Wer ist Mitglied der allgemeinen anthroposophischen Gesellschaft? – Eine Stellungnahme

Vorbemerkung: Für manchen Leser, der mit Fragen der anthroposophischen Gesellschaftsbildung nicht oder wenig vertraut ist, mögen die folgenden Ausführungen seltsam, überflüssig oder unverständlich klingen. In diesem Fall ist es das Einfachste, nicht weiter zu lesen. Falls aber doch Fragen entstehen, kann man sich gerne an mich wenden.

Das Nachdenken über die Existenz oder Nichtexistenz der allgemeinen anthroposophischen Gesellschaft, die zu Weihnachten 1923/24 in Dornach unter der Leitung von Rudolf Steiner begründet wurde, zieht sich ja durch die Jahrzehnte seit diesem Gründungsakt. Daran knüpft sich auch die Frage nach der Mitgliedschaft in dieser Gesellschaft. Der Versuch, diese Fragen nach der heutzutage üblichen Methode der Interpretation vergangener Prozesse anhand von Zeugenaussagen und vorhandenen Dokumenten zu entscheiden, hat vor allem zu Einem geführt: einer Vielzahl möglicher Standpunkte, die mehr oder weniger – meist weniger bis überhaupt nicht – vereinbar erscheinen und sich teilweise heftig bekämpfen.

Meine eigenen Überlegungen und Erfahrungen dazu mögen ja vielleicht für den Einen oder Anderen von Interesse sein, weswegen ich hier eine Art Essenz davon referiere. Dabei muss ich auch einiges Persönliche mitteilen; ich tue dies nur, um daran aufzuzeigen, wie sich die zugrunde liegenden geistigen Verhältnisse gleichsam symptomatisch im Leben aussprechen können.

Mitte der 1970er Jahre mit der Anthroposophie in Berührung gekommen, war ich sofort unheilbar infiziert; die Anthroposophie ist seitdem untrennbares, prägendes Glied meines Lebens. Durch Andreas Delor zur Anthroposophie gebracht, begegnete ich bald eindrucksvollen Persönlichkeiten wie Gerhard Kienle, Heinz und Christel Frankfurt, Christof Lindenau, und dann auch – wiederum durch Andreas Delor vermittelt – Sigurd Böhm, dessen kompromissloses Denken mich zu den eigenen Wurzeln rief, was dann letztlich auch dazu führte, dass ich wieder aus seinem Umkreis entfernt wurde.

Sobald ich von der Weihnachtstagung 1923/24 erfahren hatte, betrachtete ich mich wie selbstverständlich mit denjenigen Menschen geistig verbunden, die daran teilnehmend damals den „Grundstock“ der anthroposophischen Gesellschaft gebildet hatten. In den Schicksalsfügungen, die mich immer tiefer in die Anthroposophie leiteten, sah ich einen Ausdruck des „Willkommensgrußes“ in ihrem Kreis. Dieser „Grundstock“ und die freie Zuordnung des Individuums zu ihm ist für mich eine geistige Tatsache, die unauslöschlich Bestand hat.

Der äußeren Institution – den entsprechenden Vereinen in der Schweiz und in Deutschland – stehe ich sehr distanziert gegenüber. Ich sehe sie als vergängliche Zeiterscheinungen, die mit der geistigen Realität zu einem großen Teil nicht übereinstimmen.

Die Begegnung mit Bernd Lampe führte zu dem Wunsch, an den von ihm geleiteten Hochschulstunden teilzunehmen. Dies war aus den Verhältnissen der Zeit heraus (1990er Jahre) nur möglich durch eine Beitrittserklärung zur Anthroposophischen Gesellschaft und in der Nachfolge durch Aufnahme in die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft auf entsprechenden Antrag.

Weder auf der rosa noch auf der blauen Karte steht irgendein Hinweis auf den Charakter der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft oder der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland als Verein, d.h. einer äußeren Institution, die der jeweils am Ort gültigen Rechtsordnung unterworfen ist. Auch die damals verwendeten Beitrittsformulare enthielten solche Hinweise nicht. Inwiefern stillschweigendes Einvernehmen zum Beitritt in solche Vereine von irgendwem vorausgesetzt wurde, vermag ich nicht zu sagen. Mein Einverständnis zu einem entsprechenden Vereinsbeitritt habe ich jedenfalls niemals gegeben.

