Zur Begriffsbildung in der Geisteswissenschaft

Für alle Darstellungen aus der Geisteswissenschaft ist zu bedenken, dass die Art der Begriffsbildung eine andere ist als gewohnt. Während wir im Alltag, vor allem bezogen auf äußere Gegenstände vor allem feststehende, definierende Begriffe, manchmal sogar nur Namen im Sinne „angehefteter Etiketten“ verwenden – so, wie es eben der damit erfassten Werkwelt im Raum entspricht, wo alle Gegenstände nebeneinander, getrennt voneinander erfasst werden müssen – gelten im Geiste ganz andere Gesetze.

Allein schon, wenn wir bestimmte Verhältnisse durch Anwendung von Naturgesetzen beschreiben wollen, tritt dieses „Andere“ ansatzweise auf: es gelten fast in allen Fällen mehrere, unterschiedliche Naturgesetze gleichzeitig, im Zusammenwirken und einander beeinflussend. Im Geistigen durchdringt sich also alles, hat keine definierbaren Grenzen gegenüber allem anderen und wirkt ineinander, gleichzeitig, am gleichen Ort. Wenn ein Einfluss sich ändert, ändern sich alle anderen auch entsprechend. Das Eine kann in das Andere übergehen und umgekehrt.

Um dieses Ineinanderwirken zu beschreiben und zu verstehen, benötigt man daher bewegliche Begriffe, die sich dem Objekt anpassen und wandeln können. Ich nenne diese Art der Begriffsbildung hier einmal „metamorphosierend“, im Sinne der Metamorphose1 als Entwicklungsübergang des Einen in das Andere. Nur solche Begriffe können auch Verhältnisse begreifen, die erst noch entstehen sollen, noch unbekannt sind, also zukünftig. Sie beschreiben dann gleichsam ein Ziel als Entwicklungsprozess, und bilden sich fort, indem die Zeit vorschreitet und die Ausgangspunkte des Begreifens verändert.

Ein solcher Vorgang des Begreifens ist weniger eine Frage der Aufnahme und Verarbeitung von Inhalten als vielmehr ein persönlicher Entwicklungsvorgang des Begreifenden: er muss seine Tätigkeit den Vorgängen anpassen, die im Bereich der begriffenen Inhalte vonstatten gehen; es handelt sich also vorrangig um ein Erüben von Fähigkeiten. Insofern ist auch das Lesen von Texten oder das Anhören von Vorträgen aus der Geisteswissenschaft etwas Anderes als Üblich: im Mitgehen mit dem Gedankengang erübt der Leser oder Zuhörer gleichsam im Ansatz den Weg zur Erkenntnis der Inhalte2.

Damit ist das Nachverfolgen geisteswissenschaftlicher Darstellungen bereits ein erster Schritt des Einübens einer neuen Erkenntnismethodik, deren Erlernen (als geisteswissenschaftlicher „Erkenntnisweg“) weitreichende Anforderungen an den Menschen stellt, damit aber ebenso weitreichende Wirkungen zeitigen kann. Es liegt auf der Hand, dass in einer kurzen hinweisenden Bemerkung wie dieser nur ein erster Hinweis gegeben ist. In allen wirklich geisteswissenschaftlichen Darstellungen werden notwendigerweise immer neue Aspekte dieses Geschehens zur Sprache kommen. Dieser Lernvorgang kann insofern niemals als wirklich abgeschlossen angesehen werden; dies weniger als Drohung, mehr als eine Art Verheißung erleben zu können, gehört auch zu den Dingen, die der Mensch im Umgang damit sich aneignen kann.

Man sollte das bei allen Darstellungen dieser Art berücksichtigen.

© Stefan Carl em Huisken 2023

1vgl. zum Beispiel den Wikipedia-Artikel zur Metamorphose in der Mythologie: https://de.wikipedia.org/wiki/Metamorphose_(Mythologie)

2Dass gerade und nur diese beiden Situationen – die persönliche Begegnung in einem Vortrag oder das Lesen eines Textes – die Freiheit wahren können, habe ich an anderer Stelle bereits ausgeführt: vgl. Stefan Carl em Huisken: Menschenbegegnung, geschriebenes Wort, Ton- und Bildaufzeichnungen. – In: DIE LAHNUNG – Mitteilungen für individuelle Entwicklung und Lebenskunde, Nr. 10, S. 26ff oder im Internet Kurzlink https://ogy.de/xdu1.


Cover Wahnsinn und Denken Hellsichtigkeit

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Gun-Lah – Leseprobe

Gun-Lah Leseprobe Cover Sagen von Androulan Tabander

Nur Gueycimús Wohnung lag direkt auf dem Bajacu; die klei­ne Siedlung der Tabander lag am östlichen Fuße des Hügels, um den „Platz des Klanges“ herum. Die inzwischen wachsende Sied­lung der Kaunda lag auf der anderen Seite des Hügels, mehr zum Inneren des Landes gelegen, mit einem eigenen Festplatz in der Mitte, den die Kaunda „Guara“ nannten. Auch der Drontang hatte seine Wohnung dort genommen, ganz in der Nähe des Festplatzes.

Wenn die Throandai und manchmal der Bonigu selbst die Feste der Tabander und der Kaunda durch ihre Anwesenheit zu besonders heiligen Ereignissen machten, hatte Gueycimú daher immer die Ehre, ihnen besonders nahe sein zu dürfen, als einzi­ger gewöhnlicher Mensch in unmittelbarer Nähe des hohen Be­suches.

Einmal kam es so zu einem besonderen Fest der Aufstiegs­gleiche, einem Fest, das die Kaunda ganz unter sich zu feiern pflegten, auf ihrer „Guara“, auch die inzwischen am Bajacu wohnhaften. Immer feierten dann die Tabander ihr eigenes Fest in ihrer Siedlung, auf dem „Platz des Klanges“. Und immer wa­ren auch dort Throandai zugegen. Die Siedlung der Tabander wurde allerdings nach und nach immer kleiner; fast wohnten dort nur noch die Gehilfen und Lehrlinge der Meisterin Guey­cimú. Nichts wünschte Gueycimú stärker, als immer wieder die Throandai bei diesen Festen zu erleben, ihnen nahe zu sein – und dem Bonigu, der dieses Mal dem Fest durch seine Anwesen­heit besondere Weihe gab,

Das Hohelied der Tabander und auch die letzten Sprechge­sänge der Throandai waren verklungen, mit dem letzten Licht Risuhns begaben sich alle zu ihren Wohnungen, und auch Guey­cimú sank ins Einssein, als das letzte Licht verglomm. Was im Einssein erlebt werden konnte, das wussten nur die Throandai, vielleicht die Drontangi, manchmal ein klein wenig der Klang­meister der Tabander. Einen Sonderfall gab es allerdings: wenn ein neuer Mensch durch eine Frau ins Leben getragen werden sollte, dann tat er sich dieser Frau im Einssein kund. Und wenn sie dann am anderen Morgen, noch aus dem Einssein gelenkt, den Namen des Neuankömmlings aussprach, dann wusste sie auch im hellen Bewußtsein davon.

So war es in dieser Nacht bei Gueycimú: am Morgen von Ri­suhn in die Helle gerufen, sprach sie den Namen des Neuan­kömmlings aus: Karayácu, „Auge des Mondes“. Das war ein sehr ungewöhnlicher Name, denn der Mond, den die Menschen auf Androulan „Karayá“ nannten, bedeutete ihnen im Alltag wenig. Wenn Risuhns Licht verschwand, sanken die Menschen ins Einss­ein, Karayás Licht konnte sie nicht in der Helle halten, und so kannten sie ihn nur als im Dunst schwach sichtbaren Beglei­ter in Risuhns Helle.

Dennoch: Gueycimú wusste sicher, dass alles seine Ordnung so hatte. Die Diener des Urgrunds hatten dem Feste und dem Einssein beigewohnt, so würde auch der Name von ihr zu Recht gehört sein. Karayácu würde beim Tiefstand Risuhns in der Hel­le erscheinen. Das war ein Zeitpunkt, der nicht ungewöhnlich war; bei den Kaunda, so erzählte man sich, würden alle neuen Menschen zu dieser Zeit geboren. Bei allen anderen Völkern al­lerdings verteilten sich die Geburten gewöhnlich über das Jahr.


Die ganze Geschichte und zwei weitere finden Sie in Stefan Carl em Huiskens Leseheft „Gun-Lah“, das Sie => hier bestellen können. Weitere Informationen dazu finden Sie => hier.




Was ist die Welt?

Was für eine überflüssige Frage, mag mancher denken, das ist doch ganz klar! Dass diese Frage vielleicht nicht gar so überflüssig ist, sondern vielleicht zu interessanten und wichtigen Einsichten führen kann, soll mit diesem kleinen Aufsatz versuchsweise dargelegt werden.

Zunächst: was jedem Einzelnen von uns als Welt sinnlich wahrnehmbar gegenübersteht, hat den Charakter des Gewordenen, bis zum derzeitigen Zustand Fertiggestellten, und als solches zunächst also Unveränderlichen – das in der Vergangenheit liegende Werden kann nicht mehr so beeinflusst werden, dass die vorliegende Erscheinung der Welt eine andere wird. Soll etwas anders werden, muss der vorliegenden Welt ein neuer Werdeprozess hinzugefügt werden, der dann einen veränderten Zustand der Welt zur Folge hat. Es muss also zunächst der Summe der bisherigen Werdevorgänge eine neuer Vorgang hinzugefügt werden.

Dies kann uns aufmerken lassen: der aktuelle Zustand der wahrnehmbaren Welt ist ein fester, gegebener. Jede Veränderung kann nicht aus diesem Zustand selbst erfolgen, denn dieser ist eben Zustand. Und Zustande sind Ergebnisse von Vorgängen, welche aus sich selber heraus niemals Zustände sein können, sondern diese eben hervorbringen. Prozesse als solche können also keine wahrnehmbaren Gegenstände der Sinneswelt sein, also geworden, sondern sie sind geradezu das Werden selbst.

Der sinnlich wahrgenommene Welt-Zustand kann also niemals aus sich selbst heraus Veränderung erfahren, sondern nur aus dem Reich der Zeitgestalten heraus, das heißt, der sich im zeitlichen Ablauf formenden Intentionen. Um Missverständnissen vorzubeugen: mit dem Wort „Intention“ wird hier nicht bloß auf bewußte Zielorientierungen hingedeutet, sondern einfach auf die Tatsache, dass jedem zeitlichen Ablauf das Erreichen irgendeines Zieles eignet, sei es vorher oder nachher oder gar nicht erkannt. Sobald der Ablauf beginnt, wirkt also wie aus der Zukunft heraus eine „Intention“.

Jede Veränderung des Weltzustandes hat damit ihren Ausgangspunkt außerhalb der Summe der im Weltzustand zusammengefassten Einzel-Gegenstände und Verhältnisse. Das Reich des Werdens ist ein anderes als dasjenige des Seins. Schon in den Wortklängen drückt sich das aus: durch das Walten der Intentionen entsteht die Welt in ihrer jeweiligen Verfassung.

Es ist wichtig zu bemerken, dass nur die gewordene, also „seiende“ Welt mit Sinnen wahrgenommen werden kann. Das Werden nehmen wir nicht direkt wahr, wir konstatieren es nur anhand der Unterschiede der aufeinanderfolgenden Welt-Zustände, im Rahmen unseres Mit-Erlebens. Das Werden ist also nicht Bestandteil der Sinneswelt, sondern formt diese, ist ihr in gewissem Sinne „übergeordnet“. Die Gesamtheit solcher Werdevorgänge bezeichnen wir in der Regel als das „Leben der Welt“; sofern diese Vorgänge uns als Person betreffen, als unser eigenes Leben1. Kurz und gut: der Welt eignet ein Leben, das aber, da es als Auslöser immer neuer Welt-Zustände fungiert, der aktuell seienden Sinneswelt offenbar übergeordnet ist. Dieses Leben ist selber ein Nicht-sinnliches, das man aufgrund der genannten Überordnung auch ein Übersinnliches, also Geistiges nennen könnte.

Noch „geistiger“ in diesem Sinne ist die den Lebensprozeß bestimmende Intention. Sie schließt den gesamten Prozeßverlauf einschließlich seines Anfangs- und Zielzustandes ein, ist also sozusagen ein „das Leben Bewirkendes“ und damit noch „übersinnlicher“ als das Leben selbst. Die Intention ist damit Offenbarung eines Wollens2, eines Willens also, der sich bereits ein Ziel gesucht hat.

Jede Zustandveränderung in der Sinneswelt ist damit ein im Übersinnlichen wurzelndes Offenbaren eines Wollens durch eine Intention, die das Walten des Lebens so bestimmt, dass eine gerichtete Zustandsveränderung in der sinnlich wahrnehmbaren Welt stattfindet. Wollen, Intention und Leben sind übersinnliche Entitäten, die für den Einzelnen daher nicht unmittelbar gegeben, sondern nur durch eigene Anstrengung denkend erfassbar sind3.

