Von der Rettung der Welt

Heilsam ist nur, wenn
im Spiegel der Menschenseele
sich bildet die ganze Gemeinschaft;
und in der Gemeinschaft
lebet der Einzelseele Kraft.

Dies ist das Motto der Sozialethik
Rudolf Steiner1

Von der Rettung der Welt
und der Dreigliederung des sozialen Organismus

„Die Welt“ als das Ganze der mir gegenüberstehenden Gegebenheiten ist eine in sich in unterschiedlichen Regionen oder „Welten“ gegliederte, wie ich in Heft 11 von „DIE LAHNUNG – Mitteilungen für individuelle Entwicklung und Lebenskunde“ aufzuzeigen versuchte2. Sie erscheint der Betrachtung durch den heutigen Menschen als fertiges, feststehendes Werk, das dem Walten von Lebensprozessen entsprossen ist; diese wiederum sind Ausdruck eines zielgerichteten Wollens (nicht unbedingt bewusst oder gar selbstbewusst) – ich schrieb damals auch von Intentionen als geistige Tatsachen, die gleichsam Offenbarung dieses Wollens sind; schließlich findet sich das Wesen allen Geschehens in einer geistigen Region, in der es keinerlei Differenzierung räumlicher oder zeitlicher Art gibt, in der aber doch alles zugleich als Möglichkeit angelegt ist. Dieser letzteren Region gehört auch das Ich des Menschen an, insofern es diese „Welten-Anschauung“ in sich realisiert und so zum Träger der Selbst-Bewusstwerdung des betrachteten Welt-Ganzen wird.

Der Mensch ist also in diesem Sinne einerseits letztes „Werk“ in einer aufeinanderfolgenden Reihe von sich entwickelnden Gegebenheiten, und demgegenüber zugleich das erste Werk, das seinen eigenen Ursprung in sich hervorzubringen in der Lage ist, zunächst in einer abstrakt anmutenden geistig-denkerischen Innenschau auf sein eigenes Erleben der Welt. Damit ist aber in ihm im Prinzip – das heißt in der Form des Selbstbewusstseins – zugleich der Ursprung des Ganzen gegeben.

Dieser Ursprung ist im noch undifferenzierten Sein nicht in der Lage, sich seiner selbst bewusst zu werden. Dazu muss er sich offenbaren – was das Auftreten einer ersten Trennung von Wahrnehmungsinhalt (den eigentlichen Offenbarungsinhalten) und wahrnehmendem Wesen (als Offenbarung des Wollens, dass nämlich Wahrnehmung sein möge) einschließt. Offenbarung ist also unmöglich ohne Wirksamkeit in dem Sinne, dass sie als Voraussetzung und Folge gleichermaßen ihre eigene Entgegennahme einschließt. Die Offenbarung läuft in die Intention zur Schaffung eines wahrnehmenden Wesens ein, welche wiederum in Ihrer Wirkung ein solches Wesen hervorbringt – als Werk.

Rudolf Steiner schildert drei Formen des Seins: des wesenhaften, noch undifferenzierten, unentwickelten (Steiner nennt es auch „involvierten“) Seins; des sich offenbarenden, also sich entwickelnden („evolvierenden“) Lebens; und schließlich der dadurch bewirkten gestalteten Form. Diese Dreiheit nennt er die drei Logoi, oder auch die Dreifaltigkeit aus Vater, Sohn oder Wort, und Heiligem Geist3.

Erst im Menschen, als letztem Werk dieses Evolutionsprozesses, tritt ein gänzlich vom Vater unabhängiges Wesen auf, das also notwendig die Trinität der drei Logoi als unmittelbar Gegebenes verlieren musste; nur durch diese Unabhängigkeit kann der Mensch ein vollgültiges, selbständiges Spiegelbild des Urgrundes sein: der Mensch als Gottes Bild.

Es ist sprechend, wie Steiner als erste Schöpfung der Allmacht das Chaos bezeichnet, das „Tohuwabohu“ des alten Testamentes also. Erst im zweiten Schritt, im eigentlichen Evolutionsprozess, wird alles nach Maß und Zahl geordnet („All-Weisheit“), um schließlich im dritten Schritt, in der „All-Liebe“ vom Prinzip der Sympathie (Anziehung) und Antipathie (Abstoßung) durchdrungen zu werden4.

Wir, als Gesamtheit der Menschen, sind nun als Gewordene jeder einzelne Bild des Urgrundes. Was im Vater noch als Chaos, als Ungeordnetes doch aber Eines war, ist im Menschen nun in der Mannigfaltigkeit, im chaotischen Durcheinanderwirken der Einzelmenschen anfällig für den Zerfall, die Zerstörung, ist dem Tode verfallen. Die menschliche Gesellschaft ist insofern ja auch Bild der Zerstörung des einheitlichen Ganzen, denn was Mensch ist, tritt in der Vielheit auf. Erst wenn der einzelne Mensch in die Lage kommt, sich selber als einen gültigen Ausdruck der geistigen Urform „Mensch“ zu verstehen, die doch in jedem einzelnen Exemplar den Vatergott spiegelt, und darin den Aufruf erkennen kann, die ihm geschenkte All-Liebe zur Erlösung der Welt zu verwenden, kommt neues Leben in das ansonsten ersterbende Werk hinein.

Um diesen Schritt gehen zu können, braucht der Mensch allerdings – und genau in diesem Punkte – Anleitung und Hilfe. Diese wurde ihm zuteil, als der Vatergott sich im Sohn – dem Weltenwort – verhüllte, und sich so seinem Spiegelbilde – dem Menschgeist – offenbarte im Christus5. Geht der Mensch also erkennend, das heißt, dem Gegebenen Begriffe entgegentragend, mit dem Christusereignis um, so kann er dadurch den Sinn seines eigenen Daseins erfahren. Damit macht er sich zum Offenbarer des in ihm selbst gespiegelten ersten Logos, des Vaters, und stellt sein Tun (zum Beispiel im Begriffe-Bilden) dadurch in den Dienst der zweiten Logos, des Christus, der erst geordnet Leben und Entwicklung dem Chaos hinzufügt.

Aus diesem inneren Entwicklungsschritt kann darum eine Ordnung des äußeren Chaos im Zusammenwirken der Menschen hervorgehen. Diese Ordnung muss dann so sein, dass sie ein Spiegelbild dessen gibt, was der Mensch im Blick auf sein eigenes gewordenes Sein im Geiste als sich selber erkennen kann. Dieser Blick fällt letztlich auf das Bild der drei Logoi, wie sie sich im heutigen Menschen als Werk darleben, aber so, dass es den Charakter des Selbstbewusstseins bekommt. Der Mensch tritt also hier als darum Ringender auf, sich selbst als Evolution des Göttlichen zu erleben.

Was Rudolf Steiner als „Dreigliederung des sozialen Organismus“ beschrieb, die notwendig in das Leben der Menschen unserer Zeit hineinkommen müsse, ist also kein irgendwie ausgedachtes System zur Erlangung eines möglichst glücklichen Lebens für alle, sondern ein auf ernster Selbsterkenntnis des Einzelnen fußender Schritt hin zur Erlösung aller Wesen, aller Welt. Rudolf Steiner beschreibt diese Situation auch so: „Das Wort verhüllt sich im Geist und offenbart sich dem Vater“6. Wie sich der Vatergott im Christus verhüllte um sich dem ins Werk gefallenen (Menschen-)Geist zu offenbaren, so verhüllt sich nun der Christus-Sohn – das Wort – im Geist, also im Menschen, um sich dem Vater zu offenbaren. Das ist die wahre Bedeutung des paulinischen Wortes: „Nicht ich, der Christus in mir“!

Wer also aus der Erkenntnis der im eigenen Wesen sich realisierenden Trinität heraus sein Leben bewusst zur Offenbarung des Christus macht, der sich im egoistischen, an der Sinnenwelt hängenden Einzel-Ich verhüllt, wird zum wahren Mitarbeiter der Schöpfung im Werk Gottes. Ganz konkret bedeutet dies, seinen inneren lebendigen Geist-Anblick der Trinität zum Ausgangspunkt seines Handelns zu machen, sein eigenes Geistesleben also zu befreien von den Egoismen und Gewohnheiten der eigenen gewordenen Person, und so zu einem lebendigen, konkreten menschlichen Quell einer wirklich frei errungenen „Dreigliederung des sozialen Organismus“ zu werden. Die von Rudolf Steiner immer wieder als unverzichtbarer Anfang einer sozialen Umgestaltung geforderte „Schaffung eines freien Geisteslebens“ wird auf diese Weise konkret und kann sofort, von jedem Einzelnen in Angriff genommen werden.

Selbsterkenntnis wird so zur Christuserkenntnis, von der aus die All-Liebe des Menschen in die werdende Menschheit einströmen kann; nur die Erkenntnis ermöglicht die richtige Unterscheidung. Der Einzelne, der im Anderen wie in sich selbst den verhüllten Christus erkennt, kommt zu einer anderen Auffassung vom Recht im sozialen Leben, als sie allen denkbaren Utopien eignet; dort ist Recht immer nur möglich als verabredetes, dann aber über jedem Einzelnen stehendes, festes Regelwerk, das der Gewalt zu seiner Durchsetzung bedarf. Der durchchristete Mensch bedarf keiner Gewalt, um dem anderen – Christusträger wie er selber – menschenwürdig zu begegnen.

Gewiss wird ein solcher Zustand der menschlichen Gesellschaft, der letztlich alles geschriebene Recht überflüssig macht, noch lange auf sich warten lassen7. Entstehen kann er aber dennoch nur, wenn die Wenigen, die heute schon aus christlicher Selbsterkenntnis im sozialen Miteinander zu leben versuchen, nicht nachlassen in ihrem Streben, und vor allem die Erkenntnisgrundlagen für ein wirklich lebendiges „demokratisches“ Miteinander immer mehr Verbreitung finden. Dreigliederung entsteht im sozialen Organismus nicht durch Anwendung irgendwelcher Systeme, sondern durch ernste Arbeit jedes Einzelnen an sich selbst. Darin liegt die „Gleichheit“, die die Menschen im Rechtsleben erfahren können.

Und schließlich, wenn der christlich erkennende Mensch sich dem allen Menschen eigenen Welten-Erden-Wesen zuwendet, so wird ihm das jedem Wesen angemessene Teilen dessen, was allen gemeinsam aus der Schöpfung des Vaters zukommt, eine Selbstverständlichkeit sein. In gemeinsamer Arbeit im Weltenlaufe all die Dinge, die aus dem ursprünglich göttlichen Leben ebenso wie der Mensch selbst in die Werkwelt gefallen und so dem Wirken des „widerrechtlich Fürsten der Welt“ anheimgefallen sind, in den eigenen Geist aufzunehmen durch eine geistgemäße Wissenschaft, und sie so schon in der Erkenntnis einer ersten Erlösung zuzuführen, wird die gemeinsame Richtschnur wirklich „brüderlichen“ Handelns der Menschen werden. Nur, was ich wirklich kenne und um seiner selbst willen achte, kann ich in meinem Handeln angemessen würdigen; das gilt für Menschen ebenso wie für Tiere, Pflanzen, Steine, die Elemente ebenso wie alle geistigen Wesen, die den Erscheinungen der Werkwelt zugrundeliegen.

Genau wie bei der „Schaffung eines freien Geisteslebens“ kommt es also im Rechts- und Wirtschaftsleben auf den Einzelnen an, auf seinen Erkenntnismut, sein Erkenntnisschaffen. Weil die Menschen nicht erkennen, was in jedem Einzelnen veranlagt ist als Richtschnur eines wirklich menschenwürdigen Umganges miteinander, bleibt das Chaos bestehen und geht nicht über in ein geordnetes Miteinander. Jeder Einzelne, der aus Erkenntnis zu handeln versucht, ändert das Ganze. Nur so kann die Welt gerettet werden aus der Erstarrung in zerstörerischen Machtkämpfen, die aus triebhaften, dumpfen oder ideologisch-maschinenhaftem Egoismus entstehen müssen. Leitschnur kann dabei der Blick auf die drei Logoi in ihrer Realisierung im selbsterkennenden Menschen werden.

Also: frisch ans Werk?

© Stefan Carl em Huisken 2023

1Steiner, Rudolf: Wahrspruchworte. GA 40. – Dornach, 1975. S. 256.

2em Huisken, Stefan Carl: Was ist die Welt? – In: DIE LAHNUNG, Nr. 11, S. 7 ff. Hier auf der Website unter https://emhuisken.de/was-ist-die-welt/

3vgl. Steiner, Rudolf: Bewusstsein – Leben – Form. Grundprinzipien der geisteswissenschaftlichen Kosmologie. GA 89. – Dornach, 2015. S. 237. .pdf im Internet: https://odysseetheater.org/GA/Buecher/GA_089.pdf

4vgl. ebd., S. 238

5vgl. ebd.

6ebd.

7Ebenso wie umgekehrt der Hereinbruch der römisch-juristischen Denkweise ins Germanische z.B. bei den Friesen erst spät dazu führte, dass lebendig gefühltes und in der Gemeinschaft praktiziertes Recht überhaupt aufgeschrieben wurde.


Cover Wahnsinn und Denken Offenbarung des Menschen Rettung der Welt

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Der Mensch im sozialen Organismus

Was ist der Mensch im Verhältnis zur ihn umgebenden Welt, insbesondere im Hinblick auf das Zusammenwirken mit anderen Menschen, also dasjenige, was man das „Soziale“ zu nennen gewohnt ist, und das in der Gesamtheit seiner Glieder einen Organismus bildet? Der einzelne Mensch wirkt in diesen sozialen Organismus hinein, und zugleich prägt dieser die Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen. Welche Bedeutung hat der Einzelne im Ganzen? Solche Fragen mögen heute Manchem „unter den Nägeln brennen“. Ein Versuch, mit solchen Fragen umzugehen.

Der Mensch

Der Mensch ist ja ein vielfältiges Wesen: man kann einen nur geistig fassbaren inneren Teil, einen leiblich-äußerlichen und einen mittleren, seelischen Teil unterscheiden, in welchem letzteren die beiden anderen vorkommen, und der insofern das Menschen-Ganze zusammenhält und erfahrbar macht.

Geist

Den nur geistig fassbaren inneren Teil nennen wir gewöhnlich ICH; eine merkwürdige Benennung, die jeder Mensch gleichermaßen für sich selber verwendet, so dass dasjenige, worauf mit diesem Wort gewiesen ist, in jedem Menschen anders erscheint. Alle verwenden denselben Namen, aber jeder für ein Anderes, und darin sind die Menschen doch alle wiederum gleich. Wie kann das sein, dass alle Menschen sich gleich benennen1, aber doch jeder etwas Verschiedenes damit meint?

Was wir in dieser Weise alle in uns tragen, kann niemals in einer abschließenden „Definition“ festgezurrt werden, denn es ist in ständiger Veränderung von Augenblick zu Augenblick, von Mensch zu Mensch, und doch in dieser Veränderlichkeit seiner Grundform nach ewig gleich. Es zu fassen, kann nur jeder bei sich selber, ganz im Innern beginnen. Dennoch prägt es sich in der Welt aus in jedem für sich einzigartigen, individuellen menschlichen Lebenslauf.

Seele

Der Ort, wo dieses allen Menschen eigene, aber doch als Ganzes unbekannte, unwahrnehmbare Wesen ICH erscheint, ist die Seele. Nehmen wir an dieser Stelle – unter Hintanstellung philologischer Gebräuche – das Wort einmal nach seinem Laut: dann ist die Seele dasjenige Feld, wo „das Sehen lebt“, wo ein wahrnehmendes Tun sich in das Leben stellt. In dieser Seele tritt also das ICH auf, indem es sich einer „Welt“ genannten Gesamtheit von Wahrnehmungen gegenüber erlebt.

Von sich selber weiß das ICH eigentlich nur, dass es existiert, der Welt gegenüber. Einen wirklichen Wahrnehmungsinhalt von sich hat es nicht, denn es ist ja gerade das durch die Seele wahrnehmende Wesen.

Die Seele lebt also zwischen dem ICH und der Welt, fühlt Missklänge oder Harmonie zwischen beiden, Antipathie und Sympathie. Sie wirkt hinein in alles, was zu ihr gehört, indem sie ein Wollen zur Geltung bringt. Sie kommt zu einem Bewusstsein von Ich, Welt und sich selber durch das Denken. Diese Drei – Denken, Fühlen und Wollen – sind also die Grundtätigkeiten der Seele.

Keine dieser Grundtätigkeiten steht jedoch für sich, gleichsam „autark“ und unabhängig von den anderen. Jedem Tatimpuls, dem ein Mensch folgt, sind in ihm gewordene Erkenntnisse und Erfahrungen ebenso zu eigen wie persönliche Zu- und Abneigungen. Dennoch kann man feststellen, dass jeweils im Denken, Fühlen und Wollen unterschiedliche Prinzipien im Vordergrund stehen:

  • Im Denken stehen Schlüssigkeit, Logik, Angemessenheit, ja eigentlich Fragen von Wahrheit oder Unwahrheit im Umgang mit dem vorliegenden Gewordenen der Welt – der individuellen Welt-Anschauung also – im Vordergrund. Soll der Wahrheit einer Sache nahe gekommen werden, dürfen Fragen des Fühlens wie Sympathie oder Antipathie ebensowenig bestimmend werden wie persönliche Willensimpulse des Einzelnen.
  • Das Fühlen zeigt nur dann das Verhältnis zwischen dem Inneren und Äußeren des Menschen ungehindert an, wenn es gleichsam frei schwingend zwischen den Polen von Zu- oder Abneigung in rhythmischer Bewegung bleiben kann. Nüchternes, „kaltes“ Vorstellen der Welt, wie es zur Gewinnung von Wahrheit nötig ist, hat immer ganz notwendig und berechtigt etwas Antipathisches; wollende, gestaltende Zuwendung ist dagegen unweigerlich sympathisch durchtönt. Soll der Mensch im Fühlen also seine Mitte – das „Herz“ – nicht verlieren, darf es weder von Denken noch vom Wollen einseitig vereinnahmt werden. Nur frei schwingend kann es den Werdeprozeß des Menschen sinnvoll regulieren.
  • Das Wollen richtet sich ganz auf das Ziel, den zu erreichenden Zweck. Dieser ist nun etwas, von dem man wohl Vorstellungen hat, wenn man sich einem Willensimpuls hingibt. Inwieweit dieser aber wie vorgestellt Realität haben wird, ist im Tun noch nicht bekannt; nicht einmal die Art, wie der Übergang von der Vorstellung des Gewollten in die konkrete Tat genau zustande kommt, kennt der tätige Mensch im Einzelnen.
    Bindet man nun seine Taten an die eigene Gefühlswelt mit ihren Sympathien und Antipathien, so wird das Wollen egoistisch, denn es wird dann durch das ganz persönliche, fühlende Verhältnis zur Welt gelenkt, und der ursprüngliche Zweck gerät aus dem Blick (es sei denn, der angestrebte Zweck ist von vornherein ein egoistischer).
    Bindet man seine Taten an die eigenen, gewordenen Erkenntnisse, die eigene Anschauung von der Welt, so entsteht nichts wirklich Neues, denn es wird letztlich nur reproduziert, was aus dem schon Gewordenen hervorgeht. Wer zu viel zweifelt an seinem eigenen zukunftsgerichteten Streben, wird immer den Erfolg am schon Erreichten messen; die größten Fortschritte und neuen Einschläge im Fortkommen der Menschheit sind aber meist erreicht worden, wo das heiße Streben, die Liebe zur Tat, auch in aussichtslosester Lage, ganz unabhängig vom Gefallen oder Nichtgefallen der Situation, das Ziel weiterverfolgt hat und so oftmals das scheinbar Unmögliche doch erreichen konnte.
    Das Wollen, wenn es wirklich der Sache wegen ins Leben tritt, ist daher eigentlich die Liebe zur selbstgewollten Tat.

Leib

Von der Außenwelt Kenntnis erlangt die Seele – und durch sie das Ich – vermittels des Leibes, den sie an sich trägt. Er ist das äußerlichste Glied des Menschen, über das ja die heutigen Menschen glauben, schon recht gut Bescheid zu wissen. Was die äußerlich wahrnehmbaren Tatsachen (Anatomie, Chemie, Mechanik etc.) angeht, trifft dieser Glaube auch zu. Aber bis heute weiß noch kaum jemand wirklich genau, worin und wodurch das diesem Leib eigene Leben besteht, warum er genau so ist, wie er ist bei jedem individuellen Menschen, und vor allem, wie dieser Leib mit dem Seelischen und dem Geistigen des Menschen zusammenwirkt. Darüber gibt es allenfalls Theorien, die aber von ehrlichen Wissenschaftlern immer als begrenzt gültig und sehr vorläufig angesehen werden.

Was beobachtet werden kann, ist, dass der Leib das Mittel des Menschen ist, durch das er der Außenwelt gegenübertreten kann; der Leib ist Teil dieser Außenwelt und ebenso Teil seines menschlichen Besitzers. Durch die leibliche Existenz des Menschen wird vermittels der Seele aus der allgemeinen Form des ICH-Seinsdie lebendige Anwesenheit eines individuellen erlebenden Menschen in der Welt.

So angeschaut, erscheint der Mensch als ein dreigliedriges Wesen aus Geist, Seele und Leib. Jedes dieser Glieder ist weiter in sich differenziert; für die hier durchgeführte Betrachtung ist zunächst vor allem die Gliederung der Seelentätigkeiten in Denken, Fühlen und Wollen von Bedeutung, warum auch auf diese näher hingewiesen wurde, und Weiteres über Gliederungen von Leib und Geist weggelassen wurde.

Organismus

Im Sinne des griechischen Wortes organon =„Mittel, Hilfsmittel, Werkzeug“ liegt es, einen lebendigen Zusammenhang sinnvoll ineinander wirkender Organe, die zusammen wiederum ein in sich abgeschlossenes Ganzes bilden, als „Organismus“ zu bezeichnen. Jedes Organ dient diesem Ganzen gleichsam als spezialisiertes „Werkzeug“ für einen besonderen Zweck.

Jedes Organ kann aber eine relative Selbständigkeit bewahren, indem seine Wirkens- und Lebensprinzipien sich von denjenigen der anderen Organe unterscheiden. Diese Organe wirken ineinander im Rahmen des Gesamtorganismus, durchdringen sich in ihrer Wirkung, eben so, wie es in allen lebendigen, aus sich heraus sich entwickelnden Prozessen geschieht. Die Gesetzmäßigkeiten, die zum Beispiel der Verdauung im menschlichen Organismus zugrundeliegen, haben einen gänzlich anderen Charakter als diejenigen, nach denen die seelischen Prozesse im Denken, Fühlen und Wollen vonstatten gehen. Dennoch wirken beide Bereiche im ganzen Menschen zusammen.

Dagegen folgt in einem Mechanismus, einer Maschine jeder Teil denselben zugrundeliegenden, physisch-mechanischen Naturgesetzen. Entsprechend wirken die einzelnen Teile auch wie äußerlich getrennte Gegenstände aufeinander, nur zusammengefügt durch das Konstruktionsprinzip des Gesamtmechanismus.

Nun kann ein lebendiger Organismus durch seine aus sich heraus erfolgende Entwicklung in Gegensatz zu den Tatsachen, Ereignissen und Wesen seiner Umgebung kommen; er trägt sein Bildeprinzip in sich, ebenso wie jeder ihm begegnende fremde Organismus. Sind beide zu unterschiedlich konfiguriert, passen sie also nicht zueinander, so werden sie einander zu „Störenfrieden“. Da wirkt dann das Leben, das Polaritäten immer wieder in Prozesse überführt – die Organismen werden in einen Klärungsprozess eintreten müssen, jeder nach seinen Prinzipien (siehe besonders den letzten Abschnitt dieses Artikels).

Mechanismen sind aber immer von Außen her gestaltet; für alle Mechanismen gelten die gleichen physikalisch-mechanischen Bildegesetze. Bei ihnen kann also lediglich von einem Konstruktionsmangel gesprochen werden, wenn sie einander stören; bei der Konstruktion wurde das Zusammenwirken nicht genügend berücksichtigt. So etwas ist dann immer nach den einheitlichen zugrundeliegenden Gesetzen „reparierbar“.

Dieser Unterschied zwischen Maschinen, die grundsätzlich nach den einheitlichen Naturgesetzen des Maschinenwesens funktionieren, und Organismen, die jeweils ihr eigenes Bildprinzip in sich tragen und bis in die Bildung der einzelnen Organe hinein sehr unterschiedlich sein können, ist im heutigen Bewusstsein vielfach verwischt. Man betrachtet auch Menschen, Tiere, Pflanzen, die ganze Natur nach dem Modell von Maschinen, und meint, dass man eben gewisse Einzelheiten lebendiger Wesen bloß noch nicht physikalisch-mechanistisch erklären kann, wie zum Beispiel dasjenige, was alle diese Wesen zu selbständiger Entwicklung aus sich heraus veranlasst: das Leben selbst. Wenn man nicht weiß, was das Leben ist, wie will man dann wissen, dass es sich überhaupt physikalisch-mechanistisch erklären lässt?