In der Folge habe ich nach meinen Möglichkeiten Beiträge an den für mich relevanten Zweig Friesland geleistet; diese Beiträge waren von mir so gewollt und bedurften keiner Mitglieds- oder Finanzordnung irgendeines Vereines.

Das gesamte Szenario von Fragen um die Mitgliedschaft begann zu brodeln, als Anfang der 2000er Jahre finanzielle Unregelmäßigkeiten im Verein der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland auftauchten. In der Folge suchte und fand ich Möglichkeiten, Beiträge auch wirtschaftlicher Art zu demjenigen zu leisten, was mir als der geistige Sinn der anthroposophischen Arbeit in der Gesellschaft vorschwebte.

In einem Briefwechsel mit verschiedenen Personen im Arbeitszentrum Nord, in der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland und im Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft in Dornach wurden dann einige Feststellungen getätigt, die von niemandem ausdrücklich bestritten wurden:

  • Ich bin Mitglied der am 28. Dezember 1923 begründeten Anthroposophischen Gesellschaft und auf dieser Grundlage Mitglied der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft.
  • Ich bin niemals Mitglied eines anthroposophischen Vereines – weder im ehemaligen Bauverein (heute AAG e.V. in der Schweiz) noch im Großverein AGiD e.V. in Stuttgart geworden. Insofern konnte ich auch dort nicht austreten, und satzungsgemäße Rechte und Pflichten dieser Vereine betrafen und betreffen mich nicht.

Bemerkenswert ist, dass in vielen der Schreiben immer wieder die Frage der finanziellen Mitgliedsbeiträge in den Vordergrund gerückt wurde. Ist die Mitgliedschaft in der Anthroposophischen Gesellschaft für die Verfasser solcher Schreiben vorrangig eine Frage finanzieller Art? Dieser Eindruck konnte dabei entstehen.

Die Mitgliedschaft in der anthroposophischen Gesellschaft, die ja nach Rudolf Steiners Worten nichts mit Vereinsmäßigem zu tun habe, entsteht also durch den freien Zusammenschluss von Individuen, dessen Vollzug äußerlich durch eine Mitgliedskarte dokumentiert ist. Ein Ausscheiden kann daher ebenso nur im Einvernehmen erfolgen, weswegen die ursprünglichen Statuten auch keinen Ausschlußparagrafen enthielten. Bei einem äußeren Verein, dessen Interessen als irdisches Rechtsinstitut ja über den Interessen des einzelnen Mitgliedes rangieren können, ist ein solcher Ausschluss möglich.

Bezüglich eines Ausschlusses aus der Freien Hochschule muss die Frage aufgeworfen werden, welche der jeweils am Goetheanum tätigen Personen sich als fähig und berechtigt ansehen konnte bzw. kann, einen solchen Schritt als Massnahme der Leitung der Hochschule wirksam zu vollziehen. Soweit ich weiß, hat Rudolf Steiner vor seinem Hingang keinen Nachfolger benannt. Wer kann also hier in seinem Sinne handeln?

Die Begründung der anthroposophischen Gesellschaft durch den „Grundstock“ zu Weihnachten 1923/24 ist also eine geistige Tatsache, die nicht ausgelöscht werden kann. Die nachträgliche Zuordnung eines individuellen Menschen zu diesem „Grundstock“ (einschließlich derjenigen, die ihm nachträglich angewachsen sind) ist eine Frage des freien Individuums an diesen „Grundstock“; eine lebenswirksame Antwort kann der heutigen Situation entsprechend (viele der ursprünglichen Mitglieder des „Grundstockes“ haben ihr irdisches Leben bereits beendet) nur auf dem Wege von Schicksalsfügungen im Leben des fragenden Menschen gegeben werden. Einzelne oder mehrere Vertreter irgendeines Vereines können wohl Mitwirkende in solchen Schicksalsfügungen sein (z.B. Unterschriften auf Mitgliedskarten leisten), niemals aber ohne das Einverständnis des Betroffenen, allein aus ihren Gesichtspunkten heraus, die Ergebnisse solcher Fügungen für ungültig erklären.

Kurzum, mir scheint in der gesamten Diskussion um diese Fragen oftmals die Unterscheidung zwischen geistigen Tatsachen, die aufgrund wirksam vollzogener Handlungen entstanden sind, und äußeren Verwaltungsakten, die doch – wenn sie als voll berechtigt gelten wollen – immer nur Ausdruck geistiger Realitäten sein können, nicht klar genug zu Bewusstsein gebracht zu werden.