In einem umfassenderen Sinne kann man nun auch die ganze Summe der sinnlichen Welt-Erscheinungen zusammen mit den darin waltenden Lebensprozessen und Intentionen als „Welt“ bezeichnen, insofern sie uns in der inneren Anschauung gegenübertritt, also gleichsam „wahrgenommen“ wird. Denn auch der Intentionen- und Lebensprozess-Vorrat, der zu dem jeweils gegebenen Zustand der Erscheinungswelt gehört, ist in gewissem Sinne ein „Gewordenes“, wenngleich durch seinen übersinnlichen Charakter nicht unveränderlich, sondern in ständiger Entwicklung begriffen; bezogen auf einen bestimmten Weltzustand ist er aber ein Gewordenes. Es gibt also ganz offenbar ein noch höheres Reich außer den Sinneserscheinungen, den übergeordneten Lebensprozessen und den darin waltenden Intentionen als Ausdruck gerichteten Wollens, ein Reich, von dem aus die Gesamtheit von Zuständen, Prozessen und Intentionen beobachtet werden kann.

Bis zu diesem Punkt gekommen, scheint es auch berechtigt, in gewisser Weise von unterschiedlichen „Welten“ zu sprechen: der äußeren Welt der sinnlich-physischen Körper, der Welt der Lebensprozesse, die vielfach auch die „ätherische Welt“ genannt wird, und die Welt, aus der als Offenbarungen eines Wollens die Intentionen stammen, die in den Lebensprozessen wirken. All diesen Welten gehört der Mensch an mit dem Teil seiner Gesamtwesenheit, der ihm das Leben in der Welt vermittelt. Dadurch, dass er sich aber diesen drei Welten gegenüberstellen und dadurch einen Gesichtspunkt einnehmen kann, der über sie hinausgeht, erweist er sich gleichzeitig als Angehöriger desjenigen Reiches, das diese drei Welten umfasst und sich dadurch ihnen übergeordnet zeigt.

Sind schon die Regionen der Lebensprozesse und Intentionen als übersinnliche gewissermaßen ein „Geistiges“, so kann man diejenige Welt, aus der erst Wollen und Intentionen hervorgehen, und der der Mensch angehört, als die „eigentliche geistige Welt“ bezeichnen. In ihr wurzelt der Mensch mit seinem Ich, das sich durch sein leiblich-seelisches Leben in der Welt ausprägt. So kann er auch seine Intentionen dem Weltenwerden einverleiben.

Nun ist es aber eine Tatsache, dass die jeweilige bewusstwerdende Kombination von Intentionen, Lebensprozessen und Weltgegenständen, die für einen Menschen seine Welt bedeutet, vollkommen individuell, für jeden Menschen einzigartig ist. Was in ihm von der Gesamtheit dieser Welten bewusst, und was unbewusst auftritt, ist für jeden Menschen individuell verschieden. Dennoch kann gesagt werden, dass alle Menschen in dieser Hinsicht in derselben Welt leben. Denn auch das, was einem Menschen unbewusst bleibt – in den meisten Fällen also wohl der überwältigend große Teil der Bestandteile dieser drei Welten – gehört zu ihm, ganz individuell.

Ebenso, wie man unzweifelhaft wissen kann, dass der Bewusstseinsinhalt eines jeden Menschen ein einzigartiger, individueller ist, muss gesagt werden, dass der Inhalt eines jeden menschlichen Unbewussten völlig individuell ist; ebenso wie jeder Mensch nur einen individuellen Teil der ihm gegenüberstehenden Welten mit seinem Bewusstsein umschließt, ist der aus seinem Bewusstsein ausgeschlossene Teil des gesamten Weltenseins ein völlig individueller. Damit steht immer das Weltganze jedem einzelnen Menschen als Teil seinen ureigensten Wesens gegenüber; lediglich die Verteilung von Bewusstem und Unbewusstem ist bei jedem Menschen verschieden.

Man kann also insofern sagen, dass es eine wie auch immer geartete Welt ohne den Menschen gar nicht geben kann, denn ohne ein ihr gegenüberstehendes Ich, das ihre Existenz in allen Facetten umgreift, kann ihr Vorhandensein oder Nichtvorhandensein gar nicht festgestellt, allenfalls vermutet oder geglaubt werden. Damit ist ja nicht gesagt, dass die Welt (oder die Welten) nur von des Menschen Gnaden und von ihm bewusst oder unbewusst erzeugt würden; nur, dass es eine Welt ohne den Menschen nicht geben kann, ebenso wie ohne Welt kein Mensch existieren könnte. Beide gehören untrennbar zusammen.

Diese Zusammengehörigkeit von Welt und Mensch ist eine polare: was ihm als Welt gegenübersteht, bekommt seine Impulse aus der Region, der der Mensch entstammt, dem Reich des Geistes also. In diesem Reich des Geistes selbst kann es zunächst keine Intentionen, Lebensprozesse und Sinnesobjekte in Form von Wahrnehmungen von etwas Gewordenem geben; sie gehen ja gerade aus diesem Reich hervor und stellen sich ihm im Menschen gegenüber. Dieses „Gegenüberstehen im Sein“ ist also die Sache der Welt. Was oben als eine Art übersinnlicher Welten bezeichnet wurde, umfasst insofern immer nur diejenigen Prozesse und Intentionen, die sich bereits in der Schaffung eines bestimmten Zustandes ausgewirkt haben; die aktuell wirksamen Prozesse und Intentionen wirken ja gerade auf diesen gegenwärtigen Welt-Zustand ein, stehen ihm insofern gegenüber, so lange, bis sie sich ihm sozusagen „einverleibt“ haben.

So umschließt das Reich des Geistes alles Weltensein, denn ohne dieses Geistesreich des Ur-Wesenhaften wäre die Welt nicht; ohne die Welt aber hätte der Geist kein Feld, auf dem er sich seiner selbst bewusst werden könnte. Keine Weltgesamtheit ohne den – sagen wir es nur frei heraus: göttlichen – Geist, aber auch kein Geistbewusstsein ohne Welt. Jeder individuelle Mensch kann insofern als eine einzigartige Variante dieses Verhältnisses von Gott und Welt angesehen werden.

Man könnte auch sagen: Gott ist der Geist der Welt, in ihm hat alles Weltensein sein Urwesen, auch dasjenige des Menschen. Bezüglich des heutigen Menschen4 muss man sagen, dass er ganz grundsätzlich ein Werdender ist auf dem Wege immer umfassenderer Erkenntnis der Welt, aus der er lernen muss, das göttliche Urwesen immer mehr mit sich selber übereinstimmend zu erleben, damit also den unbewussten Teil seiner Welt immer weiter in einen bewussten umzuformen, indem er nach und nach „Denkorgane“ entwickelt, durch die er Übersinnliches in seine Anschauung aufnehmen kann; jedenfalls dann muss er dies lernen, wenn er nicht bei seinem erreichten Erkenntnisstand verbleiben und nur aus diesem heraus sein Leben fristen will.

Gleichzeitig ist aber der Mensch dasjenige Wesen, das im Prinzip, in seiner geistigen Konfiguration dem göttlichen Geiste gleicht, und das dadurch zum Werkzeug des Fortschrittes der Bewusstwerdung der gesamten Welt werden kann. Ohne ein solches Werkzeug-Wesen müsste Gott sozusagen darauf verzichten, sich seiner selbst bewusst zu werden. Hier gilt es: „Und Gott schuf dem Menschen zu seinem Bilde“ – das ist gleichermaßen Vermächtnis und Aufgabe für den Menschen.

Wenn also heutzutage aus Bereichen heraus, die den meisten Menschen unbewusst bleiben, zunehmend zerstörerische Tendenzen sich im gewohnten, gewordenen Leben der Welt geltend machen, ist es vielleicht überlegenswert, dort zu suchen, wo diese Tendenzen entspringen, und sich zu fragen, welche Intentionen aus der göttlich-geistigen Welt wohl darin walten, dass dem Menschen sein gewohntes Leben in der Welt zunehmend sauer wird, und dies gerade und vorwiegend durch diejenigen Dinge und Prozesse, die er selber in die Welt gesetzt hat unter der Verheißung einer Art ewigen, bequemen Schlaraffenland-Lebens.

Wer nicht selber mitwirkt an der Bewusstwerdung Gottes durch den Menschen in der Welt, indem er sich zurücklehnt, sich mit dem schon Erreichten zufriedengibt und ansonsten „Gott lenken“ lässt, seine eigene Welt also nicht durch eigene Erkenntnisarbeit immer mehr mit Bewusstsein durchdringen will, muss damit rechnen, dass die ursprünglichen göttlichen Intentionen in seiner individuellen menschlichen Welt so wirken, dass sie ihm die Folgen seines Tuns nachhaltig zu Bewusstsein bringen, dann allerdings ohne die Beteiligung des Menschen, weil der ja eben nicht mitwirkt.

Ohne Gott („Geisterreich“) keine Welt, ohne Welt aber auch kein Mensch. Und ohne die Mitwirkung des Menschen dann irgendwann keine Welt, und damit auch kein Mensch. Die Menschen-Welt trägt in sich die göttliche Intention der Bewusstwerdung, der sich der einzelne Mensch wohl widersetzen kann – aber mit welchen Folgen?

Die Welt scheint also für jeden Einzelnen vielleicht mehr zu bedeuten, als er sich derzeit eingesteht. Darauf wollte dieser kleine Aufsatz hinweisen.

© Stefan Carl em Huisken 2023

1Inwieweit diese Aussage evtl. im Hinblick auf technische Gegenstände modifiziert werden muss, ist andernorts zu erörtern.

2wiederum: nicht unbedingt eines irgendwie bewussten Wollens.

3Es kann sich durch ausreichende Übung des eigenen Denkens durchaus eine Art „Wahrnehmung“ solchen übersinnlichen Entitäten ergeben; sie fallen im Augenblick der Wahrnehmung in den Bereich des Gewordenen hinein. Auch ein Werdeprozeß kann in diesem Sinne „geworden“ sein, indem er immer wieder unverändert abläuft, gleichsam automatisch, maschinell.

4Für andere Zeitepochen ist durchaus ein anderes Verhältnis von Mensch und Welt denkbar.


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Geistwesen Mensch

Ein etwas ungehöriger Aufruf

Es ist sinnlos, es leugnen zu wollen: der Mensch ist ein Wesen, dessen Urkern Geist ist, nur Geist und nichts anderes. Macht er sich Gedanken über seine Substantialität, so sind diese Gedanken eben – Geist. Oder woraus bestehen Gedanken sonst? Wenn wir glauben, Gedanken seien nur eine Illusion und eigentlich elektrische Ströme im Gehirn, so ist eben dieser Glaube – ja, was denn, nichts als Geist! Denn erst müssen die Gedanken über elektrische Ströme, Gehirn usw. gebildet werden, durch den Menschen, ehe wir daran glauben können. Und sie sind unsichtbar, nicht-sinnlich, un-sinnlich. Im Übrigen genauso wie der (gedachte!) Strom, den auch niemand sehen kann, betasten, sinnlich erkunden; man kann nur messen (oder spüren), was man für seine Wirkung hält aufgrund dieser oder jener Theorie, die eben jemand – gedacht hat. Es hilft also nichts: wenn wir versuchen, des Menschen innerstes Wesen zu ergründen, eben das, was gerade im Ergründen-Wollen tätig wird, finden wir nur Geist.

Sicher, der Mensch hat allerlei andere Dinge, die er sein Eigen nennt – Leib, Welt, Seele, Gefühle, Gedanken, Ideale, Vorlieben, Abneigungen etc. pp. –, und davon sind einige sehr handfest und materiell. Aber lange nicht alle. Oder haben Sie schon mal eine Wut gestreichelt? Na also, auch beim Haben ist lange nicht alles geist-los, manches sogar reiner Geist, wie z.B. die Wut – oder die Gedanken, siehe oben.

Warum aber diese Auseinandersetzung überhaupt? Nun, ganz einfach. Der Mensch will doch wissen, wer er ist, wo er herkommt und wohin er geht. Darüber ist uns allen eingetrichtert worden, dass wir z.B. aus organischer Materie entstanden sind, mehr oder weniger zufällig, und beim Tode würde diese wieder zerfallen, und dann sind wir eben einfach weg. In der Kirche gibt es vor allem über das Letztere noch andere Geschichten, aber bei denen wird dann gleich dazu gesagt, dass man das alles nicht wissen könne und daher eben glauben müsse. Aber woher wissen das dann die, die uns das erzählen? Können die uns nicht viel erzählen, was dann vielleicht – o Schreck – am Ende gar nicht wahr ist? Im Ergebnis wird uns also eingetrichtert, dass wir eine zufällige, also sinnlose Zusammenballung organischer Materie sind, die eben kommt und geht, egal. Und wer das nicht glauben will, glaubt eben den Priestern und lässt sich von denen gängeln, einfach weil das vielleicht besser gefällt. Einen Sinn im eigenen Leben kann man so jedenfalls nicht wirklich finden.