Die wesentlichste, grundlegende Eigenschaft von Organismen – im Unterschied zu Maschinen oder Mechanismen – ist eben die Tatsache, dass sie selbständiges Leben in sich tragen.

Sozialer Organismus

In diesem Sinne wird hier von einem „sozialen Organismus“ und nicht einem „Mechanismus“ oder einem „System“ gesprochen, wiewohl man zugeben muss, dass manche Organe im Sozialen (z.B. der Verwaltungsbürokratie) eher nach mechanisch-maschinellen als nach lebendig-organischen Gesichtspunkten gestaltet sind2. Das soziale Feld wird insofern als ein in sich selbständiges betrachtet, das seine eigenen Bildgesetze in sich trägt und dadurch auch ein eigenes, selbständiges Leben entwickelt.

Dass dies so sein muss, ergibt sich aus dem Wort sozius = „Teilhaber, Gefährte, Genosse“, was bedeutet, dass die „Genossen“ alle Teil haben an einem gemeinsamen Besitz. Wohlgemerkt: nicht jeder hat seinen Teil für sich ganz allein, sondern alle haben das Ganze gemeinsam. Dem entspricht die Eigenschaft von Organismen, dass ihre Glieder ineinander und nicht bloß äußerlich aufeinander wirken (s.o.)

Eine solche Umschreibung des sozialen Organismus trifft ohne Zweifel auf die Gesamtheit der auf der Erde lebenden Menschen der Erde gegenüber zu, kann in diesem Rahmen eingeschränkt aber auch für Teile des Ganzen, also zum Beispiel eine regionale Bevölkerung im Hinblick auf die Naturverhältnisse der von ihnen bewohnten Region geltend gemacht werden. Solche regionalen Glieder3 können dann als für die örtlichen Bedingungen angepasste Organe des großen sozialen Organismus der Gesamtmenschheit und ihrer Welt aufgefasst werden.

Dieser soziale Organismus insgesamt wird von denjenigen gebildet, die in ihm „Genossen“ sind; dies sind – mit der Möglichkeit des Bewusstwerdens der eigenen Situation im Ganzen ausgestattet – zunächst die beteiligten Menschen4. Es liegt nun auf der Hand, dass in einem von Menschen gebildeten und in seinen Organen gestalteten Organismus immer dann die größtmögliche Übereinstimmung des Einzelnen mit dem Ganzen gegeben ist, wenn die Bildung der Organe, ja des ganzen Organismus die grundlegenden Charakteristika der beteiligten Menschen abbildet, und darum jeder Einzelne im Ganzen den ihm entsprechenden Mitwirkungsort finden kann.

Wir haben oben auf drei wesentliche Tätigkeitsformen der menschlichen Seele geschaut: Denken, Fühlen und Wollen. So mag hier die Frage weiterführen, wie diese drei Tätigkeiten jedes einzelnen, seelisch erlebenden Menschen im sozialen Organismus ineinander wirkend tätig sind.

Geistesleben

Alles dasjenige, was im Einzelnen mit dem Denken und der individuellen Weltauffassung zu tun hat und insofern alles Erkennen der Tatsachen und ihrer Wahrheit betrifft, wird auf das Gesamt-Menschheitliche orientiert dadurch, dass jede einzelne, individuelle Weltsicht einschließlich ihres Ausdrucks im gemeinsamen Leben, die ja immer nur dieser eine Mensch haben kann so wie er sie hat, sich mit allen anderen Welt-Anschauungen zu einem menschheitlichen Geistesleben zusammenschließt, das dann erst dasjenige hervorbringen kann, was man „Wahrheit“ zu nennen pflegt.

Jeder Ausschluss auch nur einer einzigen individuellen Weltsicht in Bezug auf das jeweils in Frage Stehende, zum Beispiel aus rechtlichen oder wirtschaftlichen Gründen, führt zu einer Abweichung von der einheitlichen Gesamt-Wahrheit, also zu Illusion, oder anders gesagt Unwahrheit und Lüge. Für das gesunde Entwickeln dieser Gesamt-Wahrheit im geistigen Leben der Menschheit besteht daher die Bedingung der Freiheit jeder geistigen Betätigung und gleichzeitig der Anerkennung jeder, auch der gegensätzlichsten Sichtweise als im Rahmen des Ganzen zunächst gültig. Erst die freie Konkurrenz der Ansichten kann entscheiden, was der gesamtheitlichen Wahrheit förderlich ist und sich darum durchsetzen kann. Nur durch verstehende Wahrnehmung des Fremden und seine Zusammenfügung mit dem Eigenen in jedem Menschen kann nach und nach die Gesamt-Wahrheit im Menschen entwickelt werden.

Wirtschaftsleben

Im Wirtschaftsleben lassen die Menschen ihre Willensimpulse in der Nutzung der vorhandenen Weltgegenstände zum Zwecke Erhalts und der Pflege der irdisch-leiblichen Existenzgrundlage zusammenfließen. Dies ergibt sich schon allein daraus, dass die Menschen einander eben alle „Genossen“ sind, Teilhaber am Ganzen der Welt im Sinne eines gemeinsamen Besitzes. So lapidar der Satz klingt, so vertrackt sind allerdings die praktischen Probleme, die dadurch aufgeworfen werden.

Der für uns Heutige zumindest abstrakt selbstverständliche Blick auf die Begrenztheit der global vorhandenen Ressourcen ist nämlich eine durchaus neue Sache; in der Vergangenheit galt Besitz und Eigentum als etwas, was dem Einzelnen zukommt gemäß seinem Schicksal, seiner Herkunft aus einer bestimmten sozialen Gruppe, seiner Macht über Andere (d.h. auch der Macht, andere zu berauben). Persönliche Tüchtigkeit spielte dabei eine geringere Rolle, es sei denn, sie lebte sich in Eroberungen oder anderen Formen der Besitzergreifung aus. Dies war so lange möglich, wie die Größe der Ressourcen die Möglichkeiten der danach greifenden Menschen deutlich überwog. Diese Zeit hat aber nun schon länger geendet. Die dessen ungeachtet immer noch vorhandene, gewohnheitsmäßige Fortsetzung der gewordenen Verhältnisse der Vergangenheit entspricht nicht den Notwendigkeiten; dies führt zu Konflikten.

Aus begrenzten Ressourcen das für Alle mögliche Beste zu erzielen, kann nur im vertrauensvollen Zusammenwirken der Beteiligten gelingen; ohne Vertrauen entsteht unnötiger Verbrauch, unnötige Tätigkeit, also letztlich Verschwendung. Das Wirtschaftsleben braucht daher freieAssoziation im vertrauensvollen Zusammenschluss der Kräfte für alle Aktivitäten. Jeder Beteiligte bringt dabei dasjenige ein, was ihm zu eigen ist: das sind auf der einen Seite Fähigkeiten, Talente, persönliche Eignung und Tüchtigkeit für eine bestimmte Tätigkeit, auf der anderen Seite die Lebensbedürfnisse, die sich für ihn und die mit ihm verbundenen Menschen ergeben. Beides sind Vorgaben für sinnvolles gemeinsames Wirtschaften. Die assoziative Tätigkeit der zusammenarbeitenden Menschen besteht dann darinnen, die vorhandenen Tätigkeitsmöglichkeiten und natürlichen Ressourcen mit den gegebenen Bedürfnissen im praktischen Wirtschaften in einen Ausgleich zu bringen. Dieser Ausgleich geht aus dem Wollen der Beteiligten hervor.

Rechtsleben

Aus dem Vorstehenden ergibt sich einerseits die Notwendigkeit für die zusammenlebenden Menschen, die Freiheit des Geisteslebens sicherzustellen, damit die Erkenntnis-Entwicklung hin zu einer menschheitlichen Wahrheit ungehindert stattfinden kann. Denn aus diesem Erkenntnisbemühen können sich erst die Gesichtspunkte ergeben, die bei der Gestaltung auch der anderen Glieder des sozialen Organismus leitend sein können, zum Beispiel konkret die Bestimmung der Eignung von Menschen für diese oder jene Tätigkeit im Wirtschaftsleben, einschließlich der Zuteilung der Verfügungsmacht über Produktionsmittel, oder als Richter im Rechtsleben. Die praktische Regelung der Übertragung dieser Verfügungsgewalt an den oder die dafür am besten geeigneten Menschen ist dann wieder eine Rechtsangelegenheit.

Auf diesem mittleren, dem Rechtsgebiet, findet also der Ausgleich zwischen der denkenden Welt-Anschauung und dem wollenden Hineinwirtschaften in die Zukunft statt. Dieser Ausgleich ist ein fühlender, denn er muss in jedem Einzelnen zugleich mit seinem Darinnenstehen im Ganzen als Erleben seiner Menschenwürde erreicht werden. Im Zusammenfließen des Fühlens des Einzelnen mit demjenigen aller beteiligten Anderen ergibt sich dasjenige, was das „Recht“ in einer solchen Gemeinschaft bestimmen kann.

Viel mehr als in der Pflege eines umfangreichen Satzes bestehender Gesetze, Regeln und erfolgter Urteile in konkreten Fällen – einer Pflege, die zu einem ständig wachsenden, für den Einzelnen immer unüberschaubareren, automatenhaften Bürokratismus des Rechts führen muss – bildet also die Orientierung am lebendigen Rechtsgefühl die Leitschnur. Solche Handhabung des Rechtes in jeweils der Zeit entsprechender Form gab es in manchen mittelalterlichen Gesellschaften; besonders im Hinblick auf die individuelle Freiheit verfasst zum Beispiel bei den Friesen5 zur Zeit der sogenannten „Friesischen Freiheit“6.

Diese mittelalterlichen Rechtsverfassungen waren getragen von der Ablehnung zentralistischer, gleichsam „von oben herab“ geformter Systeme, die vor allem den sie formulierenden und lenkenden Mächten den Erhalt ihrer überkommenen Vorrechte sichern sollten; sie sind insofern historische Vorbilder lebendiger, reale Demokratie (im Rahmen der Zeitverhältnisse) fördernder Handhabung des Rechtes. Aus ihnen erwuchsen zugleich Blütezeiten der Wirtschaft und der Kultur.

Abirrungen

Die heutige gesellschaftliche Handhabung missachtet, ja ignoriert in weiten Teilen die Notwendigkeiten des sozialen Organismus. Das bedeutet nicht, dass diese Notwendigkeiten nicht bestehen. Es kann aber als Krankheitssymptom des sozialen Organismus aufgefasst werden.

Exkurs: „gesund“ und „krank“

Nun kommt man mit der Verwendung eines solchen Begriffes wie „Krankheit“ sofort in eine Kalamität: es existiert nämlich bis heute keine einhellig akzeptierte Definition davon7. Insofern ist es notwendig klarzustellen, was hier darunter verstanden werden soll und warum.

Das Fehlen einer allseits anerkannten Beschreibung von dem, was man „Krankheit“ nennen will, mag einerseits die Sache verkomplizieren; andererseits nötigt sie dazu, sich selber einen lebendigen Begriff davon zu entwickeln, der in sich beweglich genug ist, um überall mit den Tatsachen in Übereinstimmung gebracht zu werden.

Gemäß einem fast scherzhaft gemeinten Aphorismus kann man das einzelne menschliche Leben als eine Krankheit auffassen, die immer zum Tode führt. Ihre Ursache liegt dann in der Tatsache des Geborenseins. Und ihr Verlauf ist davon geprägt, wie aufbauende Kräfte aus der Geburt ins Verhältnis treten zu den abbauenden Kräften des Todes.

So betrachtet, kann wohl auch jede gesonderte Krankheitserscheinung als Ergebnis des Verhältnisses von auf- und abbauenden Kräften betrachtet werden; die eigentliche Ursache für das Auftreten dieser besonderen Krankheit ist dann in sehr vielen, fast allen Fällen vor dem Beginn des Auftretens von Krankheitserscheinungen zu suchen – ebenso wie die Geburt vor dem irdischen Leben steht.

Im „normalen“ Leben werden Aufbau und Abbau im Rahmen der Lebensführung in einem ausgeglichenen Verhältnis gehalten. Wir „verbrauchen“ sozusagen unseren Leibesorganismus – der uns das Leben im Irdischen ermöglicht – während unserer aktiven Tageszeit; zu einem Teil wird das im zeitweisen „Aussetzen“ des „Verbrauchers“ im Schlaf durch die natürlichen Lebensprozesse ausgeglichen. Was aus der Geburt an Lebenskraft mitgebracht wurde, endet aber zu irgendeinem Zeitpunkt, und der „Verbrauch“ beginnt zu überwiegen. Schließlich tritt der Tod ein.

Das Überwiegen der Aufbaukräfte in Kindheit und Jugend führt unter anderem zu leidvollen und schmerzhaften Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit den gewordenen, fest in sich gefügten Verhältnissen der Außenwelt8; an dieser Auseinandersetzung wächst der Mensch und lernt, in sich immer neue Kräfte für das Leben im Irdischen zu entwickeln. Das Überwiegen des leiblichen Abbaus im Alter fordert die Entwicklung geistiger Kräfte, die für den Gang in den Tod gebraucht werden; auch dies kann sehr schmerzhaft und belastend werden. Dabei fordert der immer unbeweglicher werdende Leib eine neue, unabhängige Beweglichkeit im Geistigen.

Überall, wo im Gesamtorganismus das angemessene Gleichgewicht von Auf- und Abbau gestört ist, tritt dies ins Bewusstsein als leid- und schmerzvolle Erfahrung. Als eine besondere, für sich stehende Krankheit gilt es, wenn nur in einem Teil des Gesamtorganismus das für diesen Teil – das jeweilige Organ – optimale Gleichgewicht nicht gegeben ist. Ein Prozess, der an einem Ort im Organismus seine Berechtigung hat, gleichsam als „gesund“ gilt, kann daher an einem anderen Ort hinderlich, also als „krank“ auftreten9.

Die einzelnen Prozesse im Organismus sind also für sich genommen niemals „krank“ oder „gesund“, vielmehr bestimmen Ort und Zeit ihres Auftretens, ob von einer „Krankheit“ gesprochen werden kann. „Gesundheit“ liegt in der Regel vor, wenn alle Organe ihre Aufgaben in lebendigem Schwingen um eine Gleichgewichtslage erfüllen; dann bemerkt der Mensch in der Regel nichts davon und fühlt sich „gesund“. „Krankheit“ dagegen drängt sich zu irgendeinem Zeitpunkt ins Bewusstsein durch die Beschwerden, die mit der eingeschränkten Funktion der Organe verbunden sind.

Was geht nun aus einer solchen Betrachtungsweise von „Gesundheit“ und „Krankheit“ für den sozialen Organismus hervor? Sie liefert zusammen mit der Unterscheidung der grundsätzlichen drei Glieder dieses Organismus einen Maßstab, durch den seine gestörte oder ungestörte Funktion, also seine „Krankheit“ oder „Gesundheit“ bestimmt werden kann.

Eine Vielzahl von Prozessen fallen ins Auge, die sich am falschen Ort etabliert haben oder als überfällige Vermächtnisse der Vergangenheit die gesunde Funktion beeinträchtigen. Ein paar Beispiele:

  • Die geistige Fortentwicklung der Menschheit steht und fällt mit dem Hereinkommen neuer Talente, Fähigkeiten und Entwicklungsimpulse durch die in diese Menschheit eintretenden Kinder. Wie für eine wirkliche Erkenntnissuche Unvoreingenommenheit notwendig ist, brauchen die Kinder vor allem Entwicklungshilfe für ihre eigene Individualität, also Unvoreingenommenheit in der Erziehung, und nicht Einpassung in bestehende Verhältnisse. Das Bildungswesen als Glied des Geisteslebens hat die Aufgabe, den Kindern diese Entwicklungshilfe zukommen zu lassen. Das kann nur gelingen, indem ihnen Lehrer und Erzieher gegenüber gestellt werden, die ihre erkennende und gestaltende Individualität im Dienst an den konkret vorhandenen Kindern selber frei entfalten können, gemäß der Forderung der Freiheit der geistigen Betätigung (s.o.). Die heutigen Schulsysteme sind dagegen als Untergliederungen des Staates Institute, die treue Staatsbürger oder – wo das Wirtschaftsleben den Staat zu beeinflussen versteht – brauchbare Arbeitskräfte für die bestehende Wirtschaft produzieren soll. Entsprechend stehen den Kindern nicht freie Individualitäten, sondern weisungsgebundene Staatsbeamte gegenüber, denen in vielen Fällen die für sie selbst möglichst bequeme Handhabung der Erziehung wichtiger ist als die individuelle Entwicklung der jungen Menschen. Hier spielen Rechtsregelungen, persönliche Zu- und Abneigungen sowie Anforderungen des Wirtschaftslebens in einen Bereich hinein, der zugunsten der Zukunft ausschließlich der Erkenntnis und Förderung der werdenden Menschen gewidmet sein soll.
  • Will das staatliche Leben wirklich einen Ausgleich zwischen den Erfordernissen sachgerechten Wirtschaftens und der Freiheit im Geistigen leisten, so muss es einerseits diese Freiheit schützen und auf der anderen Seite dafür sorgen, dass im Wirtschaften wirkliches Vertrauen ineinander wirken kann. Es kann daher nicht angehen, dass auf rechtlichem Wege Anforderungen und Einflüsse des Wirtschaftslebens zu einer Regulierung im Geistesleben führen (z.B. Finanzierung interessengeleiteter Forschung, Vorgaben für die Ausbildung von Kindern), eine Situation, die heute das Normale ist. Das staatliche Leben hat lediglich das Recht auf freie Entfaltung des Menschen zu schützen, seine inhaltliche Ausgestaltung ist Sache des Geisteslebens. Für das Wirtschaftsleben hingegen sind rechtliche Vorgaben erforderlich zur Bestimmung der konkreten Wirtschaftsaufgaben aufgrund freier Erforschung der vorhandenen Bedürfnisse (Geistesleben) sowie einer Zuteilung der Verfügungsgewalt über Produktionsmittel (auch Land) nach persönlicher Eignung und Tüchtigkeit für eine bestimmte Aufgabe im Sinne eines begrenzten Mandats, und schließlich einer vorab erfolgten rechtlichen Regelung von Art und Zeit der von jedem Menschen für das Ganze zu erbringenden Arbeit. Auf dieser Grundlage kann sinnvoll gearbeitet werden. Den derzeitigen, verschwenderischen und menschenunwürdigen Verhältnissen einer produktionsorientierten Wirtschaft („Freiheit im Wirtschaften“) mit ihrem Marketingaufwand für unnötige Produkte und der immer weiter wuchernden Anhäufung des Vermögens an Produktionsmitteln bei einigen wenigen, oftmals in der Sache nicht kompetenten Menschen, verbunden mit dem sklavereiähnlichen System der Lohnarbeit (wer nur seine Arbeit verkaufen kann, muss sich selber gleich mit verkaufen) kann so der Boden entzogen werden.
  • Innerhalb der Grenzen, die durch das Recht auf der einen Seite und die natürlichen Ressourcen auf der anderen Seite bestimmt werden, muss die freie Assoziation der Kräfte in vertrauensvoller Zusammenarbeit das bestmögliche Wirtschaften ermöglichen. Dafür muss der Einzelne frei wählen können, was und in welchem Zusammenhang er zum Ganzen beitragen will. Hier geht es um den Willen zur Tat für die Gemeinschaft, den jeder in seiner eigenen Weise fasst und realisiert. Brüderlichkeit, das heißt arbeiten für den Anderen ist das Kennzeichen allen Wirtschaftens. Wie oben geschildert, ist dies in der heutigen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung praktisch nicht veranlagt. Der Mensch ist aber, wenn es unter menschenwürdigen Bedingungen geschieht, von sich aus darauf orientiert, tätig in der Welt zu stehen und seinen Beitrag zu leisten. Wer arbeitet, weil er es will, wird bessere Ergebnisse erzielen als derjenigen, der es nur muss, um zu existieren10. Dann kann sich auch das nötige Vertrauen entwickeln.

Dies können nur Andeutungen sein, müssen es auch. Andernfalls ergäbe sich aus solchen Darlegungen eine Art „Utopie“, wie sie eben mit dem Gedanken der „Dreigliederung des sozialen Organismus“11, wie er hier dargestellt ist, niemals gemeint war und ist12.

Die Dreigliederung des sozialen Organismus ist vorhanden. Nur leider beachten die Menschen sie nicht, und verursachen dadurch vielfache Krankheitserscheinungen dieses Organismus und damit auch unendliches Leid in Mensch und Natur. Was aber können wir da tun?

Heilkräfte im Sozialen

Fassen wir zusammen, was nun als Grundsätze für die Glieder des sozialen Organismus gelten kann, entsprechend dem seelischen Erleben der einzelnen Angehörigen dieses Organismus:

  • Ebenso wie für eine wahre denkende Erkenntnis Unvoreingenommenheit notwendig ist (persönliche Vorlieben und Abneigungen ebenso wie Willensimpulse dürfen für die Wahrheitsfindung keine Rolle spielen), ist im Sozialen Freiheit des Geisteslebens (von Einflüssen aus dem Rechts- und Wirtschaftsleben) erforderlich, denn nur dann kann sich im Entwicklungsprozess des Sozialen nach und nach die notwendige Orientierung an der wachsenden gemeinsamen Wahrheit einfinden.
  • Wie das Fühlen zwischen de Polen von Antipathie und Sympathie frei schwingen können muss, wenn der Mensch seine Mitte, das Herz nicht verlieren will, so muss das Rechtsleben das richtige Verhältnis zwischen Geistes- und Wirtschaftsleben im sozialen Organismus gewährleisten. Das Geistesleben braucht den Schutz seiner Freiheit, das Wirtschaftsleben die richtige Formung seiner Aktivitäten, damit es nicht alle anderen Bereiche überwuchert.
  • Im Wollen richtet sich die menschliche Tätigkeit sympathisch auf das zu erreichende Ziel. Wie Abhängigkeit des Wollens von persönlichen Zu- und Abneigungen Egoismus hervorbringt, ein Überwuchern der eigenen Wünsche, so ist in unserer arbeitsteiligen Gesellschaft nur die Orientierung auf den Anderen, also Brüderlichkeit im Wirtschaften förderlich, und nicht die heute herrschende Profit- und Produktionsorientierung. Wirtschaft als Waffe im Kampf der Weltanschauungen überträgt die im Geistesleben notwendige freie Konkurrenz – ein durch und durch antipathisches Element, das im Geiste entwicklungsfördernd ist – auf den Kampf gegen die Existenzgrundlagen der Natur und des Mitmenschen. Die zerstörerischen Wirkungen liegen auf der Hand.

Wie können also Heilkräfte erwachen in der Gegenwart, in der der soziale Organismus infolge mangelnden Bewusstseins von den in ihm wirkenden Kräften vielfältige Missgestaltungen aufweist, die ihn von innen heraus zerstören, also als „Krankheiten“ betrachtet werden können? Es ist ja offensichtlich, dass am Anfang aller Bemühungen die Verstärkung des Bewusstseins für die Krankheiten im Verhältnis zu den gesunden Notwendigkeiten des sozialen Organismus stehen muss.

Dies kann aber nicht geschehen durch Aufstellung eines Plans zur Einführung des „Richtigen“ und nachfolgend dessen Durchsetzung auf der Grundlage von Macht. Jeder Versuch einer entsprechenden Wirksamkeit im Rahmen des bestehenden Parteien- und Machtsystems könnte ja nur auf so etwas abzielen, oder es müsste eine Art „Revolution“ angestrebt werden, die dieses bestehende System hinwegfegt. Dann käme dieses vorab geplante „Richtige“ schnell in die Lage Entwicklung behindernder Tradition. Was aber dann?

Auch eine Art ideologischer Propaganda für die „Idee der Dreigliederung“ setzt nur das Festgefahrensein in intellektuellen Phrasen fort. Wie gezeigt wurde, ist die „Idee der Dreigliederung“ kein theoretisches Konzept, sondern etwas, das sich bei unvoreingenommener Betrachtung von den Lebensrealitäten eines jeden Menschen und der Menschheit aktuell und immer neu ablesen lässt.

Es kann daher nur darum gehen, eine an den Tatsachen des gegenwärtigen menschlichen Erlebens orientierte Denkweise zur Geltung zu bringen, deren gemeinsame Anwendung durch die Menschen dann im lebendigen Austausch zu immer neuen, sich mit dem Leben entwickelnden Regelungen im Geistigen, Rechtlichen und Wirtschaftlichen führen müsste. Solche Regelungen können sich sehr unterscheiden von denjenigen, die Einzelne oder Gruppen aus ihrer Anschauung heraus vorab als die „richtigen“ angesehen haben. So entsteht lebendige Entwicklung.

