Wozu braucht man den Darwinismus?

Charles Darwin Darwinismus
Charles Darwin

Die Vorstellung, dass jedes höher entwickelte Wesen im Gang der Entwicklung durch eine Art „Naturzüchtung“ im sogenannten „Kampf ums Dasein“ erst entstanden ist, weil es dabei eben sich stärker zeigte als seine Konkurrenten, ist so recht nach dem Geschmack bestimmter parasitär gestimmter Menschengruppen, die ihre vorrangige Aufgabe darin sehen, andere Menschen zu beherrschen zum Zwecke der Ausbeutung. Ein solches Bild der Entwicklung, in dem immer der Stärkere den Schwächeren besiegt und verdrängt, hat – wenn es als gültig angesehen werden soll – allerdings gewisse Voraussetzungen, die kaum jemand wirklich in Rechnung zieht oder gar öffentlich benennt.

Bereits Ende des 19. Jahrhunderts, als ein solches Menschenbild, das ja auf der Grundlage von Charles Darwins Buch „Über die Entstehung der Arten“ aufgekommen ist, immer größere Bedeutung gewann, wussten klar denkende Menschen von diesen Voraussetzungen und den damit verbundenen Folgen. So zitiert Rudolf Steiner 1904 in seinem Aufsatz „Über moderne naturwissenschaftliche Anschauungen“1 den Forscher W.H. Rolph, der bereits 1884 schrieb:

„Erst durch die Einführung dieser Unersättlichkeit wird das Darwinistische Prinzip der Vervollkommnung im Lebenskampfe annehmbar. Denn nun erst haben wir eine Erklärung für die Tatsache, dass das Geschöpf, wo immer es kann, mehr erwirbt, als es zur Erhaltung seines Status quo bedarf: dass es im Übermaß wächst, wo die Gelegenheit dazu gegeben ist. … Während es also für den Darwinisten überall da keinen Daseinskampf gibt, wo die Existenz des Geschöpfes nicht bedroht ist, ist für mich der Lebenskampf ein allgegenwärtiger. Er ist eben primär ein Lebenskampf, ein Kampf um Lebensmehrung, aber kein Kampf ums Dasein.“2

Damit wird gleichzeitig klar: wer unersättlich ist, braucht den Lebenskampf, um seine Unersättlichkeit auszuleben und sie dabei auch noch als eine für den Menschen unausweichliche Naturnotwendigkeit hinzustellen. Und auch „rein menschlich“, moralisch sozusagen, steht er fein da: er ist ja nicht schuld an den Folgen, das ist eben alternativlose Naturnotwendigkeit.

Solche ausweglosen Situationen, in denen „höhere Gewalt“ dieses oder jenes alternativlos erzwingt – so wird es uns jedenfalls von gewissen tonangebenden Kreisen immer wieder eingehämmert – kennen wir aus der Gegenwart und unmittelbaren Vergangenheit ja zur Genüge. Dass die Sache vielfach nicht recht schlüssig scheint, bemerken allerdings auch immer mehr Menschen. Und dann sucht man die Schuldigen, die „bösen Menschen“ (die „bösen Darwinisten“?), denn wenn man die mit der moralischen Keule auf dem Umwege der Mobilisierung der Massen dann aus ihren Positionen vertrieben hat, so meint man, wird alles besser. Ist das wirklichkeitsnäher als das „Darwinistische Prinzip der Vervollkommnung im Lebenskampfe“?

Was man dabei übersieht, ist dies: man versucht im „Kampf ums Dasein“, im „Lebenskampfe“ nun eben auch mitzuspielen, nur von vermeintlich „höherer moralischer Warte“ aus. Die zugrundeliegende Ideologie – den „Darwinismus“ als solchen, mehr oder weniger simplifiziert – zieht man nicht in Zweifel. Man macht einfach im„Lebenskampf“ mit und bestätigt so durch die Tat dessen daseinsbeherrschende Macht, die – wie ja schon Rolph erkannte – letztlich untrennbar mit der menschlichen Unersättlichkeit verbunden scheint. Aber ist das überhaupt so?

Gewiss: die Exzesse kolonialistischer Kriege, die menschenverachtenden Wirtschaftssysteme sind ja ebenso vorhanden wie die sexuellen und drogenstimulierten Ausschweifungen mancher derzeit die Weltenlenkung darstellenden Figuren. Und dass die Unersättlichkeit parasitierender Triebtäter vor allem aus Übersee nahe daran ist, die menschliche Zivilisation insgesamt zu vernichten, kann ohne gezieltes Wegsehen und Weghören kaum noch jemand ernsthaft ableugnen. Allerdings: die Situation ist nicht ausweglos.

Abgesehen davon, dass sich das gesamte darwinistische Denkmodell ziemlich problemlos anhand von Tatsachen widerlegen lässt3, kann man solch eine Sachlage auch so lakonisch kommentieren wie Rudolf Steiner das obige Zitat von W.H. Rolph schon 1904: „Nur natürlich ist es, daß sich bei solcher Lage der Tatsachen die Einsichtigen gestehen: Die materialistische Gedankenwelt taugt nicht zum Aufbau einer Weltanschauung. Wir dürfen, von ihr ausgehend, nichts über die seelischen und geistigen Erscheinungen aussagen.“4

Die Unersättlichkeit des Menschen (eine „seelische Erscheinung“ also) ist ja nur für denjenigen eine Art unausweichlicher Zwang, der sie in seinem Denken zu einem solchen macht. Das ist dann ein Denken, das hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt und leugnet, dass es sich selber zu steuern in der Lage ist. Das wäre ja ein unbequemer Weg, auf dem man selber Verantwortung für die eigene Weltanschauung übernehmen müsste, frei und ohne Scheuklappen, selber denkend. Was daraus als Taten erflösse, müsste der Einzelne dann auch selber verantworten. Das will er allerdings vielfach nicht, und so bastelt man sich lieber ein Welt- und Menschenbild, in dem die Freiheit des Menschen zugunsten reiner Triebtäterschaft (seien es sogenannten „höhere moralische“ oder „niedere“ Triebe) zurücktritt und die Schuld daran dann weiterhin anderen – Gott, irgendeinem „Gegner“ oder eben der „unausweichlichen Weltgesetzlichkeit“ – zugeschoben werden kann.

Wer diese Situation nachhaltig durchdenkt, und daraus auch Konsequenzen ziehen will, kann gar nicht anders, als sich selber – und damit den Menschen schlechthin – als Geistwesen anzusehen, das sich selbst verloren hat und nun vor der Aufgabe steht, sich selber wiederum – dann allerdings bewusst und frei – unter Kontrolle zu bekommen.

Darum ist es in der derzeitigen Weltlage gar nicht die erste Frage, was konkret zu tun sei, sondern vielmehr, wie jeder Einzelne (und nach und nach immer mehr davon) erst einmal zur Einsicht kommen könne in die Grundlagen seines Handelns. Handeln wir wirklich selber oder überlassen wir die Steuerung unseres Willens dunklen Trieben, zu deren freier Verwendung? Oder, anders gesagt: Wer bestimmt unser Handeln – das eigene ICH oder ein dunkles Triebwesen?

Der „man“, der sich nicht einmal selber benennen mag, nicht einmal den eigenen Namen kennt, der ICH heißt, braucht den Darwinismus zur Rechtfertigung seiner Freiheits-Unwilligkeit, also seiner Bequemlichkeit. Der freie Mensch lehnt ein solches Denken in „Unausweichlichkeiten“ ab, denn es hindert ihn an der eigenen Höherentwicklung im Dienste der (eigenen) Menschlichkeit.

© Stefan Carl em Huisken 2023

1Steiner, Rudolf: Lucifer – Gnosis. Grundlegende Aufsätze zur Anthroposophie 1903-1908. GA 34. – Dornach, 1987, S. 457ff

2Zitiert nach Steiner ebd., S. 464

3Vgl. zum Beispiel Delor, Andreas: Atlantis aus aktueller hellsichtiger und naturwissenschaftlicher Sicht. Band 5a. – Borchen, 2018. S. 6ff

4Steiner, Rudolf: ebd.


Cover Wahnsinn und Denken Menschen-Werden

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Ich hab mein Sach auf Nichts gestellt – Friesentreffen 2022

Im Nachklang eines inspirierenden Friesentreffens

„Ich hab‘ mein Sach‘ auf Nichts gestellt.
Juchhe!
Drum ist’s so wohl mir in der Welt.
Juchhe!
Und wer will mein Kamerade sein
Der stoße mit an, der stimme mit ein
Bei dieser Neige Wein“1

Die erste Zeile dieses Gedichtes von Johann Wolfgang von Goethe kam mir in den Sinn, als ich über das Friesentreffen am 6. Juni 2022 – dem Pfingstdienstag – am Upstalsboom bei Aurich nachsann. Und auch eine Ergänzung dieser ersten Zeile drängte sich mir auf:

Ich hab‘ mein Sach‘ auf Nichts gestellt,
nichts als den freien Menschen.

Auch wenn es in diesem Falle vielleicht nahe gelegen hätte zu sagen „… den freien Friesen“, so klang für mein Empfinden die allgemeine Formulierung mit dem „freien Menschen“ schlüssiger. Aber vielleicht ist der Unterschied zwischen beiden Formulierungen ja auch gar nicht so groß …

Bei dieser Versammlung beeindruckten mich zwei Redner besonders: Oebele Vries, Historiker und emeritierter Dozent der Rijksuniversiteit Groningen, und Christoph Schmidt, Direktor des Nordfriisk Instituut in Bredtstedt/Nordfriesland.

Upstalsboom bei Aurich Friesentreffen 2022

Oebele Vries rezitierte den Prolog und die ersten drei Küren der Friesen eindrucksvoll auf Altfriesisch (mit anschließender deutscher Übersetzung). Dabei kamen vor allem die Aussagen der 2. und 3. Küre und ihr Zusammenhang klar zum Ausdruck: sollte eines der verbündeten „sieben friesischen Seelande“ von einem Außenstehenden angegriffen werden, so würden die anderen sechs ihm beistehen, um seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu wahren, so die zweite Küre. Die dritte Küre sagt: sollte aber eines der Seelande ungerecht rauben oder morden, so sollten die anderen sechs das siebte zwingen, wiederum gerecht zu handeln.

Wer sich diese einfachen Regeln ein wenig besinnend „auf der Zunge zergehen lässt“, wird schnell bemerken, wie hier in einfachen und klaren Worten auch und gerade für unsere Zeit Wege aufgewiesen werden aus den Katastrophen des Umgangs der Staaten und Länder miteinander. Allerdings: es muss dabei sichergestellt werden, dass die Frage „gerechten“ oder „ungerechten“ Handelns Freund und Feind gegenüber aus gleichen Beurteilungsmaßstäben heraus entschieden wird. – Dafür trugen einst die gewählten Richter die Verantwortung.

In seinem Grußwort machte dann Christoph Schmidt darauf aufmerksam, dass es für einen lebensvollen und entwicklungsfähigen Umgang miteinander weniger entscheidend sei festzustellen, was nun das „richtige“ oder „falsche“ Friesentum, oder die „wahre“ beziehungsweise die „unwahre“ friesische Sprache sei; darüber bestehen naturgemäß unterschiedliche Auffassungen und Erfahrungen, und keine davon könne einfach für „ungültig“ erklärt werden zugunsten einer anderen. Vielmehr sei es wichtig, dass jeder Einzelne seine Sache mit Einsatz und Tiefgang verfolge und dem anderen auch dessen Weg gönne und nicht abspreche. Im Ergebnis könne daher eigentlich nur jeder Mensch selber darüber entscheiden, ob er „Friese“ sei oder nicht, und inwieweit seine friesische Sprache eine wahre sei.

Mich erinnerte diese Aussage sofort an ein Wort Rudolf Steiners in seiner „Philosophie der Freiheit“: „Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime der freien Menschen.“2 Damit sei – so Rudolf Steiner – auch ein hinderliches Aufeinanderprallen und Missverstehen bei sittlich freien Menschen ausgeschlossen. Diese Worte Rudolf Steiners kann man – so meine ich – gerade in unserer Zeit nicht oft und tief genug durchdenken. Sie standen auch bei meinen früheren schriftlichen Versuchen zu Fragen des Friesentums3 und der friesischen Kultur4 im Hintergrund. Beide Artikel kann ich dem Interessierten daher hier zur (nochmaligen) Lektüre empfehlen; vielleicht können sie ja Hinweise geben für die noch bessere Fundierung des eigenen (friesischen?) Selbstverständnisses in der Welt.

Das eingangs zitierte Gedicht Goethes gibt im Übrigen Hinweise darauf, welche Folgen es haben kann, wenn man sich frei zu machen versteht von aller Lenkung und Stütze von Außen, wenn man also sozusagen „sein Sach‘ auf Nichts stellt“. Er spricht nämlich vom Willen zur Kameradschaft, der für den Zusammenklang – das „mit einstimmen“ – entscheidend ist. In den weiteren Strophen des Gedichtes schildert er, wie es ihm gegangen ist, als er hier und da in der Welt seine Stütze suchte. Die angedeuteten Folgen sprechen für sich. Auch dies Gedicht in Gänze sei daher zur Lektüre empfohlen.

© Stefan Carl em Huisken 2022

1vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Vanitas! vanitatum vanitas! – In: Goethes Werke. Bd. 1. – Bibliographisches Institut Leipzig, 1926. S. 70f

2Steiner, Rudolf: Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode. – Dornach, 1973, S. 166

3vgl. https://emhuisken.de/wordpress/2017/08/wer-ist-friese/

4vgl. https://emhuisken.de/wordpress/2019/07/friesische-kultur-heute/




Die Angst und die Milliardäre

Wer ist Milliardär?

Wie kommt man eigentlich dazu, ein Milliardär zu werden? Lohnt der Aufwand, oder ist es ganz leicht? Immerhin gibt es genügend Menschen, die das als erstrebenswert ansehen – allerdings sind das vor allem solche, die dieses ZIel wohl kaum jemals erreichen werden. Was also ist – in seinem Herkommen, seinem Dasein und seinen Möglichkeiten – ein Milliardär? Wie erfreulich ist so eine Existenz dann eigentlich? Hat er auch Angst?

Dass er der Definition nach Milliarden irgendeiner Währung mindestens dem Papier nach besitzen muss, ist ja klar. Aber das ist ja nichts spezifisch Menschliches. Darum soll es aber gerade hier gehen: was bedeutet es, so viel zu besitzen, einmal ganz menschlich betrachtet, ohne Neid und eigene Wünsche?

