung mit dem verunsichernden Neuen sind aber wenige: im Wesentlichen sind es Unterordnung unter das Neue, Fremde oder der Kampf dagegen.

Das Neue – „Corona“

Und genau das erleben wir zur Zeit: uns begegnet ein Neues, Unerwartetes unter dem Namen der „Corona“ (hier sind alle Aspekte gemeint, einschließlich der davon angeregten Handlungen der Menschen). Die Handhabung der Sache durch die öffentlichen Stellen einschließlich der Medien ist so, dass eine offene Auseinandersetzung unmöglich gemacht wird. Von der offiziell favorisierten abweichende wissenschaftliche Auffassungen („Welt-Anschauungen“) bleiben weitestgehend unberücksichtigt, so dass – auf dieser Ebene betrachtet – wirklich nur Gehorchen oder Kampf bleibt. Die Verweigerung jeder offenen Auseinandersetzung zwingt förmlich dazu und öffnet einen Raum für alle möglichen Dämonisierungen.

Und schon hat uns die Wahrnehmungswelt ein weiteres Mal getäuscht. Nicht nur, dass wir eine solche Situation, wie wir sie erleben, nicht erwartet hätten, sie uns also gleichsam „überrollt“ hat und wir Mühe haben, sie unserer Weltanschauung einzuverleiben; was uns hier erscheint will uns auch dazu bringen so oder so Stellung zu beziehen, zur Partei zu werden also. Denn alle Seiten berufen sich in ihren Darlegungen auf die Autorität der „Wissenschaft“ – aber immer bestimmte Ergebnisse oder Verfahrensweisen, die man entsprechend der eigenen Auffassung von dieser „Wissenschaft“ und ihren Aufgaben geltend macht. Die einzige Aussage, die im hier dargelegten Gedankengang eine sichere genannt werden kann – dass nämlich alle aus dem heutigen gewöhnlichen Bewußtsein hervorgehenden Welt-Anschauungen nur Wahrscheinlichkeiten geben – wird dabei unberücksichtigt gelassen.

Lässt man sich auf diese letzte Aussage wirklich ein, so erscheinen die Fraktionen, die sich der Sache gegenüber – der „Corona“ also – bilden, nur als Ergebnisse einer einzigen Tendenz: die Menschen zu spalten, in möglichst viele verschiedene Parteien. Das lenkt davon ab, was als Tatsache eigentlich offensichtlich ist, dass nämlich alle Parteien gleichermaßen die Wahrheit nicht kennen, nur Wahrscheinlichkeiten, und in der Folge ganz generell die Bereitschaft gering ist, in systematischer und ernsthafter Zusammenarbeit die Quelle für die „wahre Wirklichkeit“ zu suchen.

Das wäre ja die Frage nach dem Ausgangspunkt jener ersten, für alle Menschen gültigen Feststellung über die Endlichkeit und Unvollständigkeit jeder individuellen Welt-Anschauung. Wie kommt man eigentlich darauf? Wenn diese Einsicht für jeden Menschen gleichermaßen möglich ist, liegt doch gerade darin ein universelles Element, in dem der Keim gesucht werden könnte zu einer neuen, für jeden Menschen gleichermaßen zugänglichen Wahrheit jenseits der ansonsten unvermeidlichen Unterschiede in den Welt-Anschauungen und Welt-Bildern.

Jedes im Alltag vielleicht unvermeidliche Partei-Ergreifen lenkt ab von der Konzentration auf diesen, das Ganze in den Blick nehmenden Gesichtspunkt, von dem aus alle Menschen einerseits als (im Alltag) unfreie, gezwungene Darsteller im Rahmen einer weltweiten Inszenierung von Vereinzelung und Spaltung erscheinen können, andererseits jeder Einzelne zugleich zum Träger eines universellen Versöhnungsimpulses werden kann. Dafür braucht es aber ein Erwachen.