Bemerkt der Mensch aber, dass er ein Geistwesen ist (und – konsequent gedacht – dann alle anderen Menschen ebenso wie Tiere, Pflanzen, Steine, Engel, Teufel, Seelenregungen, Gedanken, Ideen, Irrtümer, Wahrheiten, Lügen und so weiter auch), dann hat er sofort andere Möglichkeiten, sich über das eigene Woher und Wohin aufzuklären. Denn er weiß jetzt eines: alles, was er da finden kann bei seiner Suche, ist ebenso wie er selber Geist. Alle Teufel, alle Götter, alle Schöpfungstaten usw. sind Glieder derselben geistigen Welt, in der der Mensch jeden Tag und jede Nacht lebt, und der er nicht entfliehen kann, weil es grundsätzlich gar keine andere Welt gibt. Alles, was ist, entstammt für uns heutige Menschen in dem Augenblick, wo wir es erkennen, uns selber, unserer Welt, also: der geistigen Welt. Es gibt kein Entrinnen.

Dafür aber grandiose Erkenntnismöglichkeiten. Denn wenn ich die Situation, die ich so feststelle, weiter durchdenke, finde ich nach und nach die Elemente, die dazu geführt haben, dass ich mir jetzt über mich als Geistwesen klar werde. Ich finde also durch mich, selber, ohne Gängelpriester, Wege zur allmählichen Erkenntnis meines realen Ursprunges. Der reale Ursprung meiner Selbst ist nämlich da, wo ich beginne, über mich, den Menschen, nachzudenken, und dieses Nachdenken auch bemerke. Die Erzählungen von Zusammenballungen organischer Materie als von meinem Ursprung sind Geschichten von Gängelpriestern der materialistischen Welttheorien des 19. Jahrhunderts, die man mir bloss eingebläut hat. Vielleicht wusste man es einfach nicht besser. Warum solche Theorien vielleicht daneben auch eine Zeitlang notwendig waren, darüber vielleicht ein anderes Mal.

Für jetzt reicht erst einmal die Feststellung: der Mensch – also ich – ist/bin ein Geistwesen unter vielen anderen Geistwesen. Mein Ursprung ist nur im Geiste fassbar, daher also geistig. Dann wird es meine Zukunft wohl auch sein. Also auf, lasst uns die Zukunft ergründen – im Geiste!

© Stefan Carl em Huisken 2023


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Menschenbegegnung, geschriebenes Wort, Ton- und Bildaufzeichnungen

Was kann auf diesen Wegen zwischen Menschen geschehen? Wo ist welcher Weg sinnvoll? Ein Versuch zur vorläufigen Klärung.

Das Ursprüngliche: Menschen begegnen sich

Vor allen dazwischengeschalteten „Vermittlern“ rangiert die unmittelbare Begegnung von Menschen. Sie ist das Ursprüngliche, um im Spracherleben einander näher zu kommen. Was genau geschieht eigentlich, wenn Menschen sich begegnen und dabei gesprochen wird – ganz gleich, ob Vortrag, Wechselrede/Gespräch oder „Small-Talk“/Durcheinanderreden? Ich versuche, einmal nicht vom Einzelteilnehmer einer solchen Begegnung aus zu denken, sondern das Geschehen als Ganzes in den Blick zu nehmen.

Es kommen Menschen zusammen. In ihren Seelen geschieht etwas dadurch, dass sie an einem gemeinsamen Ort und mit der Möglichkeit gegenseitiger Wahrnehmung zusammenkommen. Für eine Zeitlang ist der äußere Rahmen ihrer Weltwahrnehmung fast gleich, und sie treten füreinander ins Bewusstsein.

Außerdem gibt es einen Grund für ihr Zusammenkommen: etwas gemeinsam zu erarbeiten, einander besser verstehen zu lernen, gemeinsam zu genießen, oder was sonst Anlass sein kann.

a) Gemeinsames Erarbeiten

Was geistig in den Einzelnen lebt, wird durch Konzentration auf den gemeinsamen Gegenstand fokussiert. Was dabei an Gedanken entsteht, muss so ausgesprochen werden, dass die gemeinsame verstehende Verbindung mit dem Gegenstand für jeden Teilnehmer möglichst nachvollziehbar ins Bewusstsein gehoben wird.

Es wird daher vor allem derjenige sprechen, der die besten Möglichkeiten zum sprachlichen Formulieren und Hervorheben desjenigen hat, was aus den Anwesenden heraus dem Thema zuwächst. Das muss nicht notwendigerweise derjenige sein, der am meisten darüber weiß; viel wichtiger ist es, einen für alle gangbaren Weg zu formulieren, der dann zu einer gemeinsamen Denk-Grundlage werden kann, auf der zum gemeinsamen Erleben der Wahrheit des „Themas“ vorgeschritten wird. Der gemeinsam durch das Wort erlebte Weg zur Wahrheit ist also das Entscheidende.

Solches gemeinsames Erleben ist nur in der direkten Begegnung möglich; diese ist durch nichts ersetzbar. Denn der Erkenntnis-Wille der Beteiligten fließt in der Konzentration auf den gemeinsamen Gegenstand zusammen, in gegenseitiger Verstärkung des Wollens. Dies ist nur möglich im direkten Zusammenleben mit der vollständigen physisch-seelisch-geistigen Wesenheit der anderen Beteiligten, auch wenn dieses mindestens zum Teil unbewusst bleibt. Die verfügbare Kraft vermehrt sich dadurch, weit über die einfache Summe hinaus. Auf einem solchen Weg kann daher – konzentrierten Willen aller Beteiligten vorausgesetzt – größtmögliche Vertiefung in einen Gegenstand erreicht werden.

b) Das Gespräch

Hier ist nicht das Zusammenfließen des Erkenntnis-Willens zum Eindringen in einen gemeinsamen Gegenstand das Entscheidende, sondern das Wahrnehmen und Austauschen der unterschiedlichen Gesichtspunkte, die die Beteiligten einnehmen. Steht ein gemeinsamer Inhalt im Mittelpunkt, so wird jeder seine Ansicht davon den anderen nachvollziehbar zu machen suchen. Daraus kann dann möglicherweise – bei offenem Aufeinander-Hören – ein Gesamtbild der besprochenen Sache entstehen, das alle Beteiligten gleichermaßen in sich tragen können.

Daneben kann es aber im Gespräch gerade auch darum gehen, das Verlassen des eigenen Gesichtspunktes zugunsten des „Hineinschlüpfens“ in den des Anderen zu üben, zu realisieren. Darum wird hier jeder das Seine sprechend beizutragen haben, denn niemand anders kann zunächst die An-Sicht so gültig formulieren wie der Sehende selber.

Schließlich kommt für alle Beteiligten hinzu, die „Sprache des Objektes“, der gemeinsamen Sache hören und verstehen zu lernen (wobei wiederum die verschiedenen Erlebnisse davon zusammengetragen werden können), so dass aus dem Gesamtklang der Ansichten dann ein Zusammenklingen mit der Sache selbst entstehen kann.

c) „Small-Talk“ und Ähnliches

Hier ist das Sprechen eher eine Art „Begleit-Musik“ des gemeinsamen Genießens einer bestimmten Stimmung im Zusammenkommen; was gesprochen wird, dient daher vor allem diesem Gemeinschafts-Erlebnis. Gegenstände, die konzentriertes Eindringen in eine Sache oder das unvoreingenommene Hinhören auf andere, vielleicht gegensätzliche Sichtweisen verlangen, kommen darum in solchen Situationen eher selten vor und sind zumeist unbeliebt. Es geht ja darum, entspannt redend sich selber die – angenommene oder wirkliche – Gemeinsamkeit zu bestätigen. Es ist das eben ein „kleines Sprechen“, das keine großen Ansprüche stellt.

Die Dinge können fließend ineinander übergehen: aus einem intensiv erlebten, konzentrierten Vortrag kann ein tiefgehendes Gespräch entstehen, in dem die Teilnehmer ihre unterschiedlichen Erlebenswege mit dem Dargestellten kennenlernen, und die Zusammenkunft läuft anschließend in einen zwanglosen Austausch auf der Grundlage des Erübten und Erlebten aus. Oder in einem Gespräch wird der gemeinsame Fokus einvernehmlich auf die Vertiefung eines bestimmten Teilthemas gelegt, was zu einem spontanen Vortrag des am besten dafür Geeigneten führt. Oder – oder – oder …

Entscheidend ist immer das gemeinsame Durchleben einer wirklichen Lebenssituation, im Hören und Sprechen. Was dort geschieht, ist so vielfältig, dass es sich einer irgendwie anders gearteten Beschreibung entzieht.

Das tote Wort – neu belebt

Wo die unmittelbare Begegnung und damit die bewusste Mitteilung „von Mund zu Ohr“ nicht möglich ist – und dazu gehören alle Mitteilungen an eine anonyme Öffentlichkeit – da kann der Weg über die geschriebene Sprache in Frage kommen. Hier sind aber an jede einzelne Formulierung andere Anforderungen zu stellen als beim gesprochenen Wort in der direkten menschlichen Begegnung.

Das Geschriebene wird ja aus der geistigen Betätigung eines Autors heraus festgelegt1, ohne dass dabei eine lebendige Begegnung mit dem Leser erfolgt: das Lesen geschieht in der Regel an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit als das Schreiben. Es kann daher der Formulierung nicht das gemeinsame Durchschreiten eines Denkweges zugrundeliegen. Sie muss darum so erfolgen, dass möglichst jeder entsprechend interessierte Mensch im Prinzip dem Gang der Darstellung selbständig nachverfolgen kann.

Das wirft aber vielfältige Probleme auf. Denn das Lesen fordert dann vom Leser die eigenständige Neu-Belebung des in die dann ja festgeschriebenen Formulierungen erstorbenen Wortes.

Im Vortrag oder im Gespräch lebt der jeweilige Sprecher seine Darstellung gleichsam vor, und der Hörende kann bei gutem Willen und konzentriertem Lauschen unmittelbar mitgehen. Auch kann ein Sprecher reagieren auf jeden vielleicht sogar unausgesprochenen, von ihm aber erspürten Beitrag; der Gesamtverlauf ergibt sich dann aus dem lebendigen Miteinander.

In die Schrift muss der Schreiber sein inneres Durchleben der Darstellung so in die feststehenden, abgestorbenen Worte „hineingeheimnissen“, dass ein angemessenes Neu-Beleben und Nacherleben des Denkweges für den Leser im Grundsatz jederzeit möglich ist. Für den Leser muss dann deutlich werden, dass er dem Text das ursprüngliche Leben aus eigenem Bemühen wiederum zurückzugeben hat, wenn er das Gesagte wirklich verstehen will.

Für beide – Leser wie Schreiber – sind die Hürden des Verständnisses also höher gelegt als beim unmittelbar gesprochenen Wort. Manche Inhalte werden darum gar nicht oder nur eingeschränkt, andere wiederum besonders gut für die schriftliche Form geeignet sein. Sie bietet ja insbesondere für den Leser die Möglichkeit, den Gang der Darstellung wiederholt anhand desselben Wortlautes zu durchlaufen und sich auf diese Weise damit intensiver zu verbinden.

Auf eine weitere Differenzierung nach unterschiedlichen Arten geschriebener Texte – sogenannte „Sachtexte“, Geschichten, Lyrik und dergleichen – kann hier einstweilen verzichtet werden; es geht ja um das Grundlegende, Allgemeine, das für alle geschriebenen Texte gleich ist.

Und das ist eben die Tatsache, dass die Verschriftlichung einen Durchgang des lebendigen Denkweges durch das Abstrakte, Absterbende bedeutet, der nur dann im Leser zu einer sinnvollen, der ursprünglichen Intention des Schreibers entsprechenden Neu-Belebung führen kann, wenn vom Schreiber sein inneres Erleben in geeigneter Weise in den Text „hineingeheimnisst“ wurde und der Leser die notwendige Anstrengung auf sich nimmt. Dabei bleibt immer der Vorrang des Schreibers vor dem Leser: eine Art unaufhebbarer Hierarchie in allem Geschriebenen.

Ton- und Bildaufzeichnungen

Für Ton- und Bildaufzeichnungen2 gilt ja zunächst das für die schriftliche Darstellungen Gesagte sinngemäß: die Darstellung wird durch das Fehlen der unmittelbaren räumlich-zeitlichen Begegnung zu einem vorab Feststehenden, Toten und dadurch notwendig Abstrakten. Das wird bei der Herstellung der Aufzeichnung berücksichtigt werden müssen.

Allerdings wird der Zuhörer oder Zuschauer zugleich mit der (feststehenden, toten!) Illusion einer direkten Begegnung konfrontiert, indem ihm eine Zeitgestalt zum passiven Nachvollzug dargeboten wird. Natürlich weiß in der Regel derjenige, der sich einer solchen Aufzeichnung zuwendet, dass es eine solche ist. Das ändert aber nichts an der Wirkungsart solcher Aufzeichnungen als feststehende, abgestorbene Zeitgestalten.

Ist der Teilnehmer einer unmittelbaren menschlichen Begegnung gemeinsam mit allen anderen in einen gemeinsamen Strom in Raum und Zeit einbezogen, den jeder Teilnehmer mitgestaltet durch seine Anwesenheit, so ist bei schriftlichen Darstellungen der Zeitstrom (alles Lebens geht in der Zeit vor sich!) in das tote, feststehende Wort erstorben, aus dem der Leser seinen eigenen Lebensstrom im Nachvollzug des Geschriebenen mit demjenigen des Schreibers zu koordinieren sucht. In beiden Fällen – direkter Begegnung und Schrift – bleiben während des Vollzuges alle Beteiligten im Grundsatz frei.