Zunächst einmal: in der äußeren Welt, so wie sie nun einmal ist, kann er sich alles leisten. Da ist alles käuflich: Orte, wo man tun und lassen kann, was man will, Schutz vor Nachstellung, Verfolgung und übler Nachrede (dafür braucht man Sicherheitsdienste, Korruption bei Politikern und Beamten und käufliche Medienkampagnen, alles ja heutzutage kein Problem). Wir wissen ja, wie das geht: die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen. Unsere Zeit bietet täglich neues Anschauungsmaterial. Im Prinzip sind alle derartigen Wünsche erfüllbar; man hat die Macht in den Händen, wenn man reich ist, und man wird durch diese Macht immer reicher.

Wonach man meistens nicht fragt, denn da wird es peinlicher: warum scheint ein solches Dasein als Reicher und Mächtiger überhaupt erstrebenswert? Was gewinnt der Reiche und Mächtige für sich selber dadurch, dass er eben so reich und mächtig ist? Denn das Geld, das weiß man ja, kann man nicht essen; es ist nur Mittel zum Zweck – zum Zwecke der Macht.

Macht und Angst

Was bedeutet es denn dann eigentlich, Macht zu haben? Einfach tun zu können, was einem gerade einfällt? Nun, Freiheit, sagt mancher. Aber dann Freiheit wovon, wofür? Freiheit für meine Wünsche? Für mein Nichtstunwollen? Meine Bequemlichkeit? Bin ich das denn alles, oder sind das nur meine „Auftraggeber“, denen ich durch meinen Reichtum und meine Macht zu Diensten bin? Weil ich mich ihnen nicht widersetzen will? Habe ich etwa Angst vor meinen Wünschen, meiner Bequemlichkeit, meinem Nichtswollen und vielleicht auch meinem Nichtskönnen? Und dann wird die Angst betäubt, mit äußerem Haben, äußerer Macht. Wer bin ich dann eigentlich? Sklave meiner Milliarden? Oder habe wirklich ICH die Macht? Wovor habe ich wirklich Angst?

Es wird wohl die Angst vor der Einsicht in die kaum zu leugnende Tatsache meiner eigenen Nullität sein. Denn mich selber kann ich nirgends in der Welt haben, und von etwas Anderem als von dieser Welt kann ich nichts wissen. Immer wenn die Welt weg ist, bin ich es auch – im Schlaf zum Beispiel, oder im Tod. Beim Schlaf beeinträchtigt mich das nicht so viel, denn daran habe ich mich gewöhnt, auch daran, dass ich dann ja wieder aufwache. Aber beim Tod ist das schon anders – das wäre ja dann endgültig die vollkommene Null, das Nichts, das Endgültige, die völlige Ohnmacht.

Darum sind es besonders Milliardäre, die ihr Dasein möglichst verewigen wollen, zum Beispiel durch „Kopieren“ ihrer Person auf eine Maschine oder durch ähnliche Manipulationen. Aber hilft das überhaupt? Wäre man die Angst dann los? Und wenn dann einer den Strom abschaltet, oder den Speicher irrtümlich löscht? Oder ein Bauteil versagt, und dann wegen digitaler „Demenz“ sozusagen meine maschinelle Kopie Schaden nimmt oder ganz verschwindet? Hat die „Kopie“ dann auch Angst, oder kann die das gar nicht, hat sozusagen die Fähigkeit verloren, Angst zu haben? Und wenn sie keine Angst hätte – wäre es dann wirklich eine Kopie von mir? Wäre ICH das dann noch? Wäre ich dann nicht plötzlich den Grund los, aus dem heraus ich mich verewigen wollte? Wäre es dann überhaupt noch erstrebenswert, ewig zu sein, nicht mehr sterben zu müssen – und zu können?

Die absolute Nullität

Fragen über Fragen, und keine wirkliche Antwort. Aber eine Antwort ist möglich. Nämlich dann, wenn ich mir eingestehe, dass ich diese absolute Nullität, vor der ich mich fürchte, schon lange bin. Ich habe nur Angst gehabt – habe sie noch – mir das einzugestehen. Aber ja, aus mir kommt alles, was ich tue. Doch mich, den Tätigen, den kenne ich nicht, der ist eben Null für mich. Ich kenne nur, was er in der Welt bewirkt, also die Ergebnisse seiner Macht. Und daran klammere ich mich, weil ich eben sonst nichts habe von mir. Und darum will ich mich in der Welt verewigen – aber da bin ich ja gar nicht, nur meine Werke … Egal, Hauptsache, ich vergesse mich, das NICHTS, das ich mir selber bin, und vor dem ich – Angst habe.1

Und so geht es eigentlich jedem Menschen. Sich selber kennt er nicht, kann er nicht sehen. Denn er ist ja der Tätige, Sehende, Schauende, der sein Schauen nicht kennt, weil er es dauernd tut. Und weil es beängstigend ist, nichts zu sehen da, wo das Wichtigste ist, nämlich man selber, braucht man immer mehr Welt um sich her, und will sich zu einem Weltgegenstand machen, zum Beispiel als „Kopie“ seiner selbst in einer Maschine. Dazu braucht man aber viel Macht, denn man will die Sache ja natürlich so sicher wie möglich haben. Das fordert Experimente. Natürlich nicht an mir, für mich kommt es ja erst in Frage, wenn es sicher funktioniert. Also braucht man Labors, Forschungsstätten, und natürlich „Probanden“. Das ist alles möglich, für Milliardäre zumindest. Die kaufen sich die Forschungsstätten, die Labors, und alles, was man dazu braucht. Und die „Probanden“?

Die Angst der Anderen und die eigene

Nun, das ist einfach. Milliardäre sind ja nicht dumm. Sie wissen schon, wovor sie Angst haben, und wovor die meisten Menschen auch Angst haben: vor der eigenen Nullität, besonders vertreten durch den Tod. Und weil sie selber so viel Angst haben, dass sie so viel Reichtum und Macht brauchen um die Angst zu betäuben, benutzen sie die Macht, um ihre Angst bei den anderen Menschen abzuladen. Gemeinsam trägt sich das doch leichter, oder? Die kollektive Angst heißt dann „Solidarität“ oder „Menschlichkeit“, und jeder versucht so gut er kann, genug Macht zu bekommen, dass er die Angst betäuben kann. Der eine wird dem anderen ein Hindernis, ein „Gefährder“, ein Böser jedenfalls, der leiden muss, damit er Angst bekommt, Angst vor mir, damit ich mich daran aufrecht halten kann. Denken wir zum Beispiel an die Reaktion Hillary Clintons angesichts der mehr als brutalen Ermordung Gaddafis.

Wo viel Angst ist, sammelt sich dann auch die Macht, und der Reichtum. Und wo viel davon ist, sammelt sich die Angst, es zu verlieren. Menschlich gesehen, auch ein bisschen bemitleidenswert, oder? Aber das kann natürlich kein Grund sein, die Sache so wie sie ist gut zu finden. Gerade, wo es doch auch andere Wege gäbe, wie schon erwähnt.

Für jeden möglich

Jeder kann das: die eigene Nullität im eigenen Bewusstsein erkennen. Und dann eben nicht davor wegzulaufen und die Einsicht betäuben zu wollen. Keine Forschungsinstitute in der Welt kaufen, keine Probanden „überreden“, sondern mutig sich selber zum Probanden machen für den eigenen Weg zu sich selbst. Sich selber zum Instrument und Experimentierfeld machen für den Entwurf eines selbstbestimmten Lebens.

Nebenbei: dafür braucht es auch keine komplizierten Gesetze, zum Beispiel zum Schutz der Probanden (die alle ja selbstverständlich vor allem zum Schutz der Experimentatoren verfasst sind). Da wird der Experimentator schon selber darauf achten, dass alles verantwortungsvoll durchdacht ist – schließlich ist er ja selber auch der Proband. Man braucht da keine Gesetze, Moralgebote und dergleichen. Der eigene Egoismus und die Angst reichen vollkommen aus.

Ist es da nicht auch ein Glück, Angst zu haben? Jedenfalls dann, wenn man sie nicht mit Milliarden (oder anders: Alkohol, Drogen, Computerspiele, Finanzspekulationen, Leistungssport etc. usw. usf.) zu betäuben versucht.

Es zählt nicht, was ich von mir IN DER WELT haben kann. Da, wo die Angst sitzt, bei mir selber, da sitzt auch das Gegenmittel. Ich bin es selber. Es kommt nur auf mich selber an. Und die Angst. Auch bei Milliardären.

© Stefan Carl em Huisken 2021

1Hier erlaube ich mir einen Hinweis auf mein Buch „Janko van’t Holt – Eine Parabel zur Rettung der Welt. ISBN 978-3-942108-19-5, erhältlich im Buchhandel oder =>hier. Darin begegnet Janko van’t Holt tief in der Erde, in völliger schwarzer Dunkelheit der Nacht, und sie klagt ihm ihr Leid: „Nimm mich mit, in dir, auf deine Reise. Vielleicht kann ich dann herausfinden, warum die Menschen so viel Furcht haben vor mir. Nirgendwo lassen sie mich walten, alles muss erleuchtet werden in der Welt, damit ich bloß vertrieben werde. Und dabei lebe ich doch in jedes Mensch Innern, dunkler bin ich nirgendwo als dort. Doch wenn die Menschen mich in sich entdecken, ja, dann treibt sie die Panik zur Flucht ins Helle, Laute, in die weite Welt und fort von mir.“ Menschen, die sich mit solchen eher spirituellen Themen auch gerne in Form von Geschichten befassen, sei das Buch hier ans Herz gelegt.


Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart habe ich dargestellt in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Ein Jahr Lockdown-Maßnahmen – ein Leserbrief von mir

Vorbemerkung: Vor Kurzem riefen die Nachdenkseiten (www.nachdenkseiten.de) auf, Erfahrungsberichte aus „einem Jahr Lockdown-Maßnahmen“ einzureichen, die dann ggf. veröffentlicht werden könnten. Aus diesem Anlass schrieb ich den nachfolgenden Text, den ich für die Veröffentlichung an dieser Stelle nur geringfügig bearbeitet habe.

Ich hatte seit vielen Jahren schon erwartet, dass das weltweit herrschende System von materialistischer Wissenschaft und daran geknüpfter egoismusgesteuerter Interessenwirtschaft (egal unter welchem ideologischen Vorzeichen – westlich-kapitalistisch oder östlich-autoritär) irgendwann zu einer Katastrophe führen würde. Aus langjähriger Beschäftigung mit einschlägiger Literatur – insbesondere unter ernstmeinenden Anthroposophen, aber auch anderswo gibt es da eine Menge – war mir auch klar, dass es in der Welt einflussreiche Gruppen gibt, die sehr langfristig planen und ihre Pläne dann umsetzen, wenn die Situation so weit vorbereitet ist (es handelt sich nicht um Verschwörungstheorien; diese Verschwörungen sind ganz im Sinne der Darlegungen von Daniele Ganser zu diesem Wort Realität). Dass die sogenannte Demokratie dafür nur eine Fassade abgibt, die im Übrigen sehr effektiv genutzt werden kann für solche Pläne, stellte Rudolf Steiner schon im ersten Weltkrieg fest.1

Als dann die „Corona-Pandemie“ ausgerufen wurde, ergaben Gespräche mit mir bekannten verantwortungsvollen Medizinern schnell die Unsinnigkeit der Maßnahmen, wenn man jedenfalls nicht die rein materialistische Medizin zugrunde legt, für die der Mensch ein biologischer Automat ist, und der daher mit Computermodellen gänzlich vorherberechnet werden kann (siehe z.B. die Prognosen von Neil Ferguson, Michael Meyer-Hermann, Melanie Brinkmann und Co.; dass diese Sichtweise mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat, haben die folgenden Ereignisse ja bewiesen).

Dass die erwartete große Krise nun bereits gekommen zu sein scheint, wurde mir erst im Laufe der Zeit klar – zu unerwartet trafen die Maßnahmen immer genau den Punkt, an dem man bei sich und anderen durch eigene Gedanken, Gespräche und Hinweise ein Bewusstsein für die grundsätzliche Moralfreiheit aller materialistischen Weltanschauung (Moral ist ja in dieser Sichtweise nur eine Art Rauch, der aus einer gewissen Masse organischer Materie aufsteigt) und die Ohnmacht irgendeines religiösen oder anderweitig ideologischen Glaubens hätte wecken können. Das war ungemein schmerzhaft. Ich hatte ja wie wohl so viele gehofft, mindestens noch eine Weile lang davon verschont zu bleiben.

Daneben habe ich ja unmittelbar ab März 2020 praktisch alle Einkommensmöglichkeiten verloren (Musiker, Autor, Vortragender, bei allen Gelegenheiten Verkauf eigener CDs und Bücher, in der Folge Tantiemenausschüttungen durch die GEMA – alles entfällt seitdem bis weit in die Zukunft hinein weitestgehend). Was mich rettete, war die Tatsache, dass ich ab Mitte des Jahres eine Rente (weit unter dem Grundsicherungssatz) und sehr viel private Unterstützung bekommen habe. Die Sklavenbewirtschaftung über die Grundsicherung wird mich jedenfalls nicht zu sehen bekommen.

Seitdem befasse ich mich einerseits mit schriftlichen Darstellungen zu Analyse und Auswertung der Situation, und andererseits mit eingehenden Überlegungen für die Zeit „danach“2. Dies ist – realistisch orientiert an Bill Gates‘ Vorhersage von vier Jahren Corona-Maßnahmen und zehn Jahren Wiederaufbau, Halbzeit haben wir ja schon 2022, vielleicht geht es ja auch schneller – also noch eine Weile hin, die Vorbereitung darauf aber absolut notwendig. Das Chaos wird dann groß sein, und sehr viel fordern. Vor allem wird es nötig sein, dann Gedankengänge erkundet und erübt zu haben, die in dem bis dahin notwendig zunehmenden Durcheinander situationsorientiert Beiträge liefern können für ein Gegengewicht gegen die offenbar vorgesehene Situation von verelendeter, außengesteuerter Bevölkerung, die sklavenartig für alle Drecksarbeit genutzt werden kann, unter vollständiger digitaler Überwachung (die Chinesen machen das derzeit noch etwas „humaner“ als für uns geplant, denke ich) und Gängelung. Wie also wird man dann noch Menschlichkeit ermöglichen können?