Je mehr Menschen daher ihr eigenes Verhalten im Einklang mit den Grundprinzipien des dreigegliederten Sozialen Organismus bringen, desto mehr können sich daraus auch im Kleinen gesunde Untergliederungen bilden, die in das Ganze hineinwirken. Jeder Einzelne kann dann dort beginnen, wo er ist: sein eigenes erkennendes und übendes Sich-Hineinarbeiten in eine tatsachengerechte Denkweise im Sozialen kann auf diesem Wege zur Gesundung beitragen. Es braucht keine Revolution, keinen Umsturz, es kann sofort begonnen werden. Wer auf derartige Ereignisse warten will, bevor er selber beginnt umzudenken, mag das tun; allein, diese Ereignisse werden keine durchgreifende Veränderung bringen, wenn sie nicht mit der alten Denkweise brechen, nach der alle gesellschaftlichen Bereiche durch einen einheitlichen Staat auf der Grundlage jahrhunderte- ja jahrtausendealter Traditionen gleichsam zentral geregelt werden sollen.

Die Zuständigkeit des Staates beschränkt sich eben auf dasjenige Gebiet der rechtmäßig zwischen den Menschen zu regelnden Angelegenheiten, in denen von einer Gleichheit der Menschen überhaupt gesprochen werden kann. In diesem Sinne hat er Vorgaben zu machen, die die Freiheit im Geistesleben und das assoziativ-vertrauensvolle Zusammenarbeiten im Wirtschaftlichen sichern und pflegen.

Der Weg dorthin kann nur aus den einzelnen Menschen kommen, die sich ihre geistige Freiheit im unvoreingenommenen Nachdenken über das Soziale zurückerobern, da heraus handeln und so nach und nach gesunde Keime an die Stelle abgelebter, gewohnheitsmäßig fortgesetzter Handhabungen der Vergangenheit setzen. Die Umwandlung kann nur in der Befreiung des Geisteslebens beginnen, und damit in der Selbstbefreiung jedes Einzelnen13.

© Stefan Carl em Huisken 2021

1Natürlich unterscheiden sich die Benennungen in der verschiedenen Sprachen der Erde. Hier geht es jedoch um das Grundsätzliche, das unabhängig von der Sprache besteht.

2Vielleicht hat mit diesem Gegensatz auch die Tatsache zu tun, dass bürokratische Gebilde sehr schnell lebensfern erscheinen, bis hin zur Bildung einer illusionären, „virtuellen“ Bürokratiewirklichkeit, die mit dem tatsächlichen Leben kaum oder gar nicht übereinstimmt. Maschinen leben eben nicht.

3Ich nehme die Worte in ihrer ursprünglichen Bedeutung: Glied, von germanisch *li-, indogermanisch *lei-: „beweglich sein, biegen“, also auch: sich anpassen.

4In gewissem Sinne können auch alle anderen in der Welt vorkommenden Wesen als „Genossen“ betrachtet werden. Ihnen ist jedoch die Möglichkeit der Bewusstwerdung nicht eigen. Die genaue Differenzierung auszuführen, würde hier den Rahmen sprengen und bleibt daher, da für den Gedankengang nicht unbedingt erforderlich, hier unberücksichtigt.

5vgl. dazu https://emhuisken.de/wordpress/2019/07/friesische-kultur-heute/

6siehe z.B. https://de.wikipedia.org/wiki/Friesische_Freiheit

7siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Krankheit

8Man denke zum Beispiel an so etwas „Einfaches“ wie das Gehen lernen: hinfallen, aufstehen, hinfallen, aufstehen …

9Organische Abbauprozesse haben beispielsweise im Bereich der Verdauung ihre Aufgabe und Berechtigung, unter einer Zahnwurzel können sie aber schmerzhaft zerstörerisch wirken.

10Hier gibt es immer die gleichen Einwände: das sei illusorisch, da würde jeder nur noch faulenzen und nichts würde mehr funktionieren. Ich verweise immer gerne auf ein Lied von Bodo Wartke: https://youtu.be/T1IDSzs1Ai8

11Dieser Ausdruck ist inzwischen eine Art schlagwortartige Phrase geworden, indem immer wieder davon gesprochen wird, man müsse diese Dreigliederung „einführen“. Der hier vorliegende Artikel will demgegenüber deutlich machen, dass und warum eine solche Vorstellung ganz unsinnig ist, weil die Dreigliederung des sozialen Organismus eine vorliegende Tatsache ist, die im zeitgenössischen Bewusstsein leider nicht genügend bekannt und beachtet ist, wodurch krankheitsartige gesellschaftliche Probleme entstehen.

12Man lese dazu die Darstellungen von Rudolf Steiner, der als erster ausführlich von dieser „Dreigliederung“ sprach, z.B. Steiner, Rudolf: Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft. GA 23. Dornach, 1976

13Es ist bemerkenswert, wie sich aus ganz anderen erkenntnismäßigen Grundlagen ein ähnlicher Gedanke ergeben kann. So spricht die von einer russischen Gruppierung vertretene „Hinreichend Allgemeine Theorie der Steuerung von Supersystemen“ davon, dass jeder Einzelne durch sein Studium dieser Theorie und ihrer Ergebnisse in die Lage kommen kann, sich und seine Familie besser zu schützen, einfach weil er dann besser verstehen kann, was in der Welt vorgeht. In fast jedem Beitrag auf seiner Website weist der „Fonds konzeptueller Technologien“ auf diesen Gedanken hin (vgl. dazu zum Beispiel https://fktdeutsch.files.wordpress.com/2021/04/fuenf-arten-der-sozialen-idiotie1.pdf)


Wahnsinn und denken – Mensch im Sozialen

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart habe ich dargestellt in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Wettkampf der Illusionisten II

In diesem Jahr 2021 erleben wir in besonderer Schärfe das wiederkehrende Spektakel des Wettkampfes der Illusionisten: wer kann den Menschen am besten die Illusion einreden, gerade seine Utopie wäre Garant für eine sorgenärmere und damit bequemere Zukunft?

Utopien

Was uns da von den verschiedenen Seiten vorgelegt wird, sind nämlich durchgehend Utopien: Entwürfe einer Welt, die eben keine Wirklichkeit hat – also ein „Nicht-Ort“ ist1 und die Wirklichkeit darum auch nur eingeschränkt oder gar nicht zu berücksichtigen hat. In schönen Programmen wird da vorgestellt und ausgemalt, was angestrebt und erreicht werden soll. So entführt man die Menschen aus der häufig eher als unfreundlich erlebten Tatsachenwelt hinein in erspekulierte Paradiese dieser oder jener Art.

Gestritten wird dabei zwischen den Urhebern dieser Utopien gar nicht über den unwirklichen Charakter, der alle solche Entwürfe einander gleich macht, sondern tunlichst über die Inhalte der vorgestellten Zielperspektiven, also über die Frage, ob und warum dieser oder jener Utopie der Vorzug gegeben werden sollte. Wer da auf die Idee kommt, von Wirklichkeiten zu sprechen, die doch zunächst berücksichtigt werden müssten, wird wiederum unisono von allen Seiten des gleichen Besseren belehrt: was ist, zählt nicht, wohin wir wollen, ist allein von Bedeutung.

Illusion

Denn natürlich muss zuerst festgelegt werden, was man will (und wessen Ideen darüber die „besten“ sind), und dann erst erklärt werden, wie es realisiert werden soll. Auf diese Weise ist nämlich sichergestellt, dass der derzeit obwaltenden Wirklichkeit möglichst wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird. Diese Wirklichkeit ist nämlich ganz überwiegend das Ergebnis davon, dass immer wieder welchselnde Gruppen von Anhängern einer der möglichen Utopien dafür zu sorgen versuchen, dass gerade ihre Utopie eine möglichst weitgehende, idealerweise (wenn auch unerreichbar) für alle Menschen ausschließliche Gültigkeit bekommt. So kämpfen also die Utopisten um die Macht über die Menschen.

Und nun kommt das Entscheidende: wie kann man den Menschen möglichst effektiv klarmachen, dass die eigene Utopie alternativlos die allerbeste für die Menschheit ist, respektive dadurch natürlich auch und vor allem die angenehmste und bequemste für den angesprochenen Einzelnen? In früheren Zeiten hat man gemeint – oder zumindest diese Meinung propagiert – man müsse durch Argumente für oder gegen die größtmögliche Bequemlichkeit dieser oder jener Utopie für den Einzelnen die Menschen überzeugen, das heißt zu einer (scheinbar) freien und bewussten Entscheidung zwischen den Utopien veranlassen. Aber davon ist man inzwischen abgekommen: die Zahl der Menschen ist einfach zu groß, als dass man sich da effektiv um den Einzelnen und seine Argumente kümmern könnte.

Zum Glück haben wir ja in so glorioser Weise sogenannte Kommunikationsmittel oder Medien entwickelt, durch die man als Utopist möglichst viele Menschen gleichzeitig bedienen kann, praktischerweise mit eingeschränkten Möglichkeiten zur Rückfrage, dafür aber umso mehr Möglichkeiten zur Manipulation2. Wer das da gegebene Handwerkszeug am effektivsten zu nutzen versteht, also den Menschen am besten die Illusion einzureden vermag, die gerade vorgestellte Utopie sei für sie die beste, und man selber sei auch der Richtige, diese Utopie in Wirklichkeit zu verwandeln, hat dann in solchem Wettstreit gute Aussichten, Mehrheiten hinter sich zu versammeln. Nur: solche Mehrheiten basieren auf Illusionen über Utopien, und werden darum durch die Tatsachen früher oder später eingeholt. Aber das kann ein guter Illusionist der Masse natürlich lange, lange verbergen und sie so im Bann seiner Illusionen halten.

Wirklichkeit

Die Wirklichkeit ist allerdings eine andere. Sie besteht darin, dass so und so viele Menschen (auch die Illusionisten!) mit ebenso vielen individuellen Talenten, Wünschen und Ideen ihre Willensimpulse und Taten ineinander fließen lassen und daraus erschaffen, was sich als gemeinsame Zukunft dann zeigen wird. Dabei schließen sie sich zu kleineren oder größeren Gruppen zusammen, je nach der Übereinstimmung auf den einzelnen Feldern des Daseins. Und je nachdem, inwieweit der Eine auch die Möglichkeiten und Strebensrichtungen des Anderen berücksichtigt, entsteht daraus harmonisches Zusammenwirken oder Streit.

Das oben umrissene, derzeit weltweit herrschende System des Wettkampfes der Utopie-Illusionisten geht ja immer davon aus, dass der Vertreter eine Utopie (und/oder die damit verbundene Gruppe von Menschen) die für alle bestmögliche Zukunft anstrebt und darum recht hat. Was der andere vorschlägt, wird darum abgelehnt, wenn es den eigenen Vorstellungen zuwider läuft. Und schon geht es wieder nicht um die Wirklichkeit, sondern um die – vermeintlich – „beste“ Utopie, und, natürlich, um die Macht, die Utopie auch für alle verbindlich zur alles beherrschenden zu machen3.

Es ist dies einfach eine Zeitkrankheit, diese Sucht, der Wirklichkeit zu entfliehen und lieber um Utopien zu streiten. Seit Jahrzehnten, ja Jahrhunderten geht das schon so, und die Folgen sehen wir: kaum jemand interessiert sich für die Frage, was eigentlich Wirklichkeit ist, und mit welchen Problemen sie uns konfrontiert. Ganz schnell wird jedes Problem als Ergebnis einer falschen Utopie hingestellt. Dann ist ja immer der Andere schuld, der diese falsche Utopie vertritt, und man selber hat keine Verantwortung dafür.

So ist dann nach und nach niemand mehr für irgendetwas verantwortlich, und entsprechend ist dann ja auch kein Anlass da, etwa auftauchende Probleme einfach ganz praktisch einer Lösung zu zu führen. Stattdessen lässt sich trefflich darüber streiten, wer nach dem einen oder anderen utopischen Modell eine Lösung zu finden hätte. Das dauert dann erst einmal, und man braucht erstmal nichts Wirksames zu tun, für das man ja dann verantwortlich gemacht werden könnte. Nach einer Weile hat sich das Problem dann hoffentlich von selber gelöst, oder wird von der Diskussion um die „beste Lösung“ für andere, neu aufgetretene Probleme überlagert und dadurch aus dem Bewusstsein gedrängt4.

Das praktische Leben

Zugegeben, die vorstehende Schilderung ist unvollständig. Denn es gibt – immer noch? schon? – Menschen, die den Tatsachen ins Auge sehen und einfach anpacken, um die schwersten Probleme anzugehen. Nur: auch sie sind eingebunden in das alles beherrschende System des Kampfes der Ideologien und Utopien, orchestriert von der Verantwortungsscheu, ja oft Verantwortungslosigkeit, die sich in den Utopisten und ihren illusionistischen Machenschaften geltend macht.

Man wird durch die Vielfalt der von diesem System produzierten Probleme ja auch geradezu davon abgehalten, in der Wirklichkeit nach den Gründen für diese Probleme erkennend zu suchen. Mit dem Abarbeiten der schlimmsten Auswüchse hat man doch schon genug zu tun. Und so setzt sich der Kampf der Illusions-Utopien fort bis ins praktische Leben und sorgt selbst dafür, dass das schwerwiegendste Problem nicht bemerkt und darum natürlich auch nicht gelöst werden kann. Dieses Problem ist nämlich das System „Kampf der Illusionisten“ selbst. Erst wenn von diesem System abgegangen und die Wirklichkeit gemeinsam zum Ausgangspunkt gemacht wird, geht es voran.

Exkurs:

Hier stellt sich natürlich die Frage: was ist denn dann die „Wirklichkeit“? Sind die möglichen Antworten auf diese Frage nicht notwendig immer nur Bestandteile bestimmter Weltanschauungen oder eben Utopien? Das sind sie ganz sicher auch. Dass es dennoch einen Weg geben kann, aus dem Parteienstreit heraus und zur Erkenntnis einer gemeinsamen Wirklichkeit zu kommen, habe ich u.a. in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“ (Borchen: Ch. Möllmann, 2021, ISBN 9783899793352, bestellbar über www.emhuisken.de/shop) dargelegt. Noch sehr viel grundlegendere Einführungen und Denkwege zu diesem Thema finden sich in den Schriften Rudolf Steiners, vor allem „Die Philosophie der Freiheit“, „Wahrheit und Wissenschaft“ und „Grundlinien einer Erkenntnistheorie der goetheschen Weltanschauung“.

Vom Individuum aus

Ein wirklicher Ansatz zu einem Weg aus der Misere kann sich daher nur finden, wenn man die einzelnen, real vorhandenen Menschen in ihrer Individualität zum Ausgangspunkt nimmt anstelle irgendeiner Utopie, die ja immer bloß das Ergebnis von spekulierenden Tätigkeiten der einzelnen Individualitäten sind. Dann würde man vom konkreten Leben der Einzelnen im Rahmen ihrer Gruppe, ihres Landes, aber auch der Menschheit als Ganzes ausgehen statt von einem toten, feststehenden Ergebnis in Form eines Denkmodells oder eines Planes – einer Utopie eben. Kurz gesagt ginge man also aus von Leben statt Tod.

Das ist auch ganz konkret so zu verstehen. Das weltweite Parteienwesen im illusionistisch orchestrierten Kampf der Utopien verbreitet überall Tod und Sterben, bringt so die Menschheit als Ganzes und damit jeden Einzelnen immer näher an den kollektiven Selbstmord, die Erde als notwendigen Lebensraum des Menschen gleich mit eingeschlossen. Wer auch nur ein wenig seinen gesunden Menschenverstand nutzt, kann leicht einsehen, dass die Zeit der Herrschaft von Utopien und Ideologien eigentlich abgelaufen ist.

Zunehmend fühlen sich die Menschen unfrei, wenn sie einer irgendwie als alleingültig dargestellten Weltsicht folgen sollen; ganz konkret erleben wir das derzeit, wo die Unfähigkeit, mit unterschiedlichen Wirklichkeitsauffassungen umzugehen bzw. diese überhaupt zu berücksichtigen, bei den Regierungen der Welt grassiert. Stattdessen setzt man auf die Macht – direkte äußere (Polizei- oder Militär-)Macht oder die Macht massenpsychologisch konzipierter und durchgestalteter Medien-Manipulation.

Sicher, darin regieren Egoismen, auf allen Seiten. Aber das ist ja nurmehr normal. Die Menschen sind eben daran gewöhnt, nur im Rahmen „ihrer“ Utopie zu denken und zu handeln, und damit im Rahmen des Gesamtsystemes „Kampf der Utopien“ zu bleiben. Aber jeder, dem das Gefühl der Unfreiheit aufstößt, kann auch zu der Einsicht kommen, dass nur auf dem Weg der Einbeziehung des Anderen, Fremden in die eigenen Denkwege der schon lange vorhandenen Wirklichkeit, den Tat-Sachen also, entsprochen werden kann. Geschieht das nicht, geht also die Wirklichkeitsverweigerung zugunsten der diversen Utopien ungeschmälert weiter, so meldet sich die Wirklichkeit immer wieder mit neuen Problemen, die den allgemein herrschenden Utopismus und Illusionismus in Frage stellen.

Ent-Täuschung

So wird der Wettkampf der Illusionisten über kurz oder lang zu einer riesigen Ent-Täuschung führen müssen: zu Abkehr nämlich von den täuschenden Illusionen, die die Nebelwerfer der Utopisten ständig werfen. Schon im ganz „normalen“ Alltag von sogenannten „demokratischen Wahlen“ kennt man das: nach der Wahl passieren ganz andere Dinge, als die Wahlgewinner vor der Wahl versprochen haben.

Aber das ist ja auch klar: Utopisten können nur utopische Probleme per Illusionsmaschine – scheinbar! – lösen. Vor der Wirklichkeit versagen sie kläglich und können nur durch immer offener zutage tretendes Lügen im Verbund mit versteckter oder offener Gewalt eine Zeitlang den Schein wahren. Durch die lange Zeit des Herumstocherns in virtuellen, utopischen Problemen ist ja auch kaum noch jemand darin geübt, wirkliche Probleme an zu gehen.

Die Ereignisse der letzten Monate bieten uns nun eine Riesenchance: endlich die große Ent-Täuschung zu erleben. Aber man mache sich da nichts vor: da ist dann keiner besser oder schlechter dran. Wir alle sind ständig – im Großen wie im Kleinen – versucht, Ideologien und Utopien über die Wirklichkeit zu stellen.

Wir stehen eben allesamt – global, regional, individuell – erst am Anfang einer Zeit, in der die menschliche Wirklichkeit sich geltend machen und entfalten kann. Zu lange sind wir daran gewöhnt, uns von den Vertretern dieser oder jener Ideologie, Konfession oder Wissenschaftsrichtung autoritativ am Nasenring herumführen zu lassen. Da tut man dann gut daran, Rachegelüste und Schuldzuweisungen zugunsten der gemeinsamen Suche nach einem Ausgleich vergangener Fehltritte zurück zu stellen.

Sonst stelle ich nämlich meine – natürlich gerechte – Utopie der des Anderen, des Schuldigen gegenüber. Und dann sind wir alle zusammen wieder beim Alten, und keinen Schritt voran gekommen.

Epilog: über „Basisdemokratie“

Auf der Grundlage des vorstehend Dargestellten zeigt ein Blick auf das Parteienangebot zur anstehenden Bundestagswahl, dass es durchaus Neues gibt, zum Beispiel eine Partei, die sich besonders der sogenannten „Basisdemokratie“ verpflichtet fühlt. Ganz abgesehen von der Feststellung, dass einem dieses oder jenes im Programm dieser Partei sympathisch oder unsympathisch sein mag – ich gebe gerne zu, dass ich dort vieles Sympathische finde – muss doch die Frage gestellt werden: will man eine „Basisdemokratie“ im Sinne der vorstehend beschriebenen Orientierung an der lebendigen Wirklichkeit der zusammenlebenden Individuen verstehen, inwieweit kann dann eine Partei, mit Programm und durch das Wahlverfahren in das System des Kampfes der Utopien eingebunden, überhaupt ein Mittel sein, der tatsächlichen Lebenswwirklichkeit näher zu kommen?

Öffnet eine solche Partei nicht gerade denjenigen die Tür, die immer nur eine „neue, bessere“ Utopie realisieren wollen, und gibt sie nicht gerade dadurch der geballten Macht der Utopisten-Illusionisten den Hebel in die Hand, das grundlegende, notwendige Verlassen des Utopisten-Systems zu entkräften, zu korrumpieren und damit zu verhindern?

© Stefan Carl em Huisken 2021

P.S.: In ganz anderer Art mit dem gleichen Thema befasst sich der Artikel „Wettkampf der Illusionisten I“

1„Der Begriff leitet sich ab von altgriechisch οὐ ou „nicht“ und τόπος tópos »Ort, Stelle«, gemeinsam »Nicht-Ort«“ , siehe hier.

2Die Methoden sind ja allgemein bekannt: Weglassen von Wichtigem, Überbetonen von Nebensächlichkeiten, direkte Lügen, Verzerrungen, Einseitigkeiten etc. pp., alles unterstützt durch die teilweise an Hypnose grenzenden physiologischen Zwänge durch elektronische Medien, die dann Emotionalisierung und Streit fördern, und angeleitet durch differenziert ausgearbeitete Methoden massenpsychologisch konzipierter Steuerung. Man vergleiche zu diesem Thema z.B. Albrecht Müller: Glaube wenig. Hinterfrage alles. Denke selbst. Wie man Manipulationen durchschaut. – Frankfurt: Westend, 2019. ISBN 9783864892189; Website www.nachdenkseiten.de; Website www.anti-spiegel.ru (dort auch diverse Jahrbücher zur Medienkritik von Thomas Röper); Heinz Buddemeier: Illusion und Manipulation. Die Wirkung von Film und Fernsehen auf Individuum und Gesellschaft. – Stuttgart: Urachhaus, 1987. ISBN 9783878385110

3Wer ein bisschen genau denken kann, merkt schnell, dass sich alle Utopisten da selbst entlarven: die eigene Utopie muss ja dann auch für die „Gegner“ die beste sein, und diese „Gegner“ darum unberücksichtigt lassen. Womit sie wieder nicht die beste für alle sein kann, denn die „Gegner“ hatten da ja andere Vorstellungen ….

4Mir gehen bei diesem Thema immer die Berichte aus dem Ahrtal nicht aus dem Sinn …


Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart habe ich dargestellt in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Wettkampf der Illusionisten I

Der derzeitige Wahlkampf kann nicht anders bezeichnet werden: es kämpfen die Illusionisten der unterschiedlichen Couleurs um die besten Erfolge beim staunenden Publikum. Ob das aber der eigentliche, wirkliche Sinn dieser Veranstaltung ist, fragt kaum jemand. Es sind eben alles Illusionisten; da interessiert die Wirklichkeit eher weniger, vorsichtig ausgedrückt.

Wer sie sind

Egalweg wer auch immer, sie sind Menschen, die meinen, man müsse durch Propagierung der einen oder anderen Utopie die Menschen veranlassen, die jeweiligen Propagandisten in die weitgehend einflusslose Schwatzanstalt namens „Parlament“ zu befördern, mittels Stimmabgabe (wenn man die Stimme abgibt, hat man anschließend keine mehr …) im behördlich vorgesehenen Wahllokal oder per Briefwahl. Es ist natürlich die Rede von den sogenannten „Parteien“ und ihren „Kandidaten“.

So eine Aussage ist für manchen vielleicht harter Tobak, aber ich will versuchen zu begründen, warum ich das so formuliert habe.

Utopien und Parteien

Unser politisches System ist so angelegt, dass nicht bestimmten Menschen auf demokratischem Wege gezielte Mandate erteilt werden, sondern so, dass diese Mandate Ideologien oder Utopien erteilt werden, die jeweils durch eine Partei formuliert und vertreten werden. Als Utopien bezeichne ich hier alle Pläne, die einen bestimmten gesellschaftlichen Zustand als wünschenswert hinstellen und manchmal auch angeben, auf welchem Wege sie dort hin kommen wollen. Je umfassender der Plan, desto vollständiger auch die Utopie – also die Darstellung des angestrebten zukünftigen Zustandes. Eine Utopie ist also – so betrachtet – eine Art virtueller Realität, das notwendig erst einmal illusionäre Bild einer aufgrund bestimmter ideologischer Vorstellungen konstruierten Schein-Wirklichkeit, die zu einer Tatsache zu machen angestrebt wird (jedenfalls sagt man, dass man das wolle). Solche „Programme“ werden in der Regel von wenigen Menschen erarbeitet und „aufgestellt“, und anschließend von den anderen nur „abgesegnet“.