Nur der Vollständigkeit halber sei zum Abschluss darauf hingewiesen, dass Rudolf Steiner vielfältig und immer wieder darauf aufmerksam machte, dass geistige Initiativen, wenn sie zu irdischen Institutionen werden, verkannt werden und sich in ihr Gegenteil verkehren müssen. Beides gut voneinander zu unterscheiden, und die äußere Institution, wenn sie ihrem Zweck nicht mehr angemessen dient, aufzugeben oder wenn möglich gänzlich neu zu fassen scheint für manche Menschen schwer oder gar nicht denkbar. Notwendig könnte es trotzdem sein.

© Stefan Carl em Huisken 2022


Wahnsinn und Denken MItglied der anthroposophischen Gesellschaft

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart habe ich dargestellt in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Wahnsinn und Denken – neues Buch erscheint in Kürze

Cover Wahnsinn und Denken

In Kürze wird im Ch. Möllmann Verlag mein neues Buch „Wahnsinn und Denken – Der Kampf um den Menschen“ erscheinen, das sich mit den Fragen und Aufgaben beschäftigt, die den Menschen weltweit im Zusammenhang mit der sogenannten „Corona-Pandemie“ ins Bewusstsein drängen.

„Es entstand aus dem Wunsch, der allgemeinen und zunehmenden Desorientierung und Verwirrung, die durch die Vorgänge im Zusammenhang mit der sogenannten „Corona-Pandemie“ ausgelöst wurde, einen klaren Denkweg entgegen zu stellen, der für jeden Menschen nachvollziehbar ist, ausgehend von unmittelbar erlebbaren Tatsachen. Nur so – war der Gedanke – kann zu einer Beurteilung der Ereignisse gefunden werden, die nicht nur eine weitere Theorie dem Streit der Parteien hinzufügt. Es musste daher von Grundtatsachen ausgegangen werden, die jeder einigermaßen Gutwillige unmittelbar und gleichermaßen einsehen kann. (…)

Der Anlass für die Ausarbeitungen dieses Buches ergab sich in einem kleinen Arbeitskreis, in dem ich seit mehr als zehn Jahren regelmäßig meist monatlich Vorträge gehalten habe. Als im Zuge der diversen „Corona-Verordnungen“ solche Zusammenkünfte zu verbotenen Aktivitäten gemacht wurden, musste von der Darstellung von Mund zu Ohr abgewichen werden und zu schriftlichen Ausarbeitungen übergegangen werden. Ein solches Vorgehen ist natürlich sehr viel aufwendiger als ein mündlicher Vortrag; was sich dort aus dem lebendigen Miteinander ergeben kann, musste nun in allen Einzelheiten der viel größeren Anonymität des Geschriebenen angepasst werden. Dabei wurde allerdings schnell deutlich, dass damit auch den Anforderungen an eine Veröffentlichung entsprochen werden kann.“
(aus dem Vorwort).

„Vielleicht ist es ja möglich, hiermit einen Beitrag zu größerer Ordnung und Verantwortung im Umgang der Menschen miteinander, mit der Erde und der gemeinsamen Zukunft beider zu leisten.“ schließt das Vorwort ab.

Das Buch erscheint mit Hardcover, Fadenheftung, 116 Seiten im Mai im Verlag Ch. Möllmann zum Preis von 15 €. ISBN 978-3-89979-335-2
Es kann ab sofort => hier oder per Email an info@emhuisken.de bestellt werden.




Das Erscheinen des Christus im Ätherischen und die Erkenntnisaufgabe des Menschen durch Anthroposophie

Vorbemerkung

Einmal mehr scheint es erforderlich, auf den besonderen Charakter von Texten aufmerksam zu machen, die nicht einfach äußere Tatsachen nachbildend beschreiben wollen, sondern demgegenüber die (auch die äußeren Tatsachen) umfassende Wirksamkeit des lebendigen Geistes im Menschen zur Geltung bringen wollen, indem sie auf das in sich selbst schaffende Denken als grundlegende Tatsache jeder wahrhaften Erkenntnis hinweisen.