Dass die Fahrt in diese Richtung geht, und dass die Weltenlenker – wer auch immer das im Einzelnen sein möge, viele sind sicher einfach inkompetente, etwas dümmliche oder korrupte Mitläufer – aus jedem scheinbaren Rückschlag Nutzen für ihre Pläne ziehen können, zeigt die aktuelle Situation: die Sache mit der sogenannten „Osterruhe“. Ein vollständiger Erfolg für die zerstörerischen Planungen! Denn: so sind ohne große Auseinandersetzungen die Öffnungsdiskussionen vom Tisch, außer man macht es so wie Tübingen und (geplant) das Saarland: Überwachung durch eine App mit zentraler Datenspeicherung, offener Flanke zum Gesundheitsamt (also der staatlichen Überwachung), und nicht Open Source (App „Luca“). So etwas geht jetzt schon so en passant – man denke an die langwierigen Diskussionen um die Corona-App im letzten Jahr – und mit äußerlich sichtbarem Teilnahmeausweis an der digitalen schönen neuen Welt (das wunderbare QR-Code-Armband aus Tübingen). Und alle machen begeistert mit: endlich wieder „Freiheit“!3

Was will ich damit sagen? Ich lerne in einer ziemlich harten Schule derzeit, die vollkommen moralfreien, nur von egoistischer Interessenvertretung bestimmten Gedankengänge materialistischer Wissenschaft und ihrer Nutzer in der Weltenlenkung zu denken und praktisch voraus zu ahnen. Das ist schwer erträglich, aus meiner Sicht aber der einzige Weg, irgendwann in die Vorhand zu kommen. Da sollte man niemals aufgeben.

Sonst werden wir wohl in absehbarer Zeit die völlige Vernichtung aller Menschlichkeit – und in der Folge vielleicht der Menschheit insgesamt – erleben. Das wollen diese Leute ja explizit: Transhumanismus fordert eben seinen Tribut. Man braucht nur noch 500 Millionen Sklaven, der Rest kann weg. Das ist zwar eine Rolle rückwärts ins alte Griechenland (die ganze griechische Kultur wäre ohne das Heer von Sklaven nicht denkbar gewesen!), aber das wünschen sich diese Leute ja auch so.

Es reicht nicht, nur darüber zu klagen. Wir müssen umdenken, weg von einer Wissenschaft, in der der Mensch und sein subjektives Erleben explizit nicht vorkommen darf4 – wie soll man denn auf solcher Grundlage auch etwas Anderes erwarten als maschinelle Steuerung im Sinne äußerer Nützlichkeit? Mir ist es daher immer mehr ein Anliegen geworden, ganz abseits von Wehklagen oder wirrem Gefasel durch klares Denken Wege aus dieser menschheitlichen Prüfung zu finden, für mich selber und wo möglich im Gespräch mit Anderen.

Abgesehen von allen Ungeheuerlichkeiten, die derzeit passieren, komme ich immer mehr zu der Überlegung: will ich überhaupt zurück zum „vorher“? Da war doch schon so viel Gruseliges vorhanden, das nur durch allgemeine Bespaßung und entsprechendes Medienwirken nicht so ins Bewusstsein kam, dass sich Grundsätzliches geändert hätte (Kriege, Atomkraft, Naturzerstörung, Autoritätsglauben, Despotismus etc. pp.). Liegt in dieser jetzigen „Krise“ vielleicht auch die Chance, dass mehr Menschen aufwachen und sich nach einem Sinn für ihr eigenes Leben und das der Menschheit insgesamt fragen, einem Sinn, der einem nicht autoritär von irgendwelchen „Priesterkasten“ (religiös, „wissenschaftlich“, ideologisch oder anderweitig) vorgesagt werden muss?

Ich kann nur in solchen Überlegungen einen Weg finden, die allgemeine Zerstörung, die längst geschehen ist und nun nur immer mehr an die Oberfläche des öffentlichen Bewusstseins kommen wird, überhaupt zu ertragen. Bisher gelingt es mir noch.

Stefan Carl em Huisken

1Rudolf Steiner am 28. Oktober 1917 in Dornach, in: Steiner, Rudolf: Die spirituellen Hintergrunde der äußeren Welt, S. 264 ff über das Buch von Francis Delaisi: La Democratie et les Financiers von 1910, in dem dieser unter anderem geschrieben habe, dass „es dem Großkapitalismus gelungen sei, aus der Demokratie das wunderbarste, wirksamste, biegsamste Werkzeug zur Ausbeutung der Gesamtheit zu machen“.

2Vieles davon findet sich hier auf meiner Website, siehe hier: https://emhuisken.de/tag/corona/

3In den ganzen Diskussionen über richtige, fundierte oder nicht fundierte Zahlen und „wissenschaftliche“ Aussagen kann ich nur Ablenkungsmanöver sehen: die Kritiker müssen ja auch das Gewünschte zu tun bekommen und vom allem Angst, sonst würden sie noch etwas merken …. Ich spare mir diesen ganzen Bereich darum.

4Ja, ich weiß, Erkenntniswissenschaft ist ein schwieriges Feld. Hilfreich sind Rudolf Steiners Dissertation „Wahrheit und Wissenschaft“ und seine „Philosophie der Freiheit“; das ist extrem schwer zu lesen, kommt aber wohl kaum in den Verdacht, Phantasterei und Geschwurbel zu sein.




Undenkbar! Oder?

I

Undenkbar

Undenkbarkeiten gibt es viele. Derzeit immer mehr und immer ungeheuerlichere. Dass es Pläne geben könnte zum Beispiel, die seit Jahrzehnten, ja Jahrhunderten verfolgt werden und die völlige Versklavung der Menschheit anstreben. Dass alles Relevante, was in der Menschheit vorgeht, gesteuert, inszeniert, geplant sein könnte: 9/11, die Corona-Pandemie, aber auch schon die Weltkriege des 20. Jahrhunderts und viele andere Grausamkeiten. Dass die ach so gloriose „Wissenschaft“, die seit dem 19. Jahrhundert die äußere Sinneswelt zur alleinigen Wirklichkeit erklärt und die uns im Übrigen durch ihre Errungenschaften wie die Biochemie, die Atomkraft und die maschinelle Durchdringung und Industrialisierung des gesamten äußeren – und inzwischen durch die Computer auch des inneren – Lebens in die Lage gebracht hat, in der wir heute sind, – dass diese glorreiche Wissenschaft in ihrem alles beherrschenden Ziel, den Menschen aus der Erkenntnis zu eliminieren, vielleicht unrecht hätte und von der Wurzel her erneuert werden müsste. Dass Regierende überall auf der Welt vielleicht Getriebene, Gelenkte, oft grässlich Inkompetente, Korrupte und in einem Wahn Befangene sein könnten. Und so weiter, und so fort. Alles natürlich undenkbar.1

Furcht

Warum? Weil wir uns fürchten. Fürchten vor den dunklen Abgründen des Menschlichen, die man im Denken zu ergründen hätte, wenn man es doch versuchte so etwas zu denken. Fürchten auch davor, all die dunklen Unter- und Hintergründe solcher Dinge auch in uns selber zu entdecken. Stattdessen versuchen wir lieber, die Dinge zu tun, die wir nicht denken können oder wollen: Macht gewinnen; zügellos die eigenen Wünsche walten lassen; wissen, dass wir selber die „Guten“ sind; dass wir uns selber und unsere Lebensweise nicht ändern müssen – das müssen nur immer alle anderen.

Die Furcht vor dem Ende des schon Bekannten produziert ständige „Dosiserhöhungen“ dessen, was wir schon kennen. Wenn uns die heutige materialistische Wissenschaft in eine Sackgasse führt: mehr davon. Oder auch: wenn der Lockdown nicht wirkt: mehr davon. Wenn die Computermodelle mit ihren irrwitzigen Vorhersagen von der Wirklichkeit widerlegt werden: mehr und neue davon. Also, kurz gesagt: reines Suchtverhalten.

Sucht

Wer schon einmal ausführlicher mit Süchtigen zu tun hatte, weiß eines: da, wo die Angst ist, geht es lang. Das ist der einzig rettende Weg. Also: die eigene Ohnmacht eingestehen (aber nicht zu dem Zweck, sich dann zurückzulehnen und zu sagen: „ich wusste es schon immer, ich kann nichts machen, das müssen die anderen“; das ist nur eine noch perfidere Finte der Furcht). Die Ohnmacht des heutigen Wissenschaftsbetriebes einsehen, die Wirklichkeit zu erkennen. Die eigene moralische Labilität – freundlich ausgedrückt – und damit das eigene Getriebensein von Egoismus betrachten. All das dann aushalten und nicht aufgeben.

Dann können wir vielleicht auch nachvollziehen lernen, was die „bösen Anderen“, die „skrupellosen Weltenlenker“ bewegt, wenn sie tun, was sie tun, und ja auch unverblümt zugeben. Die Reichenversammlung des WEF fürchtet sich vor der Unvollkommenheit des menschlichen Wesens, findet offenbar Computer (Menschenwerk also!) viel perfekter und möchte gerne damit verschmelzen: Transhumanismus nennt sich das dann. Regierende überall fürchten sich vor ihrem Volk und möchten es daher gerne zu etwas Kontrollierbaren, Planbaren, Steuerbaren machen. Wissenschaftler fürchten sich vor den Abgründen des menschlichen Geistes und möchten ihn darum aus der Erkenntnis ausschließen; da treffen sie sich mit den Transhumanisten, siehe oben. Der Gläubige fürchtet sich davor über das Absolute etwas zu wissen, der Unvollkommenheit der Wirklichkeit des Irdischen unausweichlich gerecht werden zu müssen.

Und so arbeiten sie alle zusammen – aus Furcht. Aus dem gleichen Grund im Übrigen, aus dem wir das alles mitmachen. Und wenn wir aus Furcht nicht mehr mitmachen wollen, machen wir dasselbe wie sie: wir suchen Macht, moralische Erhebung, Perfektion (das heißt dann hier „Kompetenz“), um die „Despoten“ zu zwingen.

Wir suchen also – Macht für die Liebe, die des Anderen Freiheit zwingt? Aber etwas Anderes können wir doch nicht, das ist doch undenkbar! So? Wer sagt das? Schon mal versucht? Oder, wie der Kabarettist Bodo Wartke es in einem Lied sagt: „Was, wenn doch?“2

II

Grenzen

Wer beginnt, über die derzeitige Situation der Menschheit und ihre (möglichen) Hintergründe nachzudenken, kommt schnell an Grenzen: Grenzen des Fassbaren, des Verstehbaren, des Erträglichen, oder auch ganz grundsätzlich des für uns heutige Menschen überhaupt Denkbaren. Dadurch ergibt sich die auf allen Seiten gleichbleibende Wiederholung der immer gleichen Argumente, Attitüden, Urteile und Gedankengänge. Man ist es inzwischen irgendwie leid: man versucht etwas zu erfassen und muss sich dann eingestehen, dass es einem nicht gelingt. Oder man gesteht sich die Ohnmacht nicht ein und dreht sich weiter in den immer gleichen Gedankenkreisen.

Sicherheit

Es ist daher vielleicht Zeit, die Gründe für dieses Erlebnis des Zerbröselns aller Sicherheit – auch und gerade Urteilssicherheit – einmal woanders zu suchen als beim immer falschen Denken der Anderen, der „Gegenpartei“ also.

Vielleicht liegt das Zerfallen aller Denk- und Lebenssicherheit ja auch an Gewohnheiten weltanschaulicher Art, die allen beteiligten, streitenden und in immer kleinere Fraktionen zerfallenden Akteuren gleich sind, und die deswegen das menschliche Zusammenleben auf der Erde so allgemein zerstören können, wie das schon seit langer Zeit geschieht, derzeit aber erst wirklich an die Oberfläche des Bewusstseins dringt, als Ausdruck einer ins Extrem getriebenen Unterbewusstheit der Wahrheit gegenüber.

Aber das können wir nicht denken: die ganze Menschheit, zumindest in der überwältigenden Mehrzahl der leitenden Personen in einem grandiosen, die Menschheit als solche in ihrer Existenz bedrohenden Irrtum, ja vielleicht Wahn? Undenkbar!

Moral und Wahrheit

Was aber wäre die Alternative? Etwa, dass diese Mehrheit der Leitenden aus bösem Vorsatz handelten? Also, kurz gesagt, seit Jahrzehnten oder länger an ganz klaren Plänen zur Vernichtung der Menschlichkeit systematisch arbeiten, aus welchen – undenkbaren! – Motiven auch immer? Wieder eine solche Undenkbarkeit.

Aber was sollten dann auch die Motive derjenigen sein, die solche Pläne verfolgen? Reicht die Annahme eines grenzenlosen Egoismus‘ aus, um Menschen zu Taten zu treiben, die in dem Maße zerstörerisch sind, wie es derzeit geschieht? Und wenn ja: wer oder was treibt die Menschen dann in diesen überbordenden Egoismus? Und was treibt diejenigen an, die diesem Egoismus dann irgendeine – welche auch immer – moralisch sich gebende Ideologie entgegenhalten: „Man muss doch, man kann doch nicht …“.

Doch, man muss offenbar, man kann auch. Das beweist ja einfach die Existenz derjenigen Menschen, die man da bekämpfen will. Daraus folgt zwingend, dass die Ideale, die man da verfolgt, eben nicht allgemeingültig sind, denn für die Bekämpften gelten sie ganz offenbar nicht. Solche Ideale bleiben eben auf der Ebene persönlichen Glaubens und Meinens – die Meinungsfreiheit ist doch ein hohes Gut, oder? Gewiss, das ist sie, aber sie wirkt real zur Zeit extrem sozial desintegrativ, vorsichtig ausgedrückt. Das wäre nur überwindbar, wenn es eine wirkliche Wahrheit gäbe, die für jeden Menschen nachvollziehbar wäre, und über die es daher keinen Streit geben könnte.

Aber das ist undenkbar! Eine Wahrheit? Die gibt es nicht! Höchstens kann durch Zwang und Unterwerfung, durch Manipulation und ähnliche Machenschaften der äußere Anschein der einen wirklichen Wahrheit einer Mehrheit der Menschen aufgedrückt werden. Die eine Wahrheit, die Wirklichkeit selbst, die gibt es nicht! Das steht fest, alles andere ist undenkbar!

Wer entscheidet?

So könnte man noch viele Dinge aufzählen, die von dieser oder jener Warte aus undenkbar sind: so böse, so inkompetent, verlogen, oder auch so gottgleich philanthropisch, so messiashaft gut etc. pp., wie es sich auf solchen Denkwegen ergibt, können die Menschen gar nicht sein, das ist undenkbar. Der „Great Reset“, die „Corona-Pandemie“ als Weg zur Menschheits-Versklavung, die wirre Politik mancher Regierungen als Ausdruck völliger Lebensfremdheit, und was es dergleichen an Zumutungen in der gegenwärtigen Auseinandersetzung noch mehr gibt, all das ist dann für große Menschengruppen einfach „undenkbar“ (und wird ihnen auch täglich so dargestellt), und muss daher aufs Schärfste bekämpft werden.