Parteien im Sinne des heutigen politischen Systemes können gar nicht anders, als zu allem und jedem auch irgendetwas zu sagen. Sie sollen ja den vorhandenen Staat regieren, und der ist eben so angelegt, dass er im Prinzip alles und jedes regeln können soll: Bildung, Wissenschaft, Gesundheit, Wirtschaft, etc. pp., eben alles. Und wenn eine Partei dann das Sagen hat, muss sie eben auch zu allem was sagen können. Das liegt ja auf der Hand. Und dazu braucht sie dann eben ihre Utopie. Nicht Fachkompetenz auf diesem oder jenem Gebiet, das ist etwas Anderes, Individuelles. Das könnten dann ja eigentlich auch nur Fachleute beurteilen. Darum geht es lieber um Utopien, Geschichten von Übermorgen, die versteht jeder. Und deswegen sind die Parteien und ihre Vertreter dann auch so wie sie sind: jeder malt das Rosarot dahin, wo er seine „Wähler“ vermutet, also deren spezielle Wünsche und Vorlieben.

Parteien und Kandidaten

Die Kandidaten der einzelnen Parteien werden (idealtypisch gedacht, was aber möglicherweise auch so eine Utopie sein kann) durch die Mitglieder der Parteien gewählt. Und die sind eben Mitglieder der Parteien, weil sie die jeweilige Utopie oder Ideologie unterstützen wollen. Und so werden also in der Regel diejenigen Kandidaten für die Wahl ins Parlament aufgestellt, die am meisten Aussicht auf Erfolg zu haben scheinen, wenn es um die Realisierung der jeweiligen Partei-Utopie geht. Die Kandidaten stellt man sich also als eine Art Ausführungsapparat für die jeweilige Utopie vor: möglichst ohne zu viel eigene Vorstellungen, die eventuell von der Parteilinie abweichen könnten. Also im Prinzip möglichst unindividuelle Menschen, sondern Gruppenfunktionäre.

Und die schließen sich dann wiederum zu bestimmten Gruppen zusammen, in deren Rahmen sie meinen, ihrer Utopie näher kommen zu können. Und stimmen im Parlament ab, was dann für alle gelten soll.

Das Ganze ist eine einzige Illusion

Was dabei nicht beachtet wird, ist die Wirklichkeit, in der die Menschen heute und schon eine ziemlich lange Zeit leben. Da tut nämlich im Prinzip nach Möglichkeit jeder, was er selber will und woran er Interesse hat. Und das kann wechseln, je nachdem, in welcher Lebenssituation man sich befindet. Wenn man zum Beispiel ins Parlament möchte, versucht man wie dargestellt Utopien zu „verkaufen“, den Leuten nahe zu bringen, damit sie einen wählen. Wenn man dann gewählt worden ist, braucht man ja die Leute nicht mehr, denn sie haben ja schon getan, was sie sollten, nämlich wählen. Jetzt kann man andere Interessen entwickeln oder verwirklichen wollen.

Das muss man gar nicht verurteilen. Es ist einfach die Realität: jeder tut nur noch das, was er selber will. Und die Utopien und die Propaganda dafür sind eigentlich nur Mittel, die bestimmte Menschen verwenden, um ihre Ziele zu realisieren. Das erleben wir doch derzeit ganz ausführlich: Politik wird als eine Sache des richtigen Marketing verstanden. Auch dagegen ist ja gar nichts einzuwenden, solange man ehrlich sagt, was es ist. Und wenn dann eine Mehrheit eben die besten Marketingleute über sich bestimmen lassen will, bitte. Das kann man dann nicht ändern.

Nur: vielleicht wäre es besser, auf die Menschen zu sehen, die man da wählt, und nicht auf die Utopien. Denn die Utopien können wechseln mit der jeweiligen Lebenssituation; oftmals ist das auch richtig so und notwendig. Manche Menschen wechseln Weltanschauungen wie die Hemden. Schon Adenauer sagte: „Was kümmert mich mein dummes Geschwätz von gestern“. Wenn man so jemanden wählt, dann wollte man das eben so. Man muss sie schon so sein lassen, wie sie eben sind. Wenn man die Gewählten nicht frei lässt, dann hat man sich selber Menschen als Vertreter gewählt, die unfrei sind, denn sie sind ja einer Ideologie und/oder Utopie verpflichtet, also sollen eigentlich nur Wirkapparat der Wähler ihrer Utopien sein.

Wollen wir denn wirklich, dass Gesetze und die Regelung aller staatlichen Angelegenheiten von schwachen, unfreien Menschen beraten und ausgeführt werden? Warum lassen wir uns immer über die Menschen täuschen? Und wenn nicht, dann versuchen wir sie zu zwingen, dass sie doch tun, was wir wollen. Selber tun ist uns nämlich oft zu anstrengend. Aber da müssen wir uns nicht wundern, was die Gewählten dann tun.

Es ist ja nicht anders zu erwarten, als dass diese Leute dann, wenn sie erstmal nahe an den „Futtertöpfen“ der Macht, des Einflusses und der üppigen Selbstversorgung angekommen sind, mehr und mehr auf ihre eigene Bequemlichkeit achten, und Ideologie eben Ideologie sein lassen, und Utopie Utopie – und natürlich: Wähler eben Wähler? Sie können sich mächtig fühlen, groß und bedeutend. Da bräuchte man eigentlich Menschen, die wirkliche selbständige Persönlichkeiten sind, als solche erkennbar, die solchen Anreiz nicht brauchen, weil sie sich selber schon genug sind – und könnte denen dann durch ein Mandat das Vertrauen aussprechen. Aber den Menschen, nicht den Ideologien.

Die Wirklichkeit

Dann wären wir nämlich bei der Wirklichkeit. Das sind zusammenwirkende selbständige Menschen, die für einander und mit einander arbeiten und dies unter anderem dadurch tun, dass begrenzte und widerrufliche Mandate erteilt werden. Freie Menschen wählen einen bestimmten freien Menschen aus, dem sie für einen bestimmten, umrissenen Zusammenhang das Vertrauen aussprechen, etwas für alle zu regeln. Und der muss dann frei handeln können, als freier Mensch, denn nur dann kann er auch all seine Qualitäten entfalten. Das ist eigentlich, was auch jetzt schon getan wird, nur eben ohne die Freiheit darin, bei vielen der Gewählten.

Diese Wirklichkeit wird nämlich durch eine Illusion verdeckt: indem den Menschen Utopien versprochen werden, Ideologien und Pläne propagiert, wird ihnen vorgegaukelt, sie hätten selber irgendeine Macht, indem sie zwischen den vorgegebenen „Parteiprogrammen“ auswählen können. Die werden aber dann sowieso nicht realisiert, weil die „Mehrheit“ in der Abstimmungsmaschine nicht erreicht wird und was derartige Ausreden mehr sind, oder ganz schlicht weil die Gewählten dann eben lieber etwas Anderes als versprochen machen wollen, aufgrund ihrer eigenen Einsichten und Wünsche.

Ja, die Menschen haben Macht. Aber es ist immer nur die Macht, die jeder einzelne hat, indem er seine Willensimpulse in das Ganze einfließen lässt. Und wer eben als Willensimpuls hat, dass er Utopien und Ideologien nachlaufen möchte, der wählt dann solche Schimären. Allerdings wundert er sich oftmals, wenn hinterher etwas ganz Anderes geschieht, weil eben Menschen handeln und nicht Ideologien.

Das kann nicht passieren, wenn einem Menschen im Vertrauen in ihn selbst ein Mandat erteilt wird. Dann weiß man vorher, dass der Mensch tun wird, was er für richtig hält. Man hat sich vorher mit ihm verständigt, so, dass man eben das Vertrauen in ihn fassen konnte. Und dann muss man ihn machen lassen, das weiß man vorher. Man hat lediglich die Möglichkeit, ihm das Mandat wieder zu entziehen, weil er sich nicht in der Lage oder willens zeigt, dem Mandat entsprechend zu handeln – diese Möglichkeit ist allerdings zwingend notwendig, fehlt aber heute fast überall. Und das weiß dann auch derjenige, der ein solches Mandat bekommt – so schnell kann man es ihm heutzutage nicht wieder nehmen …

Theater

Man findet Theaterspielen eben bequemer, auf beiden Seiten: als Schauspieler (man braucht da ja nicht zu zeigen, wer man wirklich ist) und als Zuschauer (da hat man zum Glück für nichts Verantwortung und darum immer einen Sündenbock parat). Nur dass dieses Theater dazu führt, dass sich der Club der Darsteller leicht absprechen kann, und darauf achten, dass auch wirklich nur Schauspieler dazu gehören – bessere oder schlechtere, je nachdem. Wodurch es dann für die Zuschauer immer schwieriger wird, die von ihnen selber erlebte tatsächliche Wirklichkeit im Tun dieser Darsteller wieder zu finden. Die haben ja auch gar keine Ahnung von dieser erlebten Zuschauer-Wirklichkeit. Sie erleben sie ja nicht, sondern gestalten sie, das ist ihr „Job“. Sie sind ja die Schauspieler, nicht die Zuschauer.

Und so laufen wieder alle hin in die Wahllokale, wählen ein Programm, von dem hinterher kaum etwas oder nichts umgesetzt wird – „es kam leider die Wirklichkeit dazwischen“ (also die Wirklichkeit der Interessen der Schauspielerclique) – und dann wählt man eben beim nächsten Mal eine andere Utopie, die dann das bessere Marketing hatte. Oder man lässt es sein, außer man kann Menschen erkennen, denen man Vertrauen schenken will. Nur leider ist solche Wahl im derzeit geltenden System eher nicht vorgesehen und daher kaum möglich ….

Was fehlt ist nur das Bewusstsein

Das Wichtigste, was in dem Ganzen fehlt, ist das allgemein verbreitete Bewusstsein davon, dass es so ist, wie es ist. Diese „Demokratie“ genannte Abstimmungsmaschinerie ist schon lange etwas Anderes, als wofür sie uns verkauft wird1. Je mehr Menschen dies begreifen, desto mehr Menschen können sich entsprechend verhalten. Was bedeutet, auf den Menschen zu sehen, den einzelnen Menschen. Also auch auf sich selber, sich selber ernst zu nehmen und sich nicht irgendwelche Scheinlösungen von irgendwem aufschwatzen zu lassen. Dann muss man sich allerdings entscheiden, selber zu denken, selber sich intensiv mit den Fragen und Problemen von Menschheit und Welt zu befassen, und diesem Befassen einen Platz im eigenen Leben einräumen, der seiner Bedeutung für das Ganze entspricht.

Das klingt jetzt sehr heroisch, ist es aber nicht. Es ist eigentlich nur der Aufruf, dem eigenen gesunden Menschenverstand zuzutrauen, dass er bei wirklicher Bemühung auch in der Lage ist, auftretende Probleme zu lösen. Dazu muss man sie nur erst ansehen, sich nichts vormachen, und dann immer nach den „Machern“ schreien, sondern vielleicht lieber selber das Risiko des Scheiterns eingehen, sich auf den ganz bestimmt langen, aber ganz sicher nicht langweiligen Lernweg machen. Da trifft man dann auch andere, die es genauso versuchen, und gemeinsam kann man vieles bewegen. Aber eben nur, wenn man will. Was Anderes tut nämlich sowieso keiner mehr.

© Stefan Carl em Huisken 2021

P.S.: In ganz anderer Art mit dem gleichen Thema befasst sich der Artikel „Wettkampf der Illusionisten II“

1vgl. dazu Rudolf Steiner über die „Demokratie“ in: Steiner, Rudolf: Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis. GA 177. Dornach, 1999. S. 264 ff; ausführlich zitiert und eingeführt in Stefan Carl em Huisken: Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen. – Borchen, 2021, Kapitel II. Das Buch ist erhältlich über www.emhuisken.de/shop. Vgl. auch Delaisi, Francis: La Democtratie et les Financiers. – Paris: La Guerre Sociale, 1910


Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart habe ich dargestellt in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Was können wir in der gegenwärtigen Krise tun?

Was muss vorab bedacht werden?

Derartige Fragen wie die im Titel dieser Darstellung formulierte stellen sich derzeit wohl viele Menschen. Sehr häufig erwächst aus solchen Fragen die niederschmetternde Einsicht in die weitreichende Ohnmacht des Einzelnen gegenüber den Ereignissen der äußeren Welt. Lässt man diese Einsicht für sich stehen, so kann leicht die Auffassung Platz greifen, der Niedergang und die endgültige Zerstörung von Natur und Mensch seien sowieso unabwendbar, und das einzig mögliche Tun sei darauf auszurichten, diesen Niedergang für den Einzelnen möglichst erträglich zu gestalten.

So berechtigt eine solche Auffassung angesichts der äußeren Ohnmacht erscheinen mag, so einseitig ist sie doch zu gleicher Zeit, indem sie geistige Urgründe und Ziele des Welt- und Menschenwerdens außer Acht lässt.

Der Einzelne, der eine solche Auffassung geltend macht, übersieht dabei, dass er einer heutzutage weit verbreiteten, aber nichtsdestoweniger falschen und irreführenden Methode folgt: das Ganze nämlich nur aus dem isoliert betrachteten Einzelnen erklären zu wollen1. So erfolgreich diese Methode bei der Lösung technologischer Einzelfragen auch sein mag, für das erkennende Durchdringen der großen Fragen des Menschenlebens führt sie nicht weiter. Dafür wird der Ausgangspunkt in den großen Perspektiven gesucht werden müssen, durch die aus dem Betrachten des vorliegenden Ganzen die Bedeutung des Kleinen, Einzelnen erst ihre rechte Bestimmung wird finden können.

Daher wird in dieser Darstellung scheinbar weit ausgeholt; inwieweit solches Ausgehen von geistig fassbaren Urtatsachen für das Einzelne hilfreich sein kann, mag sich dann zeigen.

Die wesentlichen Gesichtspunkte, die die Art der hier gepflogenen Darstellung prägen, insbesondere das charakterisierende Beschreiben von Wegen anstelle definierenden Feststellens, habe ich ausführlicher dargelegt in meinem Buch „Wahnsinn und Denken – der Kampf um den Menschen“2. Grundlegendes findet sich auch in meinem im Internet veröffentlichten Artikel „Der individuelle Mensch als Ausdruck und Bedingung einer geistigen Welt“3. Wer es also zunächst schwer hat mit der folgenden Ausarbeitung, sei auf diese Veröffentlichungen verwiesen.

Wie erlebte der „Urmensch“ seine Einheit mit der Welt?

Der Schein der Welt, der durch die Sinne in die Seele dringt, war wesentlich unschärfer, unklarer und zeigte unmittelbar seinen Schein-Charakter, da das zugrundeliegende Geistige, das ja im Menschen und in der Welt ein Einheitliches ist, noch unmittelbar erlebt werden konnte. Je weiter die Zeit zurückverfolgt wird, desto klarer stand dieses Geistige fest im Bewusstsein des sich entwickelnden Menschen. Innen und Außen waren nicht geschieden wie im heutigen Menschen; er erlebte klar in der Seele die Wahrheit des Geistigen, das dem noch viel weniger mächtigen Sinnenschein zugrunde lag. Der Schein der Sinne war nur der Anlass dafür, dass der Mensch nach und nach seine eigene individuelle Person vom allgemeinen Weltensein zu unterscheiden lernte.

Je stärker der Sinnenschein sich geltend machte im Fortschreiten der Entwickelung, desto mehr verglomm das Erleben der einheitlichen, innerlichen und äußerlichen Geisteswelt. Die umgebende Welt, der der Mensch ursprünglich angehört, wurde immer mehr zum persönlich-individuellen Erleben eines bestimmten Ausschnittes der Scheinwelt, also zu einer ganz persönlichen Welt-Anschauung. Aber der Mensch wusste und weiß noch davon, dass dieser Welt eine universelle Weisheit zugrundeliegt. Die Sehnsucht danach, diese aus dem unmittelbaren Erleben herausgefallene Weisheitswelt wieder zu finden, ließ den Menschen nach Wegen zu dieser Weisheit suchen. Diese Suche hat er bis heute beibehalten, im Betreiben aller Wissenschaft.

Da das Welt-Erleben keine sichere Erlebnisgrundlage mehr bot wie in der Urzeit, in der die Wahrheit noch unmittelbares einheitliches Erleben war, blieb dem Menschen nur der Weg, im Entfalten eigener, seinem Ich innewohnender Kräfte einen neuen Ausgangspunkt für das Wiedererlangen der alten Weisheit zu suchen. Dies geschah in der schrittweisen Entwicklung des Denkens. War dies zunächst das unmittelbare innere Erleben des geistigen Weltzusammenhanges und damit Quell der Empfindung der höheren geistigen Einheit, so wurde es später bildhaft-mythologisches Beschreiben dieser einheitlichen Welt, dann Anschauung gegebener Gedanken, die aufzunehmen Aufgabe des Menschen war (noch im alten Griechenland wurde so empfunden), und schließlich das menschengemachte, von aller unmittelbar erlebten Wirklichkeit abgezogene („abstrakte“), als völlig subjektiv-innerlich erlebte Denkprodukt.

Es ist wichtig sich klar zu machen, dass dieses Abstrakte ein unschätzbarer Gewinn im Rahmen der gesamten Entwicklung von Mensch und Welt ist – wenngleich auch ein Gewinn, der mit einem hohen Risiko verbunden ist. War das Innenleben des „Urmenschen“ ein völlig vom gegebenen Werden der Welt bestimmtes, da unmittelbar an die geistigen Urgründe gebunden und aus ihnen hervorgehend, so wurde es nun frei, in die innere Betätigung des sich zunehmend von seinem Weltensein emanzipierenden Menschen eingeliedert und von diesem bestimmt. Das aus der Welt gegebene Sein des Menschen wird heute durch den Leib und seine Sinne vermittelt; das ihm eigene Innensein ist eines, das nur rein geistig erlebt werden kann. In diesem Innensein wird der Mensch und seine Betätigung im Verlauf der angedeuteten Entwicklung also mehr und mehr selbständiges Geistwesen, das sich vom leibgebundenen Erleben frei machen kann.

Versteht und vollzieht der Mensch diese Loslösung vom gegebenen, einst geistig unmittelbar und heute nur durch den Sinnenschein erlebbaren Weltensein nicht, bindet er also sein eigenes Leben weiterhin an das ihm durch die Welt Gegebene, so kann er nur zum experimentierenden und theoretisierenden Anhängsel einer sich ansonsten entwicklungslos durch den Menschen reproduzierenden abstrakten Scheinwelt werden. Sein abstrakter Verstand kann die gestaltenden geistigen Kräfte der Welt nicht erfassen und muss sich darum auf das Interpretieren der äußeren Sinneswelt verlegen; diese ist aber nur ein solcher Teil des Weltganzen, der lebendige Kräfte und geistig-seelischen Entwicklungsanstöße nicht offenbart, also ins Physische hinein fest wird, abstirbt, genau wie das abstrakte, feststellende Denken, das der innere Spiegel dieser absterbenden Welt ist. Ohne das Loslösen von der gegebenen Welt, das in einem ersten Schritt gerade im abstrakten und daher vollständig dematerialisierten, rein geistigen Denken gegeben ist, kann also nur zunehmende Herrschaft des Toten erwartet werden.

Darin liegt das Risiko der Selbständigkeit des Menschen im Denken. Es führt aber nur dann in den allgemeinen Tod im Physisch-Automatischen, wenn der Mensch sich nicht aufschwingen kann zum Anerkennen seiner eigenen, im Geiste selbständigen Existenz, die einerseits sich dem Gegenüberstehen der physisch-sinnlichen Welt verdankt, seinen eigenen Urgrund also in ihr sehen muss, andererseits aber dadurch vor der Aufgabe steht, aus seiner eigenen inneren Tätigkeit die Welt seiner eigenen Entstehung – und damit sich selbst – neu hervorgehen zu lassen. Was er selbst aus der ursprünglich erlebten Geisteswelt heraus einst geworden ist, war nicht frei. Aus seiner Freiheit geht aber nun wiederum eine neue Welt hervor, die Welt der Zukunft. Diese ist davon abhängig, wie der Mensch sie erschafft: als automatisches Anhängsel einer absterbenden Sinneswelt, oder als freies Geistesprodukt des aus sich selber schaffenden Menschenwesens.

Was bedeutet dies für uns heute?

Unser heutiger Wissenschaftsbetrieb hat sich in weiten Teilen bereits von aller exakten Beobachtung sinnlich gegebener Tatsachen – und damit den Resten der uralten Weisheit – abgekoppelt. Man geht verstärkt dazu über, sich durch automatisierte Denkmodelle (in Form von Computer-Simulationen) ausrechnen zu lassen, was aufgrund der vorher ausgewählten und in das Modell eingeführten Voraussetzungen geschehen wird, und richtet sein Handeln dann aufgrund dieser Berechnungen ein, indem man sie als vorausgesagte Wirklichkeit behandelt. Was also gerade die Naturwissenschaft groß gemacht hat, nämlich die genaue Wahrnehmung des sinnlich Gegebenen (auch als Korrektiv für eventuelle eigene Denkfehler!), wird zunehmend als eine Art „unbequemes Dazwischenreden der Natur (oder der Wirklichkeit allgemein)“ unberücksichtigt gelassen in dem Glauben, alle aufkommenden Probleme auf technologischem Wege lösen zu können

Wer aber den Geist der Natur ebenso wie den Menschengeist unberücksichtigt lässt, welche beide doch der Einheit des Welt- und Menschenwerdens zugrundeliegen, kann die aufkommenden Probleme gar nicht lösen. Denn sie entstammen gerade den unerkannten, unverstandenen Vorgängen des Lebens in der Geist- und Seelenwelt.

Derzeit erleben wir, wie sich die Verleugnung des Geistes (durch den Menschengeist!) immer machtvoller darin versucht, alle Äußerungen eigenständigen Lebens zu unterdrücken und dem technologischen Zwang unterzuordnen. Was für den Urmenschen unmittelbar lebensvoll selbstverständlich war – das Gelenktwerden von den in der Welt erscheinenden Geistwesen – soll nun durch umfassende technische Lenkung fortgesetzt werden, obwohl der Menschengeist sich längst zu größerer Freiheit entwickelt hat. Aber man will nicht auf diesen selbständigen Menschengeist vertrauen und seine Weiterentwicklung zu immer größerer Freiheit betreiben. Stattdessen machen sich die Menschen daran, das Leben in das immerwährende maschinell-technologische Überführen allen Seins in das Tote zu verwandeln.

Wie der Entwickelungsanfang es für diejenige Welt war, aus der wir hervorgegangen sind und die uns so werden ließ, wie wir jetzt sind, so ist nunmehr unser Wollen bestimmend für dasjenige, was in die Zukunft hinein entstehen kann. Die Freiheit wurde uns geschenkt. Wie wir sie verwenden, ist unsere Sache.

Was können wir daraus erwirken?

Es ist also nun deutlich: wie die Mannigfaltigkeit in der Natur und in den menschlichen Individualitäten aus einer geistigen Ur-Einheit sich heraus entwickelte, so muss die eine, für alle gültige Zukunft entstehen durch das Wirken einer Vielheit von Individualitäten, die sich heute im Irdischen darleben. Wie die Menschenentwicklung allmählich die Einzelnen in die Freiheit entlassen hat, indem sie ihnen das unmittelbare Bewusstsein des einheitlichen Urgrundes ihres ganzen, heute in Welt- und Ich-Erleben zerfallenen Wesens nahm, so werden die Einzelnen nach Maßgabe ihrer Freiheit sich aufgerufen sehen, ihr Eigenes in die Entstehung eines neuen Ganzen einzufügen.

Dies kann nur gelingen, wenn aus dem vereinzelten, zwischen Sinnenschein und abstraktem Denken sich darlebenden Erdenmenschen eine neue Art des Geist-Erkennens entsteht. Diese Erkenntnisart muss ebenso auf der individuellen Freiheit fußen, wie die alte Erkenntnis des einheitlichen Urgrundes dem Menschen ohne sein Zutun gleichsam gottgegeben zufiel. Erkenntnis wird sich also von der Hinwendung zum Gegebenen fort und zum frei gewollten Streben hin entwickeln müssen. Kam früher aus der Erkenntnis – damals gleichsam „instinktiv“ – der Antrieb zur Tat, so folgt die zukünftige Erkenntnis erst der Realisierung des freien Erkennen-Wollens durch die Tat. Dies ist notwendige Folge der Geistverlassenheit des Menschen im Äußeren, und damit seines Freiwerdens.

Wer nicht realisiert, dass damit die Zukunft immer mehr vom konkreten Wollen jedes Einzelnen – also auch von seinem eigenen – abhängt, und immer weniger von einem wahrnehmenden Konstatieren einer vorgegebenen Wahrheit, der wird sein Seelenleben weiterhin von den Folgen äußerer Gegebenheiten abhängig machen, und diese Gegebenheiten immer weiter im technologischen Sinne zu beherrschen suchen. Diese Gegebenheiten sind aber für jeden Menschen verschieden – sein Welten-Sinnes-Schein und sein daran geknüpftes abstraktes Denken sind eben notwendig anders als bei jedem anderen Menschen. Eine gemeinsame, neue geistige Wahrheit kann so nicht entstehen, allenfalls eine Art Verabredung gemeinsamen Dafürhaltens in Bezug auf Dieses und Jenes.