Diese Freiheit ist bei Ton- und Bildaufzeichnungen für den Konsumenten mindestens teilweise aufgehoben. Er kann nicht so einfach wie beim Lesen sein eigenes Verständnistempo zugrundelegen oder den Blick zwischen Worten und Sätzen frei hin und her schweifen lassen, wie zum Beispiel beim sogenannten „globalen Lesen“ oder „schräg“ lesen. Der Konsument einer Aufzeichnung kann nicht wie in einer direkten Begegnung um Innehalten oder Wiederholung bitten bzw. aus dem unmittelbaren Mitleben im gemeinsamen Gedankengang aufgrund der vertieften Verständniskraft der Gemeinschaft die Orientierung behalten. Der Zeitstrom der Aufzeichnung läuft unerbittlich, maschinell, ohne Berücksichtigung des Konsumenten.

Hinzu kommen allerlei geistige, seelische, ja selbst unmittelbar physiologisch-körperliche Wirkungen der Bild- und Tonmedien als solche (also ganz unabhängig von den Inhalten), deren Darstellung hier den Rahmen vollkommen sprengen würde3. Diese Wirkungen kann man zusammenfassend und verkürzend als bewusstseins- und aufmerksamkeitsdämpfend bezeichnen, bis hin zu trance- und hypnoseartigen Zuständen. Sie gehören leider in der Medienwissenschaft zu den „unterdrückten Informationen“, die viel zu wenig Verbreitung gefunden haben.

Zusammen mit dem aufgezwungenen Zeitstrom und der inhaltlichen Illusion einer direkten Begegnung ergeben die in den Medien selbst liegenden Einflüsse die Begründung für vielfältige manipulierende Wirkungen medialer Darstellungen4. Man kann daher ohne Weiteres sagen, dass solche Aufzeichnungen nicht geeignet sind, ein wirklich freies, eingehendes Verständnis des Dargebotenen zu fördern; eher haben sie verwirrende und zu Oberflächlichkeit verleitende Eigenschaften.

Fazit

Zusammenfassend kann man sagen:

  • Die direkte Menschenbegegnung bietet allen Beteiligten die größtmögliche Freiheit, zugleich aber auch die intensivsten Möglichkeiten des Verständnisses im gemeinsamen, lebendigen Vollzug des gesprochenen Wortes.
  • Das geschriebene Wort stellt einerseits höhere Anforderungen an Schreiber und Leser, wenn ein lebendiger Vollzug des im Geschriebenen intendierten Denkweges ermöglicht werden soll. Geschriebenes ist eben notwendig feststehend, tot, und damit vom konkreten Leben abstrahiert. Andererseits installiert es eine Art Vorrang des Schreibers vor dem Leser.
  • Für Ton- und Bildaufzeichnungen von sprachlichen Mitteilungen gilt das für das geschriebene Wort Gesagte sinngemäß. Hinzu kommen die Tatsache der (Teil-)Illusion einer direkten Begegnung sowie die bewusstseinsdämpfenden „Nebenwirkungen“ der Medien selbst, unabhängig vom Inhalt. Das erweitert den schon beim Geschriebenen gegebenen Vorrang des Autors vor dem Rezipienten zu einer Art manipulativer, teilweise unter der Bewusstseinsschwelle liegenden Macht des Medienerstellers5 über den Konsumenten. Solange sich alle Seiten dieser Tatsache ausreichend bewusst sind, kann sie teilweise neutralisiert werden. Gleichzeitig eröffnen sich aber weitreichende Möglichkeiten der Massenmanipulation.

Schlussendlich bleibt daher die direkte Begegnung von Mensch zu Mensch die erste Wahl für das sprachorientierte Miteinander. Sollen größere, anonyme Menschengruppen erreicht werden, ist die Verschriftlichung bei verantwortungsvoller Nutzung ein guter Weg, mit teilweise sogar die Freiheit fördernden Eigenschaften.

Bild- und Tonaufzeichnungen haben dagegen immer eine freiheitseinschränkende Wirkung auf den Rezipienten. Angesichts ihrer heutigen Verbreitung und der in rasantem Tempo sich ausweitenden Aufenthaltsdauer von Menschen in solchen virtuellen, unfreien Wirklichkeiten können solche Aufzeichnungen aber dennoch genutzt werden: für einfache, kurze Hinweise auf lesbare Informationen oder mögliche Menschenbegegnungen zum Beispiel. Wenn bei der Nutzung die freiheitsfeindliche Eigenschaft der verwendeten Medien im Bewusstsein gehalten wird, können die erzielten positiven Nutzeffekte die negativen Wirkungen möglicherweise überwiegen.

© Stefan Carl em Huisken 2021

1Manchmal gibt es auch Autorenteams, die gemeinsam für das gesamte Geschriebene einstehen; auch dann wird aber in den allerseltensten Fällen jedes einzelne Wort, jede Formulierung als Gemeinschaftsprodukt anzusehen sein.

2Im hiesigen Zusammenhang von Wortbeiträgen; Musik, Theater und dergleichen müssen erweitert betrachtet werden im Hinblick auf ihre seelischen Wirkungen, wobei allerdings die hier dargestellten allgemeinen Gesichtspunkte ebenfalls gelten.

3vgl. dazu vor allem Heinz Buddemeier: Illusion und Manipulation. Stuttgart: Urachhaus, 1987. – ders.: Leben in künstlichen Welten. Stuttgart: Urachhaus, 1993. – ders.: Die unhörbare Suggestion. Stuttgart: Urachhaus, 1989.

4So sind z.B. Beschallungen öffentlicher Räume eine Erfindung aus dem Propagandabaukasten des sogenannten „3. Reiches“.

5Es sei hier angemerkt, dass heutzutage aufgrund schlechter Ausbildung der Medienschaffenden oder aus anderen Gründen viele von ihnen kaum etwas von diesen Wirkungen wissen, und daher teilweise ohne bewusste Absicht verwirrende, chaotisierende Wirkungen erzielen.


Cover Wahnsinn und Denken Wort

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart habe ich dargestellt in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Was hilft die Aufregung? – Die Kräfte wirksam nutzen

Die vielfältig belastenden Ereignisse, die einem täglich begegnen, lösen immer wieder Zorn, Angst, Empörung und Resignation aus, und die Aufregung über solche Neuigkeiten beherrscht vielerorts die Gespräche und Aktionen. Ist das hilfreich? Gibt es andere Verhaltensmöglichkeiten, die unsere Kräfte wirksamer nutzen für den erwünschten Fortschritt?

Den Tatsachen ins Auge schauen

Was auch immer an Neuigkeiten auf uns einstürmt, es scheint überwiegend eines zu bestätigen: der Kampf gegen das Böse (was auch immer das sei) muss weitergehen, und immer noch ist es nicht gelungen, dieses Böse auszurotten, damit wir endlich wieder unseren Frieden haben. Unsere offensichtliche Ohnmacht, das Böse zu beseitigen, verbunden mit immer neuen Meldungen über neues Böses in der Welt zermürbt die Kräfte, die sich nur darauf verlegen können, in Klagechören die Situation zu beweinen und ansonsten zuzusehen, wie die Welt untergeht.

Da waren die Manichäer1 in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung offenbar weiter. Ihnen war klar, dass das Böse in der Welt bis zum Erdenende Bestand haben wird, und dass daher die Hoffnung auf die völlige Befreiung vom Bösen keine realistische Grundlage hat. Vom heutigen Gesichtspunkt aus muss ja auch gesagt werden, dass wir um unserer Freiheit willen auf die Existenz des Bösen angewiesen sind: ohne das Böse gäbe es kein Bewusstsein des Guten (wie auch immer man das im Einzelnen beschreiben will), und damit keine freie Wahl. Wo es keine Wahl gibt, herrscht Unfreiheit – und die ist für Viele ja heute gerade der Inbegriff des Bösen.

Also sollten wir uns entschließen, die Existenz des Bösen erst einmal als gegeben zu akzeptieren. Neue Winkelzüge aus der Höllenküche können wir dann mit einer gewissen Gelassenheit zur Kenntnis nehmen. Das schont die eigenen Kräfte, die dann für Anderes frei werden.

Was ist eigentlich wirklich gut?

Diese Kräfte können wir dann wirksamer nutzen, um unsere eigenen Zeile zu verfolgen – und die sind doch natürlich gut, oder? Aber halt: ist nicht schon diese Unterscheidung eigentlich böse? Lebt nicht auf diese Weise das Gute, die Freiheit, die Harmonie und Einigkeit gerade von des Bösen Gnaden? Die Verwirrung kann immer mehr Platz greifen: was ist eigentlich wirklich gut?

Man sollte die Sache realistisch anschauen: die aus der einen Sicht „bösen Freiheitsfeinde“, die diejenigen mit der anderen Sicht auf die Dinge drangsalieren: was sollte denn mit ihnen geschehen? Alle einsperren, ihnen die Freiheit nehmen, alle „beseitigen“? Tun wir, die Guten also, denn dann etwas Anderes als gerade sie, die Freiheitsverhinderer? Es ist und bleibt doch so, bei aller Gegensätzlichkeit: wir Menschen sitzen alle in einem Boot, und müssen insofern lernen, gemeinsam auf der Erde zu existieren.

Das schafft ja gerade immer neue Probleme, dass im Wechsel der „herrschenden Weltanschauungen“ immer sehr schnell schlecht wird, was einst gut und richtig war. Die „gute Endlösung“ gibt es also nicht – wie schon die Manichäer wussten: das Böse hat seinen berechtigten Platz im Weltganzen, bis ans Erdenende.

Jeder Versuch, etwas Berechtigtes aus der Entwicklung gänzlich auszutilgen, wird scheitern. Und noch mehr: er wird schnell selber der Vernichtung, der Zerstörung anheimfallen, die er der „anderen Seite“ angedeihen lassen will.

Man kann also festhalten: ein absolut Gutes, das allein die Welt beherrscht, kann es nicht geben (nur mit Auslöschung aller Freiheit, was aber wieder „böse“ wäre). Was aber dann?

Liebet das Böse – gut

Für dieses Dilemma hatten die Manichäer einen Vorschlag, den wir Heutige uns vielleicht genauer ansehen sollten: sie wollten nämlich in ihrem Handeln das Gute in das Böse hineinmischen und so nach und nach für eine Umwandlung des Bösen in ein neues Gutes sorgen.

Damit könnte ja sozusagen jeder an seinem Ort jederzeit beginnen.

Gewiss, ein Paradies auf Erden (also einen Zustand von „oben“ gelenkter Unfreiheit auf der Basis der Unkenntnis des Unterschiedes von Gute und Böse – das ist ja das biblische Paradies) wird man so niemals erreichen können, und schon gar nicht in absehbarer Zeit. Aber vielleicht kann man Schritt für Schritt, bis hin zum Erdenende, einen Zustand des bewusst errungenen und daher freien Guten erreichen.

Was wäre dafür nötig? Dass man als freie Liebestat sich selber das Böse „einverseelt“ (in freier Nachbildung des Wortes „einverleibt“), um es dort aus den eigenen, die Gegensätze heilenden Intentionen heraus umzuarbeiten in ein neues, frei gewolltes Gutes. Ganz konkret würde das bedeuten, den Menschen, der Böses tut, nicht als Unmensch zu betrachten, als Sache also, die auf den Müll gehört (das wäre dann hier: aufs Schafott), sondern als verirrten Menschen, der seine eigene Verirrung nicht begreift, und deshalb einen Anderen braucht, der sie für ihn versteht und ihm darum helfen kann, ebenfalls zu verstehen. Der Hilfswillige wird dann allerdings die Geduld aufbringen müssen zu warten, bis der „Böse“ anfängt, seinen Irrweg einzusehen und dadurch für Hilfe überhaupt empfänglich wird.

Alles schön und gut – aber was hilft das jetzt?

Dass solche Überlegungen gar nicht unbedingt abgehoben sind, zeigt ein kurzes Gespräch, das ich neulich hatte, und das für mich auch zum Anlass für diesen Artikel geworden ist. Dabei tut es nichts zur Sache, welche Position die Beteiligten zu den aktuellen gesellschaftlichen Verwerfungen einnehmen; ich schildere sie nur zur Illustration, um die Sache anschaulich zu machen.

Ich befand mich also in einem Gespräch mit jemandem, der die derzeit so nachhaltig empfohlenen Injektionen experimenteller gentherapeutischer Produkte ablehnt, weil sie aus seiner Sicht, aufgrund der ihm vorliegenden Informationen vielfältige negative Wirkungen haben – man kann sie von diesem Gesichtspunkt aus ohne Weiteres als „Giftspritzen“ ansehen – und daher vorhersehbar zu unermesslichem menschlichem Leid führen müssen. Insofern sind diese Injektionen aus seiner Sicht eine „böse“ Sache, und der gesellschaftliche, moralische, politische und wirtschaftliche Druck, mit dem die Menschen derzeit diesen Injektionen zugeführt werden sollen ebenfalls.