Erwachen

Dieses Erwachen bezieht sich auf den Kern jeder individuellen Weltanschauung, das menschliche Individuum selbst, das ICH. Durch dieses ICH und seine Tätigkeit erst wird aus den ungeordneten Wahrnehmungen eine Welt-Anschauung. Gewiss, wir machen uns allerlei Vorstellungen davon, was dieses unser ICH sei, allerdings: jede Vorstellung davon, wenn sie mir ins Bewußtsein dringt, ist bereits eine (innere) Wahrnehmung, ein „Etwas“, und trägt ihren Entwicklungsgrund nicht als wahrnehmbaren Anteil in sich. Den Aufbau einer solchen Vorstellung durchleben wir zwar, wissen also um unsere Beteiligung. Das ist aber unsere Betätigung, das eigene Tun, von dem wir erst das Ergebnis – die ICH-Vorstellung – als innere Wahrnehmung ins Bewußtsein bekommen. Derjenige, der dann diese Vorstellung denkend ergreift, ist bereits ein anderer als ihr Hervorbringer. Denn er ist Betrachter eines Gewordenen, nicht dessen schaffender Hervorbringer..

Insofern müssen wir also einsehen, dass wir als Denker, als Wahrnehmer für uns selber nicht wahrnehmbar sind. Für unsere Wahrnehmung sind wir sozusagen ein NICHTS. Was wir als Vorstellung hervorbringen, können wir erst im Nachhinein anhand des Ergebnisses erkennen, das Hervorbringen selbst erleben wir, durchleben wir im eigenen Tun, ohne es zunächst wahrnehmen zu können.

So kann uns das Erwachen für die eigene Unfähigkeit, die wirkliche Wahrheit als Ganze zu erkennen, zu einem Erwachen für ein Zweites führen: dass es nämlich außer der uns gegebenen Welt äußerer (sinnlicher) und innerer (seelischer) Wahrnehmungen eine zweite Welt fortwährenden lebendigen Hervorbringens gibt, deren ständig mitwirkendes Glied wir selber in unserem ICH sind. In dieser zweiten, zunächst nur wie im Negativ aufscheinenden Welt der schaffenden Ursachen sind wir vereint mit allen ebenfalls schaffenden Ur-Sachen und -Wesen der gegebenen Wahrnehmungswelt.

Schaffende Ur-Sachen

Diese Welt der schaffenden Ursachen ist nicht darauf angewiesen, dass jedes dort vorkommende Wesen auch einen eigenen, abgrenzbaren (sinnlichen oder seelischen!) „Leib“ in der Wahrnehmungswelt hat, durch den es wirken kann. Was in der Wahrnehmung auftaucht als abgrenzbarer „Erscheinungs-Leib“, kann durch Zusammenfließen verschiedener Ur-Sachen entstehen, die ansonsten, für sich genommen, unwahrnehmbar wären.

Ein Beispiel: Damit für einen Betrachter die Wahrnehmung eines Regenbogens entsteht, müssen vielerlei Einflüsse zusammenwirken: das scheinende Sonnenlicht (das für uns ja immer nur dann wahrnehmbar wird, wenn es auf etwas auftrifft, von dem es reflektiert wird), das Vorhandensein von Wassertropfen in der Luft, und vor allem ein besonderes räumliches Verhältnis von Lichtquelle, Wassertropfen und Betrachter zueinander – um nur einige wichtige Einflüsse zu nennen. Welche Ursachen, welche schaffenden Wesen haben all diese Verhältnisse so zusammengeführt dass im Betrachter die Wahrnehmung des Regenbogens entsteht? Selbst schwer ergründbare Fragen des individuellen Schicksalsverlaufes des Betrachters können hier eine Rolle spielen, seine eigenen, wirkenden Willensimpulse und ihre Quellen ebenso wie prinzipiell naturgesetzlich erklärbare Tatsachen der Sinnenwelt. Ein ganzes Kompendium zunächst unwahrnehmbarer Einflüsse bringt also im konkreten Leben die zusammenhängende, abgrenzbare Erscheinung – den „Leib“ – eines Regenbogens für einen Betrachter zustande.