Aus dem Vertrauen auf das Wirken des freien Menschengeistes in jedem Menschen geht erst ein Weg hervor, der zu einem gemeinsamen Neuen führen kann. Denn dieser Menschengeist ist doch – ungeachtet aller Entwicklungsunterschiede der einzelnen Erdenmenschen – in jedem Menschen im Grundsatz derselbe. Wo also frei wollend aus diesem Geist heraus die Menschen zusammenwirken, entsteht dieses Neue, ganz im Sinne des Worten „wirken“: wie ein Teppich aus sich verschlingenden Fäden und Fasern gewirkt wird, verbinden sich Willensimpulse und Tatenstränge der Einzelnen zu etwas Ganzem.

Es wäre nun ein Irrtum anzunehmen, dass dieses gemeinsame Wirken erst dann beginnen kann, wenn schon gänzlich frei gewordene Menschen zusammenarbeiten. Gänzlich frei wird noch lange niemand werden können, denn in der Welt jedes Einzelnen kommen ja unmittelbar oder mittelbar alle anderen vor, und solange deren Freiheit nicht erreicht ist, wird der Einzelne selber nur insoweit aus Freiheit handeln können, wie er selber diese Freiheit zu erringen in der Lage ist; die in den Anderen wirkende Freiheit oder Unfreiheit wird ihm darum Anlass genug sein, das Ringen um Freiheit in der gemeinsamen Welt nicht auf sich und seine persönlichen Angelegenheiten zu beschränken. Gänzliche Freiheit gibt es nur im Ganzen, also für Alle, mit Allen. Meine Freiheit ergibt sich erst aus der Freiheit der Anderen im gemeinsamen Vertrauen auf den gemeinsamen Geistkern.

Aber beginnen kann jeder Einzelne an dem Ort, an dem er steht. Dafür ist allerdings notwendig, dass der Einzelne sich ein zutreffendes Bild macht von der Art und den Feldern des Zusammenwirkens mit Anderen. Wie anders muss eine Zusammenarbeit gestaltet werden je nach ihren Zwecken und Zielen? In Bezug darauf sprach Rudolf Steiner von drei Gliedern des sozialen Organismus, der sich durch die an ihm mitwirkenden Menschen darlebt.4

Über diese Glieder, die im Einzelnen zu beschreiben hier zunächst nicht erforderlich ist5, da es um ganz grundsätzliche Fragen des Verständnisses geht, schrieb Rudolf Steiner 1920 in der Vorrede zum 41-80. Tausend seines Grundlagenwerkes „Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft“:

„Ebenso wahr, wie es ist, daß moderne Technik und moderner Kapitalismus unserm gesellschaftlichen Leben eigentlich in der neueren Zeit das Gepräge gegeben haben, ebenso notwendig ist es, daß diejenigen Wunden, die von dieser Seite her notwendig der menschlichen Gesellschaft geschlagen worden sind, dadurch geheilt werden, daß man den Menschen und das menschliche Gemeinschaftsleben in ein richtiges Verhältnis bringt zu den drei Gliedern dieses sozialen Organismus. Das Wirtschaftsleben hat einfach durch sich selbst in der neueren Zeit ganz bestimmte Formen angenommen. Es hat durch eine einseitige Wirksamkeit in das menschliche Leben sich besonders machtvoll hereingestellt. Die andern beiden Glieder6 des sozialen Lebens sind bisher nicht in der Lage gewesen, mit derselben Selbstverständlichkeit sich in der richtigen Weise nach ihren eigenen Gesetzen in den sozialen Organismus einzugliedern. Für sie ist es notwendig, daß der Mensch aus den oben angedeuteten Empfindungen heraus die soziale Gliederung vornimmt, jeder an seinem Orte; an dem Orte, an dem er gerade steht. Denn im Sinne derjenigen Lösungsversuche der sozialen Fragen, die hier gemeint sind, hat jeder einzelne Mensch seine soziale Aufgabe in der Gegenwart und in der nächsten Zukunft.“7

Der Einzelne, der sich in seinem Denken und äußeren Handeln an den von Steiner dargelegten Gesetzmäßigkeiten des sozialen Organismus orientiert, wirkt also bereits für deren Realisierung im allgemeinen sozialen Leben. Es ist wie mit der Freiheit: meine eigene äußere Freiheit wird nur so weit reichen, wie ich aus innerer Freiheit für diejenige Anderer zu wirken verstehe. Ebenso kann eine Gesundung des äußeren sozialen Organismus nur so weit eintreten, wie die in ihm zusammenwirkenden Einzelnen Gesetzmäßigkeiten des gesunden sozialen Organismus in ihrem Denken und Handeln realisieren.

Was kann also der Einzelne beitragen?

Aus dem Vorstehenden kann entnommen werden, dass eine lebensvolle Zukunft von Menschheit und Erde von unserer Zeit entscheidende Anstrengungen fordert, den durch und durch kranken sozialen Organismus einer Heilung zuzuführen. Ein solches Ziel an sich wird wohl weit verbreitete Zustimmung finden. Nur beginnt sofort nach dieser Zustimmung der Streit der Meinungen über den „richtigen“ Weg dorthin, und in der Folge auch über die Art der Erkrankung und über die Auffassungen davon, was überhaupt Krankheit und Gesundheit für den sozialen Organismus bedeuten.

Welche Betrachtungsweise der hier vorliegenden Darstellung zugrundeliegt, ist wohl ausreichend deutlich gemacht worden: der heutige Mensch, der in seiner Weltbetrachtung ebenso wie in seinem Seelenleben die gemeinsamen geistigen Urgründe aus dem Bewusstsein verloren hat, kann nur aus sich selbst, dem Ergreifen und Entwickeln individueller Freiheit, neue Ansatzpunkte für ein soziales Leben der Zukunft finden. Damit fügt er aber dem geistigen Gesamtleben – wenn er denn anstrebt, seine individuelle Freiheitsentwicklung auch im sozialen Leben fruchtbar zu machen – eine wesentliche Strebensrichtung ein, die Rudolf Steiner für das Geistesleben im sozialen Organismus für unverzichtbar hielt: die so genannte „Befreiung des Geisteslebens“, die Anfang und Voraussetzung für alle weitere, heilsame Neugestaltung des sozialen Organismus sein soll. Die „Befreiung des Geisteslebens“ geschieht also unmittelbar, in jeder freien Betrachtung oder Tat im alltäglichen sozialen Leben.

Hier kann man sehen, wie die Auffassung von der „Dreigliederung des sozialen Organismus“ als eines fertig ausgearbeiteten Grundsystems, das sich in einer Gesellschaft „einführen“ ließe, direkt hinderlich ist für dasjenige, worum es geht. Es fördert das notwendige Verständnis immer wieder neu, wenn man auf die ersten Worte der Vorrede Steiners zu seinen „Kernpunkten“ von 1920 hinblickt:

„Die Aufgaben, welche das soziale Leben der Gegenwart stellt, muß derjenige verkennen, der an sie mit dem Gedanken an irgendeine Utopie herantritt. Man kann aus gewissen Anschauungen und Empfindungen den Glauben haben, diese oder jene Einrichtungen, die man sich in seinen Ideen zurechtgelegt hat, müsse die Menschen beglücken; dieser Glaube kann überwältigende Überzeugungskraft annehmen; an dem, was gegenwärtig die «soziale Frage» bedeutet, kann man doch völlig vorbeireden, wenn man einen solchen Glauben geltend machen will.

Man kann heute diese Behauptung in der folgenden Art bis in das scheinbar Unsinnige treiben, und man wird doch das Richtige treffen. Man kann annehmen, irgend jemand wäre im Besitze einer vollkommenen theoretischen «Lösung» der sozialen Frage, und er könnte dennoch etwas ganz Unpraktisches glauben, wenn er der Menschheit diese von ihm ausgedachte «Lösung» anbieten wollte. Denn wir leben nicht mehr in der Zeit, in welcher man glauben soll, auf diese Art im öffentlichen Leben wirken zu können. Die Seelenverfassung der Menschen ist nicht so, daß sie für das öffentliche Leben etwa einmal sagen könnten: Da seht einen, der versteht, welche sozialen Einrichtungen nötig sind; wie er es meint, so wollen wir es machen.

In dieser Art wollen die Menschen Ideen über das soziale Leben gar nicht an sich herankommen lassen.“8

Ganz im Sinne dieser Worte Rudolf Steiners will die in diesem Aufsatz verfolgte Betrachtungsweise darauf aufmerksam machen, dass der soziale Organismus ja gerade aus demjenigen besteht und sich entwickelt, was die Einzelnen aus ihren Erlebnismöglichkeiten heraus in ihn hineintragen. Im Seelenleben des Einzelnen wird sich die Freiheit gerade so weit geltend machen können, wie er sie aus dem Verständnis seiner Situation im Ganzen der Entwicklung von Mensch und Welt heraus erringen kann und will.

Es gibt also gar nicht die „endgültige Lösung“, die dann – einmal installiert – das Menschenleben auf der Erde zu einem dauerhaft glücklichen machen kann. Vielmehr lebt im sozialen Organismus so viel Gesundes, wie die Einzelnen an unvoreingenommener Anschauung dieses Gesunden und an Verständnis für die vorhandenen krankhaften Abweichungen davon in das soziale Leben hineintragen. Damit ist jeder Einzelne aufgerufen, sich von den „ehernen Banden dunkler Vergangenheit“9 zu lösen und die Anschauung des freien Menschen zur Richtschnur des eigenen Sinnens und Handelns zu machen.

So kann jeder sofort beginnen, an dem Orte, an dem er steht. Notwendig ist nur, sich zunächst eine unvoreingenommene Anschauung der sozialen Tatsachen zu verschaffen, in Achtung vor dem freien Menschengeist, unabhängig von bestimmten ideologischen Eingrenzungen und ängstlicher „Torschlusspanik“, die das einzig mögliche Heil in sofortigen technologischen Maßnahmen aufgrund dieser oder jener ideologischen Richtung sehen muss. Ein solcher Weg hat uns an einen Abgrund geführt, vor dem wir nun stehen, die ganze Menschheit in einem Boot. Diesen Abgrund können wir nur überwinden im Vertrauen in den geistig gesunden Kern des Menschen, den jeder Einzelne in sich – frei – finden kann.

© Stefan Carl em Huisken 2021

1Diese Methode feiert ja gerade in unserer Zeit einen Sieg nach dem anderen. Man erklärt zum Beispiel die zur Zeit global gehäuft auftretende Atemwegserkrankung fast ausschließlich aus der Untersuchung von Kleinstlebewesen und den von ihnen ausgehenden Wirkungen. Der Mitbegründer der heutigen Mikrobiologie und entscheidende Förderer des Impfwesens Louis Pasteur hing lange Zeit der Auffassung an, das Entscheidende bei solchen Erkrankungen seien eben die „Erreger“ genannten Kleinstlebewesen. Erst auf dem Sterbebett erkannte er an, dass für die Wirkungsmöglichkeiten solcher Mikroorganismen das „Milieu“, also die Gesamtverfassung des erkrankenden Organismus‘ entscheidend sei, mithin also die eigentlichen Krankheitsursachen im gesamten Umfeld gesucht werden müssen, und nicht in den dann auch auftretenden Mikroorganismen.

2Stefan Carl em Huisken: Wahnsinn und Denken – Der Kampf um den Menschen. – Borchen: Ch. Möllmann, 2021. ISBN 978-3-89979-335-2. Bestellbar im Buchhandel und über www.emhuisken.de/shop

3vgl. https://emhuisken.de/der-individuelle-mensch-als-ausdruck-und-bedingung-einer-geistigen-welt/

4Insbesondere legte Rudolf Steiner seine diesbezüglichen Hinweise in seinem Buch „Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft“ dar, das seit der Erstveröffentlichung im Jahre 1919 zahlreiche Neuauflagen erlebt hat. Dieses Buch ist vielfach so verstanden worden, als konzipiere Rudolf Steiner damit eine Gesellschaftsorganisation der Zukunft, die man dann – auf welchen Wegen auch immer – „einführen“ könne als Ersatz für die derzeitigen, mangelhaften gesellschaftlichen Systeme. Wer das Buch genau liest, wird feststellen können, dass von einer solchen Vorstellung bei Steiner keine Rede ist. Steiner beschreibt, was ist, aber durch das Unverständnis der Zeitgenossen schwer krank, und er weist mögliche Wege zur Gesundung.

5In späteren Artikeln soll auf Einzelheiten eingegangen werden.

6Rudolf Steiner nennt sie Geistesleben und Rechtsleben.

7Rudolf Steiner: Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft. GA 23. – Dornach, 1976. S. 63f

8a.a.O., S. 7

9ein Ausdruck, der Goethe zugeschrieben wird, vgl. www.emhuisken.de/geisteswissenschaft


Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart habe ich dargestellt in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Vom Einswerden mit der geistigen Welt

Der freie Mensch als Mit-Schöpfer im Weltprozess

Wie nimmt man teil an diesem äußeren Leben? Man informiert sich über das, was in der Welt vorgeht; man informiert sich so, daß man sich gewissermaßen in sein Erleben hin­eintragen läßt, was durch diesen oder jenen Anstoß in das Leben hereinkommt. Man gibt sich irgendeiner populären Agitation hin. Man untersuche nur einmal, wieviel in die­sem Hingeben an eine populäre Agitation dem eigenen Willen entsprießt und wieviel einfach darauf zurückzuführen ist, daß man mitgenommen wird von dem, was da an­stürmt aus den Wogen des Lebens! Und vieles, vieles könnte ich Ihnen anführen von dem, was in das Denken hereinstürmt, das Denken beherrscht, ohne daß der Wille des Menschen selbst in dieses Denken unmittelbar hineinwirkt.

Das war gerade die geschichtliche Aufgabe bei Abfassung meines Buches «Die Philoso­phie der Freiheit», darauf hinzuweisen, wie Freiheit des Menschen überhaupt nur mög­lich ist, wenn dieses unwillkürliche, träumerische Denken nicht da ist, sondern Impulse aus dem vollbewußten Willen heraus sich geltend machen. Dieses Denken – welcher Na­tur ist es denn ? Wann ist es wirkliches Denken ? – Wenn es wirklich aus dem vollbewuß­ten Willen kommt, wenn wir den Gedanken so fassen, daß wir selbst es sind, die den Ge­danken fassen. In dem Augenblicke, wo der Gedanke uns faßt, sind wir nicht mehr frei. Nur wenn wir aus unserer Kraft, aus unserem Wesen heraus den Gedanken fassen kön­nen, sind wir frei.“ (Rudolf Steiner: Geistige und soziale Wandlungen in der Menschheitsentwi­ckelung. GA 196. – Dornach, 1992. S. 110f)

Mensch und Welt

Die vorige Betrachtung1 führte zu der Einsicht, dass Mensch und Welt nur als eine Einheit exis­tieren können; jede Seite für sich kann weder Sein noch Entwicklung haben. Der Mensch, der sich als von der Welt geschiedenes, mit ihr aber durch den Leib verbundenes seelisch-geistiges Wesen erlebt, ist aus der Weltentwicklung hervorgegangen, ohne die Welt also nicht möglich. Die Welt als vom Menschen geschiedenes, ihn erst hervorbringendes Ganzes, ist aber als solche nur solange und insofern vorhanden, als der Mensch als die Welt Erkennender ihr gegenüber ritt. Sonst gäbe es niemanden, der ihre Existenz überhaupt feststellen könnte. Ohne denjenigen aber, der ihre Existenz erlebt und erkennt, kann über die Welt nichts gesagt werden; ihre geisti­gen Grundlagen, die Gesetze ihres Werdens sind ohne ein sie erkennendes Wesen gar nicht vorhanden. Ohne diese geistigen Grundlagen aber kann auch die Welt nicht sein.

Insofern kann man davon sprechen, dass der Weltprozess sich das Instrument seiner Selbster­kenntnis im Menschen erst erschaffen habe. Aber auch diese Einsicht ist nur vorhanden im selbstbewussten menschlichen Denken. Die heute erlebte Trennung von (geistig-seelisch leben­dem) Menschen und äußerer, gegenüberstehender, scheinbar geist- und seelenloser Welt ist nur ein Glied es gesamten Entwicklungsprozesses dieser Selbst-Erkenntnis des Welt-Ganzen im Menschen. Es bekommt daher diese einzelne, akute Situation ihren Sinn nur durch den Blick auf das Ganze, das Mensch und Welt betrachtet.

Das Ganze denken

Diese Einheit zu erkennen, stößt auf besondere Schwierigkeiten, denn es ist ja gerade ein Cha­rakteristikum jeder Eerkenntnis, dass in ihr zwei von einander verschiedene Wesenheiten oder Funktionen – das Erkannte und der Erkenner nämlich – gerade möglichst klar von einander un­terschieden werden müssen, gewissermaßen „aus einander gehalten“. Sonst ist nicht auszuma­chen, ob das zu Erkennende dem Erkenner bloß etwas vorgaukelt, was gar nicht vorhanden ist, oder ob umgekehrt der Erkenner in seiner Erkenntnis Gesichtspunkte zur Geltung bringt, die dem Erkannten nicht entsprechen, es also verändern und insofern die Erkenntnis verfälschen.

In der vorigen Ausarbeitung2 wurde gezeigt, dass der Abgrund zwischen dem geistig-seelisch erlebenden Menschen und der ihm erscheinenden Welt jedenfalls vom heutigen Menschen nur auf Denkwegen bewältigt werden kann, die das sich selber beobachtende und sich in der den­kenden Beobachtung selbst erschaffende Denken zu ihrem Ausgangs- und Zielpunkt machen. Indem der rein geistige Vorgang der Selbstbeobachtung des Denkens sich selbst zum Gegen­stand macht, also aus sich selbst heraustritt als ein „Etwas“, ein von sich selbst getrenntes Ge­genüber, erschafft er sich selber in einer geistigen Welt. Das so sich selber beobachtende Den­ken bildet darin nach, was der Weltprozess aus sich selbst als erkennenden Menschen hervor­gebracht hat, durch den er seiner selbst erst „gewahr“ wird: dasjenige, was Wahrheit gibt.

Indem die sich selbst beobachtende Selbstbeobachtung des Denkens im Sinne der vorigen Ab­handlung dem Menschen erst das Wahrheitskriterium gibt, kann der Mensch seiner selbst be­wusst werden als berufen,dem geistigen Urgrund und Ziel der Entwicklung erst zum wahren Sein zu verhelfen. Denn durch seine Erkenntnisarbeit erschafft er erst die geistigen Grundlagen für sein eigenes Werden aus der Welt heraus3. Leistete der Mensch dies nicht, so zerstörte er damit seine eigene Entstehungsgrundlage und damit sich, seine Vergangenheit und Zukunft gleich mit: also alles, was er als „Welt“ erleben kann.

Ein Ganzes ist ein Ganzes. Nichts darf dabei verloren gehen. Welt und Mensch sind ein solches Ganzes.

Die Aufgabe unserer Zeit

Wie schon erwähnt, stellen sich die Aufgaben und Denkwege in dieser Form dem heutigen Menschen. Die Menschen der Urzeit mögen anders dazu gestanden haben, ebenso wie die Menschen der Zukunft ein anderes Verhältnis zu dem hier eben Dargestellten begründen mö­gen. Was ist aber nun das Charakteristische, Grundlegende unserer Zeit, auf das in den Gedan­kengängen, von denen hier die Rede ist, hingewiesen wurde?

Das ist zweifellos der Blick auf die Anforderung an uns Heutige, eine radikale (im Wortsinne, also „an die Wurzel gehende“) Abkehr von allem Glauben an die alleinige Gültigkeit äußeren Weltwissens zu vollziehen, und darin die unentrinnbare Notwendigkeit der Mitwirkung des Menschen und der Menschheit in der Gestaltung der Gesamtentwickelung anfänglich zu reali­sieren. Ohne dass der erkennende Mensch im denkenden Beobachten seiner eigenen Bewusst­werdung diese Bewusstwerdung erst erzeugt, wird die für das Ganze von Mensch und Welt in seiner Entwicklung erforderliche Selbsterkenntnis verfehlt.

Die zukünftige Entfaltung des im Uranfang Angelegten würde verhindert. Damit aber würde im Ewigen, d.h. überzeitlichen, die Existenz von Mensch und Welt insgesamt ausgelöscht. Denn die Vergangenheit kann im Geiste nicht existieren ohne die Zukunft, und ohne beide gibt es keine Gegenwart. In dieser Gegenwart ist eben der Mensch derjenige, auf den es ankommt: leistet er nun die ihm obliegende (Selbst-)Erkenntnis-Aufgabe oder nicht?

Man sieht, es geht hier nicht um irgendwelche Kinkerlitzchen; es geht schlicht um Sein und Nicht-Sein des Ganzen aus Mensch und Welt. Die Verantwortung dafür ruht nun nicht mehr im schützenden Schoß einer allmächtigen Gottheit; sie ist Schicksal und Kern des Menschen. Sie ist im Menschen gleichsam „aus der geistigen Welt geboren“. Wer sie nicht annimmt und weiterhin als bloßes „Denkmodell“ neben anderen möglichen ansieht, nimmt den denkenden Menschen als Tatsache und notwendiges Glied es Ganzen nicht ernst – und damit also auch sich selbst.

Der Mensch ist das Maß

So erklärt sich die Unerbittlichkeit, mit der alle Vorgänge unserer Zeit auf uns einwirken. Lesen wir darin die Sprache des Menschheitsschicksales: „Erkenne dich selbst!“, so ruft es uns zu. Wenn der Mensch nun aber zu Maß und Gestalter der Zukunft werden soll, so muss er zuerst sich selbst als dieses Maß und diesen Gestalter erkennen – erschaffend erkennen! – und da­durch auch die Bedeutung dieses seines Schicksales. Verfehlt er diese Erkenntnis – sein Schick­sal also –, so wird er in die Irre gehen müssen, denn er kann dann nur diesem oder jenem, aus alten Zeiten in unsere Gegenwart hinein wirkenden Impuls folgen und diesen fortsetzen. Das grundstürzend Neue, das dem Menschen heute obliegt – uns Zeitgenossen also – wird sich dann vorerst nicht vollziehen können.

Damit kommt aber auch der Gestaltung des Verhältnisses eine neue Bedeutung zu, das der in­dividuelle Mensch zu seiner Umgebung und damit auch zu den anderen Menschen gewinnen kann. Es muss dieses Verhältnis die im Ganzen intendierte Einheit ermöglichen, das heißt also eine Erkenntnis der sozialen Welt (also auch aller nicht-menschlichen Wesenheiten der Erde und des Kosmos) immer den individuellen Menschen und sein denkendes Selbstbewusstsein ein­schließen so, dass soziale Welt und Einzelseele sich entsprechen, der denkende Mensch, der sich selber zum Maß für die Wahrhaftigkeit aufschwingt, also auch im Verhältnis der Menschen untereinander und zur Natur zur Richtschnur werden kann.

Wie wenig ist davon heute schon realisiert! War die griechische Geisteskultur nur möglich, weil eine großer Teil der Bevölkerung als Sklaven von ihrer Menschenwürde ferngehalten wurden, war die mittelalterliche Geisteshöhe der Scholastik vor allem der Fortsetzung alter Herrschaftsst­rukturen in Leibeigenschaft und Macht des Klerus geschuldet, so ist der heutige äußerlich-materielle relative Wohlstand in einem großen Teil der zivilisierten Welt ein Produkt des Um­gangs mit der Arbeit des Menschen als Ware auf dem Arbeitsmarkt und als Kostenfaktor; der Unterschied zu antiken Sklaven oder mittelalterlichen Leibeigenen ist graduell, kann doch nie­mand seine Arbeitskraft verkaufen ohne selber mit ihr mit gehen zu müssen.

Alle Wirren, Unruhen, Kämpfe und Kriege der neueren Zeit stehen damit im Zusammenhang, dass die Menschen nun immer mehr vor die Aufgabe gestellt sind, sich selber zu wohlverstan­denen Dreh- und Angelpunkt der Entwicklung zu machen, dieser Aufgabe aber in keiner Weise gerecht werden, ja, sich geradezu mit aller Kraft gegen die Einsicht in diese Aufgabe und die da­mit verbundene Verantwortung wehren.

Aber der Mensch hat diese Aufgabe, und er wird sie erfüllen müssen. Wenn nicht aus eigenem, freiem Willen, so dann unter Zwang. Nur wird die erzwungene Aufgabenerfüllung das Wichtigs­te entbehren: das Herzblut und die Würde des selbständigen, freien Menschen, der sich zum lie­benden Mitschöpfer mach von allem, was ihn selbst einst hervorbrachte.