Solche Texte sollen also Hinweise sein auf dasjenige, was erkannt werden soll. Die Erkenntnis bleibt dadurch frei und in die Verantwortung des einzelnen Lesers gelegt. Nicht anders darf heutzutage der Versuch gemacht werden, Wahrheit zur Geltung zu bringen. Priester und Gläubige, also steuernde, auch manipulierende – weil wissende – Eliten und von ihnen abhängige „Gemeinden“ gibt es heutzutage genug, in sogenannter „Wissenschaft“ ebenso wie in Parteien, Konfessionen, Ideologien überall auf der Welt. Weitere davon sind ebenso unnötig, wie die Überwindung der bestehenden not-wendig.

Anthroposophie, anthroposophische Geisteswissenschaft geht vom Menschen aus – von jedem Einzelnen also, der sie will – und braucht deswegen keine „esoterischen Eliten“.

Als ein solcher Hinweis auf erkennbare Wahrheit ist auch dieser Text intendiert. Er ist vorläufiger Abschluss und auch Zusammenfassung einer Reihe von Artikeln, auf die im Folgenden wo erforderlich hingewiesen wird. Ihre Kenntnis ist daher in gewisser Weise vorausgesetzt; sie sind alle über meine Website www.emhuisken.de/uebersicht-beitraege-geisteswissenschaft/ verfügbar.

Ausgangspunkt Mensch

Ausgangspunkt anthroposophischer Geisteswissenschaft ist der Mensch, wie er als irdisches Wesen sich selbst erkennen kann. Dieser Mensch ist zunächst im heutigen alltäglichen Leben vereinzelt, von allen anderen getrennt, denn er ist umgeben von einer nur ihm erscheinenden Welt („niemand kann durch die Augen eines Anderen sehen“), mit der er in einer nur für ihn individuell möglichen Weise umgeht. Niemand anders kann dies genauso wie dieser eine Mensch, denn nur dieser eine Mensch hat dabei seinen eigenen individuellen Entwicklungsgang zugrunde liegen, in diesen oder jenen Erlebnissen, Erkenntnissen und Strebensrichtungen.

Genau in dieser Tatsache, die ja jeder einigermaßen denkwillige Mensch leicht einsehen kann, und die die Menschen in maximal möglicher Art von einander trennt, besteht aber auch ihre größte Einigkeit: ausnahmslos jeder Mensch ist als irdisches Wesen in genau dieser Situation. Sieht man diese Gemeinsamkeit und Gleichheit aller Menschen ein, dass nämlich jeder Mensch in seiner Weltsicht – seiner „Welt-Anschauung“ – etwas hat, was nur für ihn gilt, und das universelle, alle Menschen umfassende Element daher zunächst nicht in der Welt, auch nicht in der Welt der Vorstellungen und Theorien über den Menschen, seine Seele, seinen Geist zu finden ist, sondern als lebendige, in jedem Augenblick sich erneuernde Tatsache seines individuellen Umganges mit seiner Welt-Anschauung im sich selbst beobachtenden Denken, – sieht man dies als ausnahmslos allen Menschen eigene Wahrheit ein, so ist damit ein Anfang gemacht zur Überwindung des in unserer Zeit ausufernden Streites der Weltanschauungen.

Damit ist aber auch ein Schritt getan zum Ersetzen des Glaubens an eine irgendwie gewordene Weltanschauung durch ein wahres Wissen von Tatsachen; der erkennende Mensch tritt dadurch im Ansatz wiederum – nun bewusst – ein in den Ausgangspunkt der Erkenntnis.

Die Grundsituation ebenso wie die Folgen für ein wahres Erkennen, die sich aus diesem menschlich-realen Ausgangspunkt ergeben, sind ja bereits ausführlicher ausgeleuchtet worden; hier mag daher der Hinweis darauf genügen.1

Erkenntnis-Aufgabe unserer Zeit

Rudolf Steiner spricht von ferner Zukunft, wenn er sagt:

Das wird eine Zeit sein, in welcher die Menschen in weit höherem Grade als heute eine gemeinsame Weisheit haben werden, sozusagen in gemeinsame Weisheit eingetaucht sein werden. Es wird beginnen etwas davon, daß man empfinden wird, daß das Ureigenste des Menschen zu gleicher Zeit das Allgemeingültigste ist. Das, was man im heutigen Sinne als individuelles Gut des Menschen auffaßt, ist noch nicht ein individuelles Gut auf einer hohen Stufe. Heute ist mit der Individualität, mit der Persönlichkeit des Menschen noch im hohen Grade verknüpft, daß die Menschen sich streiten, daß die Menschen verschiedene Meinungen haben und behaupten: Wenn man nicht verschiedener Meinung sein dürfte, würde man ja kein selbständiger Mensch sein. Gerade weil sie selbständige Menschen sein wollen, müssen sie zu verschiedenen Meinungen kommen. Aber das ist ein untergeordneter Standpunkt der Anschauung. Am friedlichsten und harmonischsten werden die Menschen sein, wenn der einzelne Mensch am individuellsten sein wird. Solange … gibt es Meinungen, die voneinander verschieden sind. Diese Meinungen sind noch nicht im wahren Innersten des Menschen empfunden.