Als wir die Sache so weit erörtert hatten, entstand die Frage, was denn nun zu tun sei. Einmal abgesehen von der äußeren Ohnmacht des Einzelnen dieser geballten „bösen Macht“ gegenüber, kamen wir auf die Frage, was denn überhaupt ein Ziel des eigenen Handelns sein könne. Anzustreben, die Propagandisten dieser Injektionen, die ja überdies mit zahlreichen Täuschungsmanövern, also unwahrhaftig zu arbeiten scheinen, und zudem all die nichtsahnenden Mitläufer, die den Druck der Propaganda ja durch ihr Mittun erst wirksam machen, aus dem gesellschaftlichen Leben zu entfernen – also einzusperren, umzubringen oder anders unfreiwillig unwirksam zu machen –; ein solches Streben wäre letztlich dasselbe, was man gerade den „Anderen“ vorwirft, was sie derzeit mit den „Verweigerern“ tun. Das Böse hätte dann gesiegt, die Spaltung zwischen den Menschen zementiert, und das mit unserer, also der „Guten“ Hilfe. Das kann es also nicht sein. Was aber dann?

Dann fiel der befreiende Satz, sinngemäß: „Wenn die Folgen dieser Injektionen und der daran geknüpften Maßnahmen dann sichtbar werden, das Leiden daran dann um sich greift, dann können wir, die wir die Spritze aus guten Gründen nicht genommen haben, die anderen doch nicht hängen lassen!“ Ganz gleich, wie die Sache ausgeht, ob dieses große Leiden kommt oder nicht – jeder kann sich ja geirrt haben –: hier zählt die Menschlichkeit und die ist in diesem Fall eben auch ein bisschen manichäisch.

P.S.: Auch diejenigen, die jetzt ganz rücksichtslos ihre Sicht der Dinge durch Manipulation und strukturelle Gewalt anderen aufzuzwingen suchen, kann man vielleicht in diese menschliche Regung aufnehmen: was ist denn, wenn sie die unermessliche Schuld beginnen einzusehen, die sie auf sich geladen haben? Das kann bald sein, oder später, vielleicht auch erst in einem nächsten Leben. Dann werden sie Hilfe brauchen, um ihre verlorene Menschlichkeit wiederzufinden.

© Stefan Carl em Huisken 2021

1Es gibt mancherlei Darstellungen über Manichäismus, die in vielen Fällen vor lauter Einzelheiten das Grundprinzip fast unsichtbar machen oder sehr einseitig ideologisch geprägt sind. Über das Grundprizip des Manichäismus vgl. vor allem Rudolf Steiner: Der Manichäismus. In: Die Tempellegende und die Goldene Legende, GA93, Dornach, 1991. S. 68 ff sowie die zugehörigen Quellenhinweise und -zitate in demselben Band.


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Wettkampf der Illusionisten II

In diesem Jahr 2021 erleben wir in besonderer Schärfe das wiederkehrende Spektakel des Wettkampfes der Illusionisten: wer kann den Menschen am besten die Illusion einreden, gerade seine Utopie wäre Garant für eine sorgenärmere und damit bequemere Zukunft?

Utopien

Was uns da von den verschiedenen Seiten vorgelegt wird, sind nämlich durchgehend Utopien: Entwürfe einer Welt, die eben keine Wirklichkeit hat – also ein „Nicht-Ort“ ist1 und die Wirklichkeit darum auch nur eingeschränkt oder gar nicht zu berücksichtigen hat. In schönen Programmen wird da vorgestellt und ausgemalt, was angestrebt und erreicht werden soll. So entführt man die Menschen aus der häufig eher als unfreundlich erlebten Tatsachenwelt hinein in erspekulierte Paradiese dieser oder jener Art.

Gestritten wird dabei zwischen den Urhebern dieser Utopien gar nicht über den unwirklichen Charakter, der alle solche Entwürfe einander gleich macht, sondern tunlichst über die Inhalte der vorgestellten Zielperspektiven, also über die Frage, ob und warum dieser oder jener Utopie der Vorzug gegeben werden sollte. Wer da auf die Idee kommt, von Wirklichkeiten zu sprechen, die doch zunächst berücksichtigt werden müssten, wird wiederum unisono von allen Seiten des gleichen Besseren belehrt: was ist, zählt nicht, wohin wir wollen, ist allein von Bedeutung.

Illusion

Denn natürlich muss zuerst festgelegt werden, was man will (und wessen Ideen darüber die „besten“ sind), und dann erst erklärt werden, wie es realisiert werden soll. Auf diese Weise ist nämlich sichergestellt, dass der derzeit obwaltenden Wirklichkeit möglichst wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird. Diese Wirklichkeit ist nämlich ganz überwiegend das Ergebnis davon, dass immer wieder welchselnde Gruppen von Anhängern einer der möglichen Utopien dafür zu sorgen versuchen, dass gerade ihre Utopie eine möglichst weitgehende, idealerweise (wenn auch unerreichbar) für alle Menschen ausschließliche Gültigkeit bekommt. So kämpfen also die Utopisten um die Macht über die Menschen.

Und nun kommt das Entscheidende: wie kann man den Menschen möglichst effektiv klarmachen, dass die eigene Utopie alternativlos die allerbeste für die Menschheit ist, respektive dadurch natürlich auch und vor allem die angenehmste und bequemste für den angesprochenen Einzelnen? In früheren Zeiten hat man gemeint – oder zumindest diese Meinung propagiert – man müsse durch Argumente für oder gegen die größtmögliche Bequemlichkeit dieser oder jener Utopie für den Einzelnen die Menschen überzeugen, das heißt zu einer (scheinbar) freien und bewussten Entscheidung zwischen den Utopien veranlassen. Aber davon ist man inzwischen abgekommen: die Zahl der Menschen ist einfach zu groß, als dass man sich da effektiv um den Einzelnen und seine Argumente kümmern könnte.

Zum Glück haben wir ja in so glorioser Weise sogenannte Kommunikationsmittel oder Medien entwickelt, durch die man als Utopist möglichst viele Menschen gleichzeitig bedienen kann, praktischerweise mit eingeschränkten Möglichkeiten zur Rückfrage, dafür aber umso mehr Möglichkeiten zur Manipulation2. Wer das da gegebene Handwerkszeug am effektivsten zu nutzen versteht, also den Menschen am besten die Illusion einzureden vermag, die gerade vorgestellte Utopie sei für sie die beste, und man selber sei auch der Richtige, diese Utopie in Wirklichkeit zu verwandeln, hat dann in solchem Wettstreit gute Aussichten, Mehrheiten hinter sich zu versammeln. Nur: solche Mehrheiten basieren auf Illusionen über Utopien, und werden darum durch die Tatsachen früher oder später eingeholt. Aber das kann ein guter Illusionist der Masse natürlich lange, lange verbergen und sie so im Bann seiner Illusionen halten.

Wirklichkeit

Die Wirklichkeit ist allerdings eine andere. Sie besteht darin, dass so und so viele Menschen (auch die Illusionisten!) mit ebenso vielen individuellen Talenten, Wünschen und Ideen ihre Willensimpulse und Taten ineinander fließen lassen und daraus erschaffen, was sich als gemeinsame Zukunft dann zeigen wird. Dabei schließen sie sich zu kleineren oder größeren Gruppen zusammen, je nach der Übereinstimmung auf den einzelnen Feldern des Daseins. Und je nachdem, inwieweit der Eine auch die Möglichkeiten und Strebensrichtungen des Anderen berücksichtigt, entsteht daraus harmonisches Zusammenwirken oder Streit.

Das oben umrissene, derzeit weltweit herrschende System des Wettkampfes der Utopie-Illusionisten geht ja immer davon aus, dass der Vertreter eine Utopie (und/oder die damit verbundene Gruppe von Menschen) die für alle bestmögliche Zukunft anstrebt und darum recht hat. Was der andere vorschlägt, wird darum abgelehnt, wenn es den eigenen Vorstellungen zuwider läuft. Und schon geht es wieder nicht um die Wirklichkeit, sondern um die – vermeintlich – „beste“ Utopie, und, natürlich, um die Macht, die Utopie auch für alle verbindlich zur alles beherrschenden zu machen3.

Es ist dies einfach eine Zeitkrankheit, diese Sucht, der Wirklichkeit zu entfliehen und lieber um Utopien zu streiten. Seit Jahrzehnten, ja Jahrhunderten geht das schon so, und die Folgen sehen wir: kaum jemand interessiert sich für die Frage, was eigentlich Wirklichkeit ist, und mit welchen Problemen sie uns konfrontiert. Ganz schnell wird jedes Problem als Ergebnis einer falschen Utopie hingestellt. Dann ist ja immer der Andere schuld, der diese falsche Utopie vertritt, und man selber hat keine Verantwortung dafür.

So ist dann nach und nach niemand mehr für irgendetwas verantwortlich, und entsprechend ist dann ja auch kein Anlass da, etwa auftauchende Probleme einfach ganz praktisch einer Lösung zu zu führen. Stattdessen lässt sich trefflich darüber streiten, wer nach dem einen oder anderen utopischen Modell eine Lösung zu finden hätte. Das dauert dann erst einmal, und man braucht erstmal nichts Wirksames zu tun, für das man ja dann verantwortlich gemacht werden könnte. Nach einer Weile hat sich das Problem dann hoffentlich von selber gelöst, oder wird von der Diskussion um die „beste Lösung“ für andere, neu aufgetretene Probleme überlagert und dadurch aus dem Bewusstsein gedrängt4.

Das praktische Leben

Zugegeben, die vorstehende Schilderung ist unvollständig. Denn es gibt – immer noch? schon? – Menschen, die den Tatsachen ins Auge sehen und einfach anpacken, um die schwersten Probleme anzugehen. Nur: auch sie sind eingebunden in das alles beherrschende System des Kampfes der Ideologien und Utopien, orchestriert von der Verantwortungsscheu, ja oft Verantwortungslosigkeit, die sich in den Utopisten und ihren illusionistischen Machenschaften geltend macht.

Man wird durch die Vielfalt der von diesem System produzierten Probleme ja auch geradezu davon abgehalten, in der Wirklichkeit nach den Gründen für diese Probleme erkennend zu suchen. Mit dem Abarbeiten der schlimmsten Auswüchse hat man doch schon genug zu tun. Und so setzt sich der Kampf der Illusions-Utopien fort bis ins praktische Leben und sorgt selbst dafür, dass das schwerwiegendste Problem nicht bemerkt und darum natürlich auch nicht gelöst werden kann. Dieses Problem ist nämlich das System „Kampf der Illusionisten“ selbst. Erst wenn von diesem System abgegangen und die Wirklichkeit gemeinsam zum Ausgangspunkt gemacht wird, geht es voran.

Exkurs:

Hier stellt sich natürlich die Frage: was ist denn dann die „Wirklichkeit“? Sind die möglichen Antworten auf diese Frage nicht notwendig immer nur Bestandteile bestimmter Weltanschauungen oder eben Utopien? Das sind sie ganz sicher auch. Dass es dennoch einen Weg geben kann, aus dem Parteienstreit heraus und zur Erkenntnis einer gemeinsamen Wirklichkeit zu kommen, habe ich u.a. in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“ (Borchen: Ch. Möllmann, 2021, ISBN 9783899793352, bestellbar über www.emhuisken.de/shop) dargelegt. Noch sehr viel grundlegendere Einführungen und Denkwege zu diesem Thema finden sich in den Schriften Rudolf Steiners, vor allem „Die Philosophie der Freiheit“, „Wahrheit und Wissenschaft“ und „Grundlinien einer Erkenntnistheorie der goetheschen Weltanschauung“.

Vom Individuum aus

Ein wirklicher Ansatz zu einem Weg aus der Misere kann sich daher nur finden, wenn man die einzelnen, real vorhandenen Menschen in ihrer Individualität zum Ausgangspunkt nimmt anstelle irgendeiner Utopie, die ja immer bloß das Ergebnis von spekulierenden Tätigkeiten der einzelnen Individualitäten sind. Dann würde man vom konkreten Leben der Einzelnen im Rahmen ihrer Gruppe, ihres Landes, aber auch der Menschheit als Ganzes ausgehen statt von einem toten, feststehenden Ergebnis in Form eines Denkmodells oder eines Planes – einer Utopie eben. Kurz gesagt ginge man also aus von Leben statt Tod.

Das ist auch ganz konkret so zu verstehen. Das weltweite Parteienwesen im illusionistisch orchestrierten Kampf der Utopien verbreitet überall Tod und Sterben, bringt so die Menschheit als Ganzes und damit jeden Einzelnen immer näher an den kollektiven Selbstmord, die Erde als notwendigen Lebensraum des Menschen gleich mit eingeschlossen. Wer auch nur ein wenig seinen gesunden Menschenverstand nutzt, kann leicht einsehen, dass die Zeit der Herrschaft von Utopien und Ideologien eigentlich abgelaufen ist.

Zunehmend fühlen sich die Menschen unfrei, wenn sie einer irgendwie als alleingültig dargestellten Weltsicht folgen sollen; ganz konkret erleben wir das derzeit, wo die Unfähigkeit, mit unterschiedlichen Wirklichkeitsauffassungen umzugehen bzw. diese überhaupt zu berücksichtigen, bei den Regierungen der Welt grassiert. Stattdessen setzt man auf die Macht – direkte äußere (Polizei- oder Militär-)Macht oder die Macht massenpsychologisch konzipierter und durchgestalteter Medien-Manipulation.