Der Versuch, dies alles durch Berechnungen und Überlegungen im Sinne der Bestimmung von Wahrscheinlichkeiten zu einem glaubwürdigen Welt-Bild zusammen zu fügen, wäre heillos zum Scheitern verurteilt.

Das Wissen aber davon, dass die einzelne Wahrnehmung aus einer Welt der schaffenden Ursachen hervorgeht, deren erlebender Teil jeder Mensch durch sein ICH ist, kann uns den Weg weisen zu der Frage, wie uns diese Welt schaffender Ur-Sachen selbst ins Bewußtsein treten kann. Dann wären wir nicht mehr auf Spekulationen und Wahrscheinlichkeiten angewiesen, sondern könnten erkennend in der Wahrheit leben. Derjenigen Wahrheit im Übrigen, die durch ihren allen Menschen eigenen universellen Quell prinzipiell jedem Menschen offensteht, und aus der darum heilender Einfluss auf die ansonsten leicht in Widerstreit geratenden Welt-Anschauungen hervorgehen kann.

Auf diese „wahre Wirklichkeit“ oder „wirkliche Wahrheit“ weist Rudolf Steiner hin, wenn er vom „Denken“, der „Intuition“ oder der „geistigen Welt“ spricht.

Geistige Welt

In der geistigen Welt leben wir alle also ununterbrochen, durch unser Denken, unser Wollen, aber wir sind uns dessen nur in Ausnahmefällen bewußt. Sie erkennend zu betreten ist, was der heutigen Menschheit fehlt, um die immer schärfer aufflammenden Gegensätze zwischen den Menschen mit ihren je eigenen Welt-Anschauungen kontrollieren und heilen zu lernen.

Dieses Betreten der geistigen Welt kann – wenn es wirklich heilsam wirken soll – in der heutigen Zeit nur so vonstatten gehen, dass alle damit verbundenen Tatsachen und Vorgänge offen zutage treten und für jeden Menschen im Grundsatz nachvollziehbar sind. Es kann also nur auf dem Wege einer wirklichen Geisteswissenschaft geschehen. Diese Wissenschaft gibt es seit dem Wirken Rudolf Steiners, sie ist veröffentlicht und damit für jeden Menschen zugänglich, der dies will.

Begegnung mit dem Teufel

Wir tun gut daran, nicht zu vergessen, dass wir zum Erwachen für die geistige Welt geführt werden durch das beherrschende Auftreten des Zerstörerischen, Spaltenden, Zersplitternden. Insofern ist unser Erwachen auch „von des Teufels Gnaden“*. Dafür ist er uns gesandt. Ihn nur zu „beseitigen“ – kann man überhaupt zerstören, wessen Wesen die Zerstörung selbst ist, kann die Zerstörung also durch uns sich selbst vernichten, oder wäre dies nur ein „Vergessen“, ein Aus-dem-Bewusstsein-schaffen? – ihn also wegschaffen zu wollen, wäre keine Heilung. Dieser „Teufel“ muß überwunden werden, erlöst von dem Zwang zur Vernichtung. Dazu müssen wir ihn kennenlernen, ihm furchtlos entgegentreten, mit ihm umgehen lernen.

Dieser „Teufel“ kann so zu dem ersten rein geistigen Wesen werden, das in unserem Bewußtsein Gestalt annimmt. Die Wirkungen, die er durch die Menschen in die Welt setzt, können uns dadurch nach und nach erklärlich und handhabbar werden.

Das Erwachen führt uns daher zu ernsten Aufgaben. Wie wir darin bestehen, wird entscheidend sein dafür, ob aus der aktuellen Zersplitterung der Menschheit ein neuer, heilender Impuls hervorgehen kann.