Heute gibt es nur einige Vorläufer für die im wahren Innern empfundenen Dinge. Das sind die mathematischen und geometrischen Wahrheiten. Über die kann man nicht abstimmen. Wenn eine Million Menschen Ihnen sagen würde, daß 2 x 2 = 5 ist, und Sie sehen es selbst im eigenen Innern ein, daß es 4 ist, so wissen Sie es, und Sie wissen auch, daß die anderen im Irrtum sein müssen – geradeso, wie wenn jemand behauptete, daß die drei Winkel eines Dreiecks nicht zusammen 180 Grad betragen.

Das ist Manas-Kultur, wenn immer mehr empfunden werden die Quellen der Wahrheit in dem stark gewordenen Individuellen, Persönlichen des Menschen und wenn zu gleicher Zeit das, was empfunden wird als höhere Wahrheit, auch von Mensch zu Mensch übereinstimmt wie die mathematischen Wahrheiten. In diesen stimmen die Menschen heute schon überein, weil das die trivialsten Wahrheiten sind. In bezug auf die anderen Wahrheiten streiten sich die Menschen, nicht weil es über dieselbe Sache zwei verschiedene richtige Meinungen geben kann, sondern weil die Menschen noch nicht so weit gekommen sind, das alles zu erkennen und niederzukämpfen, was an persönlicher Sympathie oder Antipathie sie trennt. Würde bei den einfachen mathematischen Wahrheiten noch die eigene Meinung in Betracht kommen, so würden viele Hausfrauen vielleicht dafür stimmen, daß 2 x 2 = 5 ist und nicht 4. Für den, der tiefer in die Natur der Dinge hineinsieht, ist es eben unmöglich, über die höhere Natur der Dinge zu streiten, es gibt nur die Möglichkeit, sich dazu hinaufzuentwickeln. Dann trifft die Wahrheit, die in der einen Seele gefunden ist, genau zusammen mit der Wahrheit in der anderen Seele; dann streitet man nicht mehr. Und das ist die Gewähr des wahren Friedens und der wahren Brüderlichkeit, weil es nur eine Wahrheit gibt, und diese Wahrheit hat wirklich etwas zu tun mit der geistigen Sonne. Denken Sie einmal, wie die einzelnen Pflanzen ordentlich wachsen; jede Pflanze wächst der Sonne zu, und es ist nur eine einzige Sonne.“2

Die Grundlagen dafür zu legen, indem wir in der völligen Vereinzelung aufmerksam werden auf den allen Menschen gleichen Quell des sich selbst als lebendige Tatsache erkennenden Denkens im Umgang mit der Welt, das ist die Aufgabe unserer Zeit. Sie bereitet vor, was einst in der Zukunft als allen Menschen eigene Wahrheits-Erkenntnis in immer weiteren Kreisen das Leben prägen kann.

Wollen wir eine solche Wahrheits-Wissenschaft erreichen, tun wir gut daran, zunächst die Wege dazu durch unser tätiges Denken zu ergründen. Diese Wege beginnen immer dort, wo wir auf die erste uns als Menschen zugängliche rein geistige Tatsache aufmerksam werden: die Tatsache des individuellen, durch unser Denken von uns selbst gestaltbaren Umgangs mit unserer immer von derjenigen aller anderen Menschen verschiedenen konkreten Welt. Diese Tatsache ist nur duch das Denken selbst fassbar, und darum rein geistig.

Individuelles Selbst-Bewusstsein

Ein so sich darlebendes individuelles Bewusstsein des Menschen von sich selbst ist keineswegs dem Menschen vom Anbeginn gegeben. Es erfordert die qualvoll erlittene Einsicht in die Unvollkommenheit der jedem Menschen in seiner Vereinzelung gegebenen Mittel. Diese Mittel können den Menschen nicht zu einer Überwindung derjenigen Probleme führen, die eben durch die Vereinzelung – und ihre Nutzung durch kundige Eliten für ihre eigenen Zwecke! – entstehen.