Sicher, darin regieren Egoismen, auf allen Seiten. Aber das ist ja nurmehr normal. Die Menschen sind eben daran gewöhnt, nur im Rahmen „ihrer“ Utopie zu denken und zu handeln, und damit im Rahmen des Gesamtsystemes „Kampf der Utopien“ zu bleiben. Aber jeder, dem das Gefühl der Unfreiheit aufstößt, kann auch zu der Einsicht kommen, dass nur auf dem Weg der Einbeziehung des Anderen, Fremden in die eigenen Denkwege der schon lange vorhandenen Wirklichkeit, den Tat-Sachen also, entsprochen werden kann. Geschieht das nicht, geht also die Wirklichkeitsverweigerung zugunsten der diversen Utopien ungeschmälert weiter, so meldet sich die Wirklichkeit immer wieder mit neuen Problemen, die den allgemein herrschenden Utopismus und Illusionismus in Frage stellen.

Ent-Täuschung

So wird der Wettkampf der Illusionisten über kurz oder lang zu einer riesigen Ent-Täuschung führen müssen: zu Abkehr nämlich von den täuschenden Illusionen, die die Nebelwerfer der Utopisten ständig werfen. Schon im ganz „normalen“ Alltag von sogenannten „demokratischen Wahlen“ kennt man das: nach der Wahl passieren ganz andere Dinge, als die Wahlgewinner vor der Wahl versprochen haben.

Aber das ist ja auch klar: Utopisten können nur utopische Probleme per Illusionsmaschine – scheinbar! – lösen. Vor der Wirklichkeit versagen sie kläglich und können nur durch immer offener zutage tretendes Lügen im Verbund mit versteckter oder offener Gewalt eine Zeitlang den Schein wahren. Durch die lange Zeit des Herumstocherns in virtuellen, utopischen Problemen ist ja auch kaum noch jemand darin geübt, wirkliche Probleme an zu gehen.

Die Ereignisse der letzten Monate bieten uns nun eine Riesenchance: endlich die große Ent-Täuschung zu erleben. Aber man mache sich da nichts vor: da ist dann keiner besser oder schlechter dran. Wir alle sind ständig – im Großen wie im Kleinen – versucht, Ideologien und Utopien über die Wirklichkeit zu stellen.

Wir stehen eben allesamt – global, regional, individuell – erst am Anfang einer Zeit, in der die menschliche Wirklichkeit sich geltend machen und entfalten kann. Zu lange sind wir daran gewöhnt, uns von den Vertretern dieser oder jener Ideologie, Konfession oder Wissenschaftsrichtung autoritativ am Nasenring herumführen zu lassen. Da tut man dann gut daran, Rachegelüste und Schuldzuweisungen zugunsten der gemeinsamen Suche nach einem Ausgleich vergangener Fehltritte zurück zu stellen.

Sonst stelle ich nämlich meine – natürlich gerechte – Utopie der des Anderen, des Schuldigen gegenüber. Und dann sind wir alle zusammen wieder beim Alten, und keinen Schritt voran gekommen.

Epilog: über „Basisdemokratie“

Auf der Grundlage des vorstehend Dargestellten zeigt ein Blick auf das Parteienangebot zur anstehenden Bundestagswahl, dass es durchaus Neues gibt, zum Beispiel eine Partei, die sich besonders der sogenannten „Basisdemokratie“ verpflichtet fühlt. Ganz abgesehen von der Feststellung, dass einem dieses oder jenes im Programm dieser Partei sympathisch oder unsympathisch sein mag – ich gebe gerne zu, dass ich dort vieles Sympathische finde – muss doch die Frage gestellt werden: will man eine „Basisdemokratie“ im Sinne der vorstehend beschriebenen Orientierung an der lebendigen Wirklichkeit der zusammenlebenden Individuen verstehen, inwieweit kann dann eine Partei, mit Programm und durch das Wahlverfahren in das System des Kampfes der Utopien eingebunden, überhaupt ein Mittel sein, der tatsächlichen Lebenswwirklichkeit näher zu kommen?

Öffnet eine solche Partei nicht gerade denjenigen die Tür, die immer nur eine „neue, bessere“ Utopie realisieren wollen, und gibt sie nicht gerade dadurch der geballten Macht der Utopisten-Illusionisten den Hebel in die Hand, das grundlegende, notwendige Verlassen des Utopisten-Systems zu entkräften, zu korrumpieren und damit zu verhindern?

© Stefan Carl em Huisken 2021

P.S.: In ganz anderer Art mit dem gleichen Thema befasst sich der Artikel „Wettkampf der Illusionisten I“

1„Der Begriff leitet sich ab von altgriechisch οὐ ou „nicht“ und τόπος tópos »Ort, Stelle«, gemeinsam »Nicht-Ort«“ , siehe hier.

2Die Methoden sind ja allgemein bekannt: Weglassen von Wichtigem, Überbetonen von Nebensächlichkeiten, direkte Lügen, Verzerrungen, Einseitigkeiten etc. pp., alles unterstützt durch die teilweise an Hypnose grenzenden physiologischen Zwänge durch elektronische Medien, die dann Emotionalisierung und Streit fördern, und angeleitet durch differenziert ausgearbeitete Methoden massenpsychologisch konzipierter Steuerung. Man vergleiche zu diesem Thema z.B. Albrecht Müller: Glaube wenig. Hinterfrage alles. Denke selbst. Wie man Manipulationen durchschaut. – Frankfurt: Westend, 2019. ISBN 9783864892189; Website www.nachdenkseiten.de; Website www.anti-spiegel.ru (dort auch diverse Jahrbücher zur Medienkritik von Thomas Röper); Heinz Buddemeier: Illusion und Manipulation. Die Wirkung von Film und Fernsehen auf Individuum und Gesellschaft. – Stuttgart: Urachhaus, 1987. ISBN 9783878385110

3Wer ein bisschen genau denken kann, merkt schnell, dass sich alle Utopisten da selbst entlarven: die eigene Utopie muss ja dann auch für die „Gegner“ die beste sein, und diese „Gegner“ darum unberücksichtigt lassen. Womit sie wieder nicht die beste für alle sein kann, denn die „Gegner“ hatten da ja andere Vorstellungen ….

4Mir gehen bei diesem Thema immer die Berichte aus dem Ahrtal nicht aus dem Sinn …


Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart habe ich dargestellt in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Wettkampf der Illusionisten I

Der derzeitige Wahlkampf kann nicht anders bezeichnet werden: es kämpfen die Illusionisten der unterschiedlichen Couleurs um die besten Erfolge beim staunenden Publikum. Ob das aber der eigentliche, wirkliche Sinn dieser Veranstaltung ist, fragt kaum jemand. Es sind eben alles Illusionisten; da interessiert die Wirklichkeit eher weniger, vorsichtig ausgedrückt.

Wer sie sind

Egalweg wer auch immer, sie sind Menschen, die meinen, man müsse durch Propagierung der einen oder anderen Utopie die Menschen veranlassen, die jeweiligen Propagandisten in die weitgehend einflusslose Schwatzanstalt namens „Parlament“ zu befördern, mittels Stimmabgabe (wenn man die Stimme abgibt, hat man anschließend keine mehr …) im behördlich vorgesehenen Wahllokal oder per Briefwahl. Es ist natürlich die Rede von den sogenannten „Parteien“ und ihren „Kandidaten“.

So eine Aussage ist für manchen vielleicht harter Tobak, aber ich will versuchen zu begründen, warum ich das so formuliert habe.

Utopien und Parteien

Unser politisches System ist so angelegt, dass nicht bestimmten Menschen auf demokratischem Wege gezielte Mandate erteilt werden, sondern so, dass diese Mandate Ideologien oder Utopien erteilt werden, die jeweils durch eine Partei formuliert und vertreten werden. Als Utopien bezeichne ich hier alle Pläne, die einen bestimmten gesellschaftlichen Zustand als wünschenswert hinstellen und manchmal auch angeben, auf welchem Wege sie dort hin kommen wollen. Je umfassender der Plan, desto vollständiger auch die Utopie – also die Darstellung des angestrebten zukünftigen Zustandes. Eine Utopie ist also – so betrachtet – eine Art virtueller Realität, das notwendig erst einmal illusionäre Bild einer aufgrund bestimmter ideologischer Vorstellungen konstruierten Schein-Wirklichkeit, die zu einer Tatsache zu machen angestrebt wird (jedenfalls sagt man, dass man das wolle). Solche „Programme“ werden in der Regel von wenigen Menschen erarbeitet und „aufgestellt“, und anschließend von den anderen nur „abgesegnet“.

Parteien im Sinne des heutigen politischen Systemes können gar nicht anders, als zu allem und jedem auch irgendetwas zu sagen. Sie sollen ja den vorhandenen Staat regieren, und der ist eben so angelegt, dass er im Prinzip alles und jedes regeln können soll: Bildung, Wissenschaft, Gesundheit, Wirtschaft, etc. pp., eben alles. Und wenn eine Partei dann das Sagen hat, muss sie eben auch zu allem was sagen können. Das liegt ja auf der Hand. Und dazu braucht sie dann eben ihre Utopie. Nicht Fachkompetenz auf diesem oder jenem Gebiet, das ist etwas Anderes, Individuelles. Das könnten dann ja eigentlich auch nur Fachleute beurteilen. Darum geht es lieber um Utopien, Geschichten von Übermorgen, die versteht jeder. Und deswegen sind die Parteien und ihre Vertreter dann auch so wie sie sind: jeder malt das Rosarot dahin, wo er seine „Wähler“ vermutet, also deren spezielle Wünsche und Vorlieben.

Parteien und Kandidaten

Die Kandidaten der einzelnen Parteien werden (idealtypisch gedacht, was aber möglicherweise auch so eine Utopie sein kann) durch die Mitglieder der Parteien gewählt. Und die sind eben Mitglieder der Parteien, weil sie die jeweilige Utopie oder Ideologie unterstützen wollen. Und so werden also in der Regel diejenigen Kandidaten für die Wahl ins Parlament aufgestellt, die am meisten Aussicht auf Erfolg zu haben scheinen, wenn es um die Realisierung der jeweiligen Partei-Utopie geht. Die Kandidaten stellt man sich also als eine Art Ausführungsapparat für die jeweilige Utopie vor: möglichst ohne zu viel eigene Vorstellungen, die eventuell von der Parteilinie abweichen könnten. Also im Prinzip möglichst unindividuelle Menschen, sondern Gruppenfunktionäre.

Und die schließen sich dann wiederum zu bestimmten Gruppen zusammen, in deren Rahmen sie meinen, ihrer Utopie näher kommen zu können. Und stimmen im Parlament ab, was dann für alle gelten soll.

Das Ganze ist eine einzige Illusion

Was dabei nicht beachtet wird, ist die Wirklichkeit, in der die Menschen heute und schon eine ziemlich lange Zeit leben. Da tut nämlich im Prinzip nach Möglichkeit jeder, was er selber will und woran er Interesse hat. Und das kann wechseln, je nachdem, in welcher Lebenssituation man sich befindet. Wenn man zum Beispiel ins Parlament möchte, versucht man wie dargestellt Utopien zu „verkaufen“, den Leuten nahe zu bringen, damit sie einen wählen. Wenn man dann gewählt worden ist, braucht man ja die Leute nicht mehr, denn sie haben ja schon getan, was sie sollten, nämlich wählen. Jetzt kann man andere Interessen entwickeln oder verwirklichen wollen.

Das muss man gar nicht verurteilen. Es ist einfach die Realität: jeder tut nur noch das, was er selber will. Und die Utopien und die Propaganda dafür sind eigentlich nur Mittel, die bestimmte Menschen verwenden, um ihre Ziele zu realisieren. Das erleben wir doch derzeit ganz ausführlich: Politik wird als eine Sache des richtigen Marketing verstanden. Auch dagegen ist ja gar nichts einzuwenden, solange man ehrlich sagt, was es ist. Und wenn dann eine Mehrheit eben die besten Marketingleute über sich bestimmen lassen will, bitte. Das kann man dann nicht ändern.

Nur: vielleicht wäre es besser, auf die Menschen zu sehen, die man da wählt, und nicht auf die Utopien. Denn die Utopien können wechseln mit der jeweiligen Lebenssituation; oftmals ist das auch richtig so und notwendig. Manche Menschen wechseln Weltanschauungen wie die Hemden. Schon Adenauer sagte: „Was kümmert mich mein dummes Geschwätz von gestern“. Wenn man so jemanden wählt, dann wollte man das eben so. Man muss sie schon so sein lassen, wie sie eben sind. Wenn man die Gewählten nicht frei lässt, dann hat man sich selber Menschen als Vertreter gewählt, die unfrei sind, denn sie sind ja einer Ideologie und/oder Utopie verpflichtet, also sollen eigentlich nur Wirkapparat der Wähler ihrer Utopien sein.

Wollen wir denn wirklich, dass Gesetze und die Regelung aller staatlichen Angelegenheiten von schwachen, unfreien Menschen beraten und ausgeführt werden? Warum lassen wir uns immer über die Menschen täuschen? Und wenn nicht, dann versuchen wir sie zu zwingen, dass sie doch tun, was wir wollen. Selber tun ist uns nämlich oft zu anstrengend. Aber da müssen wir uns nicht wundern, was die Gewählten dann tun.