Der Richter, der all diese Dinge beurteilt, ist aber immer da zu suchen, wo etwas als „undenkbar“ dargestellt wird. Also bei demjenigen, der aus seinem Denken entscheidet, was für ihn „undenkbar“ ist. Und genau da liegt die Crux.

Genauso wie derjenige, der an die universelle Gültigkeit irgendeines Moralsystemes glaubt, in uralten, längst vergangenen gesellschaftlichen Verhältnissen, den uralten Theokratien offenbar hängen geblieben ist – die in weiten Teilen vollkommen moralfreie, rein nützlichkeitsbezogene und aus blindem Egoismus getriebene Handhabung der Macht hat solche alle Menschen umfassenden Moralcodice längst abgelöst –, genauso also ist der Wissenschaftler, der mit unbeugsamem Willen versucht, den Menschen und seine heutzutage unvermeidliche Subjektivität aus aller Erkenntnis auszuschließen (natürlich nur im Dienste der Wahrheit!), vollkommen in die Irre gegangen. Woher weiß denn dieser Wissenschaftler, was objektiv ist und was subjektiv? Ja, genau: aus seinem, seiner eigenen Ansicht nach ja ganz subjektiven Denken!

Das Undenkbare denken

Nein, eine Wahrheit kann man den Menschen heute nicht mehr von oben herab verkünden. Die müssen sie schon selber einsehen können. Das gilt auch für scheinbar unumstößliche Wahrheiten wie sogenannte „Grundrechte“. Wer deren Existenz nicht einsehen kann, achtet sie eben nicht. Das ist die ungeschminkte Wirklichkeit. Und wer nun meint, die Achtung für diese Grundrechte erzwingen zu müssen, z.B. auch für die menschliche Freiheit? Der zerstört sie genau mit diesem Anspruch.

Es bleibt kein anderer Weg, als immer genau gerade das „Undenkbare“ – denken zu lernen. Das heißt ja nicht, dass man das, was man da denken lernt, um es zu verstehen, nun auch gut und richtig finden muss. Aber ohne ein wirklich vorurteilsfreies Nachdenken gerade des scheinbar Undenkbaren entsteht kein wirkliches Verständnis für einander, und auch keine Möglichkeit, einen lebbaren Umgang mit einander zu finden. Wenn ich lerne, auch das für mein Urteil Fürchterliche zu denken, zu verstehen, dann komme ich der Wirklichkeit näher und baue an einer Grundlage für ein neues Zusammenleben auf dieser Erde.3

Leider ist diese Grundlage dann – horribile dictu!4 –für Viele eine ganz undenkbare, nämlich keine, da bloß geistig, und daher subjektiv und darum unwirklich. Echt jetzt? Ist es denn ganz undenkbar, dass der menschliche Geist eine wirksame Tatsache wäre und keine Einbildung? Ist die Freiheit des Menschen denn nur als egoistische Freiheit des Ungezügelt-Seins denkbar? Ist Freiheit nicht auch Voraussetzung wirklicher Liebe? Nein, das geht gar nicht?

Undenkbar!

© Stefan Carl em Huisken 2021

1 Was man nicht denken kann, nennt man heute „Verschwörungstheorie“

2Das Lied findet sich z.B. hier: https://www.youtube.com/watch?v=T1IDSzs1Ai8

3Vgl. meine Artikel Den Anderen nach-denken hilft und Der Spiegel des Individuellen – Den Anderen nach-denken II, zu finden unter https://emhuisken.de/uebersicht-beitraege-geisteswissenschaft/

4„Es ist schrecklich zu sagen“




Aufwachen für das Kommende

In den zwei Artikeln über „Den Anderen nach-denken“ (=> hier und => hier) versuchte ich, auf einige grundlegende Aspekte und Wirkungen menschlicher Begegnungen aufmerksam zu machen, insbesondere im Hinblick auf die Frage, wohin die menschliche Gesellschaft sich entwickeln kann. Von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus komme ich hier nochmals auf die Bedeutung der menschlichen Begegnung im Zusammenhang der Gesamtentwicklung der Menschheit in unserer Zeit zurück.

Bewusstseinszustände

„Aufwachen!“ – dieser Anruf zielt darauf, den Angerufenen zu einer Veränderung seines Bewusstseinszustandes zu veranlassen. Bewusstseinszustände kennen wir beim Menschen drei grundsätzlich verschiedene – abgesehen von den unzähligen Varianten davon, die im täglichen Leben vorkommen. Diese drei Zustände sind das Wachbewusstsein, der Traum und der traumlose Schlaf. Wir sind heutzutage gewöhnt, diese drei Zustände mehr wie von außen, im Hinblick auf den menschlichen Leib zu betrachten. Dann scheint der eigentliche individuelle Mensch im Schlaf wie verschwunden: es ist eben nur noch der Leib da, ohne sichtbaren Ausdruck der Seele. Hier sollen diese drei Zustände von der Innenperspektive aus betrachtet werden.

Das Wachbewusstsein ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihm sowohl Sinneseindrücke als auch das Selbst-Bewusstsein des Menschen vorhanden ist. Der Mensch erlebt also eine Welt und weiß außerdem davon, dass er selber dieser Welt gegenübersteht, sie erlebt und durch sein Tun beeinflusst. Was er nicht wahrnehmen kann, ist er selber als der Erlebende, denn er ist selber die Formseite dieses Bewusstseinszustandes, also die Art und Weise, in der die Inhalte erlebt werden. Diese selber ist zunächst kein eigenständiger aktueller Inhalt, kann es auch nicht sein, sondern immer nur im Rückblick auf schon Vergangenes. Im Wachzustand Erlebtes können wir – mehr oder weniger, im Grundsatz aber sehr wohl – im Nachhinein erinnern. Und wir haben durch unser Selbstbewußtsein Möglichkeiten, selber den Ablauf der Ereignisse zu beeinflussen.

Daneben kennen wir den Traumzustand. Was wir in ihm erleben, können wir in der Regel nur insoweit erinnern, als sich dieses Erleben im Aufwachen in den Wachzustand noch fortsetzt. Wir erleben im Traum wohl auch Inhalte, die oftmals sehr ähnlich sind den Inhalten des Wachzustandes, soviel können wir wissen. Aber die Art des Erlebens ist eine andere. Wir sind im Traum nur eingeschränkt oder gar nicht in der Lage, unsere Eigenständigkeit gegenüber dem Verlauf des Erlebten zu behaupten, während des Traumes inne zu halten und uns auf uns selber zu besinnen. Wir sind gleichsam hineingezogen in das Geschehen und mit ihm verbunden, haben kaum oder gar keine Möglichkeiten, den Ablauf der Ereignisse mit zu bestimmen. Dennoch verändert das Erleben uns selber, ähnlich wie im Wachbewusstsein. Traumbewusstsein ist eben auch Bewusstsein.

Schließlich kennen wir auch noch den traumlosen Schlaf. Mancher mag es seltsam finden, diesen Zustand als einen Bewusstseinszustand zu bezeichnen. Aber es ist doch so: das Bewusstsein selber findet dort statt, wo die erlebten Inhalte eben nicht sind: Sinnesinhalte, Vorstellungsinhalte, Seelenregungen, Träume, Erinnerungen usw. Es ist sich selber – wie oben schon gesagt – nicht als Inhalt präsent. Es ist eben die Form, in der Inhalte auftreten können. Und wenn keine Inhalte auftreten, für die wir eine Wahrnehmungsmöglichkeit haben, dann bedeutet dies ja noch nicht, dass das Bewusstsein selber nicht vorhanden ist. Es ist nur inhaltsleer. Und weil wir bisher keine Möglichkeit haben, das Selbstbewusstsein aufrecht zu erhalten, wenn keine gegebenen Inhalte da sind, vergisst das Bewusstsein dann auch sich selber. Das nennen wir „Schlaf“.

Nacheinander – Ineinander

Gewöhnlich betrachten wir diese Bewusstseinszustände also solche, die zeitlich nacheinander stattfinden, nicht gleichzeitig. Wenn wir traumlos schlafen, haben wir keine Weltinhalte und wissen auch von uns selber nichts. Im Traum haben wir Weltinhalte, die sich sehr von dejenigen im Wachzustand unterscheiden können, im Grundcharakter ihnen aber ähnlich sind: das Bewusstsein steht den erlebten Inhalten gegenüber und folgt ihnen. Im Wachzustand kommt der bewusste, verändernde Zugriff des seiner selbst bewussten Menschen auf die erlebte Welt hinzu.

Aus dem Schlaf finden wir durch den Traum in die Welt des Wachens, und aus dem Wachen sinken wir durch das Träumen in den Schlaf. Das jedenfalls sehen wir als den „Regelfall“ an, aus unserem Erleben. Wenn wir wach sind oder träumen, schlafen wir nicht traumlos, wenn wir träumen, sind wir nicht wach und schlafen auch nicht traumlos, und wenn wir im Tiefschlaf sind, träumen wir nicht und wachen auch nicht. Das ist zunächst unser Erleben im Durchgang durch das tägliche Leben.

Aber man kann die Sache auch anders betrachten, als eine Art Ineinander dieser drei Zustände, jeweils bezogen auf bestimmte Inhalte. Wenn wir wach der Welt begegnen und unser Bewusstsein mit ihren Inhalten erfüllen, vergessen wir uns selbst (siehe oben), schlafen also für uns selber. Hingabe an die Wahrnehmung der Welt lässt also das Bewusstsein von uns selber „in den Schlaf“ sinken. Umgekehrt kann es bei hoher Konzentration auf ein eigenes Tun geschehen, dass wir alles, was nicht mit diesem Tun zusammenhängt, vergessen. In einem Sonderfall, der Meditation, kann es sogar geschehen, dass wir uns so auf unsere eigene innere Tätigkeit und die dabei auftauchenden Seeleninhalte konzentrieren, dass die äußere Sinneswelt uns augenblicksweise gänzlich entschwindet. Dann wachen wir für unsere Seele und schlafen für die Außen-Welt. Und was sich an alle Seeleninhalte – innere wie äußere – als ein Gefühl knüpft, hat Traumcharakter. Es ist nur begrenzt dem vollbewussten Einfluss zugänglich, ist geeignet, uns mit zu reißen wie das Geschehen in einem Traum, und oftmals auch, unseren Willen aufzurufen und zu lenken.

Was unser eigenes Tun, den Prozess der eigenen Willensentfaltung betrifft, wurde ja oben schon angedeutet, dass wir davon in der Regel kaum eine Wahrnehmung haben. Wir nehmen nur wahr: da ist innerseelisch ein Vorsatz, und anschließend erleben wir, wie dieser Vorsatz im Tun realisiert wird oder nicht. Wie wir es fertigbringen, dass aus dem erlebten Vorsatz (der sich aus einer Vorstellung oder einem Gefühl ergeben kann) die ausgeführte Tat wird, das erleben wir nicht. Darüber gibt es nur Theorien, Denkmodelle und dergleichen. Wir wissen es, wenn wir wahrhaftig bleiben wollen, aus dem eigenen Erleben nicht. Das bedeutet, dass wir für das eigentliche Wollen schlafen.

In der Zeit

Und eine weitere Beobachtung können wir machen bezüglich der Bewusstseinszustände in unserem Leben in der Zeit.

Wofür können wir wachen? Das Wachbewusstsein ist zunächst ein Duales, in dem das eigentliche Erleben und der Inhalt gegenüberstehen. Darum können wir wachen für alles, was schon geworden ist, was einen Gegenstand für uns abgeben kann, dem wir uns gegenüberstellen können. Das sind dann also Sinneseindrücke (die sich immer auf etwas beziehen, was schon da ist), Vorstellungsinhalte, Gedanken, auch Erinnerungen; bei etwas Bemühung können wir uns auch unseren eigenen Gefühlen so gegenüberstellen, brauchen dann aber schon denkende Besinnung dazu. Generell kann man also sagen, dass alles, was in unserem Denken als Inhalt auftaucht, Inhalt des Wachbewußtseins ist. Alles dies kommt uns aus der Vergangenheit zu, ist Gewordenes. Mit dem Denken fassen wir also das Vergangene.

Wofür schlafen wir? Für alles, was noch in der Zukunft liegt, von dem wir also noch keinen Inhalt fassen können. Es ist dies der Bereich, in den hinein auch all unser Wollen gerichtet ist, und in den hinein wir durch unseren Willen wirken. Wir selber als unwahrgenommener Teil unserer alltäglichen Bewusstseinsverfassung sind also etwas Zukünftiges, was erst noch werden soll. Wir kennen uns eben selber noch nicht, können uns selber noch nicht gegenübertreten. Wer sich selber so betrachtet, wird kaum in die Versuchung kommen, sich selbst als feststehendes Mass aller Dinge anzusehen. Denn er selber und seine Taten sind Glied eines noch unbekannten Ganzen – der Zukunft, die eben noch nicht in die Dualität des Wachens getreten ist.

Und dazwischen träumen wir. In jedem Augenblick der Gegenwart, jetzt, jetzt, jetzt und jetzt wieder. Die Gegenwart ist also nur die Grenze, halb wach und halb Schlaf, zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Niemals klar fassbar und doch auch nicht im Dunkel des Schlafes versinkend. Und wenn wir etwas davon wissen, ist es schon Vergangenheit. Was die nächste Sekunde bringt, können wir nur vermuten, ahnen, wollen, bis wir sie erleben. Wir schwingen unaufhörlich zwischen dem der Vergangenheit Gegenüberstehen und der Einheit des Zukünftigen.

Menschenbegegnung

All diese Zustände spielen gleichsam oszillierend, ineinander übergehend, eine Rolle bei jeder Begegnung von Menschen. Wie in den beiden in der Einleitung angegebenen Artikeln gezeigt, können wir mit unserem Wachbewusstsein, also vor allem den Sinneswahrnehmungen und den Gedanken, entweder unserem eigenen Wollen folgen, oder uns dem eines anderen hingeben. Beides gleichzeitig geht zunächst nicht. Versinken wir ganz im Denken des Anderen, so schlafen wir für uns selber. Halten wir unser eigenes Denken dem anderen entgegen, so erleben wir unsere eigenen Gedanken und schlafen für die des Anderen.