Fürchte einzig des Dämons Lächeln,
Des Verfälschers tröstliche Glätte,
Des Lügners einleuchtende Wahrheiten,
Des Mörders Lebensklugheit,
Des Verräters daseinsbezwingende List,
Des Verleumders exakte Wissenschaft.

Fürchte nur des Dämons
Uralt unerkannte Gottähnlichkeit,
Die strahlende Maske,
Vielen tödlich.

Und fürchte ihn nicht!
Blick ihm ruhig ins trauernde Antlitz:
Von kalten Blitzen entzündet,
Gefurcht von Verachtung der Feigen,
Von Haß zerstört gegen
Einen ihm schweigenden Gott –
Blick ihm ruhig ins versteinerte Aug,
Immer steht er neben Dir.

Nicht schenkte ein Gott Dir sein Blut,
Daß in Furcht du erstarrst,
Leuchte dem Dämon zu späterer Erlösung,
Da er trug auch Dich,
Als Du ihm ähnlich warst.
Nun hilf ihm.

(Helmut Siegfried Unbehoven)


* Das Wort „Teufel“ hat den gleichen Ursprung wie der „Zweifel“, der alles in (mindestens) zwei zerfallen läßt.

© (außer abschließendes Gedicht) Stefan Carl em Huisken 2020




Atlantis-Erzählungen jetzt verfügbar

Atlantis-Erzählungen Rantschilwis Weg

Zu meiner großen Freude traf heute das Paket mit meinem neuen Buch ein: „Sagen von Androulan – Rantschilwis Weg. Erzählungen aus atlantischer Zeit“. Das Buch soll das erste einer kleinen Reihe von Erzählungen sein, die Vorgänge und Erlebnisse auf Androulan schildern, einer der Inseln, auf denen sich das Leben des späten Atlantis abspielte.

Näheres zu dem Projekt habe ich bereits =>hier geschildert. Das Buch hat auf dem Umschlag zwei Abbildungen von Originalwerken des Malers Paul Pasch (ein verstorbener Verwandter), die zum Inhalt zu passen schienen. Es ist sorfältig hergestellt, mit Fadenheftung, festen Kartonumschlag und angenehm in der Hand liegendem Format. Die nicht zu kleine Schrifttype kann auch noch bei etwas schlechterem Licht oder von Menschen mit inzwischen etwas erlahmtem Sehvermögen entziffert werden. Insgesamt ein schönes Buch; ich hoffe jetzt auf viele Leser mit Interesse für die Lebens- und Erlebensweise unserer Vorfahren auf Atlantis. Man taucht wirklich in eine ganz andere Welt ein beim Lesen!

Das Buch hat 152 Seiten und kostet 14 €. Die ISBN ist 978-3-89979-314-7. Es kann in jeder Buchhandlung, beim => Verlag, in diversen Online-Buchhandlungen und natürlich in meinem =>Shop bestellt werden.




Bei „jank frison“ gibt es „Fräiske Soang“

Beim Duo jank frison, einem Hauptprojekt von mir im Bereich Musik, gibt es Neues: Die seit langen angekündigte CD „Fräiske Soang“ liegt vor und ist über alle gängigen Vertriebswege erhältlich (digital, physisch, auch über den => Shop ). Sie enthält ein Booklet mit allen Liedertexten und weiteren Erläuterungen, so dass auch dem Informationsbedürfnis Genüge getan wird..

Damit man aber auch schon ein wenig in die Stimmung der Musik hineinhorchen kann, haben wir unter Verwendung von zwei Titeln der CD ein kleines Video zusammengestellt. Es ist aufgenommen am => Upstalsboom in Aurich. Die Atmosphäre dort ist einfach einmalig gut für solche Musik, für „Fräiske Soang“. Ein Besuch dort ist anzuraten.