Es ist ja nicht anders zu erwarten, als dass diese Leute dann, wenn sie erstmal nahe an den „Futtertöpfen“ der Macht, des Einflusses und der üppigen Selbstversorgung angekommen sind, mehr und mehr auf ihre eigene Bequemlichkeit achten, und Ideologie eben Ideologie sein lassen, und Utopie Utopie – und natürlich: Wähler eben Wähler? Sie können sich mächtig fühlen, groß und bedeutend. Da bräuchte man eigentlich Menschen, die wirkliche selbständige Persönlichkeiten sind, als solche erkennbar, die solchen Anreiz nicht brauchen, weil sie sich selber schon genug sind – und könnte denen dann durch ein Mandat das Vertrauen aussprechen. Aber den Menschen, nicht den Ideologien.

Die Wirklichkeit

Dann wären wir nämlich bei der Wirklichkeit. Das sind zusammenwirkende selbständige Menschen, die für einander und mit einander arbeiten und dies unter anderem dadurch tun, dass begrenzte und widerrufliche Mandate erteilt werden. Freie Menschen wählen einen bestimmten freien Menschen aus, dem sie für einen bestimmten, umrissenen Zusammenhang das Vertrauen aussprechen, etwas für alle zu regeln. Und der muss dann frei handeln können, als freier Mensch, denn nur dann kann er auch all seine Qualitäten entfalten. Das ist eigentlich, was auch jetzt schon getan wird, nur eben ohne die Freiheit darin, bei vielen der Gewählten.

Diese Wirklichkeit wird nämlich durch eine Illusion verdeckt: indem den Menschen Utopien versprochen werden, Ideologien und Pläne propagiert, wird ihnen vorgegaukelt, sie hätten selber irgendeine Macht, indem sie zwischen den vorgegebenen „Parteiprogrammen“ auswählen können. Die werden aber dann sowieso nicht realisiert, weil die „Mehrheit“ in der Abstimmungsmaschine nicht erreicht wird und was derartige Ausreden mehr sind, oder ganz schlicht weil die Gewählten dann eben lieber etwas Anderes als versprochen machen wollen, aufgrund ihrer eigenen Einsichten und Wünsche.

Ja, die Menschen haben Macht. Aber es ist immer nur die Macht, die jeder einzelne hat, indem er seine Willensimpulse in das Ganze einfließen lässt. Und wer eben als Willensimpuls hat, dass er Utopien und Ideologien nachlaufen möchte, der wählt dann solche Schimären. Allerdings wundert er sich oftmals, wenn hinterher etwas ganz Anderes geschieht, weil eben Menschen handeln und nicht Ideologien.

Das kann nicht passieren, wenn einem Menschen im Vertrauen in ihn selbst ein Mandat erteilt wird. Dann weiß man vorher, dass der Mensch tun wird, was er für richtig hält. Man hat sich vorher mit ihm verständigt, so, dass man eben das Vertrauen in ihn fassen konnte. Und dann muss man ihn machen lassen, das weiß man vorher. Man hat lediglich die Möglichkeit, ihm das Mandat wieder zu entziehen, weil er sich nicht in der Lage oder willens zeigt, dem Mandat entsprechend zu handeln – diese Möglichkeit ist allerdings zwingend notwendig, fehlt aber heute fast überall. Und das weiß dann auch derjenige, der ein solches Mandat bekommt – so schnell kann man es ihm heutzutage nicht wieder nehmen …

Theater

Man findet Theaterspielen eben bequemer, auf beiden Seiten: als Schauspieler (man braucht da ja nicht zu zeigen, wer man wirklich ist) und als Zuschauer (da hat man zum Glück für nichts Verantwortung und darum immer einen Sündenbock parat). Nur dass dieses Theater dazu führt, dass sich der Club der Darsteller leicht absprechen kann, und darauf achten, dass auch wirklich nur Schauspieler dazu gehören – bessere oder schlechtere, je nachdem. Wodurch es dann für die Zuschauer immer schwieriger wird, die von ihnen selber erlebte tatsächliche Wirklichkeit im Tun dieser Darsteller wieder zu finden. Die haben ja auch gar keine Ahnung von dieser erlebten Zuschauer-Wirklichkeit. Sie erleben sie ja nicht, sondern gestalten sie, das ist ihr „Job“. Sie sind ja die Schauspieler, nicht die Zuschauer.

Und so laufen wieder alle hin in die Wahllokale, wählen ein Programm, von dem hinterher kaum etwas oder nichts umgesetzt wird – „es kam leider die Wirklichkeit dazwischen“ (also die Wirklichkeit der Interessen der Schauspielerclique) – und dann wählt man eben beim nächsten Mal eine andere Utopie, die dann das bessere Marketing hatte. Oder man lässt es sein, außer man kann Menschen erkennen, denen man Vertrauen schenken will. Nur leider ist solche Wahl im derzeit geltenden System eher nicht vorgesehen und daher kaum möglich ….

Was fehlt ist nur das Bewusstsein

Das Wichtigste, was in dem Ganzen fehlt, ist das allgemein verbreitete Bewusstsein davon, dass es so ist, wie es ist. Diese „Demokratie“ genannte Abstimmungsmaschinerie ist schon lange etwas Anderes, als wofür sie uns verkauft wird1. Je mehr Menschen dies begreifen, desto mehr Menschen können sich entsprechend verhalten. Was bedeutet, auf den Menschen zu sehen, den einzelnen Menschen. Also auch auf sich selber, sich selber ernst zu nehmen und sich nicht irgendwelche Scheinlösungen von irgendwem aufschwatzen zu lassen. Dann muss man sich allerdings entscheiden, selber zu denken, selber sich intensiv mit den Fragen und Problemen von Menschheit und Welt zu befassen, und diesem Befassen einen Platz im eigenen Leben einräumen, der seiner Bedeutung für das Ganze entspricht.

Das klingt jetzt sehr heroisch, ist es aber nicht. Es ist eigentlich nur der Aufruf, dem eigenen gesunden Menschenverstand zuzutrauen, dass er bei wirklicher Bemühung auch in der Lage ist, auftretende Probleme zu lösen. Dazu muss man sie nur erst ansehen, sich nichts vormachen, und dann immer nach den „Machern“ schreien, sondern vielleicht lieber selber das Risiko des Scheiterns eingehen, sich auf den ganz bestimmt langen, aber ganz sicher nicht langweiligen Lernweg machen. Da trifft man dann auch andere, die es genauso versuchen, und gemeinsam kann man vieles bewegen. Aber eben nur, wenn man will. Was Anderes tut nämlich sowieso keiner mehr.

© Stefan Carl em Huisken 2021

P.S.: In ganz anderer Art mit dem gleichen Thema befasst sich der Artikel „Wettkampf der Illusionisten II“

1vgl. dazu Rudolf Steiner über die „Demokratie“ in: Steiner, Rudolf: Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis. GA 177. Dornach, 1999. S. 264 ff; ausführlich zitiert und eingeführt in Stefan Carl em Huisken: Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen. – Borchen, 2021, Kapitel II. Das Buch ist erhältlich über www.emhuisken.de/shop. Vgl. auch Delaisi, Francis: La Democtratie et les Financiers. – Paris: La Guerre Sociale, 1910


Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart habe ich dargestellt in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Plädoyer für den Menschen – gegen die Missachtung

Warum muss man ihn eigentlich verteidigen, für ihn „plädieren“, den Menschen? Kann er das nicht selber? Aber ja doch, tut er ja gerade, denn ich bin auch Mensch, oder? Und andere Verteidiger als Menschen sind ja nicht zur Hand ….

Missachtung

Aber wogegen überhaupt? Wer greift ihn an? Nun, das ist eine schwere Frage, denn die Missachtung des Menschen ist groß in der Welt, aber die Missachtenden sind alle eines: Menschen. Und dann ist das mit der Verteidigung auch so eine Sache, denn nach gängigem Verständnis hätte der Verteidiger als seine Gegner eben Menschen. Und deren Missachtung des Menschen müsste man dann, wenn man ihr nicht beipflichten kann und will – was ja ein Verteidiger natürlich weder kann noch darf – eben erst einmal als ungerechtfertigt ansehen und dadurch diese Menschen in ihrer Ansicht erst einmal – und jetzt wird es schwierig – missachten.

Kurzum: die Missachtung des Menschen, des realen, der ich bin, von dem ich ganz sicher weiß wie jeder andere Mensch auch, ist eine Art selbsterfüllende Vorgabe: hat sie ein Mensch, diese Missachtung, so ist jeder, der gegen sie streitet, und damit ihre Existenz im anderen nicht gelten lassen will, erst einmal gezwungen, sie auch zu haben. Oder?

Erlebte Wirklichkeit

Worauf das hinweist, ist aber eigentlich eine ganz einfache Sache. Jeder von uns erlebt sich in sich, geistig-seelisch, von außen unmessbar und nur für den sich selber erlebenden real. Sehr real allerdings, denn man braucht nicht einmal äußere Sinne, um von der eigenen Realität überzeugt zu sein. Sie ist für jeden wachen Menschen einfach gegeben in unserer heutigen Welt.

Wohl brauchen wir die Sinne, aber nur mittelbar. Denn ohne Sinneswahrnehmung sind wir in der Regel nicht wach, und wissen daher auch nicht von uns selber, der wir ja allen diesen Wahrnehmungen gegenüberstehen und sie doch nicht sind. Könnten wir wach sein ohne Sinneswahrnehmungen – und es gibt Menschen, die sagen, dass sie das können – so wüssten wir auch dann von unserer eigenen Existenz, und hätten darin dann den praktischen Beweis, dass wir selber, die geistig-seelischen Menschen, von der Sinneswelt unabhängige, sagen wir einmal „übersinnliche“ oder „geistige“ Wesen sind.

Weil wir solche Wesen eben nur sind, aber nicht wahrnehmen, vor allem dieses geistige Sein im Anderen nicht wahrnehmen können, missachten wir es. Denn für wirklich halten wir immer nur, was wir auch wahrnehmen können, was uns gewissermaßen „gegenübersteht“. Denn das können wir uns dann von Anderen bestätigen lassen, und erst dann gilt es uns als „wirklich“.

Selbst-Missachtung

Warum eigentlich? Genau, weil wir selber mit der Missachtung des Menschen bei uns selber anfangen. Selbst, was wir als ganz unumstößlich vorhanden erleben, uns selber nämlich, und unser Denken, achten wir nicht.

Womit der Quell der sich selbst erfüllenden Vorgabe der Missachtung des Menschen ausfindig gemacht wäre: er liegt in der Selbst-Missachtung des Einzelnen. Allerdings, um hier einem Missverständnis gleich zuvor zu kommen: es geht um die Missachtung oder wieder zu erlangende Achtung des unmittelbaren, geistig-seelischen Selbst-Erlebens des Menschen, nicht um die Missachtung oder Achtung gegenüber irgendwelchen inhaltlichen, auf die erlebte Welt bezogenen Meinungen, Gefühlen, Erkenntnissen oder „Wollungen“. Das sind nämlich alles beschreibbare Gegenstände einer inneren geistig-seelischen Umwelt. Die sieht man in der Regel als genauso unwirklich, “bloß subjektiv“ an wie sich selber. Aber wenn man erst einmal die Wirklichkeit der eigenen geistig-seelischen Existenz anerkennt, also überhaupt etwas Un-Sinnliches, Übersinnliches als wirklich anerkennt, stellen sich in Bezug auf die genannten innerseelischen „Begleiter“ auch andere Fragen.

Diagnose

Jedenfalls können wir festhalten: die allgemein zu beklagende Missachtung des Menschen in der Welt hat einen Ausgangspunkt in uns selber, in unserer Missachtung für unser ohne Zweifel reales Selbst-Erleben. Wer sich selber nicht achtet, hat es schwer, das Menschsein des Anderen zu achten. Allerdings gibt es da viele Regeln, Gewohnheiten und Haltungen, die uns im verflossenen Leben zugewachsen sind, und die uns dann auch dazu bringen können, es mit der Missachtung nicht zu übertreiben. Wie die einfache Beobachtung des Lebens ergibt, verlieren diese Regeln aber rasant an Kraft.

Denn freilich, freie Achtung für einander wächst nur in Menschen, die sich selber genauso achten wie den Anderen. Man kann das auch so ausdrücken: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Auch diese Formulierung gibt ja nur dann einen Sinn, wenn man mit der Selbst-Liebe nicht die Liebe zur Erfüllung der eigenen Wünsche, zum eigenen Rechthaben oder zur Macht über Andere meint, sondern wirklich zu sich selbst, diesem elementaren Ich-Erlebnis, unabhängig von allen geistig-seelischen „Begleitern“.

Heilmittel

Dann kennen wir aber – wie überhaupt in der Heilkunde überall – mit der Diagnose das Heilmittel. Nehmen wir uns selber ernst in unserer geistig-seelischen Existenz! Wachen wir auf dafür, dass auch unsere inneren „Begleiter“ Tatsachen sind, Wirklichkeiten, mit denen zu rechnen ist! Wie viele Dinge in der Welt hat es zuerst als Gedanken, als Wünsche gegeben, die nun aber Welt-Tatsachen sind!? Nur leider, wie oft haben wir oder die anderen Urheber solcher Gedanken, Gefühle oder Willensimpulse nicht gewusst, was sie auslösen, wenn das Innere durch Taten erst zu Lebens-Tatsachen wird! Und dann stehen wir staunend, manchmal auch schaudernd vor den Ergebnissen.