Wollen wir einen Anderen also wirklich verstehen, so bleibt uns nur der Weg, uns seinem Gang des Denkens hin zu geben. Dann versinkt aber unser eigenes Selbstbewusstsein, vergisst sich selbst. Das ist der Grund, warum es so schwer ist, längeren Gedankengängen eines Anderen aufmerksam zu folgen, ohne – einzuschlafen. Es sei denn, er baut immer wieder Pausen für uns ein, in denen wir aufwachen können. Oder – und das wäre ja dann das anzustrebende Ideal – wir lernen nach und nach, den Anderen so in uns zu erleben, wie er sich selber erlebt. Dann erst ist die volle Hingabe erreicht, und wir können ihn ganz verstehen. Dafür müssen wir in diesem Verstehens-Augenblick aber auch die eigene irdische Persönlichkeit ganz vergessen.

Gegenseitiges Verstehen erfordert dann, dass beide Seiten sowohl dem Anderen hingegeben zuhören können, als auch beim Sprechen sich immer bemühen, den Anderen so in die eigene Darstellung aufzunehmen, dass er darin sich selber finden kann. Dann bleibt er auch wach. Dann hätten wir die wahren Begegnung des Menschen mit sich selbst im Anderen.

Menschheitsentwicklung

Der Mensch, wie er heute geworden ist, erlebt sich zunächst als Einzelner, Vereinzelter. Denn seine Welt kann niemand genau wie er erleben, und seinen Werdegang hat niemand genau wie er durchlaufen. Darin sind sich aber alle Menschen gleich.

Wir können noch davon wissen, dass dies nicht zu allen Zeiten so war. Wie auch bei manchen Naturvölkern noch heute üblich, erlebten die Menschen sich in früheren Zeiten viel mehr als Bestandteil eines größeren Ganzen, das sie als über dem Einzelnen stehend ansahen. Es gibt Berichte von Angehörigen solcher Völker, die es wie eine wirkliche Selbstvernichtung erlebten, wenn sie aus dem Stamm ausgestoßen wurden; der Tod war weniger schlimm, denn dann blieb man dem Ganzen, dem als eigentliches Selbst erlebten Stamm weiter verbunden. All das ist aber nicht mehr zeitgemäß; nur Rest aus uralten Zeiten rumoren noch in nationalistischen, völkischen und anderen Ideologien. Dass sie der heutigen Zeit nicht mehr entsprechen, läßt sich unschwer an der zerstörerischen Wirkung erkennen, die sie in der heutigen Gesellschaft ausüben, vor allem dadurch, dass sie nicht das klare, wache Denken, sondern direkt untergründig gärende Emotionen ansprechen. Der wirklich in der heutigen Zeit angekommene Mensch ist das vereinzelte, selber denkende und dadurch frei gewordene Individuum, das sich ganz selbstverständlich niemals einer übergeordneten Gesamtheit unterordnen, allenfalls selbstbestimmt einordnen will.

In dieser Vereinzelung liegt aber ein Riesenproblem. Jedes Einzelnen Welt unterscheidet sich von derjenigen jedes Anderen. Gegensätze entstehen so immer schneller und leichter, und mit dem Verfall der alten Gruppenstrukturen, mit dem Verfall von festen Moralregeln reduziert sich die Regulierung des Miteinanders auf ein durch äußere Gewalt gestütztes Einander-möglichst-wenig-Schaden.

Ausblick

Schauen wir noch einmal auf die Zeit: früher lebten die Menschen in größeren Zusammenhängen, sahen darin ihre eigene Menschlichkeit, und lebten daher auch aus von diesen größeren Zusammenhängen geprägten inneren Haltungen, Ganz selbstverständlich nahm jeder Einzelne Rücksicht auf das Wohl des für ihn sichtbaren Ganzen. Wer sich daraus löste, wurde verstoßen.

Heute sind wir gleichsam alle solche Verstoßene. Jeder kennt zunächst wirklich nur sein eigenes Erleben, und kann nur aus diesem entscheiden, was er tun und lassen will. Insofern ist er frei. Jeder Versuch, diesen Riesenschritt in die Freiheit des Einzelnen zurückzudrehen, die Menschen wieder zu Ent-individualisieren und zu reinen Gruppenwesen zu machen kann heute nur als der Versuch angesehen werden, den Menschen zu versklaven. Von sich aus ist er nicht mehr bereit, bedingungslos sich einem vorgegebenen sogenannten „Höheren“ zu unterwerfen. Auf die Spitze getrieben, scheint daher eine Art Krieg aller gegen alle unausweichlich.

Dennoch: Nein! Denn wir können – und wollen aus innerstem Bedürfnis – den Anderen kennen lernen. Denn er ist unser Spiegel. Wir brauchen ihn, um zu uns selber zu kommen. Was uns davon abhält, diesem Bedürfnis zu folgen, sind die Überbleibsel uralter Vergangenheit und die Furcht vor unserer Unfähigkeit, uns dem Anderen hinzugeben und darin doch wir selber zu bleiben. Fähigkeiten lassen sich aber nicht einfach so erwerben, sie wollen geübt werden. Und je mehr Menschen es üben, den Anderen durch hingebendes Zuhören verstehen zu wollen – auch und gerade dann, wenn uns nicht Sympathie zu ihm hin zieht – desto mehr kann einer im anderen aufleben, aufwachen, desto mehr können wir lernen, eben nicht einzuschlafen, wenn wir uns dem Anderen hingeben. Je mehr wir den Anderen wirklich verstehen, desto mehr können wir uns ihm auch verständlich machen, indem wir seine Denk- und Erlebenswege in unseren Sprechen und Tun berücksichtigen.

Dann kann nach und nach, in Äonen, so wie auch die heutige Menschheit entstanden ist, eine neue gemeinsame „Identität“ der Menschen entstehen, eine, die nicht den Einzelnen ausschließen muss, wenn er den vorgegebenen Regeln nicht folgt, sondern die dann die Kraft entfalten kann, scheinbar divergierende individuelle Wege aus freiem Wollen zu einander zu lenken. Die dafür nötige, frei wollende Hingabe an den Anderen ist aber nichts anderes als die Liebe.

Ein solches, aus Liebe geborenes „Gemeinschafts-Ich“ ist gleichermaßen unviersell und individuell, denn es schließt den Vereinzelten nicht aus, sondern braucht ihn und seinen freien Willen als seine eigene Vorbedingung. Es knüpft an bei dem, was schon heute alle Menschen in gewissem Sinne gleich macht: das freie Erleben der Welt als mehr oder weniger (noch) unbekanntes Geist-Wesen.

In der Vereinzelung und den menschheitlichen Problemen, die dadurch entstehen und in unserer Zeit kulminieren, können wir daher einen Aufruf sehen, aufzuwachen für das Kommende, das sich ankündigen und realisieren kann in jeder wirklich bewusst durchlebten Menschenbegegnung, aufzuwachen also im „Hineinschlafen“ in den Anderen, und damit für den kommenden, zukünftigen MENSCHEN.

Auf dass der MENSCH sich selber mache, und nicht gemacht werde durch irgendwen oder irgendwas!




Der Spiegel des Individuellen – Den Anderen nach-denken II

In => diesem Artikel wies ich darauf hin, dass Verständnis von Mensch zu Mensch nicht bedeuten muss, Gedanken, Haltungen und andere „Weggefährten“ eines anderen Menschen zu übernehmen. Das Entscheidende geschieht vielmehr im Nach-Gehen oder Nach-Denken seiner Entwicklungswege. Von einem anderen Gesichtspunkt aus möchte ich darauf hier noch einmal eingehen.

Wodurch lebt mein „Ich“?

Leben ist Veränderung, niemals Stillstand. Ein erreichter Zustand kann also niemals ein wirklich „lebendiger“ sein, denn er ist Zustand, also keine Bewegung, keine Veränderung. Jeder irgendwann erreichte Zustand ist also gleichsam „tot“, und sein Erschaffen beinhaltet auch den Sterbeprozess, der diesen Zustand als Endprodukt schließlich hervorbringt.

Nun ist mein „Ich“ aber gerade dasjenige in mir, was durch jede Veränderung, jede Entwicklung erst hindurchgeht, diese also erlebt, erst zu Leben macht. Ohne das erlebende Ich würden nämlich die jeweils vorübergehenden, vom Ich durchlaufenen Zustände nicht meinem Leben zugehörig anzusehen sein, kein sich entwickelndes Ganzes ergeben, sondern zunächst vielleicht verbunden mit anderen Lebensprozessen erscheinen, in Bezug auf mich aber „tot“ bleiben, eben Zustände, die ich beobachte, die aber nicht mit meinem Leben verbunden sind.

Dadurch, dass ich erlebend diese Zustände durchlaufe, verbinde ich sie mit mir, mit meinem Leben. Durch jede neue Verbindung, die ich so schaffe, verändere ich aber mich selber. Denn mein Leben wird reicher an „Weggefährten“, die ich mit ihm verbunden habe, und jeder neue „Gefährte“ schafft für mich neue Möglichkeiten.

Was Ich als sich entwickelndes Individuum jeweils werde, und welche Erlebens-Möglichkeiten mir dadurch zuwachsen, ergibt sich also aus meinen eigenen Taten und Impulsen. Mein Ich lebt durch sich selbst. Zwar ist es zunächst als ein durch fremden Einfluss Gewordenes entstanden (die Weltentwicklung hat mich auf geheimnisvolle Weise hervorgebracht). Je mehr ich mich aber auf das Gewordene verlasse, desto mehr stütze ich mich auf Totes, erlebe auch nichts Neues; und je mehr ich eigene Initiative hervorbringe und mit meinem Leben verbinde, desto mehr lebe ich durch mich selbst.

Leben ist Sterben

Mit jedem Schritt, den ich durch mein Leben gehe, produziere ich neue, gewordene Zustände, die ich als Ergebnisse hinter mir lasse. Jede Situation, die ich durchlebe, wird notwendig zu einer vergangenen. Wie das Wort „vergangen“schon sagt: die lebendige Situation vergeht.

Vergehen ist Sterben, Verlust des Lebens also. Jedes Leben produziert aber Vergehendes, ein solches Vergehendes, mit dem das Leben sich verbunden hat und damit auch nach und nach vergeht. Paradox zunächst, aber doch in gewissem Sinne wahr: Das Leben verzehrt sich selber, bringt den Tod hervor, einfach weil es Leben ist.

Allerdings: ist dieses Leben dasjenige des Ich, so lebt es durch sich selbst, und – stirbt fortwährend durch sich selbst ab. Ein tiefes Geheimnis unserer Zeit ist damit angesprochen. Viele Bestandteile unserer individuellen „Lebenswelten“ – also der jeweiligen individuellen Welt, in der das Ich sein Leben fristet – sind heute von Sterbeprozessen betroffen: das Sterben von Tier- und Pflanzenarten, der Verlust der Lebenskraft des Menschen (wir als Zeitgenossen werden immer kränker), ja, der Verlust der Lebenskraft des Gesamtorganismus „Erde“ sind unübersehbar. Das Absterben der Erde als Ganzer ist Gegenstand vielfältiger Theorien und Prophezeihungen geworden. Woher soll neues Leben kommen?

Schlafen und Wachen

In jedem Menschenleben gibt es einen „kleinen Bruder“ des Todes: den Schlaf. Ebenso wie der Schlaf unser Bewusstsein auslöscht bis zum nächsten Erwachen, stellen wir uns den Tod vor: als Auslöschen unseres Bewusstseins, aber so, dass dem Tod eben kein Aufwachen folgt, sondern dass das Auslöschen endgültig sei. Darum fürchten wir uns vor dem Tod, lieben ihn nicht, sondern versuchen, ihn von uns fern zu halten. Denn wir selber sind Leben, wollen leben.

Das bisher Geschilderte vorausgesetzt, können wir aber wissen, dass wir selber in genau dem Bereich leben, in dem wir im Schlaf – und im Tod – gänzlich versinken. Unser eigenes Erleben beobachten wir nicht; wir nehmen nur das Gewordene, also schon abgestorbene wahr. Wir selber sind also nicht von dieser wahrgenommenen Welt, die uns umgibt. Wir leben dort, wohin Schlaf und Tod uns führen wollen.

Das hat durchgreifende Bedeutung für das menschliche Zusammenleben. Der Andere ist – wie im =>vorigen Artikel gezeigt – in der selben Situation wie ich. Auch der Andere lebt also in der Welt, in die der Tod führt. Hören wir also einem Anderen wirklich zu, versuchen, seine (Denk-)Wege mit zu gehen, so erfordert das, dass wir gleichsam in ihn „hineinschlafen“, uns selber so lange aufgeben, wie wir den Anderen mit-leben wollen. Die Furcht vor dem endgültigen Selbstverlust, also dem eigenen Tod klingt immer mit, wenn wir uns ganz auf einen Anderen einzulassen versuchen. Nur zu verständlich, dass wir immer wieder zu uns selber zurück wollen, unser Eigenes ihm entgegen halten, und dabei sehr oft überhören, auf welche Wege er uns mitnehmen könnte, was aus seinen Wegen zu uns spricht. Wir sind also gleichsam – unbewußt – ständig im „Krieg“.

Das ist eine sehr antisoziale Seite, die aber jeder Mensch heute in sich trägt. Kein Wunder, dass es zwischen den Menschen so viel Mißgunst, Ablehnung und Streit gibt. Nur, wo der Andere mir nützt – also meiner inneren und äußeren Welt aus Sinnesdingen, Gedanken, Gefühlen, Willensimpulsen, einschließlich der gewordenen Vorstellung meiner selbst, die ich meistens „Ich“ zu nennen pflege –, nur da ist er für mich erträglich, denn nur da ist für mich Sicherheit. Ansonsten ist der Andere mein Feind, denn ließe ich mich auf ihn ein, auf sein wirkliches Leben, so könnte er mich auslöschen.

Kein Wunder auch, dass wir der Erde gegenüber, der Natur insgesamt, mit allen Tieren, Pflanzen darin, so sehr geneigt sind, nur das Tote, Feststellbare gelten zu lassen. Das ist nämlich die Erscheinung der Welt, die uns gegenüber steht, in der für jeden Menschen individuellen Konfiguration, die er eben erleben kann. Was diese Welt werden läßt, ihr Leben ist, stammt aus demselben Reich, in dem ich selber lebe. In diese Welt des Lebens komme ich nur im Schlaf oder – im Tod. Und dann weiß ich nichts mehr davon. Davor habe ich Furcht, und bleibe deswegen im Erklären der Welt lieber bei der Erscheinung: der toten, sicheren, festen Erscheinung

Sich selber fremd

Schauen wir uns das an: das „Ich“ lebt in einem Bereich, den es zunächst selber nicht wahrnehmen kann, der ihm unbewusst ist. Es ist dieser Bereich der Unbewusstheit, in den wir in jedem Schlaf versinken und – jedenfalls nehmen wir das an – auch im Tod. Aber auch das Leben und Werden der Welt findet in diesem Bereich statt: wir können nicht mit-erlebend erkennen, wie das Leben entsteht, können es jedenfalls nicht in feste Vorstellungen fassen, auf die wir uns stützen können. Kein Wunder: die feste Vorstellung ist ein Gewordenes, Vergangenes, also: Totes, darum kann sie das Leben nicht fassen.