Die Aufnahmen entstanden im Zusammenhang mit dem diesjährigen Friesentreffen „auf Abstand“ – dem Treffen der Freien Friesen am Upstalsboom, wie es seit mehr als einem Jahrzehnt vom Friesischen Forum e.V. wieder neu belebt wurde. Wer mehr darüber wissen möchte, findet das ganze Video zum Friesentreffen =>hier. Dort sind auch noch zwei weitere Titel unserer CD zu hören. Kaufen kann man die CD =>hier.

Hier nun das Video:




Was Not tut – Wohin führt die „Krise“?

Schärfer noch als bei allen vorangegangenen spaltet die derzeitige „Krise“ die Menschheit in Fraktionen auf, die sich immer erbitterter bekämpfen. Jede Seite will siegen – das Antisoziale überwiegt. Wie aber Wege zur Verständigung, zu einem gemeinsamen, freien sozialen Wollen finden? Ein Denkansatz.

Gespaltene Menschheit

Die Menschheit ist heutzutage gespalten: in Parteien, Fraktionen, Meinungen – bis hin zu den einzelnen Individuen. Jede „Krise“, jedes gemeinsame Problem bringt dies neu und immer stärker ins Bewußtsein. Das kann nicht anders sein, denn jeder Mensch will frei sein, frei denken und meinen. Es ist das ein gewisser antisozialer Zug in der heutigen Menschheit. Aber wie dann – so zerspalten – zusammenleben auf dieser einen Erde, die doch endlich ist, wo jeder mit jedem und alles mit allem zusammenhängt, wo alles, was der eine tut, den anderen auch betrifft?

Jede Meinung hat ihre Gründe, gute, weniger gute, schreckliche, wunderbare – ganz gleich, sie hat Gründe. Wer kann sich da aufschwingen und behaupten, er wisse alles besser als alle anderen, die eigenen Gründe seien die besten? Natürlich, es gibt Menschen, die das wollen. Aber was sie da wollen, trifft die Wahrheit nicht. Die anderen Meinungen bleiben ja vorhanden. Und das ist auch gut so. Denn Leben ergibt sich nur aus Verschiedenheit. Verschiedenheit erwirkt Widerstände, und aus Widerständen folgt Entwicklung, also Leben. Wären alle gleich, so gäbe es keine Entwicklung. Die Spaltung hat also auch einen Sinn

Kann man vielleicht tiefer fragen, um einer Antwort näher zu kommen?

Wissenschaft und/oder Wahrheit

Angenommen, es handele sich heute wirklich um eine extrem gefährliche Krankheit, die Millionen Menschen droht auszulöschen. Warum kommt sie dann gerade jetzt über die Menschheit? Wer bringt gerade jetzt zum Beispiel Regierende auf den Gedanken, sie müssten die Menschheit mit Angst überziehen, alternativlos? Warum dies gerade jetzt, und in dieser Form? Schließlich gab es auch vorher schon Krankheiten, Epidemien, Pandemien. Es wäre doch auch möglich, dass eine Mehrheit der Regierenden in einer solchen Situation andere Konzepte ersinnt? Oder, wenn man meint, die Sache wäre zentral geplant und gesteuert: warum wollen dann die mehr oder weniger unerkannten „Weltenlenker“ diese Sache gerade jetzt, in dieser Form? Wer gibt diesen Menschen gerade jetzt die Motive ein, die sie zu ihrem derzeitigen Handeln veranlassen? Welche Motive das sind, können wir ja nicht wissen, nur vermuten.

Das bringt uns auf des Pudels Kern, finde ich. Wir wissen einfach zu wenig von der Welt und dem Menschen. Wir haben nur Theorien, das heißt, wir unterstellen der Wirklichkeit, dass sie so wäre, wie wir uns das denken. Genauso unterstellen wir auch anderen Menschen, dass sie so seien, wie wir uns das denken. Was sollen wir auch tun, wenn wir doch nichts anderes zu Hand haben, um die Wahrheit zu finden?