Wie gut wäre es, wenn wir über das Verhältnis zwischen der geistig-seelischen Welt, als deren Teil wir selber in uns leben, und der äußeren Sinneswelt mehr wüssten als bisher? Diejenige Wissenschaft, die nur auf das Äußere geht, kann das niemals klären; sie kann nur eines, was sie ja auch ganz ausdrücklich will: den inneren, sich selbst erlebenden, „bloß subjektiven“ Menschen missachten.

Und da solche Dinge wie Moral, Achtung, Gefühl und Ähnliches eben alles keine äußeren Gegenstände sind und bloß im „subjektiven“ Menschen vorkommen, gelten diese Dinge solcher Wissenschaft nichts. Sie soll ja „wertfrei“ sein. Damit schließt sie aber den unmittelbar wahren, lebenden Menschen aus.

Leider merkt sie dabei gar nicht, dass sie sich selber auch für unwirklich erklärt: ihre Gedanken über die Welt, ihre theoretischen Gedankengebäude, die den inneren Menschen zu etwas Unwirklichem erklären, sind ja bloß eines, nämlich: Gedanken, also subjektiv. Und ihre subjektiven Gedanken sind dann eben so, dass sie den real sich selbst erlebenden Menschen missachten müssen.

Geisteswissenschaft

Was uns fehlt, ist daher eine erneuerte Wissenschaft, eine Wissenschaft vom Menschen aus, und damit eine Geistes-Wissenschaft vom realen Geist, der in jedem Menschen lebt, denn der erlebende Mensch ist geistig. Solche Wissenschaft kann man auch Anthroposophie nennen; sie erkennt dann selbstverständlich an, was Welt-Wissenschaft über ihren Gegenstand zu sagen hat, geht aber darüber hinaus und schließt auch die reale Grundlage der Welt-Wissenschaft mit ein: den realen, geistigen Menschen. Und dann kommt es auch zu einem Ende mit der Missachtung des Menschen.

Und wir kennen damit auch den „Retter“, der alle Verteidigung, jedes Plädoyer für den Menschen dann unnötig macht: den Menschen selber, der sich in freiem Entschluss zu sich selbst und dem Geist bekennt, dem er entstammt und in dem er lebt.

Tut er das nicht, so wird die Missachtung bleiben, und voraussichtlich wachsen. Denn ohne den Menschen ist kein Leben in der Erkenntnis; nur er kann dieses Leben geben. Ohne ihn wird alle Erkenntnis nur eine abstrakte, absterbende, tote sein. Und wie alles, was erst im Geiste ist, wird sie dann auch Welten-Wirklichkeit – also den Tod in die Welt bringen. Sehen wir das nicht täglich, wo scheinbar „wertfreie“ Wissenschaft und Technik den Menschen missachtet, ihm seinen inneren Wert raubt und seine Welt zerstört?

© Stefan Carl em Huisken 2021




Ein Jahr Lockdown-Maßnahmen – ein Leserbrief von mir

Vorbemerkung: Vor Kurzem riefen die Nachdenkseiten (www.nachdenkseiten.de) auf, Erfahrungsberichte aus „einem Jahr Lockdown-Maßnahmen“ einzureichen, die dann ggf. veröffentlicht werden könnten. Aus diesem Anlass schrieb ich den nachfolgenden Text, den ich für die Veröffentlichung an dieser Stelle nur geringfügig bearbeitet habe.

Ich hatte seit vielen Jahren schon erwartet, dass das weltweit herrschende System von materialistischer Wissenschaft und daran geknüpfter egoismusgesteuerter Interessenwirtschaft (egal unter welchem ideologischen Vorzeichen – westlich-kapitalistisch oder östlich-autoritär) irgendwann zu einer Katastrophe führen würde. Aus langjähriger Beschäftigung mit einschlägiger Literatur – insbesondere unter ernstmeinenden Anthroposophen, aber auch anderswo gibt es da eine Menge – war mir auch klar, dass es in der Welt einflussreiche Gruppen gibt, die sehr langfristig planen und ihre Pläne dann umsetzen, wenn die Situation so weit vorbereitet ist (es handelt sich nicht um Verschwörungstheorien; diese Verschwörungen sind ganz im Sinne der Darlegungen von Daniele Ganser zu diesem Wort Realität). Dass die sogenannte Demokratie dafür nur eine Fassade abgibt, die im Übrigen sehr effektiv genutzt werden kann für solche Pläne, stellte Rudolf Steiner schon im ersten Weltkrieg fest.1

Als dann die „Corona-Pandemie“ ausgerufen wurde, ergaben Gespräche mit mir bekannten verantwortungsvollen Medizinern schnell die Unsinnigkeit der Maßnahmen, wenn man jedenfalls nicht die rein materialistische Medizin zugrunde legt, für die der Mensch ein biologischer Automat ist, und der daher mit Computermodellen gänzlich vorherberechnet werden kann (siehe z.B. die Prognosen von Neil Ferguson, Michael Meyer-Hermann, Melanie Brinkmann und Co.; dass diese Sichtweise mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat, haben die folgenden Ereignisse ja bewiesen).

Dass die erwartete große Krise nun bereits gekommen zu sein scheint, wurde mir erst im Laufe der Zeit klar – zu unerwartet trafen die Maßnahmen immer genau den Punkt, an dem man bei sich und anderen durch eigene Gedanken, Gespräche und Hinweise ein Bewusstsein für die grundsätzliche Moralfreiheit aller materialistischen Weltanschauung (Moral ist ja in dieser Sichtweise nur eine Art Rauch, der aus einer gewissen Masse organischer Materie aufsteigt) und die Ohnmacht irgendeines religiösen oder anderweitig ideologischen Glaubens hätte wecken können. Das war ungemein schmerzhaft. Ich hatte ja wie wohl so viele gehofft, mindestens noch eine Weile lang davon verschont zu bleiben.

Daneben habe ich ja unmittelbar ab März 2020 praktisch alle Einkommensmöglichkeiten verloren (Musiker, Autor, Vortragender, bei allen Gelegenheiten Verkauf eigener CDs und Bücher, in der Folge Tantiemenausschüttungen durch die GEMA – alles entfällt seitdem bis weit in die Zukunft hinein weitestgehend). Was mich rettete, war die Tatsache, dass ich ab Mitte des Jahres eine Rente (weit unter dem Grundsicherungssatz) und sehr viel private Unterstützung bekommen habe. Die Sklavenbewirtschaftung über die Grundsicherung wird mich jedenfalls nicht zu sehen bekommen.

Seitdem befasse ich mich einerseits mit schriftlichen Darstellungen zu Analyse und Auswertung der Situation, und andererseits mit eingehenden Überlegungen für die Zeit „danach“2. Dies ist – realistisch orientiert an Bill Gates‘ Vorhersage von vier Jahren Corona-Maßnahmen und zehn Jahren Wiederaufbau, Halbzeit haben wir ja schon 2022, vielleicht geht es ja auch schneller – also noch eine Weile hin, die Vorbereitung darauf aber absolut notwendig. Das Chaos wird dann groß sein, und sehr viel fordern. Vor allem wird es nötig sein, dann Gedankengänge erkundet und erübt zu haben, die in dem bis dahin notwendig zunehmenden Durcheinander situationsorientiert Beiträge liefern können für ein Gegengewicht gegen die offenbar vorgesehene Situation von verelendeter, außengesteuerter Bevölkerung, die sklavenartig für alle Drecksarbeit genutzt werden kann, unter vollständiger digitaler Überwachung (die Chinesen machen das derzeit noch etwas „humaner“ als für uns geplant, denke ich) und Gängelung. Wie also wird man dann noch Menschlichkeit ermöglichen können?

Dass die Fahrt in diese Richtung geht, und dass die Weltenlenker – wer auch immer das im Einzelnen sein möge, viele sind sicher einfach inkompetente, etwas dümmliche oder korrupte Mitläufer – aus jedem scheinbaren Rückschlag Nutzen für ihre Pläne ziehen können, zeigt die aktuelle Situation: die Sache mit der sogenannten „Osterruhe“. Ein vollständiger Erfolg für die zerstörerischen Planungen! Denn: so sind ohne große Auseinandersetzungen die Öffnungsdiskussionen vom Tisch, außer man macht es so wie Tübingen und (geplant) das Saarland: Überwachung durch eine App mit zentraler Datenspeicherung, offener Flanke zum Gesundheitsamt (also der staatlichen Überwachung), und nicht Open Source (App „Luca“). So etwas geht jetzt schon so en passant – man denke an die langwierigen Diskussionen um die Corona-App im letzten Jahr – und mit äußerlich sichtbarem Teilnahmeausweis an der digitalen schönen neuen Welt (das wunderbare QR-Code-Armband aus Tübingen). Und alle machen begeistert mit: endlich wieder „Freiheit“!3

Was will ich damit sagen? Ich lerne in einer ziemlich harten Schule derzeit, die vollkommen moralfreien, nur von egoistischer Interessenvertretung bestimmten Gedankengänge materialistischer Wissenschaft und ihrer Nutzer in der Weltenlenkung zu denken und praktisch voraus zu ahnen. Das ist schwer erträglich, aus meiner Sicht aber der einzige Weg, irgendwann in die Vorhand zu kommen. Da sollte man niemals aufgeben.

Sonst werden wir wohl in absehbarer Zeit die völlige Vernichtung aller Menschlichkeit – und in der Folge vielleicht der Menschheit insgesamt – erleben. Das wollen diese Leute ja explizit: Transhumanismus fordert eben seinen Tribut. Man braucht nur noch 500 Millionen Sklaven, der Rest kann weg. Das ist zwar eine Rolle rückwärts ins alte Griechenland (die ganze griechische Kultur wäre ohne das Heer von Sklaven nicht denkbar gewesen!), aber das wünschen sich diese Leute ja auch so.

Es reicht nicht, nur darüber zu klagen. Wir müssen umdenken, weg von einer Wissenschaft, in der der Mensch und sein subjektives Erleben explizit nicht vorkommen darf4 – wie soll man denn auf solcher Grundlage auch etwas Anderes erwarten als maschinelle Steuerung im Sinne äußerer Nützlichkeit? Mir ist es daher immer mehr ein Anliegen geworden, ganz abseits von Wehklagen oder wirrem Gefasel durch klares Denken Wege aus dieser menschheitlichen Prüfung zu finden, für mich selber und wo möglich im Gespräch mit Anderen.

Abgesehen von allen Ungeheuerlichkeiten, die derzeit passieren, komme ich immer mehr zu der Überlegung: will ich überhaupt zurück zum „vorher“? Da war doch schon so viel Gruseliges vorhanden, das nur durch allgemeine Bespaßung und entsprechendes Medienwirken nicht so ins Bewusstsein kam, dass sich Grundsätzliches geändert hätte (Kriege, Atomkraft, Naturzerstörung, Autoritätsglauben, Despotismus etc. pp.). Liegt in dieser jetzigen „Krise“ vielleicht auch die Chance, dass mehr Menschen aufwachen und sich nach einem Sinn für ihr eigenes Leben und das der Menschheit insgesamt fragen, einem Sinn, der einem nicht autoritär von irgendwelchen „Priesterkasten“ (religiös, „wissenschaftlich“, ideologisch oder anderweitig) vorgesagt werden muss?

Ich kann nur in solchen Überlegungen einen Weg finden, die allgemeine Zerstörung, die längst geschehen ist und nun nur immer mehr an die Oberfläche des öffentlichen Bewusstseins kommen wird, überhaupt zu ertragen. Bisher gelingt es mir noch.

Stefan Carl em Huisken

1Rudolf Steiner am 28. Oktober 1917 in Dornach, in: Steiner, Rudolf: Die spirituellen Hintergrunde der äußeren Welt, S. 264 ff über das Buch von Francis Delaisi: La Democratie et les Financiers von 1910, in dem dieser unter anderem geschrieben habe, dass „es dem Großkapitalismus gelungen sei, aus der Demokratie das wunderbarste, wirksamste, biegsamste Werkzeug zur Ausbeutung der Gesamtheit zu machen“.

2Vieles davon findet sich hier auf meiner Website, siehe hier: https://emhuisken.de/tag/corona/

3In den ganzen Diskussionen über richtige, fundierte oder nicht fundierte Zahlen und „wissenschaftliche“ Aussagen kann ich nur Ablenkungsmanöver sehen: die Kritiker müssen ja auch das Gewünschte zu tun bekommen und vom allem Angst, sonst würden sie noch etwas merken …. Ich spare mir diesen ganzen Bereich darum.

4Ja, ich weiß, Erkenntniswissenschaft ist ein schwieriges Feld. Hilfreich sind Rudolf Steiners Dissertation „Wahrheit und Wissenschaft“ und seine „Philosophie der Freiheit“; das ist extrem schwer zu lesen, kommt aber wohl kaum in den Verdacht, Phantasterei und Geschwurbel zu sein.