Auch unsere Vorstellung von uns selber ist letztlich immer eine gewordene, also tote. Nur, dass wir – genügende Wachheit und Aufmerksamkeit vorausgesetzt – diese Vorstellung ständig verändern und immer wieder an die neue Situation anpassen können, das Gewordene also immer wieder neu, in jedem Augenblick überwinden können, unsere Selbst-Vorstellung also immer wieder neu aus unserem Leben hervorbringen können. Das „Ich“ lebt in seinem eigenen Tun (s.o.). Und da wir die Veränderung selber vornehmen, durchleben wir ihr Entstehen und wissen, darum, wie sie zustande kommt.

Beginnen wir zu erkennen, wie wir auf diesem Wege unser eigenes Sterben produzieren, in immer neuen gewordenen Vorstellungen von uns selber, können wir erkennen, wie wir selber ein Ausdruck sind des wohl stärksten Gegensatzes, den wir kennen, des Gegensatzes von Tod und Leben nämlich. Das „Ich“ ist Leben, das sich durch sich selbst produziert als Totes, als Vorstellung von sich selbst, als Person in der Wahrnehmungswelt, die sich in dieser Welt selbst erscheint, in der so vieles auftritt, aber niemals das Leben selbst. Die Oberfläche all der schaffenden Wesen der Welt, die wir um uns her erleben, ist immer nur eine todgeweihte. Das Leben wirkt woanders. Von mir wahrnehmen kann ich zunächst auch nur diese Oberfläche, das Gewordene.

So ist auch das, was uns aus dieser Welt in Bezug auf unser eigenes Leben entgegen kommt, eben dasjenige, was uns dem Tode näher bringt. Unser Schicksal nämlich, dasjenige, was als Bestandteil unserer individuellen Umwelt in Form der „Weggefährten“ nach und nach uns beigeordnet wird, von uns mehr oder weniger ergriffen und mit unserem Leben verbunden. Auch darin leben wir selber. All das, was mir da zukommt, gehört zu mir, meinem Ich, meiner Individualität. Es kommt so wie mir niemandem anders zu, allenfalls diejenigen Teile davon, die zum Beispiel als Zeiten-, Völker- oder Menschheitsschicksal angesehen werden können.

Auch in den Figuren, durch die mein äußeres Schicksal mich leitet, lebe ich also selber auf. Denn sie gehören zu mir, meiner Entwicklung, meinem Leben.

Spiegel des Individuellen

All das Geschilderte, das Leben und Sterben aus der Welt heraus in die geistige, lebendige Welt hinein, findet nun nicht nur in mir statt, sondern in jedem Menschen. Ich kann ja an jedem Menschen erleben, dass er in der selben Situation wie ich ist: aus einem unwahrgenommenen Ich heraus eine Welt erlebend und miterschaffend, die ihm gegenüber steht. Nirgendwo in dieser Welt kann er sich selber als Lebendigen wahrnehmen, nur immer dasjenige von sich, was geworden ist.

Doch, er kann das individuelle Leben wahrnehmen, an einer Stelle: im anderen Menschen, dem Spiegel des Individuellen. Den Anderen nach-denken – nicht seine „Weggefährten“ zu übernehmen, sondern sein Leben ein Stück mit zu gehen! – ist ein Weg, sich selber zu begegnen. Nur steht uns da die Furcht im Wege, die uns sofort überkommt, wenn wir unser eigenes Selbst-Bewusstsein hingeben sollen, um den anderen zu er-leben. Ja, es ist wahr: wir er-leben den anderen, schenken ihm Leben durch diese Tat. Wir geben ihm – und uns selber! – den Tod, wenn wir uns nur auf uns selbst zurückziehen, auf unserem und seinem Sicheren, Festen, schon fertig Gewordenen beharren.

Ganz unbewusst, im Reich des eigenen Er-Lebens, in das wir durch den Erdentod erst ganz hineinkommen werden, tun wir dies immerwährend. In jedem auch noch so kurzen Zuhören lebt es, dieses In-den-Anderen-Hineinschlafen und Zu-sich-selber-Aufwachen. Wir könnten sonst niemals wirklich verstehen, was ein anderer sagt oder uns bedeutet, könnten höchstens dasjenige, was er für unsere eigene gewordene, irdische Persönlichkeit ist, mit Sympathie oder Antipathie begleiten. Nur die uns selber betreffende Nützlichkeit des Anderen als Weltgegenstand wäre dann noch für uns von Bedeutung. Wer auch nur ein Kleines über diese Auffassung vom Anderen hinauskommt, ist schon ein Stück weit mit ihm mit gegangen, hat ihn ohne es zu merken, nach-gedacht und mit sich selbst verbunden. Nur fehlt dann das Bewusstsein davon, was geschehen ist.

Man könnte an dieser Stelle viele empirische Befunde anführen, die diese Darstellung untermauern: die gesamte Nachahmung kleiner Kinder fällt in diesen Bereich, bis hin zu Messungen, die zeigen, dass der Sprachorganismus eines intensiv Zuhörenden (auch schon von Neugeborenen!) zeitgleich die Bewegungstendenzen des Sprechenden nachbildet. Zeit-gleich, nicht eine Winzigkeit später. Der Zuhörende lebt also unbewusst mit dem Sprechenden mit, erlebt ihn nach, lebt für die Zeit des Zuhörens im selben geistigen Raum wie der Sprechende, lebt dessen Intentionen mit, wird zum Spiegel des Sprechers. Und spricht dieser aus einem Erleben der Wege des Zuhörers heraus, dann kann dieser das Sprechen wie aus sich selbst heraus erleben, als wie von ihm selber gesagt. Dann hat der Sprecher es geschafft, im äußeren Sprechen innerlich wachend so in den Zuhörer „hinein zu schlafen“, dass er wie aus diesem selber sprechen kann.

Im Anderen auferstehen

Der Sprecher, der von außen zu mir spricht, sein Sprechen aber wie aus mir selber erklingen läßt, hat etwas geschafft, was jedem Menschen zunächst durch die Furcht verbaut ist. Er ist in mich hinein eingeschlafen, und doch dabei wach geblieben. Mehr noch: er hat dann sein eigenes Leben so mit mir verbunden in der (geistigen) Welt, in der wir beide leben, das es meines geworden ist, und meines seins!.

Darum ist und bleibt er aber doch er selber, denn er steht mir ja gegenüber und spricht zu mir. Er ist gleichsam in seine Erscheinung hinein gestorben, ist geworden, was er mir im Außen nun ist, und ist gleichzeitig in mir selber zu neuem Leben gekommen. Aber ich habe dasselbe getan, ihm mein Leben geschenkt, mein Mit-Erleben, indem ich es gewagt habe, mich den Wegen, die er mich führt, gänzlich zu überlassen. Wir tun beide das gleiche, aber doch anders: ich schlafe für mich selber im Irdischen, nehme mich nicht wahr, gebe mich dem äußeren Sprechen des Anderen hin, und lasse ihn in mir auferstehen, indem ich ihn nach-denke; der Sprecher schläft im Innern für sich selber, läßt mich in sich wirken, das heißt aber mich, den Lebendigen, um mich in seinem Sprechen im Außen auferstehen zu lassen.

So kann menschliches Zusammen-Leben neue Gemeinschaft wirken: im Wechsel zwischen dem In-den-Anderen Hineinschlafen und dem Für-mich-selber-Aufwachen, je nach Rolle, die jeder gerade im Äußeren spielt. So wacht jeder im anderen auf und dadurch für sich selbst, wird so bewusst zum Spiegel des Individuellen.

Auf dieser Grundlage kann aber niemals wirklicher Streit entstehen, nur Verständnis für das fremde Wollen, das durch die ganz anderen „Weggefährten“ des Anderen notwendig als ein Fremdes erscheinen muss. So kann das „Den-Anderen-Nachdenken“ helfen, eine neue Gemeinschaft entstehen zu lassen, in der wirkliche Freiheit möglich wird.

© Stefan Carl em Huisken 2020




Den Anderen nach-denken hilft

Wie finden wir den Weg zum Anderen, gerade auch zu dem, der uns wie ein Feind gegenüber steht? Nur wenn uns das gelingt, kann der Krieg zwischen den Menschen, das Einander-Vernichten-Wollen zu einem Ende kommen. Ein Versuch.

Denkwege

Wer denkt, geht dabei Wege – von einem Gedanken zum anderen, um Gedanken herum, auf sie zu, je nachdem. Was er dabei durchmacht, sind Veränderungen seiner selbst, durch Willensimpulse, Zu- und Abneigungen, Unklarheiten, kurz: Qualitäten, die er selber mit den Gedanken verbindet.

Die Gedankeninhalte bleiben zunächst gleich, egal, was der einzelne dabei erlebt. So wie ein Baum, an dem ich vorübergehe, ein mathematisches Problem, das mich reizt, es zu lösen, oder ein Gefühl, das mich befällt, oder ein Ziel, das ich anstrebe, sich ja zunächst nicht ändert durch meine Art, mich dazu zu stellen. Aber all dies wird zu einer Art „Weggefährten“, indem sich mein Umgang damitändert. Und mein Umgang mit all diesen „Weggefährten“ prägt mein Erleben auf dem Weg, ist das, was mich auf dem Weg verändert.

„Mein Weg“ ist also nur äußerlich – gewissermaßen – durch die (Denk-)Welt beschrieben, die ich dabei durchlaufe. Innerlich ist damit auf die Veränderungen gedeutet, die ich selber dabei durchmache: meine Entwicklung also.

Ich und Welt

Der „äußerliche“ Weg ist also zu beschreiben als die innere oder äußere Weltgegend, die ich durchlaufe; der „innerliche“ Weg findet an mir selber statt, dem Gehenden, Erlebenden. Während ich einen Weg gehe, bin ich tätig (gehen) und aufnehmend. Auf die Inhalte dieses Tuns und Aufnehmens, auf die „Weggefährten“ also, richtet sich zunächst meine Aufmerksamkeit: auf meine Taten und Wahrnehmungen. Was ich in der Regel nicht mit meiner Aufmerksamkeit umfasse – auch zunächst gar nicht umfassen kann – bin ich selber, der Tätige, Wahrnehmende, einschließlich der Veränderungen, die ich durchlaufe.

Es ist und bleibt eben so: was ich wahrnehmen will, muss schon da sein. Bezogen auf meine eben durchlebte Veränderung heißt das: wenn ich sie wahrnehme, ist sie schon eine gewesene, vergangene, schon „Weggefährte“, und gerade jetzt findet wieder etwas Neues mit mir statt. Das kann ich dann gleich wahrnehmen, in Zukunft, dann, wenn es schon – ist.

Es besteht also ein grundlegender Unterschied zwischen mir und der Welt. Ich tue, lebe, wese. Sobald ich sagen kann: ich bin, rede ich schon von etwas Gewordenem, nicht mehr Tätigen, nicht mehr aus sich selber lebenden. Dann bin ich mir Welt geworden.

Der Andere

Innerhalb dieser vielen unterschiedlichen inneren und äußeren „Weggefährten“ gibt es aber eine Art Ausnahmeerscheinung: den anderen Menschen. Bei ihm kann ich nämlich wissen: es geht ihm im Prinzip genauso wie mir. Auch er lebt mit seinen „Weggefährten“, verändert sich durch die Begegnungen, und kann seine eigene Veränderung erst kennen, wenn sie schon geschehen ist. Er ist also im Grundsatz dasselbe wie ich, nur ein bisschen anders, vor allem durch die anderen „Weggefährten“, und von mir eben als „außen“ erlebt, und nicht von „innen“. Aber auch das ist ja gleich: ihm geht es mit mir genauso wie mir mit ihm.

Dennoch haben wir ein untrügliches Wissen: der Andere, das ist ein Mensch, einer, der ebenso wie ich „ich“ zu sich selber sagt (in welcher Sprache denn auch immer, das tut hier nichts zur Sache). Und das können wir beide jeder erstmal nur zu uns selber sagen, zu dem Tätigen, Wesenden, Erlebenden also, und dann auch zu dem, was sich aus diesem Tun, Wesen, Erleben in der Vorstellung von uns selber als neuer da-seiender „Weggefährte“ ergibt.

Fremdeln

Es ist ja ein Grundphänomen unserer Zeit, dass wir einander – und uns selber – so fremd sind. Wir haben nur immer das im Bewusstsein, was schon ist, also einen bestimmten Zustand schon erreicht hat, in dem es uns gegenübertreten kann. Das gilt für uns selber genauso wie für den anderen Menschen.

Uns selber gegenüber haben wir aber einen entscheidenden Vorteil: dadurch, dass wir die Veränderungen durchlaufen haben, die der Weg bis hierhin provozierte, haben wir uns mit diesen Veränderungen, mit dem darin waltenden Leben verbunden, denn es ist ja unser eigenes. Es waren unsere eigenen Wahrnehmungen, Taten, Willensimpulse, Gefühle, die uns veränderten.

Dadurch werden wir zwar einerseits, wenn wir die gewordene Vorstellung von uns selber betrachten, uns selber etwas fremd (jedenfalls dann, wenn wir uns nicht derartig in uns selber verlieben, dass wir uns sofort durch unsere Gefühle, Willensimpulse und dergleichen wieder innigst mit dieser Vorstellung von uns selber verbinden, also uns eigentlich gar nicht um die Vorstellung von uns selber kümmern, sondern nur um das Schaffen eines Verhältnisses dazu). Andererseits wissen wir aber durch das, was wir durchlebt haben, wie es zu diesem Zustand unserer Selbst gekommen ist; da sind wir uns selber nah.

Das ist bei dem Anderen nicht gegeben. Dieses „Wie“ kennt er nur selber, ebenso wie ich es bei mir selber weiß. Dies ist der Grund für jeden Streit, der zwischen Menschen entstehen kann. Sehe ich nur die Äußerung, die Tat des Anderen, und weiß nicht, wie er dazu gekommen ist, so zu handeln, sich zu äußern, kann die Fremdheit nicht weichen. Ich kann mich – also den lebenden, tätigen, wesenden in mir – nicht mit dem anderen verbinden. Wir bleiben einander gegenüber, und können bestenfalls Kompromisse miteinander machen, schlimmstenfalls, wenn unsere „Weggefährten“ zu unterschiedlich sind, uns streiten, bekämpfen, bis hin zu dem Wunsch, den Anderen vernichten zu wollen, da er uns stört auf unseren Wegen.