Schöpferwille

Ziehen wir eine Art Resümee des bisherigen Denkweges, so erkennen wir uns heutige Men­schen als aufgerufen, in uns, in unserem denkenden Geist das Prinzip des Weltenwerdens zu realisieren, das wohl Goethe einmal den „von Ewigkeit zu Ewigkeit sich selbst Produzierenden“ nannte4. Jeder Einzelne von uns, der dies energisch anstrebt, trägt ein neues Denken in das so­ziale Leben hinein, aus dessen lebendigem Fluss erst eine neue Gestaltung des sozialen Lebens möglich werden kann. Es liegt ja auf der Hand, dass hier niemand jemals die „allein richtigen Rezepte“ für das endgültige Erreichen eines wie immer gedachten „paradiesischen“ irdischen Lebens hervorbringen kann. Soll das Soziale leben, so wird es in ständigem Zusammenwirken der beteiligten konkreten irdischen Menschen immer wieder neu gefunden werden müssen. Le­ben kann es ja nur im Willen der Mitwirkenden.

Dieser Wille aber ist erwachsen aus der Vergangenheit, dem Werden des heutigen Menschen, der aus dem Geist herabstieg in die irdische Welt, um dort sich selber kennen zu lernen5. Was dieser Mensch schon kennt, erschauen kann in sich und seiner Welt, all die „Begabungen“ also, die er aus dem Geiste schon mitbringt in die Gegenwart, sie müssen sich ausprägen können in seinem Willen und in seinen Strebensrichtungen. Wie anders ist aber das Bildungssystem unse­rer Zeit, das als obersten Grundsatz die Zurichtung der werdenden Menschen im Hinblick auf ihre Nützlichkeit im herrschenden System der Lohnsklaverei hervorhebt!

Schon 1919 befand Rudolf Steiner: „Wenn nicht mehr Menschen über Menschen in der alten Art ‚regieren‘sollen, so muß die Möglichkeit geschaffen werden, daß der freie Geist in jeder Men­schenseele so kraftvoll, als es in den menschlichen Individualitä­ten jeweilig möglich ist, zum Lenker des Lebens wird6. Dieser Geist läßt sich aber nicht unterdrücken. Einrichtungen, die aus den bloßen Gesichts­punkten einer wirtschaftlichen Ordnung das Schulwesen regeln wollten, wären der Versuch einer solchen Unterdrückung. Sie würde dazu führen, daß der freie Geist aus seinen Naturgrundlagen heraus fortdauernd revol­tieren würde. Die kontinuierliche Er­schütterung des Gesellschaftsbaues wäre die notwendige Folge einer Ordnung, die aus der Lei­tung der Pro­duktionsprozesse zugleich das Schulwesen organisieren wollte.“ (Rudolf Steiner: Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Weltlage 1915-1921. GA 24. – Dornach, 1982, S. 43)

Daraus ergibt sich auch die Frage nach dem Recht, die wir ja heute so zu beantworten gewohnt sind, dass eben durch bestimmte Entscheidungsstrukturen ausgewählte Menschen zu bestim­men haben, was als allgemeines Gesetz zu gelten hat, und dadurch alle davon betroffenen Menschen zu unfreien Untertanen gemacht werden sollen. Wer aber kann dafür einstehen, dass es gerade die Weisesten sind, die diese Gesetze festlegen, und dass es gerade die Unbe­stechlichsten sind, die dann die Untertanen bezüglich der Einhaltung dieser Gesetze überwa­chen? Gibt es diese „Übermenschen“ überhaupt? Kann der freie Mensch ein solches abstraktes System als Herrscher über sich überhaupt wollen? Oder muss hier ganz Neues gefunden wer­den?7

In diesem endlichen irdischen Leben der Gegenwart kann es nur gleiche Rechte für alle geben; aber sie dürfen dann auch nur das umfassen, was bei allen Menschen gleich ist. Ihre Begabun­gen und Fähigkeiten – das ursprünglich aus dem Geiste Mitgebrachte also – können ebenso nicht für jeden gleich sein wie die Lebensbedürfnisse; was also dem Geistigen oder dem Wirt­schaftlichen angehört, fällt in allen Einzelheiten aus dem Rahmen des Rechtlichen. Zu welchen schreienden Ungleichheiten der Menschenwürde gegenüber der Versuch führt, Geistiges oder Wirtschaftliches dem sogenannten gleichen Recht zu unterstellen, erleben wir tagtäglich im All­tag der heute noch herrschenden Staatskonstrukte. Allein das Recht, seine Tätigkeitsmöglich­keiten zu realisieren, seine Begabungen also zu nutzen, und die Pflicht, dies zum Nutzen aller und mit für alle gleichen Einsatz-Rahmen auch zu tun, kann daher durch staatlich-rechtliche Festlegungen demokratisch geregelt werden.

Die allen gemeinsame Zukunft der Menschheit erwächst aber aus dem, was die Menschen aus ihrem Wollen dieser Zukunft entgegentragen. Diese Zukunft wird so werden, wie die Menschen im Hervorbringen miteinander umgehen. Arbeiten sie als freie, selbständige Menschen zusam­men, die ihre Fähigkeiten in gemeinsamem Zukunftswillen zum Wohle des Ganzen zusammen­fließen lassen, jeder den Beitrag des Anderen achtend, würdigend und ergänzend, oder suchen sie noch immer weiter das alte Herrschaftssystem aus Lohnsklaven und Kapitalisten fortzufüh­ren? Denken wir an Steiners Wort von der „kontinuierlichen Erschütterung des Gesellschafts­baues“ (s.o.)!

Die Zukunft liegt also ebenso wie die Vergangenheit in einer geistigen Welt, die der Mensch nur in innerer Tätigkeit zu erfassen in der Lage ist. Diese irdische Welt ist unser Lern- und Erzie­hungsort, der uns notwendig ist, wenn wir der Zukunft dienen und diese erst dadurch mit-erschaffen wollen. Je mehr wir auch hier, im Irdischen, die uns gegebene Möglichkeit des freien, selbstbeobachtenden Denkens als unsere Richtschnur nutzen, desto mehr können wir auch und schon in diesem irdischen Leben uns selber mit der geistigen Welt der Zukunft vereinen. Da­durch nehmen wir die Erdenwelt in die geistige Zukunft mit.

Tun wir dies, so werden wir Mit-Schöpfer des göttlichen Urgrundes, aus dem Mensch und Welt einst hervorgingen und in den sie wieder – dann auf einer neuen Entwickelungsstufe – einge­hen werden.

Menschen-Interesse

Rudolf Steiner sprach am 6. Februar 1920 über die Frage „Wessen bedarf die Menschheit zur Neugestaltung Europas?“. Die folgenden Worte könnte er auch heute sprechen, allerdings dann auf die Welt als Ganzes bezogen:

Das ist eben das große Unglück unserer Zeit, daß die Menschen, ohne sich nun wirklich anzustrengen, ohne Interesse zu gewinnen für die Angelegenheiten der Menschheit, aus Unterbewußtem heraus heute urteilen, das oder jenes für richtig halten, das oder jenes für unerläßlich halten. Aber die Zeit ist nicht mehr da, wo man aus dem Unbewußten heraus das oder jenes für unerläßlich halten kann. Die Zeit ist gekommen, wo nur aus dem Sachlichen heraus geurteilt werden darf, wo man sich einmal anstrengen muß, sich wirklich einen Überblick zu verschaffen über die Notwendigkeit der Zeit und über dasje­nige, was die Zeit von einem fordert. Es schnürt einem heute das Herz zusammen, wenn man Menschen begegnet, die sich nur für sich selbst interessieren. Denn das ist das große Unglück unserer Zeit, während die einzige Erlösung der Zeit darin bestehen könn­te, daß nun, nachdem das Schreckliche vor sich gegangen ist in den letzten Jahren, die Menschen sich sagen würden: Wir müssen uns für die Angelegenheiten der ganzen Menschheit interessieren, wir dürfen nicht bei dem stehenbleiben, was unmittelbar mit uns nur im Umkreise unseres Volkes sich vollzieht.“ (Rudolf Steiner: Geistige und soziale Wandlungen in der Menschheitsentwickelung. GA 196. – Dornach, 1992. S. 165)

Wieviel davon haben wir heute schon realisiert?

© Stefan Carl em Huisken 2021

1 „Der individuelle Mensch als Ausdruck und Bedingung einer geistigen Welt“. In: Die Lahnung, Mitteilungen für individuelle Entwicklung und Lebenskunde, Nr. 4. Januar 2021

2 vgl. „Der individuelle Mensch als Ausdruck und Bedingung einer geistigen Welt“, ebd.

3 Diese Tatsache kann Grund zur Beruhigung sein: der Mensch wird es leisten müssen, sonst wäre er selber gar nicht da. Allerdings: wann und unter wieviel selbstverschuldetem Leiden, das hängt vom Menschen selber ab.

4 Der Text soll von Goethes langzeitigem Sekretär Riemer im Jahre 1835 in einer Ergänzung zu seinen „Mitteilungen über Goethe“ veröffentlicht worden sein; die Quelle konnte noch nicht nachgewiesen werden. Der ganze Wortlaut steht hier: https://emhuisken.de/geisteswissenschaft/

5 Siehe wiederum „Der individuelle Mensch als Ausdruck und Bedingung einer geistigen Welt“, ebd.

6 Dass solche Gedanken Steiners unserer Zeit nicht gänzlich fernliegen, zeigt zum Beispiel ein Lied des Kabarettisten Bodo Wartke: „Was, wenn doch?“ das man hier wahrnehmen kann: https://www.youtube.com/watch?v=T1IDSzs1Ai8

7 Im Mittelalter gab es ein aufrechtes Volk, das sich selber in jedem Einzelnen nur Gott und dem Kaiser untertan, und ansonsten frei fühlte, sein eigenes Recht zu setzen. Das Recht wurde als etwas Bewegliches angesehen, das jederzeit durch Besseres ersetzt werden konnte. Recht sprachen bei diesen freien Friesen die jährlich aus der Mitte des Volkes gewählten Richter jeder Landgemeinde. Geschriebenes Recht gab es entweder als fast religiös gefühlte Verkündigung natürlicher Rechte jedes Menschen oder als eine Art Erinnerungsstütze für zukünftige ähnlich gelagerte Fälle. Ein genauerer Blick darauf lohnt. Vgl. auch z.B. hier: https://emhuisken.de/wordpress/tag/friesen/




Verbotener Spaß, erlaubte Pflicht – die Katastrophe unserer Zeit

Der Anlass

„Der Spaß ist verboten, die Pflicht erlaubt“, so fasste ein Freund den Charakter der in immer neuen Wellen auf uns hereinstürmenden Regeln „zum Infektionsschutz“ zusammen. Ein schlichter Satz, der aber symptomatisch hinweist auf tiefgründige Unterlagen der derzeitigen Ereignisse.

Nehmen wir diesen Satz doch einmal genauer unter die Lupe, „sine ira et studio“, also ganz nüchtern, und ohne auf gewiss vorliegende Sympathien und Antipathien Rücksicht zu nehmen. Was sagt er eigentlich genau?

Pflicht und Spaß

„Pflicht“ ist etwas, was dem Einzelnen auferlegt ist, „insbesondere auch das …, was von einer äußeren Autorität oder durch ein Gesetz von jemandem gefordert wird und Verbindlichkeit beansprucht“ (Wikipedia). Es trägt also den Charakter des nicht frei Gewählten, das ggf. auch die Möglichkeiten, Befindlichkeiten und Strebensrichtungen des Einzelnen unberücksichtigt lässt. In dem obenstehenden Satz also ganz offenbar vor allem Dinge, die eher unangenehm sind, keinen Spaß machen. Und genau das bezeichnet der Satz als „erlaubt“.

Im Wort „erlauben“ liegt in der Vorsilbe „er-“ die Bedeutung von „etwas hervorbringen“ darinnen, im Sinne von „etwas erschaffen“. Und im „-laubt“ steckt das loben, das gutheißen. Das Wort spricht also eigentlich davon, dass etwas hervorgebracht wird durch loben und gutheißen, und ist urverwandt mit dem altindischen Wort lōbháyati ‚erregt Verlangen, lockt an‘. Was erlaubt ist, sollte also eigentlich, der Wortbedeutung nach, wohl etwas Sympathisches sein, etwas, was man niemandem als „Pflicht“ auferlegen muss. In dem untersuchten Satz klingt das etwas anders. Die Formulierung scheint widersprüchlich, lässt aufhorchen.

Was Spaß ist, erklärt sich von selbst. Und wenn verboten ist, was Spaß macht, ist das ganz klar eine unsympathische Angelegenheit, da gibt es nicht viel zu verhandeln. Das Wort „bieten“ verbindet noch im mittelhochdeutschen die Bedeutungen für „anbieten, darreichen“ und „gebieten“ oder „befehlen“.

Mit der Vorsilbe „ver-“ ist die Verneinung verbunden, das Vergehen von etwas, ganz im Gegensatz zum „er-“ im Erlauben.

Der ganze Satz enthält also klar ein Über- und Unterordnungsverhältnis, in dem der eine dem anderen vorschreiben kann, was er in diesem Fall zu lassen hat: „Spaß“ nämlich, und was ihm „erlaubt“ ist, die Pflicht nämlich, das heißt das Gehorchen.

Freiheit und Selbstbestimmung

Warum so eine Sprachbetrachtung? Nun, sie differenziert genauer, was man normalerweise sowieso fühlt bei einem solchen Satz. Und diese Differenzierung weist auf Tieferliegendes hin. Nämlich darauf, dass wir in der Regel die Pflicht nicht lieben, den Spaß aber sehr wohl. Das hat seinen Grund darin, dass die Pflicht eben etwas ist, was nicht von uns selber ausgeht, was wir also in der Regel nicht frei gewählt haben. Der Spaß taucht hier als das Gegenteil auf, als das, was wir also selber, von uns aus wollen können.

In dem Satz spricht sich also der Freiheitswille des Menschen aus und die Empfindung, dass nur, was diesem Willen entspricht, auch eigentlich wirklich „Verlangen erregt“ und „anlockt“, und darum eigentlich „erlaubt“ sein sollte.

Darin spricht sich eigentlich die ganze Tragik unserer Zeit aus. Warum sind wir so darauf aus, vor allem Spaß zu haben, also angenehme Erlebnisse, und empfinden schon beim Worte „Pflicht“ eher etwas säuerliches, Ungeliebtes? Es gab doch Zeiten, da haben Menschen die Pflicht als heilig angesehen, also als etwas, was der Mensch aus sich selbst heraus anstrebte, wollte, und darum auch Freude an der Pflichterfüllung haben konnte. Warum ist das heute so anders? Warum sind die „Pflicht“ und der „Spaß“ so etwas Gegensätzliches geworden?

Charakter unserer Zeit

Ich will in diesem Text – auf diese Feststellung lege ich Wert – nicht irgendwen oder irgendetwas verurteilen, kritisieren oder dergleichen. Ich will nur beschreiben, um ausfindig zu machen, wie sich in allerkleinsten Dingen des Alltags ganz Grundsätzliches, für die Erkenntnis unserer Zeit Bedeutendes aussprechen kann. Darum auch solche scheinbar nutzlosen Sprachbetrachtungen; der Sinn wird sich gleich schon zeigen.

Dass „Pflicht“ und „Spaß“ für uns Gegensätze sind, weist auf ein Charakteristikum unserer Zeit hin: wir arbeiten, um die nötigen Ressourcen zu haben, um dann – zu leben, also Spaß zu haben. Die Arbeit ist in der Regel eher notwendiges Übel. Deswegen gelten ja Musiker und Künstler zum Beispiel vielfach nicht als „arbeitende Menschen“, denn sie machen ja bloss, „was ihnen Spaß macht“, tun also nichts Ernsthaftes, Bedeutendes. Arbeit ist eben Pflicht, und wir beneiden diejenigen, die ohne Arbeit genug haben für ihren Spaß1. Muss das eigentlich so sein?

Es hat seinen Grund in der Art und Weise, wie unsere Arbeit, unser schaffendes Tun in der Welt also, in die menschliche Gesellschaft eingeordnet ist. Arbeit gilt ja bei uns als etwas Käufliches, als Kostenfaktor bei Unternehmern, als in seinem Wert durch den „Markt“ bestimmt. Wenn man die Arbeit also billiger kriegen kann, nimmt man sie natürlich da. Nur: Arbeit gibt es niemals ohne den Menschen, der sie leistet. Der muss dann immer mit der Arbeit mitgehen. Er kann sie nicht auf dem Markt verkaufen, dann nach Hause gehen und den erlangten Erlös genießen. Er muss seine Lebenszeit dafür hingeben. Bei den alten Griechen kaufte man die ganzen Menschen als Sklaven. Im Mittelalter gab es Leibeigene. Und heute eben „Arbeitskräfte“, was mindestens für die gekaufte Lebenszeit nicht viel Unterschied macht zum Leibeigenen und Sklaven. Die Auffassung von der menschlichen Arbeit als Ware – käufliches Gut also – verletzt die Würde des freien Menschen; das fühlt heutzutage wohl fast jeder, und diese Empfindung liegt der Ungeliebtheit der Arbeit zugrunde.

Gleichheit im Recht

Jeder Mensch, der etwas arbeitet, gibt der Welt und allen anderen sein eigenes Leben hin, seine Zeit, seine Kraft, oft auch seine Gesundheit. Das gilt für alle Menschen gleich, und auf dieser Grundlage müsste eigentlich rechtlich geregelt werden im Hinblick auf die vorhandenen gesellschaftlichen Bedürfnisse, das heißt auf die in einer Region insgesamt nötige Arbeit, wie viel, wie lange und unter welchen Umständen jeder seinen Beitrag zu Ganzen zu leisten hat. Und eine solche rechtliche Regelung müsste selbstverständlich so getroffen werden, dass jeder Einzelne bei dieser Regelung betroffen ist und mitwirken kann, d.h. dass das, was er für andere fordert immer auch genauso für ihn selber gilt – also einfach demokratisch2.

Und genauso müssten natürlich auf rechtlicher Grundlage jedem, der etwas für die Gesamtheit schafft, auch die nötigen Mittel gegeben werden: Werkzeuge, Maschinen, Grund und Boden, was auch immer. Es ist doch eigentlich, bei näherer Betrachtung nichts weiter als ein völliger Unsinn, wenn jemand davon sprechen will, er habe einen Teil der Erde – also Grund und Boden – als sein persönliches Eigentum, mit dem er machen kann, was er will. Genauso wie der Mensch ja mitgehen muss, wenn seine Arbeit gekauft werden soll, was der heute immer intensiver empfundenen Menschenwürde widerspricht, soll mit dem Eigentum an Grund und Boden etwas Unmögliches getan werden: ein Stück Erde isoliert und vom Rest der Welt unabhängig gekauft und verkauft werden.

Besitz und Eigentum

Leider ist aber genau das heutzutage die Regel: die Menschen meinen, die Erde gehöre ihnen, und sie könnten damit machen, was sie wollen. Die Erde selber, und bei rechter Überlegung auch jeder klar denkende Mensch kann davon eigentlich nicht erbaut sein; die Erde wehrt sich ja inzwischen auch und macht uns klar, dass wir als Menschheit auf diese Art nicht mehr lange auf ihr weilen werden. Die Masse der Menschen hat aber offenbar noch nicht erkannt, wie unsinnig so ein Gedanke ist: ein Stück Erde zum willkürlichen Gebrauch ohne Rücksicht auf Verluste einfach als Eigentum haben zu wollen.

Um hier Missverständnisse zu vermeiden: Besitz ist keineswegs unsinnig, das ist – wie das Wort besagt – das „darauf sitzen“, sich und seine Tätigkeit darauf stützen. Wenn also auf rechtlicher Grundlage jemandem ein Gut zum Besitz gegeben wird, dann muß er selbstverständlich frei damit umgehen können, wir hätten ja sonst eine überbordende Bürokratie mit noch viel schlimmeren Herrschaftsmöglichkeiten, als sie derzeit bei uns in Deutschland jedenfalls gegeben sind (kommunistische Gesellschaftssysteme lassen grüßen … warum gehen sie auf die Dauer in Korruption und eigensüchtiger Nomenklatura unter?).

Der Mensch, dem wir im Vertrauen in seine Fähigkeiten ein Gut zur Nutzung für das Wohl der Allgemeinheit hin die Hände legen, muss natürlich seine Kräfte und Fähigkeiten frei entfalten können, nur dann wird er mit vollem Engagement und dadurch aucheffektiv arbeiten können.

Eigentum im Unterschied zu Besitz kann daher nur sein, was auf dem eigenen Schaffen beruht, also beim Künstler zum Beispiel die Gestalt (die nur geistig fassbare Form), die er einem Material gegeben hat. Das Material gehört weiterhin der Erde und allen Menschen gemeinsam. Die Ressourcen an Grund und Boden, Maschinen, Hilfsmitteln, die einem Unternehmer zur Verfügung gestellt werden, gehören natürlich der Erde und der Menschheit an, aber sein Umgang damit ist der originäre Beitrag des Unternehmers, der diese Ressourcen erst für die Allgemeinheit ertragreich machen kann.

Das ist nur ein Beispiel, das man aber auf sehr viele andere Situationen, bei genauem Hinsehen selbst für traditionelle Arbeitssituationen wie diejenigen in der Industrie anwenden kann.

Ideologie der Unfreiheit

Wo aber die Arbeit gebraucht wird, um die Menschen zu versklaven (nein, es sind nicht einfach nur die „bösen Kapitalisten“, die die Lage für sich ausnutzen, es sind alle Menschen, die überhaupt Arbeit als käuflich ansehen, die dafür sorgen, dass hier kein Umdenken einsetzt), da kann die Arbeit nur zu etwas werden, was ungeliebte Pflicht ist. (Und wo man die Erde als beliebig zerstückelbare Ware zum Zwecke der Eigentumsanhäufung ansieht, da kann sie nur leiden und nach und nach absterben.)

Damit man die Menschen weiterhin in dieser Unmündigkeit und Unfreiheit halten kann, hat man den Spaß erfunden, der eben der Gegensatz ist zur ungeliebten Pflicht. Strenge reformiert-protestantische Ideologie sprach davon, dass die Erde eben ein Jammertal ist, wo man nur immer arbeiten und leiden könne, und später erst, nach dem Tode, käme man ins Himmelreich, zum „Spaß“.

Heute geht das dann so, dass man eben nach der Arbeit (dem „Jammertal“) dann die Freizeit hat (in der man frei sein darf, im Gegensatz zur Arbeitszeit – das „Himmelreich“), wo man sich dann – scheinbar frei, aber gesteuert von der in der Arbeit unterdrückten Sehnsucht, seine inneren Impulse und Möglichkeiten zur Geltung zu bringen – bis in wüsteste (Selbst-)Zerstörung und Verschwendung „ausleben” kann.

Verfolgt man die Argumentationen, die die immer neuen Regelungen derzeit begleiten, so kann man leicht erkennen, dass die Ideologie „erst kommt die Arbeit, dann das Vergnügen“ offenbar das Denken mancher an den obrigkeitlichen Entscheidungen Beteiligter regiert. Es liegt das ja auch im Grundzug unserer Zeit. Aber es liegt dann auch an uns, uns allen, ob wir damit weiterhin einverstanden sind und – auch in unserem ureigensten Denken – mitmachen.

Freiheit kann heilen

Auf ein Weiteres muss hier noch hingewiesen werden; ausführen kann ich es hier nicht. Es ist doch eigentlich eigenartig, dass aus geistigen Tätigkeiten, wie zum Beispiel der ärztlichen, die ja darauf verpflichtet ist, in Ansehung des Einzelnen Leidenden heilend zu helfen, inzwischen Computermodelle geworden sind (also keine menschliche Arbeit mehr), die ausrechnen, welche Zukunft sich aus dem bisherigen Gang der Dinge ergibt, und diese Ausrechnungen dann herangezogen werden, um rechtliche Festlegungen zu treffen, die dann für alle Menschen gelten. Der Mensch – ein Teil eines Computermodells? Wo ist da Menschenwürde?

Derselbe Staat, der sich hier anmaßt, Heiler der Gesellschaft sein zu wollen, verteilt dann auch die Mittel, nach seinem Gusto, damit seine Art der Heilung auch erfolgen kann. Das ist wie der Säufer, der zur Heilung seines Alkoholismus immer neue Schnapssorten erfindet und behauptet, die würden ihn jetzt vom Saufen abbringen.

Dieser Staat sollte lieber selber einen Heiler suchen, bei den Menschen, die ihn ausmachen, um sich selbst in etwas zu transformieren, was den Menschen und ihren Bedürfnissen entspricht, also menschenwürdig ist. Er ist zur Zeit nämlich krank, sterbenskrank. Aber er braucht einen Heiler, der sich frei machen kann von dem Glauben, alle Bereiche des menschlichen Daseins sollten zentral von einer Stelle aus – dem Staat nämlich – reguliert werden.