Hier ist wohl eine Klarstellung nötig. Natürlich behaupten Wissenschaftler der verschiedensten Richtungen, dass sie die Wahrheit wüssten. Wenn es ihnen aber nicht möglich ist, mir das erlebbar zu machen, bin ich immer auf blinden Glauben angewiesen. Und der kann täuschen. Vielleicht täuschen diese Wissenschaftler sogar sich selber, glauben ihren eigenen Theorien, einfach, weil sie die Unsicherheit nicht ertragen, nicht zu wissen, nur Hypothesen und Wahrscheinlichkeiten zu haben und damit niemals die Wahrheit.

Die Spitzenkönner der heutigen Wissenschaft allerdings haben dies immer zugegeben: wir wissen nicht, wir können nur vermuten, und letztlich das für uns Plausibelste dann eben glauben. Man lese als ein hervorragendes Beispiel einmal Stephen Hawkings „Eine kurze Geschichte der Zeit“ (1). Die Wahrheit weiß eben keiner dieser Wissenschaftler, und – natürlich – wir kleine Dilettanten dann auch nicht. Was gibt uns also das Recht, unseren Glauben über den der anderen zu stellen? Und wenn wir das nicht finden können, ein solches Recht, wie soll dann jemals sinnvolles Zusammenleben der Menschen möglich werden, bei den Gegensätzen, die sich immer tiefer und immer öfter auftun?

Fazit: was heutzutage als „Wissenschaft“ auftritt, hilft nicht weiter. Es hat genauso wenig Boden, wie ansonsten dieser oder jener Glaube. Das ist vielleicht auch der Grund dafür, dass immer öfter „Wissenschaftler“ nach der Maxime handeln: wes Brot ich eß, des Lied ich sing.

Der „richtige“ Weg

Aufgrund der Vorlieben der Menschen bilden sich diese oder jene Gruppen um diese oder jene Meinung, und so entsteht der Krieg des Menschen gegen den Menschen, je mehr in der Gruppe, in der „Filterblase“, desto schlimmer. Es wird wohl kaum möglich sein, hier den „richtigen“ Weg aus der Kalamität zu finden. Denn jeder mögliche Weg widerlegt über kurz oder lang sich selbst, indem er die „Anderen“, die „Gegner“ ausschließt und sich selbst zur alleingültigen Richtschnur erklärt. Also – um es klar zu sagen – indem er alle anderen versucht zu beherrschen. Aber weil es ja die „Anderen“ gibt, die er beherrschen muss, ist er eben nicht „alleingültig“.

Auf dieser Erde leben wir alle gemeinsam, und daher hat das, was der eine tut gegenüber dem anderen, über kurz oder lang auch seine Rückwirkungen auf den Täter selbst. Jede Ideologie, die sich selbst zur Herrschenden machen will, geht über Leichen und Blutvergießen: Hitler, Stalin, Mao, Mussolini, Elitegruppen aus Industrie und „Wissenschaft“, die sogenannten „Neoliberalen“ und wer sonst noch alles. Alle kennen sie nur diesen Weg: Macht auszuüben und den „Gegner“ zu vernichten oder mindestens so zu unterdrücken, dass er nicht mehr stört. Ein kurzer Blick auf die Geschichte kann uns lehren, dass das zu nichts führt. Irgendwann ist dann die andere Seite dran. Dann geht das Blutvergießen weiter.

Gibt es vielleicht einen ganz prinzipiellen Grund, warum das besonders in unserer Zeit so unentrinnbar scheint?