Wo nämlich der Mensch dem leidvollen Erleben seiner eigenen Erkenntnis-Ohnmacht (der Wahrheit gegenüber) zu entfliehen versucht, indem er alte (Glaubens-)Bindungen durch neue, vermeintlich selbst gewählte ersetzt, macht er sich selber zum Spielball derjenigen, die solche Selbst-Aufgabe als Grundlage ihrer selbstsüchtigen Macht schätzen. Macht lebt auch vom Glauben der (scheinbar) Ohnmächtigen.

Die Einsicht, dass auch die äußere Macht sich nur solange ungehindert entfalten kann, wie die einzelnen zunächst scheinbar „Ohnmächtigen“ ihr auch innerlich glauben, muss auf lange Sicht den Bestand der äußeren Macht zersetzen. Ist man genötigt, in der äußeren Wirksamkeit einen Kompromiß zu schließen, so muß man sich dessen bewußt werden und nicht in leichtfertiger Weise darüber hinwegreden. Man muß sich ruhig sagen: Der Gewalt muß selbstverständlich gewi­chen werden. Aber man muß nicht bei sich selber in der Erkenntnis Kompromisse schließen. Man muß nicht glauben, daß das richtig ist, was man tut unter dem Einfluß der Gewalt.3

Das individuelle Selbst-Bewusstsein in der Selbst-Erkenntnis zu pflegen als Vollzug der Aufgabe unserer Zeit, gegenüber allen Widerständen und Hindernissen, die uns die äußere Gewalt immer wieder aufzuzwingen sucht, legt also den Grund für die von Rudolf Steiner angedeutete Zukunfts-Kultur der Wahrheit.

Die Sprache der Ohnmacht

Bedingung dafür ist und bleibt die Einsicht des einzelnen irdischen Menschen in seine ganz grundsätzliche Ohnmacht, im Rahmen seiner persönlichen Welt-Anschauung wirkliche Wahrheit zu erkennen. Erst die Not, in die durch diese Tatsache Mensch und Welt ganz allgemein versetzt sind, kann im Einzelnen ein Aufwachen für sich selbst als Gleicher unter Gleichen im Rahmen der Menschheit als ganzer erwirken.4

Der Mangel an Macht bei den meisten Menschen, der Wirklichkeit die eigenen Wünsche aufzuzwingen, steht einer ungeheuren Konzentration der Macht in den Händen Weniger gegenüber, die sie derzeit vor allem dazu nutzen, Welt und Menschen ihren eigenen, persönlichen Wünschen und Auffassungen zu unterwerfen. Aber – wie gezeigt – Macht basiert auch auf Glauben. Und die Abkehr von diesem Glauben weckt die Kraft im Menschen, in sich selber die Wahrheit immer energischer anzustreben.

Die Macht Einzelner durch die Macht der Masse bekämpfen zu wollen, ist ein Unterfangen, das der zwangsweisen Ent-Individualisierung durch die Gewalt gewisser Eliten die freiwillige Unterwerfung der Masse unter einen allgemeinen Primat der unbeschränkten Geltung äußerer Macht unterwirft. Provokant ausgedruckt, ist das eine Art Selbst-Aufgabe: „Danke, deinen mächtigen Zwang zur Vermassung brauchen wir nicht. Das können wir freiwillig besser.“ Denn jede Masse, die als Macht auftreten will, muss sich dabei einem für jedes ihrer Glieder gleichen Ziel unterwerfen – also einer Ideologie zum Beispiel oder dem Glauben daran, das „Gute“, das den eigenen Interessen diene, werde sich schon finden, wenn nur erst die andere, die „böse“ Macht zerstört sei.

Es ist aber durch die Selbst-Ermächtigung des Individuums zur Einsicht in erste universell für alle Menschen geltende Lebens-Tatsachen bereits die Axt gelegt an jede Realisierung äußerer Macht im herkömmlichen Sinne. Auch die jetzt scheinbar „Mächtigen“ sind Menschen, auch für sie gilt die heutzutage prinzipielle Ohnmacht des irdischen Individuums. Ihre Macht ist bloß geliehen von denjenigen Einflüssen oder Wesen, denen sie dienen.