Die geistige Tätigkeit der Menschen, also alles, was sich aus den individuellen Begabungen und Fähigkeiten der Menschen ergibt, ist individuell, und muss frei walten können. Dann wird auch der Mensch seine Fähigkeiten mit Freude in den Dienst der Allgemeinheit und der anderen stellen. Jedes Gesetz, jede Vorschrift, die hier angibt was und wie der einzelne zu sein und zu arbeiten hat, kann die volle Wirksamkeit des einzelnen Menschen nur behindern. Aber dies Gesetz der Freiheit gilt eben nur in Bezug auf die besonderen Begabungen und Fähigkeiten jedes Einzelnen.

Wieviel von seinem Individuellen er für die Allgemeinheit zu geben hat, das muss für alle Menschen gleich sein, also eine demokratisch festzulegende Rechtsregel, im Hinblick auf die vorhandenen Bedürfnisse der Menschen. Und das Wirtschaften ist dann eigentlich nur noch das Hervorbringen all dessen, was aufgrund der natürlichen Verhältnisse und der von den Menschen geleisteten Arbeit zur Befriedigung dieser vorhandenen Bedürfnisse möglich und nötig ist. Das kann nur in vertrauensvoller Zusammenarbeit im Blick auf die Gesamtheit des Bedarfs erfolgen.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit

So bekommen die drei Ideale der französischen Revolution eine genauere Bedeutung:

Freiheit im Gebrauch der individuellen Fähigkeiten, im geistigen Anteil aller menschlichen Tätigkeit also; Gleichheit bei der Regelung all dessen, was für jeden Menschen gleich ist (die Fähigkeiten und Begabungen sind ebenso nicht gleich wie die Bedürfnisse, also nicht Inhalt demokratischer Festlegungen); Brüderlichkeit im gemeinsamen Hervorbringen all dessen, was zur Befriedigung der insgesamt vorhandenen Bedürfnisse nötig ist, auf der Grundlage der natürlichen Gegebenheiten.

Man kann auf dieser Grundlage immer weiter denken, bis in viele Einzelheiten hinein. Das Konkrete wird immer von den tatsächlich vorhandenen Menschen, den Naturgegebenheiten und dem mehr oder weniger effektiven Umgang damit abhängen. Das ist dann eben das konkrete Leben, aus dem sich die Einzelheiten erst ergeben.

So können sich dann Lösungen finden für viele ernsthafte Probleme, vor denen die Menschheit steht. Der Anfang ist aber immer da, wo jeder Einzelne anfängt, umzudenken, und davon abkommt, die Arbeitskraft des Menschen ebenso als Ware anzusehen wie die Erde, die unser aller Leben erst ermöglicht, und wo die Achtung vor der Freiheit des Individuums – nicht seiner Willkür! – den rechten Ort bekommt.

Rudolf Steiner in den Katastrophen unserer Zeit

Solche Gedanken stellte Rudolf Steiner bereits Anfang des 20. Jahrhunderts, im allgemeinen Chaos nach dem ersten Weltkrieg dar und führte sie aus, unter dem Namen der „Dreigliederung des sozialen Organismus“ Sie wurden damals nicht berücksichtigt.

Die zweite Katastrophe folgte dann auch bald: die allgemeine brutale Barbarei der Mitte des 20. Jahrhunderts, die schlimmer wurde als die vorige Katastrophe, und die gipfelte im Abwurf zweier Atombomben in Japan. Auch damals wurden zumindest in Deutschland Gedanken laut, die an Rudolf Steiners Darstellungen anknüpfen wollten. Sie blieben unberücksichtigt.

Es ist offensichtlich, dass die kommende, auch durch die Handlungen der Mächtigen zur Zeit aktiv vorangetriebene Katastrophe (in vielen, in unseren Medien weitgehend unberücksichtigten Ländern ist sie bereits da) noch tiefgreifender und furchtbarer werden kann als alles bisherige, auf allen Gebieten: Natur, Gesellschaft, Wirtschaft – alles Leben auf der Erde. Wer sich standhaft weigert, eine Lebensweise zu ändern, die ganz offensichtlich auf Lebenslügen basiert (Käuflichkeit von Erde und Mensch, Mißachtung des freien Menschen) – die Menschheit insgesamt also, das heißt jeder Einzelne von uns – muss damit rechnen, dass die Katastrophen sich immer weiter aufschaukeln werden, und das Menschsein ganz allgemein vielleicht unmöglich machen werden.

Ist es nicht erstaunlich, was man alles an tiefen Betrachtungen aus so einem einfachen Satz hervorholen kann: „Die Pflicht ist erlaubt, der Spaß ist verboten“?

© Stefan Carl em Huisken 2021

1 Konsequent gedacht, müsste man dann allerdings auch festhalten, dass sie nichts Bedeutendes tun.

2 Unter „Demokratie“ wird hier allerdings nicht die derzeitig überall vorherrschende Parteien- und Funktionärsoligarche verstanden, die heute oftmals mit dem Wort bezeichnet wird. Diese Art der Beherrschung von Untertanen sollte wohl eigentlich mit dem Ende des 19. Jahrhunderts schon als überholt gelten; leider hat sich diese Einsicht bisher noch nicht durchgesetzt.




Aufwachen für das Kommende

In den zwei Artikeln über „Den Anderen nach-denken“ (=> hier und => hier) versuchte ich, auf einige grundlegende Aspekte und Wirkungen menschlicher Begegnungen aufmerksam zu machen, insbesondere im Hinblick auf die Frage, wohin die menschliche Gesellschaft sich entwickeln kann. Von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus komme ich hier nochmals auf die Bedeutung der menschlichen Begegnung im Zusammenhang der Gesamtentwicklung der Menschheit in unserer Zeit zurück.

Bewusstseinszustände

„Aufwachen!“ – dieser Anruf zielt darauf, den Angerufenen zu einer Veränderung seines Bewusstseinszustandes zu veranlassen. Bewusstseinszustände kennen wir beim Menschen drei grundsätzlich verschiedene – abgesehen von den unzähligen Varianten davon, die im täglichen Leben vorkommen. Diese drei Zustände sind das Wachbewusstsein, der Traum und der traumlose Schlaf. Wir sind heutzutage gewöhnt, diese drei Zustände mehr wie von außen, im Hinblick auf den menschlichen Leib zu betrachten. Dann scheint der eigentliche individuelle Mensch im Schlaf wie verschwunden: es ist eben nur noch der Leib da, ohne sichtbaren Ausdruck der Seele. Hier sollen diese drei Zustände von der Innenperspektive aus betrachtet werden.

Das Wachbewusstsein ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihm sowohl Sinneseindrücke als auch das Selbst-Bewusstsein des Menschen vorhanden ist. Der Mensch erlebt also eine Welt und weiß außerdem davon, dass er selber dieser Welt gegenübersteht, sie erlebt und durch sein Tun beeinflusst. Was er nicht wahrnehmen kann, ist er selber als der Erlebende, denn er ist selber die Formseite dieses Bewusstseinszustandes, also die Art und Weise, in der die Inhalte erlebt werden. Diese selber ist zunächst kein eigenständiger aktueller Inhalt, kann es auch nicht sein, sondern immer nur im Rückblick auf schon Vergangenes. Im Wachzustand Erlebtes können wir – mehr oder weniger, im Grundsatz aber sehr wohl – im Nachhinein erinnern. Und wir haben durch unser Selbstbewußtsein Möglichkeiten, selber den Ablauf der Ereignisse zu beeinflussen.

Daneben kennen wir den Traumzustand. Was wir in ihm erleben, können wir in der Regel nur insoweit erinnern, als sich dieses Erleben im Aufwachen in den Wachzustand noch fortsetzt. Wir erleben im Traum wohl auch Inhalte, die oftmals sehr ähnlich sind den Inhalten des Wachzustandes, soviel können wir wissen. Aber die Art des Erlebens ist eine andere. Wir sind im Traum nur eingeschränkt oder gar nicht in der Lage, unsere Eigenständigkeit gegenüber dem Verlauf des Erlebten zu behaupten, während des Traumes inne zu halten und uns auf uns selber zu besinnen. Wir sind gleichsam hineingezogen in das Geschehen und mit ihm verbunden, haben kaum oder gar keine Möglichkeiten, den Ablauf der Ereignisse mit zu bestimmen. Dennoch verändert das Erleben uns selber, ähnlich wie im Wachbewusstsein. Traumbewusstsein ist eben auch Bewusstsein.

Schließlich kennen wir auch noch den traumlosen Schlaf. Mancher mag es seltsam finden, diesen Zustand als einen Bewusstseinszustand zu bezeichnen. Aber es ist doch so: das Bewusstsein selber findet dort statt, wo die erlebten Inhalte eben nicht sind: Sinnesinhalte, Vorstellungsinhalte, Seelenregungen, Träume, Erinnerungen usw. Es ist sich selber – wie oben schon gesagt – nicht als Inhalt präsent. Es ist eben die Form, in der Inhalte auftreten können. Und wenn keine Inhalte auftreten, für die wir eine Wahrnehmungsmöglichkeit haben, dann bedeutet dies ja noch nicht, dass das Bewusstsein selber nicht vorhanden ist. Es ist nur inhaltsleer. Und weil wir bisher keine Möglichkeit haben, das Selbstbewusstsein aufrecht zu erhalten, wenn keine gegebenen Inhalte da sind, vergisst das Bewusstsein dann auch sich selber. Das nennen wir „Schlaf“.

Nacheinander – Ineinander

Gewöhnlich betrachten wir diese Bewusstseinszustände also solche, die zeitlich nacheinander stattfinden, nicht gleichzeitig. Wenn wir traumlos schlafen, haben wir keine Weltinhalte und wissen auch von uns selber nichts. Im Traum haben wir Weltinhalte, die sich sehr von dejenigen im Wachzustand unterscheiden können, im Grundcharakter ihnen aber ähnlich sind: das Bewusstsein steht den erlebten Inhalten gegenüber und folgt ihnen. Im Wachzustand kommt der bewusste, verändernde Zugriff des seiner selbst bewussten Menschen auf die erlebte Welt hinzu.

Aus dem Schlaf finden wir durch den Traum in die Welt des Wachens, und aus dem Wachen sinken wir durch das Träumen in den Schlaf. Das jedenfalls sehen wir als den „Regelfall“ an, aus unserem Erleben. Wenn wir wach sind oder träumen, schlafen wir nicht traumlos, wenn wir träumen, sind wir nicht wach und schlafen auch nicht traumlos, und wenn wir im Tiefschlaf sind, träumen wir nicht und wachen auch nicht. Das ist zunächst unser Erleben im Durchgang durch das tägliche Leben.

Aber man kann die Sache auch anders betrachten, als eine Art Ineinander dieser drei Zustände, jeweils bezogen auf bestimmte Inhalte. Wenn wir wach der Welt begegnen und unser Bewusstsein mit ihren Inhalten erfüllen, vergessen wir uns selbst (siehe oben), schlafen also für uns selber. Hingabe an die Wahrnehmung der Welt lässt also das Bewusstsein von uns selber „in den Schlaf“ sinken. Umgekehrt kann es bei hoher Konzentration auf ein eigenes Tun geschehen, dass wir alles, was nicht mit diesem Tun zusammenhängt, vergessen. In einem Sonderfall, der Meditation, kann es sogar geschehen, dass wir uns so auf unsere eigene innere Tätigkeit und die dabei auftauchenden Seeleninhalte konzentrieren, dass die äußere Sinneswelt uns augenblicksweise gänzlich entschwindet. Dann wachen wir für unsere Seele und schlafen für die Außen-Welt. Und was sich an alle Seeleninhalte – innere wie äußere – als ein Gefühl knüpft, hat Traumcharakter. Es ist nur begrenzt dem vollbewussten Einfluss zugänglich, ist geeignet, uns mit zu reißen wie das Geschehen in einem Traum, und oftmals auch, unseren Willen aufzurufen und zu lenken.

Was unser eigenes Tun, den Prozess der eigenen Willensentfaltung betrifft, wurde ja oben schon angedeutet, dass wir davon in der Regel kaum eine Wahrnehmung haben. Wir nehmen nur wahr: da ist innerseelisch ein Vorsatz, und anschließend erleben wir, wie dieser Vorsatz im Tun realisiert wird oder nicht. Wie wir es fertigbringen, dass aus dem erlebten Vorsatz (der sich aus einer Vorstellung oder einem Gefühl ergeben kann) die ausgeführte Tat wird, das erleben wir nicht. Darüber gibt es nur Theorien, Denkmodelle und dergleichen. Wir wissen es, wenn wir wahrhaftig bleiben wollen, aus dem eigenen Erleben nicht. Das bedeutet, dass wir für das eigentliche Wollen schlafen.

In der Zeit

Und eine weitere Beobachtung können wir machen bezüglich der Bewusstseinszustände in unserem Leben in der Zeit.

Wofür können wir wachen? Das Wachbewusstsein ist zunächst ein Duales, in dem das eigentliche Erleben und der Inhalt gegenüberstehen. Darum können wir wachen für alles, was schon geworden ist, was einen Gegenstand für uns abgeben kann, dem wir uns gegenüberstellen können. Das sind dann also Sinneseindrücke (die sich immer auf etwas beziehen, was schon da ist), Vorstellungsinhalte, Gedanken, auch Erinnerungen; bei etwas Bemühung können wir uns auch unseren eigenen Gefühlen so gegenüberstellen, brauchen dann aber schon denkende Besinnung dazu. Generell kann man also sagen, dass alles, was in unserem Denken als Inhalt auftaucht, Inhalt des Wachbewußtseins ist. Alles dies kommt uns aus der Vergangenheit zu, ist Gewordenes. Mit dem Denken fassen wir also das Vergangene.

Wofür schlafen wir? Für alles, was noch in der Zukunft liegt, von dem wir also noch keinen Inhalt fassen können. Es ist dies der Bereich, in den hinein auch all unser Wollen gerichtet ist, und in den hinein wir durch unseren Willen wirken. Wir selber als unwahrgenommener Teil unserer alltäglichen Bewusstseinsverfassung sind also etwas Zukünftiges, was erst noch werden soll. Wir kennen uns eben selber noch nicht, können uns selber noch nicht gegenübertreten. Wer sich selber so betrachtet, wird kaum in die Versuchung kommen, sich selbst als feststehendes Mass aller Dinge anzusehen. Denn er selber und seine Taten sind Glied eines noch unbekannten Ganzen – der Zukunft, die eben noch nicht in die Dualität des Wachens getreten ist.

Und dazwischen träumen wir. In jedem Augenblick der Gegenwart, jetzt, jetzt, jetzt und jetzt wieder. Die Gegenwart ist also nur die Grenze, halb wach und halb Schlaf, zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Niemals klar fassbar und doch auch nicht im Dunkel des Schlafes versinkend. Und wenn wir etwas davon wissen, ist es schon Vergangenheit. Was die nächste Sekunde bringt, können wir nur vermuten, ahnen, wollen, bis wir sie erleben. Wir schwingen unaufhörlich zwischen dem der Vergangenheit Gegenüberstehen und der Einheit des Zukünftigen.

Menschenbegegnung

All diese Zustände spielen gleichsam oszillierend, ineinander übergehend, eine Rolle bei jeder Begegnung von Menschen. Wie in den beiden in der Einleitung angegebenen Artikeln gezeigt, können wir mit unserem Wachbewusstsein, also vor allem den Sinneswahrnehmungen und den Gedanken, entweder unserem eigenen Wollen folgen, oder uns dem eines anderen hingeben. Beides gleichzeitig geht zunächst nicht. Versinken wir ganz im Denken des Anderen, so schlafen wir für uns selber. Halten wir unser eigenes Denken dem anderen entgegen, so erleben wir unsere eigenen Gedanken und schlafen für die des Anderen.

Wollen wir einen Anderen also wirklich verstehen, so bleibt uns nur der Weg, uns seinem Gang des Denkens hin zu geben. Dann versinkt aber unser eigenes Selbstbewusstsein, vergisst sich selbst. Das ist der Grund, warum es so schwer ist, längeren Gedankengängen eines Anderen aufmerksam zu folgen, ohne – einzuschlafen. Es sei denn, er baut immer wieder Pausen für uns ein, in denen wir aufwachen können. Oder – und das wäre ja dann das anzustrebende Ideal – wir lernen nach und nach, den Anderen so in uns zu erleben, wie er sich selber erlebt. Dann erst ist die volle Hingabe erreicht, und wir können ihn ganz verstehen. Dafür müssen wir in diesem Verstehens-Augenblick aber auch die eigene irdische Persönlichkeit ganz vergessen.

Gegenseitiges Verstehen erfordert dann, dass beide Seiten sowohl dem Anderen hingegeben zuhören können, als auch beim Sprechen sich immer bemühen, den Anderen so in die eigene Darstellung aufzunehmen, dass er darin sich selber finden kann. Dann bleibt er auch wach. Dann hätten wir die wahren Begegnung des Menschen mit sich selbst im Anderen.

Menschheitsentwicklung

Der Mensch, wie er heute geworden ist, erlebt sich zunächst als Einzelner, Vereinzelter. Denn seine Welt kann niemand genau wie er erleben, und seinen Werdegang hat niemand genau wie er durchlaufen. Darin sind sich aber alle Menschen gleich.

Wir können noch davon wissen, dass dies nicht zu allen Zeiten so war. Wie auch bei manchen Naturvölkern noch heute üblich, erlebten die Menschen sich in früheren Zeiten viel mehr als Bestandteil eines größeren Ganzen, das sie als über dem Einzelnen stehend ansahen. Es gibt Berichte von Angehörigen solcher Völker, die es wie eine wirkliche Selbstvernichtung erlebten, wenn sie aus dem Stamm ausgestoßen wurden; der Tod war weniger schlimm, denn dann blieb man dem Ganzen, dem als eigentliches Selbst erlebten Stamm weiter verbunden. All das ist aber nicht mehr zeitgemäß; nur Rest aus uralten Zeiten rumoren noch in nationalistischen, völkischen und anderen Ideologien. Dass sie der heutigen Zeit nicht mehr entsprechen, läßt sich unschwer an der zerstörerischen Wirkung erkennen, die sie in der heutigen Gesellschaft ausüben, vor allem dadurch, dass sie nicht das klare, wache Denken, sondern direkt untergründig gärende Emotionen ansprechen. Der wirklich in der heutigen Zeit angekommene Mensch ist das vereinzelte, selber denkende und dadurch frei gewordene Individuum, das sich ganz selbstverständlich niemals einer übergeordneten Gesamtheit unterordnen, allenfalls selbstbestimmt einordnen will.

In dieser Vereinzelung liegt aber ein Riesenproblem. Jedes Einzelnen Welt unterscheidet sich von derjenigen jedes Anderen. Gegensätze entstehen so immer schneller und leichter, und mit dem Verfall der alten Gruppenstrukturen, mit dem Verfall von festen Moralregeln reduziert sich die Regulierung des Miteinanders auf ein durch äußere Gewalt gestütztes Einander-möglichst-wenig-Schaden.

Ausblick

Schauen wir noch einmal auf die Zeit: früher lebten die Menschen in größeren Zusammenhängen, sahen darin ihre eigene Menschlichkeit, und lebten daher auch aus von diesen größeren Zusammenhängen geprägten inneren Haltungen, Ganz selbstverständlich nahm jeder Einzelne Rücksicht auf das Wohl des für ihn sichtbaren Ganzen. Wer sich daraus löste, wurde verstoßen.

Heute sind wir gleichsam alle solche Verstoßene. Jeder kennt zunächst wirklich nur sein eigenes Erleben, und kann nur aus diesem entscheiden, was er tun und lassen will. Insofern ist er frei. Jeder Versuch, diesen Riesenschritt in die Freiheit des Einzelnen zurückzudrehen, die Menschen wieder zu Ent-individualisieren und zu reinen Gruppenwesen zu machen kann heute nur als der Versuch angesehen werden, den Menschen zu versklaven. Von sich aus ist er nicht mehr bereit, bedingungslos sich einem vorgegebenen sogenannten „Höheren“ zu unterwerfen. Auf die Spitze getrieben, scheint daher eine Art Krieg aller gegen alle unausweichlich.

Dennoch: Nein! Denn wir können – und wollen aus innerstem Bedürfnis – den Anderen kennen lernen. Denn er ist unser Spiegel. Wir brauchen ihn, um zu uns selber zu kommen. Was uns davon abhält, diesem Bedürfnis zu folgen, sind die Überbleibsel uralter Vergangenheit und die Furcht vor unserer Unfähigkeit, uns dem Anderen hinzugeben und darin doch wir selber zu bleiben. Fähigkeiten lassen sich aber nicht einfach so erwerben, sie wollen geübt werden. Und je mehr Menschen es üben, den Anderen durch hingebendes Zuhören verstehen zu wollen – auch und gerade dann, wenn uns nicht Sympathie zu ihm hin zieht – desto mehr kann einer im anderen aufleben, aufwachen, desto mehr können wir lernen, eben nicht einzuschlafen, wenn wir uns dem Anderen hingeben. Je mehr wir den Anderen wirklich verstehen, desto mehr können wir uns ihm auch verständlich machen, indem wir seine Denk- und Erlebenswege in unseren Sprechen und Tun berücksichtigen.

Dann kann nach und nach, in Äonen, so wie auch die heutige Menschheit entstanden ist, eine neue gemeinsame „Identität“ der Menschen entstehen, eine, die nicht den Einzelnen ausschließen muss, wenn er den vorgegebenen Regeln nicht folgt, sondern die dann die Kraft entfalten kann, scheinbar divergierende individuelle Wege aus freiem Wollen zu einander zu lenken. Die dafür nötige, frei wollende Hingabe an den Anderen ist aber nichts anderes als die Liebe.

Ein solches, aus Liebe geborenes „Gemeinschafts-Ich“ ist gleichermaßen unviersell und individuell, denn es schließt den Vereinzelten nicht aus, sondern braucht ihn und seinen freien Willen als seine eigene Vorbedingung. Es knüpft an bei dem, was schon heute alle Menschen in gewissem Sinne gleich macht: das freie Erleben der Welt als mehr oder weniger (noch) unbekanntes Geist-Wesen.

In der Vereinzelung und den menschheitlichen Problemen, die dadurch entstehen und in unserer Zeit kulminieren, können wir daher einen Aufruf sehen, aufzuwachen für das Kommende, das sich ankündigen und realisieren kann in jeder wirklich bewusst durchlebten Menschenbegegnung, aufzuwachen also im „Hineinschlafen“ in den Anderen, und damit für den kommenden, zukünftigen MENSCHEN.

Auf dass der MENSCH sich selber mache, und nicht gemacht werde durch irgendwen oder irgendwas!




Der Spiegel des Individuellen – Den Anderen nach-denken II

In => diesem Artikel wies ich darauf hin, dass Verständnis von Mensch zu Mensch nicht bedeuten muss, Gedanken, Haltungen und andere „Weggefährten“ eines anderen Menschen zu übernehmen. Das Entscheidende geschieht vielmehr im Nach-Gehen oder Nach-Denken seiner Entwicklungswege. Von einem anderen Gesichtspunkt aus möchte ich darauf hier noch einmal eingehen.

Wodurch lebt mein „Ich“?

Leben ist Veränderung, niemals Stillstand. Ein erreichter Zustand kann also niemals ein wirklich „lebendiger“ sein, denn er ist Zustand, also keine Bewegung, keine Veränderung. Jeder irgendwann erreichte Zustand ist also gleichsam „tot“, und sein Erschaffen beinhaltet auch den Sterbeprozess, der diesen Zustand als Endprodukt schließlich hervorbringt.

Nun ist mein „Ich“ aber gerade dasjenige in mir, was durch jede Veränderung, jede Entwicklung erst hindurchgeht, diese also erlebt, erst zu Leben macht. Ohne das erlebende Ich würden nämlich die jeweils vorübergehenden, vom Ich durchlaufenen Zustände nicht meinem Leben zugehörig anzusehen sein, kein sich entwickelndes Ganzes ergeben, sondern zunächst vielleicht verbunden mit anderen Lebensprozessen erscheinen, in Bezug auf mich aber „tot“ bleiben, eben Zustände, die ich beobachte, die aber nicht mit meinem Leben verbunden sind.

Dadurch, dass ich erlebend diese Zustände durchlaufe, verbinde ich sie mit mir, mit meinem Leben. Durch jede neue Verbindung, die ich so schaffe, verändere ich aber mich selber. Denn mein Leben wird reicher an „Weggefährten“, die ich mit ihm verbunden habe, und jeder neue „Gefährte“ schafft für mich neue Möglichkeiten.