Wir denken vom Einzelnen aus

Der Grund liegt in unserer Art zu denken, über Welt und Mensch, über uns selber und den Anderen. Die Frage, die uns die „Krise“ derzeit vorlegt, weist uns darauf hin. Da gibt es – mit ausgetüftelten Methoden gefunden – ein winziges, im alltäglichen Leben unsichtbares Etwas, über dessen Existenz und Eigenschaften nur Spezialisten etwas wissen. Esoterik pur also – im ursprünglichen Sinne des Wortes: „Esoterik (von altgriechisch ἐσωτερικός esōterikós ‚innerlich‘, dem inneren Bereich zugehörig‘) ist in der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs eine philosophische Lehre, die nur für einen begrenzten „inneren“ Personenkreis zugänglich ist, im Gegensatz zu Exoterik als allgemein zugänglichem Wissen.“ (2). Virologie ist ja offenbar in diesem Sinne „esoterisch“. Und wenn sich schon die Virologen nicht über dieses winzige Etwas einig sind – sind die einzelnen virologischen „Schulen“ einander „esoterisch“ geworden? – wer von uns „Dilettanten“ soll dann beurteilen, wer nun das „Richtige“ sagt?

Unsere Zeit verlangt völlige Öffentlichkeit aller Dinge von allgemeiner Bedeutung. Andernfalls wäre alles Reden von Freiheit und Gleichheit eine Farce. Auch die Ansicht, dass die Welt eben so kompliziert sei, dass nur „Eingeweihte“ darüber etwas Relevantes sagen können, ist nur Meinung. Die Parteien und ihr Streit bleiben.

Könnte das Problem darin liegen, dass wir immer nur vom Einzelnen ausgehen, immer meinen, aus dem Einzelnen habe sich erst das Ganze geformt – durch Zufall, göttlichen oder teuflischen Plan, Dummheit der Menschen, Kampf ums Dasein, oder, oder, oder ….? Die derzeitige Auseinandersetzung ist ein Beispiel. Nur, wer über dieses kleine Etwas, das unsichtbare „Gespenst“ genau Bescheid weiß, weiß das „Richtige“. Denn das ist der Maßstab, sagt man, das Einzelne, das Virus. Ist es ein äußerst gefährliches Gespenst, dann kann es auch nötig sein, drakonische Maßnahmen zu ergreifen. Die ergriffenen Maßnahmen sind symptomatisch: sie vereinzeln die Menschen, etwas anderes fällt offenbar niemandem ein.

Auch der Streit, auf welchem Wege man diesem Gespenst und dem „Richtigen“ beikommt: durch Virologie, Statistik, mit dem Mikroskop, durch Gentechnik, oder wie sonst hilft nicht weiter. Jeder ist dabei, Einzelheiten zu sammeln und dann zu streiten – jeder nach Maßgabe seines Gesichtspunktes. Vom Einzelnen auszugehen, hilft also nicht.

Was aber hilft dann? Was ist das „Ganze“? Wo ist es zu finden?

Wo ist das „Ganze“?

Wir sind nicht der „Weltenschöpfer“ – sei er nun Gott, ein Urknall oder noch etwas ganz anderes – in dem das Ganze veranlagt gewesen sein mag. Wir sind heutige Menschen, die sich um wahrheitsgemäßes Erkennen bemühen können. Da ist es unausweichlich, den Geist des Menschen, sein individuelles Seins-Zentrum, aus dem alles Denken über die Wirklichkeit, alle Wissenschaft, aller Glauben letztlich hervorgeht, zum Ausgangspunkt zu nehmen. In ihm spielt sich alles Erklären der Wirklichkeit ab, sei es materialistisch, spiritualistisch, religiös, einfach dumpf oder was sonst noch alles. Und wenn wir von diesem realen, erlebten und erlebenden Menschen ausgehen, der sich in unzähligen Varianten in der Welt austobt, haben wir vielleicht eine Chance, etwas Gemeinsames zu entdecken.