Den Anderen nach-denken

Der einzige Weg, einander wirklich zu verstehen, wäre es also, wenn wir in der Begegnung uns weniger für die „Weggefährten“ des anderen – seine gewordenen Haltungen, Standpunkte, Meinungen also – interessierten als für seine Art, zu leben, zu denken, zu wollen. Denn nur in dem aktuell Werdenden, in der Art zu sprechen, (Denk-)Wege zu gehen, zeigt sich, wie der Andere wirklich im Leben ist. Das andere sind eben nur die „Weggefährten“, und welche diesem oder jenem Menschen auf seinem Weg begegnen und zu eigen werden, bestimmt er nicht immer nur selber. Aber so leben, tun, sprechen wie dieser eine, individuelle Mensch, kann eben nur dieser eine individuelle Mensch selber.

Gehen wir seine Wege mit, so gut es geht, so durchleben wir mindestens ansatzweise dasjenige, was er selber auch durchlebt. Wir gehen also seinen Weg ein Stück weit mit. Und dann können wir den Vorteil nutzen, den wir haben, wenn wir selber Wege gehen: wir können wissen, wie das gegangen ist. Wir denken ihn sozusagen nach. Nicht nur seinen Weg – das wären die „Gefährten“ – sondern wirklich ihn selbst.

Dasjenige, was der Kern des Anderen ist, sein lebendiger Kern, sein Leben, wird ein wenig zum Teil unserer selbst. Wir nehmen ihn sozusagen auf in uns selber. Dann erst lernen wir ihn wirklich verstehen. Dazu gehört aber das wirkliche Mitgehen, das Zuhören, in den Anderen „Hineinkriechen-Wollen“. Und natürlich, jeder kann sich so verhalten, dass eben dies „Hineinkriechen“ schwer wird. Aber auch dadurch verrät er etwas … und stellt uns damit besonders anspruchsvolle Aufgaben.

Wer bin ich?

Aber hoppla: wenn ich das zu viel mache, werde ich ja nach und nach der andere. Und wo bleibe ich, ich selber? Genau dieses „Hoppla“ ist der Grund, warum wir das so wenig tun: den anderen nach-denken. Wir fürchten, uns selber zu verlieren, und wenden uns schnell vom Anderen ab zu uns selber, um uns unserer selbst wieder zu versichern.

Man kann das vergleichen mit Schlafen und Wachen. Wach bin ich dann, wenn ich eine Welt mir gegenüber habe, von der ich mich innerlich abstoßen kann, die ich als etwas erlebe, was ich nicht selber bin. Wenn ich schlafe, versinkt diese Welt der Wachheit, des Gegenübers in die Unbewusstheit. Wachsein und bei mir selber sein gehören also zusammen, ebenso wie Schlafen und – beim Anderen sein.

Nun kann ich aber wissen, dass doch diese Wachwelt, in der ich mir auch meiner selbst bewusst werden kann, die ich geradezu brauche, um mir meiner selbst bewusst zu werden, eben meine individuelle ist. Niemand kann sie zunächst erleben so wie ich. Und innerhalb dieser individuellen Welt kommt eben der Andere vor. Er lebt also sowieso schon in mir – nur unerkannt, noch fremd.

Durch ihn habe ich aber eine unermessliche Chance: Wege zu mir selber zu finden. Denn bei dem anderen Menschen weiß ich eines: ihm geht es im Prinzip wie mir. Bei einem Löwen, einem Gewitter, einer Ringelblume kann ich das zunächst nicht wissen. Die sagen nämlich alle nicht „ich“ zu sich selber. Will ich aber finden, wie es zu meinem Schicksal gekommen ist – wie also meine „Weggefährten“ dazu gekommen sind, mir über den Weg zu laufen – reichen die gewordenen Tatsachen nicht. Ich muss ihre Lebenswege kennen lernen. Und genau das kann ich am Anderen lernen: Lebenswege nach zu gehen – an jedem Anderen, gerade auch an denjenigen, die mir nicht so einfach gefallen wollen. Denn ich habe mit jedeem Menschen etwas gemeinsam: den Kern des „Ich“.

Dann finde ich den Weg zu mir selber, dem wirklich Lebenden, durch den Anderen. Jeder ist mir dann eine Chance, zu mir selber zu finden, gerade dadurch, dass ich mich auf ihn einlasse, die Furcht überwinde, mich selber zu verlieren. Denn ich verliere mich, meine Lebendigkeit, mein Leben also, gerade dadurch, dass ich nur auf meinem schon Gewordenen, meiner Vorstellung von mir, meinem „Weggefährten“ beharre, und den Lebendigen in mir darum nicht zu Geltung kommen lasse.

© Stefan Carl em Huisken 2020




Der Weise – Der Krüppel – Was uns bleibt

Ein Triptychon

Der Weise

Geh‘ nun, geh‘, du Frucht des Bösen,
Geh‘ die ersten Schritte selbst.
Sollst die Rätsel selber lösen,
Die du dir vor Augen hältst.

Kannst es nicht? Dir fehlt die Frage,
Die aus dir den Weg gebiert.
Was du selbst dir gibst, das trage
Dass es dich als Krone ziert.

Was aus Leiden und Fragen den Wanderer führt,
Was die Seele in Schmerzen zerreißt,
Die Herzen füllt mit erwollten Plagen –

Das öffnet die Wege, die es dir weist.
Die Wege zu selbst gelebten Tagen:
Das Neue, wie es dem Weisen gebührt.

Der Krüppel

Nur mit Mühe und Schmerzen den Steilpfad empor
Ohne Ziel kriecht zu Berg, der sich selber verlor,
Kann nicht stehen, nicht gehen, nicht leben, nicht sterben.
Doch ist er es, der einstmals den Himmel soll erben.

Kein Gesang, kein verständliches Wort kann die Kehle
verlassen und dringen von Seele zu Seele.
In Verwirrung und ohne ein leitendes Ziel
Durch das Leben sich quälend ist alles zu viel.

Doch ihn treibt unbesiegbare Kraft.
Was er will, kann niemals geschehen.
Er lässt es nicht los, trägt es durch in den Tod.

Sein Blick erschaut, was noch niemand gesehen.
Er kann es fassen, in höchster Not.
Wohl dem, der den Krüppel in sich erschafft.

Was uns bleibt

Was uns bleibt, ist die Mitte, die alles trägt.
Was noch niemand sah, keiner kann oder will,
und doch täglich lebt, ohne Sinn und Ziel,
Aus dem Quell, der alle Taten wägt.

Niemals quellen wilde Taten
Ohne Sinn aus tiefem Schlund.
Immer kannst du selber raten
Was dir zukommt aus dem Grund.

Trage, was weise,
Denke es gut,
Fühle es wesen,
in dir, in mir.

Wer ist es denn, den du fühlst, denkst, trägst?
Schaffst du ihn selber – wer ist sein Gott?
Wer ist sein Herz, sein Leib, sein Geist?
Selbstsein, im Denken, im Fühlen, im Tun?

Im Leiden
Im Tragen
Erstehe.

© Stefan Carl em Huisken 2020




Dämonisierte Zone „Corona“

Die Situation, in die die menschliche Gesellschaft derzeit geraten ist, scheint aussichtslos. Gespalten wie nie ziehen die Parteien übereinander her und bekriegen sich, ohne jede Aussicht auf Verständigung. Jede Seite betont die Schuld der anderen an dieser Situation. Immer ist es die andere Seite, die jede Einigung torpediert, indem sie nicht tut, was man ihr als Vorbedingung jeder Einigung vorschreiben möchte. Das ist die eigentlich gefährliche Seuche, eine „dämonisierte Zone“.

Corona-Gläubige und Corona-Leugner

Die Bezeichnungen, die die Opponenten einander geben, sprechen für sich. Die eine Seite („Gläubige“) weiß natürlich, dass sie recht hat und im Besitz der Wahrheit ist. Daher kann jeder, der dies nicht akzeptieren will, nur ein „Leugner“ sein, jemand, der Tatsachen einfach abstreitet. Und deswegen ist der Vorwurf, „gläubig“ zu sein, ein völlig infamer Angriff – man weiß doch um die Tatsachen. Und die andere Seite weiß eben die Wahrheit auch: dass sich nämlich bei aufrechtem Wahrheitsstreben alles anders darstellt als die andere Seite behauptet, und diese deswegen nur aus „Gläubigen“ bestehen kann. Notabene: Jede Seite befindet sich aus eigener Sicht im Besitz der Wahrheit, die aber der Wahrheit der anderen Seite entgegengesetzt ist.

Die inhaltlichen Argumente, mit denen da übereinander her gezogen wird, können an dieser Stelle beiseite gelassen werden. Wo es zwei Wahrheiten gibt, die sich unversöhnlich gegenüberstehen, nützt eine dritte wenig bis nichts. Einzig die Frage nach der Grundlage der „Wahrheiten“ beider Seiten kann vielleicht helfen, das beiden Seiten Gemeinsame ausfindig zu machen.

Was ist Wahrheit?

Als Wahrheit kann eigentlich nur dasjenige bezeichnet werden, was für jeden Menschen gleichermaßen bei entsprechender Bemühung als Tatsache erkennbar ist. Alles andere sind nur Teilwahrheiten, subjektives Für-wahr-Halten (also Glauben) und damit Grundlagen für einen handfesten Streit.

Nun ist seit Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ die Auffassung zur (fast) alleinherrschenden Lehre geworden, dass die wahre Wirklichkeit (bei Kant das „Ding an sich“) unerkennbar ist für den Menschen. Will man also etwas erkennen, bleibt nur die Möglichkeit, sich etwas über dieses „Ding an sich“ zu denken und dieses durch Beispiele, Belege, Experimente etc. möglichst plausibel zu machen. Wirkliches Wissen entsteht dadurch aber nicht. Es bleibt letztlich nur eines: an das Erdachte, an die so erläuterte Theorie also, zu glauben.

Das menschliche Erkennen unserer Zeit aus dieser Kalamität hinauszuführen, war Intention Rudolf Steiners. Ich habe Aspekte davon in diversen Beiträgen auf meiner Website und anderswo versucht zu verdeutlichen, unter anderem in „Wahrheit, Glaube, Weltanschauung – Wo ist Wirklichkeit?“ und „Was Not tut – Wohin führt die „Krise“?“. Die eingehenden, grundlegenden Darstellungen dazu finden sich bei Rudolf Steiner in seinen Schriften „Wahrheit und Wissenschaft“ und „Die Philosophie der Freiheit“. Darauf kann ich hier nur hinweisen.

Ohne Denken keine Wahrheit

Der Ansatz zur Suche nach der Wahrheit gelingt nur an der Stelle, die für alle Erkenntnis unverzichtbar ist: dem eigenen Denken. Ohne Klarheit darüber, wie das eigene Denken vonstatten geht und wie es in kontrollierte, bewußte Bahnen gebracht werden kann, ist ein Urteil über die Ergebnisse dieses Denkens nicht möglich.

Ganz ungeachtet der Frage, ob wir alles andere erkennen können oder nicht, steht eines für das Denken außer Frage: da wir es selber tun müssen, um es überhaupt untersuchen zu können („Denken über das Denken“), liegt es grundsätzlich in unserer Macht, es so zu lenken, wie wir es wollen. Wir können es, sonst könnten wir es gar nicht bemerken.

Gleichzeitig hat das „Denken über das Denken“ aber auch den Vorzug, dass dafür nichts anderes nötig ist, als das Denken selbst. Alle Voraussetzungen, die wir machen können, sind letztlich – erdacht. Und damit sind diese Voraussetzungen dann offensichtlich von uns selber so gewollt, ebenso wie die dadurch aufgerichteten Schranken für das Erkennen. Oder wir verzichten darauf, solche Voraussetzungen zu machen und versuchen energisch, das Denken nur aus sich selbst zu verstehen.

Das Problem kann an dieser Stelle nicht eingehend bearbeitet werden – allein die Identifizierung des Problems hilft aber im Gang der Darstellung an dieser Stelle weiter.

Wissen und Glauben

Man kann nämlich fragen, inwieweit die heute sich so unversöhnlich gegenüber stehenden Parteien der „Gläubigen“ und „Leugner“ im Irrtum sind, wenn sie davon ausgehen, selber die Wahrheit besser zu kennen als die andere Seite. Beide Seiten behaupten, auf der Grundlage gängiger wissenschaftlicher Modelle und Methoden der Wahrheitssuche zu arbeiten, und beide werfen jeweils der anderen Seite vor, dies nicht oder nicht ausreichend zu tun. Es ist offensichtlich: keiner hat tatsachlich Wahrheit.

Es ist ja kein Wunder, dass eine Einigung so kaum möglich erscheint. Die „Wahrheiten“ beider Seiten unterscheiden sich zu sehr, als dass auf der Ebene der jeweils für wahr gehaltenen Inhalte eine Annäherung möglich wäre. Das Problem liegt darin, wie die beiden Seiten denken, das heißt also auch, wer die einzelnen Akteure des Streites sind und wie sie urteilen. Das eigentliche Problem ist also weniger eines der Inhalte, als eines der Personen und ihrer Denkwege in Bezug auf die Wahrheit.

Person und Verhalten

Nun gehört es ja zu jedem einigermaßen eskalierten Streit, dass die Streitenden auch über die Person des jeweils anderen genauer Bescheid zu wissen vermeinen als der andere selbst. Das sorgt dann dafür, dass der Streit weiter eskaliert, denn es geht auch hier weiter um Inhalte. Jedenfalls macht man die unterstellte Persönlichkeitsstruktur des jeweils anderen zu einem solchen bestreitbaren Inhalt. Allein die Bezeichnungen, die für einander gewählt werden, machen dies deutlich.

Es kann aber niemand wirklich wissen, was auf welche Art und Weise Grundlage der Persönlichkeit des anderen ist. Wir haben als möglichen gemeinsamen Ausgangspunkt nur das dem jeweils anderen gezeigte Verhalten. Das läßt sich beschreiben, und Konsequenzen daraus lassen sich ableiten, auch immer so, dass dabei Interpretationen über mögliche Absichten vermieden werden können (vgl. dazu Dieter Brüll: Der Anthroposophische Sozialimpuls. – Schaffhausen, 1984).