Was Ich als sich entwickelndes Individuum jeweils werde, und welche Erlebens-Möglichkeiten mir dadurch zuwachsen, ergibt sich also aus meinen eigenen Taten und Impulsen. Mein Ich lebt durch sich selbst. Zwar ist es zunächst als ein durch fremden Einfluss Gewordenes entstanden (die Weltentwicklung hat mich auf geheimnisvolle Weise hervorgebracht). Je mehr ich mich aber auf das Gewordene verlasse, desto mehr stütze ich mich auf Totes, erlebe auch nichts Neues; und je mehr ich eigene Initiative hervorbringe und mit meinem Leben verbinde, desto mehr lebe ich durch mich selbst.

Leben ist Sterben

Mit jedem Schritt, den ich durch mein Leben gehe, produziere ich neue, gewordene Zustände, die ich als Ergebnisse hinter mir lasse. Jede Situation, die ich durchlebe, wird notwendig zu einer vergangenen. Wie das Wort „vergangen“schon sagt: die lebendige Situation vergeht.

Vergehen ist Sterben, Verlust des Lebens also. Jedes Leben produziert aber Vergehendes, ein solches Vergehendes, mit dem das Leben sich verbunden hat und damit auch nach und nach vergeht. Paradox zunächst, aber doch in gewissem Sinne wahr: Das Leben verzehrt sich selber, bringt den Tod hervor, einfach weil es Leben ist.

Allerdings: ist dieses Leben dasjenige des Ich, so lebt es durch sich selbst, und – stirbt fortwährend durch sich selbst ab. Ein tiefes Geheimnis unserer Zeit ist damit angesprochen. Viele Bestandteile unserer individuellen „Lebenswelten“ – also der jeweiligen individuellen Welt, in der das Ich sein Leben fristet – sind heute von Sterbeprozessen betroffen: das Sterben von Tier- und Pflanzenarten, der Verlust der Lebenskraft des Menschen (wir als Zeitgenossen werden immer kränker), ja, der Verlust der Lebenskraft des Gesamtorganismus „Erde“ sind unübersehbar. Das Absterben der Erde als Ganzer ist Gegenstand vielfältiger Theorien und Prophezeihungen geworden. Woher soll neues Leben kommen?

Schlafen und Wachen

In jedem Menschenleben gibt es einen „kleinen Bruder“ des Todes: den Schlaf. Ebenso wie der Schlaf unser Bewusstsein auslöscht bis zum nächsten Erwachen, stellen wir uns den Tod vor: als Auslöschen unseres Bewusstseins, aber so, dass dem Tod eben kein Aufwachen folgt, sondern dass das Auslöschen endgültig sei. Darum fürchten wir uns vor dem Tod, lieben ihn nicht, sondern versuchen, ihn von uns fern zu halten. Denn wir selber sind Leben, wollen leben.

Das bisher Geschilderte vorausgesetzt, können wir aber wissen, dass wir selber in genau dem Bereich leben, in dem wir im Schlaf – und im Tod – gänzlich versinken. Unser eigenes Erleben beobachten wir nicht; wir nehmen nur das Gewordene, also schon abgestorbene wahr. Wir selber sind also nicht von dieser wahrgenommenen Welt, die uns umgibt. Wir leben dort, wohin Schlaf und Tod uns führen wollen.

Das hat durchgreifende Bedeutung für das menschliche Zusammenleben. Der Andere ist – wie im =>vorigen Artikel gezeigt – in der selben Situation wie ich. Auch der Andere lebt also in der Welt, in die der Tod führt. Hören wir also einem Anderen wirklich zu, versuchen, seine (Denk-)Wege mit zu gehen, so erfordert das, dass wir gleichsam in ihn „hineinschlafen“, uns selber so lange aufgeben, wie wir den Anderen mit-leben wollen. Die Furcht vor dem endgültigen Selbstverlust, also dem eigenen Tod klingt immer mit, wenn wir uns ganz auf einen Anderen einzulassen versuchen. Nur zu verständlich, dass wir immer wieder zu uns selber zurück wollen, unser Eigenes ihm entgegen halten, und dabei sehr oft überhören, auf welche Wege er uns mitnehmen könnte, was aus seinen Wegen zu uns spricht. Wir sind also gleichsam – unbewußt – ständig im „Krieg“.

Das ist eine sehr antisoziale Seite, die aber jeder Mensch heute in sich trägt. Kein Wunder, dass es zwischen den Menschen so viel Mißgunst, Ablehnung und Streit gibt. Nur, wo der Andere mir nützt – also meiner inneren und äußeren Welt aus Sinnesdingen, Gedanken, Gefühlen, Willensimpulsen, einschließlich der gewordenen Vorstellung meiner selbst, die ich meistens „Ich“ zu nennen pflege –, nur da ist er für mich erträglich, denn nur da ist für mich Sicherheit. Ansonsten ist der Andere mein Feind, denn ließe ich mich auf ihn ein, auf sein wirkliches Leben, so könnte er mich auslöschen.

Kein Wunder auch, dass wir der Erde gegenüber, der Natur insgesamt, mit allen Tieren, Pflanzen darin, so sehr geneigt sind, nur das Tote, Feststellbare gelten zu lassen. Das ist nämlich die Erscheinung der Welt, die uns gegenüber steht, in der für jeden Menschen individuellen Konfiguration, die er eben erleben kann. Was diese Welt werden läßt, ihr Leben ist, stammt aus demselben Reich, in dem ich selber lebe. In diese Welt des Lebens komme ich nur im Schlaf oder – im Tod. Und dann weiß ich nichts mehr davon. Davor habe ich Furcht, und bleibe deswegen im Erklären der Welt lieber bei der Erscheinung: der toten, sicheren, festen Erscheinung

Sich selber fremd

Schauen wir uns das an: das „Ich“ lebt in einem Bereich, den es zunächst selber nicht wahrnehmen kann, der ihm unbewusst ist. Es ist dieser Bereich der Unbewusstheit, in den wir in jedem Schlaf versinken und – jedenfalls nehmen wir das an – auch im Tod. Aber auch das Leben und Werden der Welt findet in diesem Bereich statt: wir können nicht mit-erlebend erkennen, wie das Leben entsteht, können es jedenfalls nicht in feste Vorstellungen fassen, auf die wir uns stützen können. Kein Wunder: die feste Vorstellung ist ein Gewordenes, Vergangenes, also: Totes, darum kann sie das Leben nicht fassen.

Auch unsere Vorstellung von uns selber ist letztlich immer eine gewordene, also tote. Nur, dass wir – genügende Wachheit und Aufmerksamkeit vorausgesetzt – diese Vorstellung ständig verändern und immer wieder an die neue Situation anpassen können, das Gewordene also immer wieder neu, in jedem Augenblick überwinden können, unsere Selbst-Vorstellung also immer wieder neu aus unserem Leben hervorbringen können. Das „Ich“ lebt in seinem eigenen Tun (s.o.). Und da wir die Veränderung selber vornehmen, durchleben wir ihr Entstehen und wissen, darum, wie sie zustande kommt.

Beginnen wir zu erkennen, wie wir auf diesem Wege unser eigenes Sterben produzieren, in immer neuen gewordenen Vorstellungen von uns selber, können wir erkennen, wie wir selber ein Ausdruck sind des wohl stärksten Gegensatzes, den wir kennen, des Gegensatzes von Tod und Leben nämlich. Das „Ich“ ist Leben, das sich durch sich selbst produziert als Totes, als Vorstellung von sich selbst, als Person in der Wahrnehmungswelt, die sich in dieser Welt selbst erscheint, in der so vieles auftritt, aber niemals das Leben selbst. Die Oberfläche all der schaffenden Wesen der Welt, die wir um uns her erleben, ist immer nur eine todgeweihte. Das Leben wirkt woanders. Von mir wahrnehmen kann ich zunächst auch nur diese Oberfläche, das Gewordene.

So ist auch das, was uns aus dieser Welt in Bezug auf unser eigenes Leben entgegen kommt, eben dasjenige, was uns dem Tode näher bringt. Unser Schicksal nämlich, dasjenige, was als Bestandteil unserer individuellen Umwelt in Form der „Weggefährten“ nach und nach uns beigeordnet wird, von uns mehr oder weniger ergriffen und mit unserem Leben verbunden. Auch darin leben wir selber. All das, was mir da zukommt, gehört zu mir, meinem Ich, meiner Individualität. Es kommt so wie mir niemandem anders zu, allenfalls diejenigen Teile davon, die zum Beispiel als Zeiten-, Völker- oder Menschheitsschicksal angesehen werden können.

Auch in den Figuren, durch die mein äußeres Schicksal mich leitet, lebe ich also selber auf. Denn sie gehören zu mir, meiner Entwicklung, meinem Leben.

Spiegel des Individuellen

All das Geschilderte, das Leben und Sterben aus der Welt heraus in die geistige, lebendige Welt hinein, findet nun nicht nur in mir statt, sondern in jedem Menschen. Ich kann ja an jedem Menschen erleben, dass er in der selben Situation wie ich ist: aus einem unwahrgenommenen Ich heraus eine Welt erlebend und miterschaffend, die ihm gegenüber steht. Nirgendwo in dieser Welt kann er sich selber als Lebendigen wahrnehmen, nur immer dasjenige von sich, was geworden ist.

Doch, er kann das individuelle Leben wahrnehmen, an einer Stelle: im anderen Menschen, dem Spiegel des Individuellen. Den Anderen nach-denken – nicht seine „Weggefährten“ zu übernehmen, sondern sein Leben ein Stück mit zu gehen! – ist ein Weg, sich selber zu begegnen. Nur steht uns da die Furcht im Wege, die uns sofort überkommt, wenn wir unser eigenes Selbst-Bewusstsein hingeben sollen, um den anderen zu er-leben. Ja, es ist wahr: wir er-leben den anderen, schenken ihm Leben durch diese Tat. Wir geben ihm – und uns selber! – den Tod, wenn wir uns nur auf uns selbst zurückziehen, auf unserem und seinem Sicheren, Festen, schon fertig Gewordenen beharren.

Ganz unbewusst, im Reich des eigenen Er-Lebens, in das wir durch den Erdentod erst ganz hineinkommen werden, tun wir dies immerwährend. In jedem auch noch so kurzen Zuhören lebt es, dieses In-den-Anderen-Hineinschlafen und Zu-sich-selber-Aufwachen. Wir könnten sonst niemals wirklich verstehen, was ein anderer sagt oder uns bedeutet, könnten höchstens dasjenige, was er für unsere eigene gewordene, irdische Persönlichkeit ist, mit Sympathie oder Antipathie begleiten. Nur die uns selber betreffende Nützlichkeit des Anderen als Weltgegenstand wäre dann noch für uns von Bedeutung. Wer auch nur ein Kleines über diese Auffassung vom Anderen hinauskommt, ist schon ein Stück weit mit ihm mit gegangen, hat ihn ohne es zu merken, nach-gedacht und mit sich selbst verbunden. Nur fehlt dann das Bewusstsein davon, was geschehen ist.

Man könnte an dieser Stelle viele empirische Befunde anführen, die diese Darstellung untermauern: die gesamte Nachahmung kleiner Kinder fällt in diesen Bereich, bis hin zu Messungen, die zeigen, dass der Sprachorganismus eines intensiv Zuhörenden (auch schon von Neugeborenen!) zeitgleich die Bewegungstendenzen des Sprechenden nachbildet. Zeit-gleich, nicht eine Winzigkeit später. Der Zuhörende lebt also unbewusst mit dem Sprechenden mit, erlebt ihn nach, lebt für die Zeit des Zuhörens im selben geistigen Raum wie der Sprechende, lebt dessen Intentionen mit, wird zum Spiegel des Sprechers. Und spricht dieser aus einem Erleben der Wege des Zuhörers heraus, dann kann dieser das Sprechen wie aus sich selbst heraus erleben, als wie von ihm selber gesagt. Dann hat der Sprecher es geschafft, im äußeren Sprechen innerlich wachend so in den Zuhörer „hinein zu schlafen“, dass er wie aus diesem selber sprechen kann.

Im Anderen auferstehen

Der Sprecher, der von außen zu mir spricht, sein Sprechen aber wie aus mir selber erklingen läßt, hat etwas geschafft, was jedem Menschen zunächst durch die Furcht verbaut ist. Er ist in mich hinein eingeschlafen, und doch dabei wach geblieben. Mehr noch: er hat dann sein eigenes Leben so mit mir verbunden in der (geistigen) Welt, in der wir beide leben, das es meines geworden ist, und meines seins!.

Darum ist und bleibt er aber doch er selber, denn er steht mir ja gegenüber und spricht zu mir. Er ist gleichsam in seine Erscheinung hinein gestorben, ist geworden, was er mir im Außen nun ist, und ist gleichzeitig in mir selber zu neuem Leben gekommen. Aber ich habe dasselbe getan, ihm mein Leben geschenkt, mein Mit-Erleben, indem ich es gewagt habe, mich den Wegen, die er mich führt, gänzlich zu überlassen. Wir tun beide das gleiche, aber doch anders: ich schlafe für mich selber im Irdischen, nehme mich nicht wahr, gebe mich dem äußeren Sprechen des Anderen hin, und lasse ihn in mir auferstehen, indem ich ihn nach-denke; der Sprecher schläft im Innern für sich selber, läßt mich in sich wirken, das heißt aber mich, den Lebendigen, um mich in seinem Sprechen im Außen auferstehen zu lassen.

So kann menschliches Zusammen-Leben neue Gemeinschaft wirken: im Wechsel zwischen dem In-den-Anderen Hineinschlafen und dem Für-mich-selber-Aufwachen, je nach Rolle, die jeder gerade im Äußeren spielt. So wacht jeder im anderen auf und dadurch für sich selbst, wird so bewusst zum Spiegel des Individuellen.

Auf dieser Grundlage kann aber niemals wirklicher Streit entstehen, nur Verständnis für das fremde Wollen, das durch die ganz anderen „Weggefährten“ des Anderen notwendig als ein Fremdes erscheinen muss. So kann das „Den-Anderen-Nachdenken“ helfen, eine neue Gemeinschaft entstehen zu lassen, in der wirkliche Freiheit möglich wird.

© Stefan Carl em Huisken 2020




Den Anderen nach-denken hilft

Wie finden wir den Weg zum Anderen, gerade auch zu dem, der uns wie ein Feind gegenüber steht? Nur wenn uns das gelingt, kann der Krieg zwischen den Menschen, das Einander-Vernichten-Wollen zu einem Ende kommen. Ein Versuch.

Denkwege

Wer denkt, geht dabei Wege – von einem Gedanken zum anderen, um Gedanken herum, auf sie zu, je nachdem. Was er dabei durchmacht, sind Veränderungen seiner selbst, durch Willensimpulse, Zu- und Abneigungen, Unklarheiten, kurz: Qualitäten, die er selber mit den Gedanken verbindet.

Die Gedankeninhalte bleiben zunächst gleich, egal, was der einzelne dabei erlebt. So wie ein Baum, an dem ich vorübergehe, ein mathematisches Problem, das mich reizt, es zu lösen, oder ein Gefühl, das mich befällt, oder ein Ziel, das ich anstrebe, sich ja zunächst nicht ändert durch meine Art, mich dazu zu stellen. Aber all dies wird zu einer Art „Weggefährten“, indem sich mein Umgang damitändert. Und mein Umgang mit all diesen „Weggefährten“ prägt mein Erleben auf dem Weg, ist das, was mich auf dem Weg verändert.

„Mein Weg“ ist also nur äußerlich – gewissermaßen – durch die (Denk-)Welt beschrieben, die ich dabei durchlaufe. Innerlich ist damit auf die Veränderungen gedeutet, die ich selber dabei durchmache: meine Entwicklung also.

Ich und Welt

Der „äußerliche“ Weg ist also zu beschreiben als die innere oder äußere Weltgegend, die ich durchlaufe; der „innerliche“ Weg findet an mir selber statt, dem Gehenden, Erlebenden. Während ich einen Weg gehe, bin ich tätig (gehen) und aufnehmend. Auf die Inhalte dieses Tuns und Aufnehmens, auf die „Weggefährten“ also, richtet sich zunächst meine Aufmerksamkeit: auf meine Taten und Wahrnehmungen. Was ich in der Regel nicht mit meiner Aufmerksamkeit umfasse – auch zunächst gar nicht umfassen kann – bin ich selber, der Tätige, Wahrnehmende, einschließlich der Veränderungen, die ich durchlaufe.

Es ist und bleibt eben so: was ich wahrnehmen will, muss schon da sein. Bezogen auf meine eben durchlebte Veränderung heißt das: wenn ich sie wahrnehme, ist sie schon eine gewesene, vergangene, schon „Weggefährte“, und gerade jetzt findet wieder etwas Neues mit mir statt. Das kann ich dann gleich wahrnehmen, in Zukunft, dann, wenn es schon – ist.

Es besteht also ein grundlegender Unterschied zwischen mir und der Welt. Ich tue, lebe, wese. Sobald ich sagen kann: ich bin, rede ich schon von etwas Gewordenem, nicht mehr Tätigen, nicht mehr aus sich selber lebenden. Dann bin ich mir Welt geworden.

Der Andere

Innerhalb dieser vielen unterschiedlichen inneren und äußeren „Weggefährten“ gibt es aber eine Art Ausnahmeerscheinung: den anderen Menschen. Bei ihm kann ich nämlich wissen: es geht ihm im Prinzip genauso wie mir. Auch er lebt mit seinen „Weggefährten“, verändert sich durch die Begegnungen, und kann seine eigene Veränderung erst kennen, wenn sie schon geschehen ist. Er ist also im Grundsatz dasselbe wie ich, nur ein bisschen anders, vor allem durch die anderen „Weggefährten“, und von mir eben als „außen“ erlebt, und nicht von „innen“. Aber auch das ist ja gleich: ihm geht es mit mir genauso wie mir mit ihm.

Dennoch haben wir ein untrügliches Wissen: der Andere, das ist ein Mensch, einer, der ebenso wie ich „ich“ zu sich selber sagt (in welcher Sprache denn auch immer, das tut hier nichts zur Sache). Und das können wir beide jeder erstmal nur zu uns selber sagen, zu dem Tätigen, Wesenden, Erlebenden also, und dann auch zu dem, was sich aus diesem Tun, Wesen, Erleben in der Vorstellung von uns selber als neuer da-seiender „Weggefährte“ ergibt.

Fremdeln

Es ist ja ein Grundphänomen unserer Zeit, dass wir einander – und uns selber – so fremd sind. Wir haben nur immer das im Bewusstsein, was schon ist, also einen bestimmten Zustand schon erreicht hat, in dem es uns gegenübertreten kann. Das gilt für uns selber genauso wie für den anderen Menschen.

Uns selber gegenüber haben wir aber einen entscheidenden Vorteil: dadurch, dass wir die Veränderungen durchlaufen haben, die der Weg bis hierhin provozierte, haben wir uns mit diesen Veränderungen, mit dem darin waltenden Leben verbunden, denn es ist ja unser eigenes. Es waren unsere eigenen Wahrnehmungen, Taten, Willensimpulse, Gefühle, die uns veränderten.

Dadurch werden wir zwar einerseits, wenn wir die gewordene Vorstellung von uns selber betrachten, uns selber etwas fremd (jedenfalls dann, wenn wir uns nicht derartig in uns selber verlieben, dass wir uns sofort durch unsere Gefühle, Willensimpulse und dergleichen wieder innigst mit dieser Vorstellung von uns selber verbinden, also uns eigentlich gar nicht um die Vorstellung von uns selber kümmern, sondern nur um das Schaffen eines Verhältnisses dazu). Andererseits wissen wir aber durch das, was wir durchlebt haben, wie es zu diesem Zustand unserer Selbst gekommen ist; da sind wir uns selber nah.

Das ist bei dem Anderen nicht gegeben. Dieses „Wie“ kennt er nur selber, ebenso wie ich es bei mir selber weiß. Dies ist der Grund für jeden Streit, der zwischen Menschen entstehen kann. Sehe ich nur die Äußerung, die Tat des Anderen, und weiß nicht, wie er dazu gekommen ist, so zu handeln, sich zu äußern, kann die Fremdheit nicht weichen. Ich kann mich – also den lebenden, tätigen, wesenden in mir – nicht mit dem anderen verbinden. Wir bleiben einander gegenüber, und können bestenfalls Kompromisse miteinander machen, schlimmstenfalls, wenn unsere „Weggefährten“ zu unterschiedlich sind, uns streiten, bekämpfen, bis hin zu dem Wunsch, den Anderen vernichten zu wollen, da er uns stört auf unseren Wegen.

Den Anderen nach-denken

Der einzige Weg, einander wirklich zu verstehen, wäre es also, wenn wir in der Begegnung uns weniger für die „Weggefährten“ des anderen – seine gewordenen Haltungen, Standpunkte, Meinungen also – interessierten als für seine Art, zu leben, zu denken, zu wollen. Denn nur in dem aktuell Werdenden, in der Art zu sprechen, (Denk-)Wege zu gehen, zeigt sich, wie der Andere wirklich im Leben ist. Das andere sind eben nur die „Weggefährten“, und welche diesem oder jenem Menschen auf seinem Weg begegnen und zu eigen werden, bestimmt er nicht immer nur selber. Aber so leben, tun, sprechen wie dieser eine, individuelle Mensch, kann eben nur dieser eine individuelle Mensch selber.

Gehen wir seine Wege mit, so gut es geht, so durchleben wir mindestens ansatzweise dasjenige, was er selber auch durchlebt. Wir gehen also seinen Weg ein Stück weit mit. Und dann können wir den Vorteil nutzen, den wir haben, wenn wir selber Wege gehen: wir können wissen, wie das gegangen ist. Wir denken ihn sozusagen nach. Nicht nur seinen Weg – das wären die „Gefährten“ – sondern wirklich ihn selbst.

Dasjenige, was der Kern des Anderen ist, sein lebendiger Kern, sein Leben, wird ein wenig zum Teil unserer selbst. Wir nehmen ihn sozusagen auf in uns selber. Dann erst lernen wir ihn wirklich verstehen. Dazu gehört aber das wirkliche Mitgehen, das Zuhören, in den Anderen „Hineinkriechen-Wollen“. Und natürlich, jeder kann sich so verhalten, dass eben dies „Hineinkriechen“ schwer wird. Aber auch dadurch verrät er etwas … und stellt uns damit besonders anspruchsvolle Aufgaben.

Wer bin ich?

Aber hoppla: wenn ich das zu viel mache, werde ich ja nach und nach der andere. Und wo bleibe ich, ich selber? Genau dieses „Hoppla“ ist der Grund, warum wir das so wenig tun: den anderen nach-denken. Wir fürchten, uns selber zu verlieren, und wenden uns schnell vom Anderen ab zu uns selber, um uns unserer selbst wieder zu versichern.

Man kann das vergleichen mit Schlafen und Wachen. Wach bin ich dann, wenn ich eine Welt mir gegenüber habe, von der ich mich innerlich abstoßen kann, die ich als etwas erlebe, was ich nicht selber bin. Wenn ich schlafe, versinkt diese Welt der Wachheit, des Gegenübers in die Unbewusstheit. Wachsein und bei mir selber sein gehören also zusammen, ebenso wie Schlafen und – beim Anderen sein.

Nun kann ich aber wissen, dass doch diese Wachwelt, in der ich mir auch meiner selbst bewusst werden kann, die ich geradezu brauche, um mir meiner selbst bewusst zu werden, eben meine individuelle ist. Niemand kann sie zunächst erleben so wie ich. Und innerhalb dieser individuellen Welt kommt eben der Andere vor. Er lebt also sowieso schon in mir – nur unerkannt, noch fremd.

Durch ihn habe ich aber eine unermessliche Chance: Wege zu mir selber zu finden. Denn bei dem anderen Menschen weiß ich eines: ihm geht es im Prinzip wie mir. Bei einem Löwen, einem Gewitter, einer Ringelblume kann ich das zunächst nicht wissen. Die sagen nämlich alle nicht „ich“ zu sich selber. Will ich aber finden, wie es zu meinem Schicksal gekommen ist – wie also meine „Weggefährten“ dazu gekommen sind, mir über den Weg zu laufen – reichen die gewordenen Tatsachen nicht. Ich muss ihre Lebenswege kennen lernen. Und genau das kann ich am Anderen lernen: Lebenswege nach zu gehen – an jedem Anderen, gerade auch an denjenigen, die mir nicht so einfach gefallen wollen. Denn ich habe mit jedeem Menschen etwas gemeinsam: den Kern des „Ich“.

Dann finde ich den Weg zu mir selber, dem wirklich Lebenden, durch den Anderen. Jeder ist mir dann eine Chance, zu mir selber zu finden, gerade dadurch, dass ich mich auf ihn einlasse, die Furcht überwinde, mich selber zu verlieren. Denn ich verliere mich, meine Lebendigkeit, mein Leben also, gerade dadurch, dass ich nur auf meinem schon Gewordenen, meiner Vorstellung von mir, meinem „Weggefährten“ beharre, und den Lebendigen in mir darum nicht zu Geltung kommen lasse.

© Stefan Carl em Huisken 2020