Dann müssten wir eine Wissenschaft entwickeln von dem Denken, mit dem der Mensch die Wirklichkeit zu erklären trachtet, eine Wissenschaft, die jeder, der nur denken will, in sich selber nachvollziehen könnte, und die uns so auch zu einer Wissenschaft vom Menschen, dem Anderen führen könnte. Zu einer Wissenschaft dann also, die mir mein eigenes Denken ebenso wie das des Anderen verständlich macht. Sie wäre nicht „esoterisch“.

Wissenschaft vom Denken

Wohlgemerkt: ich rede von einer Wissenschaft vom Denken, nicht vom Gedachten! Denn das Gedachte bleibt individuell, da es alles dasjenige einbeziehen muss, was das einzelne Individuum von seinem Gesichtspunkt aus in der Welt erlebt. Das Denken selbst aber, der Weg, auf dem alles Wissen entsteht, ist universell, im Grundsatz allen Menschen gleich zu Eigen, und in Bezug auf diesen Weg ist alles, was mir durch einen Anderen zukommt, für mich nachvollziehbar.

Wir können als individuelle Menschen nichts wirklich Gleiches in der Welt finden, das uns mit allen anderen verbindet. Keiner kann durch die Augen des Anderen blicken, mit seinen Ohren hören, mit seinen Sinnen riechen, schmecken, tasten und so weiter. Meine Sinneswelt bleibt insofern nowendig „esoterisch“ im engsten Sinne, nämlich auf mich selbst beschränkt. Das ist und bleibt so. Das Denken als Weg kann aber immer für jeden anderen, der nur will, nachvollziehbar gemacht werden. Das erfordert „nur“ ernsthaftes Wollen, Mitteilung, Zuhören, Nach-Denken, also: selbstgewolltes soziales Tun. Es ist daher das eigentlich Universelle im Menschen, durch das die Menschen auch zu einander finden können.

Es ist eine Frage der Redlichkeit, auch die Quellen zu nennen, an denen sich das eigene Denken bildet. Die Tatsache, dass in unserer neuzeitlichen Geistesverfassung das Denken das universelle Element ist, hat als erster vollständig und philosophisch genau Rudolf Steiner beschrieben. Er wird meiner Ansicht nach oft vollständig verkannt, auch und gerade von vielen Menschen, die sich als seine „offiziellen“ Statthalter auf Erden betrachten. Was er in seinen grundlegenden Werken: „Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“, „Wahrheit und Wissenschaft“ und vor allem „Philosophie der Freiheit“ dargelegt hat, ist bis heute nicht genügend verstanden und gewürdigt worden. Die Diskussion über die Gründe dafür würde hier den Rahmen sprengen, und ist letztlich auch müßig.

Gesagt kann aber werden, dass alle Kritik an seinen späteren Taten ohne eine verstehende Grundlegung im Nach-Denken der genannten Werke – im Sinne des oben genannten selbstgewollten sozialen (Nach-)Tuns bodenlos bleiben muss. Solche Kritik verdeckt nur die geistigen Leistungen, die Rudolf Steiner darin vollbracht hat. Was in seinem Leben später kam, kann von einem gewissen Gesichtspunkt aus eher als eine pädagogische Tätigkeit angesehen werden, in der er versucht hat, seine Einsichten denjenigen Menschen nahezubringen, die davon hören wollten, aber nicht die Möglichkeit und den Willen hatten, mit diesen Einsichten sich selber denkend zu befassen. Er hat eben für die Menschen gesprochen, die da waren. Andere gab es offenbar nicht.

Finden sich – durch die „Krise“ aufgeweckt – heute genügend selber Denkende? Dann könnte eine Wissenschaft vom Denken den Weg weisen in eine selbst-gewollte, soziale Zukunft.

Weitere Artikel zum Thema gibt es => hier

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(1) Hawking, Stephen W.: Eine kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des Universums. – Reinbek: Rowohlt Verlag GmbH, 1988. Kapitel „Unsere Vorstellung vom Universum“
(2) Wikipedia, Artikel „Esoterik“, 18.05.2020, https://de.wikipedia.org/wiki/Esoterik