„Bewußtseinslöcher“

Verweigert eine Seite das Gespräch, gibt also auch auf Fragen keine oder für die andere Seite unzureichende Auskunft über Gründe und Anlässe ihres Verhaltens, so sorgt sie dafür, dass auf der anderen Seite „Bewußtseinslöcher“ entstehen, Bereiche also, für die es nur Fragen gibt, aber keine Antworten. Solche „Bewußtseinslöcher“ sind dann Anlaß für Spekulationen, da ja die andere Seite sich das Verhalten nicht anders erklären kann. Und das eigene Verhalten dieser anderen Seite wird sich dann natürlich auch an diesen eigenen Spekulationen orientieren und dadurch dazu neigen, die Tatsachen entsprechend zu deuten.

„Bewußtseinslöcher“ zu schaffen ist daher eines der besten Mittel, Konflikte zu eskalieren, da hierdurch davon abgelenkt wird, die jeweils andere Seite wirklich zu verstehen. Es ist dies also ein Täuschungsmanöver, das den anderen in die Unsicherheit stößt und die eigenen Intentionen verschleiert. Dadurch wird eine Zone geschaffen, die keine der Konfliktparteien beherrscht, die aus dem Bewußtsein entschwindet. Wer darauf aus ist, Konflikte zu eskalieren, kann kein besseres Mittel verwenden. Genau dies kann dann wieder als Vorwurf verwendet werden und Anlaß sein, darüber zu spekulieren, warum jemand an der Eskalation des Konfliktes interessiert sein könnte. Die Sache gewinnt so mit ziemlicher Sicherheit „Fahrt“.

Gleichzeitig ist der Vorwurf an die andere Seite, auf diese Weise eskalierend zu agieren, der letztlich „ultimative“ Vorwurf, um den anderen zum endgültig „Bösen“ zu erklären. Wer „Bewußtseinslöcher“ schafft, will den Konflikt, interessiert sich gar nicht für meine Intentionen und Bemühungen und will mich nur beherrschen! So kann man dann den Vorwurf formulieren. Aber: ist der Wille des anderen ein wirklich von ihm selber ausgehender bewußter, freier Wille? Weiß ich wirklich, was den anderen bewegt? Oder ist das nur meine Spekulation?

Interesse

Das kann ich nicht wissen, solange ich ihn nicht mit wirklichem Interesse danach frage, welche Beweggründe der „Gegner“ hat, und sein Antwortverhalten genau und unvoreingenommen beobachte. Das würde aber einschließen, dass ich meine eigenen Meinungen und Ansichten nicht von vornherein als seinen überlegen ansehe. Denn wirkliches Interesse setzt voraus, dass ich zunächst ohne Vorurteile versuche zu verstehen, was der andere mir sagt. Ich muß also mindestens als möglich ansehen, dass die Aussagen des anderen mich überzeugen.

Wirkliches Interesse scheinen mir heutzutage beide einander bekämpfende Seiten nicht für einander zu entwickeln. Jeder beurteilt das Verhalten des anderen nach seinen eigenen Gesichtspunkten. Und die scheinen sehr verschieden, so verschieden wie die möglichen Haltungen zum Geschehen.

Handelt der eine danach, was er eben denjenigen Wissenschaftlern glaubt, zu denen er – aus welchen Gründen auch immer – Vertrauen hat, und interessiert sich dabei eigentlich gar nicht besonders für die wissenschaftlichen Grundlagen von deren Aussagen, sondern für Handlungsanleitungen, so kann der andere von moralischen Gesichtspunkten ausgehen, die er für alle Wissenschaft als notwendig ansieht, und die er eben im Verhalten der anderen Seite verletzt sieht. Kurzum: der Streit ist sofort wieder auf der inhaltlichen Ebene, der Frage nach der „Wahrheit“ heutiger „Wissenschaft“, die redlicherweise – wie gezeigt wurde – niemals die wirkliche Wahrheit für sich beanspruchen kann.

Der Täuscher

Naturlich kann derjenige, der sich von seinen Vertrauens-Wissenschaftlern leiten läßt, getäuscht werden. Die Folge wird dann sein, dass diejenigen, die die Täuschung darin vermeinen zu erkennen, sofort dagegen halten und beginnen, dem jeweils anderen bewußte Täuschung zu unterstellen – aus welchen Gründen denn auch immer. Und schon ist der Konflikt losgetreten.

Was dabei aber vergessen wird: Beide Seiten denken über die ihnen erscheinenden Tatsachen. Sie denken nur unterschiedlich. Aber da sich beide Seiten nicht bewußt machen, dass ihr eigenes Denken es ist, was ihre Welt- und Menschenauffassung bestimmt, und daher der andere in genau derselben Situation ist, streiten sie sich über Inhalte und versuchen nicht, die Denkwege des jeweils anderen soweit mit zu gehen, dass sie einander verstehen lernen können.

Die eigentliche Täuschung liegt darum nicht im Inhaltlichen, da also, wo vielleicht eine Seite sich von irgendwelchen als wissenschaftlich deklarierten Meinungen verleiten und täuschen läßt und die andere ihre Wahrheits-Moral absolut setzt, sondern vielmehr in der Tatsache, dass beide Seiten sich nicht darüber im Klaren sind, dass es hier offenbar einen dritten Akteur gibt, der die Szenerie beherrscht.

Der dritte Akteur

Dieser dritte Akteur ist auch schwierig zu erkennen, und für Menschen, die „Denken“, „Bewußtsein“ und „Wollen“ eigentlich nur in Bezug auf Menschen für relevant halten, eigentlich unerkennbar – das ist seine Stärke, durch die er überall, wo er auftritt, sofort Zwietracht hervorruft und so dafür sorgen kann, dass niemand ihn bemerkt: man ist zu sehr mit sich selber beschäftigt.

Wer aber zumindest einmal versuchsweise die heute ja „herrschende Lehre“ vom Menschen als einer gewissen Menge strukturierter organischer Masse, die aus mehr zufälligen oder abstrakt-naturgesetzlichen Gründen in sich die Illusion einer selbständigen Wesenheit hervorruft, beiseite legen kann, kommt hier entscheidende Schritte weiter. Es liegt ja auch auf der Hand: die gerade charakterisierte Auffassung vom Menschen ist mittels Denken entstanden und setzt dieses voraus. Alles Begreifen setzt das Denken voraus. Das bedeutet aber auch, dass der denkende Mensch zunächst ein Denkwesen ist, und alle weiteren Aussagen auch über sich selbst nur auf dieser Grundlage treffen kann.

Damit ist aber der äußere Leib des Menschen nicht die Voraussetzung seiner Existenz schlechthin, sondern nur die Voraussetzung seiner Existenz in der sinnlich wahrgenommenen Welt und damit selber eine Wahrnehmung, über die man sich nur mittels den Denkens Erkenntnisse verschaffen kann. Der Mensch ist also Denkwesen, oder – um es für den üblichen Sprachgebrauch handlicher zu sagen – ein Geistwesen, das durch einen Leib in der Sinneswelt lebt. Damit werden aber auch Geistwesen denkbar, die keinen äußeren Leib haben, nicht sinnlich faßbar sind, und dem Menschen daher nur in seinem Inneren, im Denken, Fühlen und Wollen begegnen können.

Solche Geistwesen, die nur durch die Seelentätigkeiten des Menschen in die Menschen-Welt hineinwirken können, nannten die Griechen „Dämon“. Man kann die Konfliktzone, die von einem solchen Wesen regiert wird, darum „dämonisierte Zone“ nennen, ein Ausdruck, den der anthroposophische Konfliktforscher und Konfliktberater Friedrich Glasl prägte. Einen treffenderen Ausdrück sehe ich für das aktuell weltbeherrschende Konfliktfeld nicht (vgl. Friedrich Glasl: Konfliktmanagement. Bern; Stuttgart: 2002, darin v.a. Kap. 2.2, 8.4 und 10.5). Der Konflikt ist völlig entgleist, und keine der Konfliktparteien kann ihn noch aus sich selbst beherrschen.

Weltherrscher

Wer bis hierher hat folgen können, wird leicht einsehen, dass dieser dritte Akteur – der im Übrigen nur durch das Denken auffindbar ist – in beiden Parteien der Menschen wirkt, die sich derzeitig „bekriegen“ („Wir sind im Krieg“, sagte Macron zu Beginn der sogenannten Corona-Krise), und dadurch derzeit die Welt beherrscht. Er verleitet die eine Seite, meist repräsentiert durch dei staatlichen Regierungen, sich von Wissenschaftlern leiten zu lassen, die möglicherweise selber gar nicht wissen, inwieweit sie von irgendwelchen anderen Interessen beeinflußt sind, und inwieweit sie in ihrer Art, Wissenschaft zu betreiben, die keine Wahrheit liefert, von den Einflüsterungen des dritten Akteurs geprägt sind.

Wer Wissenschaft als Mittel ansieht, die Welt möglichst weitgehend den eigenen Interessen nutzbar zu machen, wird nichts Anrüchiges daran finden, deren Ergebnisse einfach zu nutzen und nicht weiter zu fragen. Er lebt gewissermaßen instinktiv eine Art Egoismus aus, ohne Verständnis dafür, wie zerstörerisch das wirken kann. Dabei wird er allerdings nicht darauf aufmerksam, wie der „Täuscher“ schon in der ausschließlichen Orientierung auf die Wissenschafts-Inhalte und im Unberücksichtigt-Lassen der Rolle des Denkens wirkt.

Wer andere Inhalte in den Vordergrund stellt, gemäß seiner Auffassung von Wissenschaft, die seinem eher moralgeprägten Welt- und Menschenbild besser entspricht, der wird das Verhalten des anderen als unverzeihlich ansehen, als unmoralisch und schädlich. Aber er stellt damit seine Weltsicht über die des anderen, gebärdet sich ebenso als Egoist.

Glaubt der eine an den Nutzen von Wissenschaft zum Umgang mit der Welt und sieht darin ihren Zweck erschöpft, stellt der andere seinen Glauben an die Notwendigkeit und Gültigkeit bestimmter moralischer Systeme in den Vordergrund, die er für unverzichtbar hält. Beide scheinen in der Welt unversöhnlich. Beide vergessen jedoch die Tatsachen gleichermaßen: beide sind doch vorhanden, also unbestreitbar tatsächlich vorhandene Menschen. Und diese tatsächlich vorhandenen Menschen müssen Wege finden, miteinander auszukommen, ohne den jeweils anderen zum „Unmenschen“ zu erklären. Das kann nur gelingen, wenn die Rolle des Denkens beim Entstehen jeder Weltanschauung berücksichtigt wird. Im Denken liegt das Verbindende (vgl. Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit. – Dornach, 1973, S. 165 f).

Wahrheit wächst nur gemeinsam

Was not tut, wenn man die derzeitige Situation einer Heilung zuführen will, ist also weder besondere Handfertigkeit im Nutzen von wissenschaftlichen Ergebnissen noch die Einigung auf ein irgendwie übergeordnetes Moralsystem. Notwendig ist vielmehr die Abkehr vom Glauben an Weltanschauungen – eigene und fremde – und die gemeinsame Bemühung, die Tatsachen hinzunehmen und zu verstehen. Und diese Tatsachen sind eben

  • die Notwendigkeit des „Denkens über das Denken“, um die Bedeutung des Gedachten beurteilen zu können
  • die Existenz eines nicht sinnlich wahrnehmbaren „dritten Akteurs“,der vor allem durch die Täuschung wirkt, und dem Menschen die Wahrheit verschleiert, auch und vor allem die Wahrheit des Denkens und damit seiner selbst
  • nützlichkeitsorientierter ebenso wie die moralorientierter Hochmut und Egoismus, die beide nur entstehen, weil das Wirken des Täuschers nicht gesehen wird
  • jeder individuelle Mensch, der unabhängig von seiner Weltsicht, Verführtheit oder Selbständigkeit doch immer Mensch ist und bleibt und als solcher Tatsache ist.

Erkenntnis der Wahrheit kann also nur entstehen, wenn gemeinsam, ausgehend von der für jeden gleichen Situation beim „Denken über das Denken“ daran gearbeitet wird. Da wird vor allem die Wirksamkeit des „dritten Akteurs“, des „Täuschers“ einer ausführlichen Betrachtung unterzogen werden müssen, denn er ist es, der die Menschheit in die Entzweiung treibt, der das Prinzip von „teile und herrsche“ zur Geltung bringt. Er ist sozusagen der „gemeinsame Feind“ der Parteien, der aber selber auch nur überwunden werden kann, indem man ihn nicht zum neuen, vielleicht sogar gemeinsamen „Gegner“ macht, sondern die von ihm beherrschte „dämonisierte Zone“ mit Bewußtsein durchdringt, und ihn nach und nach verstehen lernt.

Eine Art Fazit

Gewiß, man kann sagen, das sei alles bloß erdacht. Ist es ja auch, und gerade deswegen ist es eine Wirklichkeit. Wer fest dabei verharrt, dass es „Akteure“ nur als Wesen aus Fleisch und Blut geben könne, der wird in dem Hinweis auf den „dritten Akteur“ wenig finden können. Selbst wenn man noch zugeben kann, dass so ein Wesen ja von den Menschen subjektiv konstruiert werden kann, um sich die Welt zu erklären und dabei nicht nur tote Naturgesetze aufzustellen, wird man allerdings der Sache nicht gerecht.

Wer Menschen täuschen kann über ihre eigenen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, der Wahrheit nahe zu kommen, wer dies gekonnt nutzt, um die Menschen in Parteien zu zerspalten, so dass sie dabei den Spalter übersehen, und wer den Menschen gerade dadurch die Möglichkeit rauben will, eine Zukunft zu erbauen, die sie selber wollen können, der ist mehr als nur eine Ansammlung toter Gesetzmäßigkeiten.

Und er lenkt den Menschen gerade von dem ab, was ihm am nowendigsten ist: von dem Blick auf die eigene Geistnatur und die damit gegebene Möglichkeit, als Geistwesen unter Geistwesen leben zu lernen. Das ist, was ich all denjenigen zurufen möchte, die weiterhin darauf aus sind, einander zu bekriegen und vor allem die eigene Weltsicht über die des jeweils anderen zu stellen.

Alle Krisen der neueren Zeit lassen sich darauf zurückführen, dass die Menschen nicht bereit sind, aus ihrem unmittelbar-naiven irdischen Erleben bewußt und durch selbst kontrollierte eigene Bemühung im Denken zu einer Erweiterung ihrer Lebens- und Erkenntnismöglichkeiten aufzusteigen. Wer sich nicht bereit macht, für die eigene Zukunft als Geistwesen (das endet ja nicht mit dem Ablegen des Leibes) sich auch einzusetzen, wird diese Zukunft vermutlich nicht haben können; sie entsteht ja nur aus dem bewußten und gewollten Zusammenwirken der tatsächlichen, denkenden Menschen.