Diese Wesen leben in der Regel nicht begrenzt in einem einzelnen Menschen, sondern benutzen nur ihre Anhänger, die sich im Geiste ihnen anschließen. Für sie zählt ein Mensch nur so viel, wie er ihnen nützt. Man kann sie als Geistwesen ansehen, die den gläubigen Menschen steuern.5 Sie verlieren ihre Macht dort, wo der Mensch aufhört zu glauben, und sich den Tatsachen des Lebens in Wahrheit zuwendet. Sie wirken ungehindert nur dort, wo sie unerkannt bleiben. Verführer und Lügner können nur im Verborgenen ihre Ziele erreichen. Werden sie erkannt, müssen sie ihren Einfluss verlieren.

Die Einsicht in die weitreichende, grundsätzliche Ohnmacht jedes Einzelnen – auch des Anderen, scheinbar „Mächtigen“ – ermöglicht den Blick auf den Keim der Wahrheit in jedem Menschen, auch des Verführtesten. Verstehen wir also diese Sprache der Ohnmacht recht: jede Machtausübung – einzeln, in der Gruppe, in der entindividualisierten Masse – verletzt die Freiheit des sich entfaltenden Individuums, bei mir oder beim Anderen, das ist aufs Ganze gesehen einerlei (wenn auch für den Einzelnen manchmal unerträglich). Soll aber Freiheit in die Zukunft hinein erst allumfassend werden (wohlgemerkt: Freiheit, nicht egoistische Unabhängigkeit von allen Einschränkungen beim Erfüllen irdischer Wünsche), muss sie gewollt und gepflegt werden.

Neue Einsicht

Die Einsicht(smöglichkeit) in diese Ohnmacht ist neu, und sie folgt auf das vollständige Ohnmächtig-Werden aller Naturerkenntnis durch das heute fast unumschränkt herrschende materialistische Dogma des: „Nur die materielle Außenwelt ist wirklich. Leider haben wir darüber kein Wissen, nur Theorien.“

Dass solche Art von Wissenschaft mehr Probleme hervorruft als sie löst – insbesondere kann sie die selbstgeschaffenen Probleme nicht lösen (sic!) – ist spätestens seit dem Aufkommen der Atomkraft offensichtlich. In unserer Zeit treibt besonders der Versuch, das Denken gänzlich der äußeren Welt zu übereignen durch die Auslagerung aller wesentlichen gesellschaftlichen Entscheidungen auf Computermodelle vielfältig giftige Blüten. Es bleibt aber der monumentale Satz von Lewis Mumford in seinem umfangreichen Werk „Mythos der Maschine“ unumschränkt gültig: „Kein mechanisches System (also auch kein Computer als System der Mechanisierung des Denkens, Anm. EH) kennt die Bedeutung von Bedeutung“6

In unsere Zeit übersetzt ist damit auf die Tatsache verwiesen, dass die allen Menschen gleiche Grundsituation der Vereinzelung und Erkenntnisohnmacht – die ja die allen Menschen gleiche Grundwahrheit ist – selbstverständlich von keinem Computer bemerkt werden kann. Wo sich aber der Mensch nicht zur Selbst-Erkenntnis aufschwingt, ermächtigt er das Welt-Maschinenwesen zum Herrscher über die Menschen, der dann aber bar jeder moralischen Einsicht ausschließlich nach den Gesetzen der außermenschlichen Welt – eben maschinell – regiert.

Was ist der Grund dafür, dass wir Menschen uns vom bloßen Erleiden der Ohnmacht zur Selbst-Erkenntnis aufschwingen können, mit allen Folgen für das Welterkennen, wie sie bereits in vorangehenden Artikeln beschrieben wurden?7 Diese Selbst-Erkenntnis gibt uns den Schlüssel zur Freiheit, zur Selbst-Befreiung von den Zwängen altüberkommener, geglaubter Weltanschauungsinhalte, Glaubenssätze und Ideologien.

Erst dadurch kann der Mensch lernen, sich auf sich selbst zu stellen.

Die Einsicht in die Bedeutung des Denkens als geistige Tatsache, die sich ihrer selbst im Menschen bewusst wird, ist von Rudolf Steiner am Ende des 19. Jahrhunderts in Gedankenform fürmuliert worden (vgl. seine Bücher „Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“, Wahrheit und Wissenschaft“ und „Die Philosophie der Freiheit“) und Anfang des 20. Jahrhunderts durch die weitreichende Veröffentlichung ehemals geheimgehaltener geistiger Tatsachen der äußeren Entwicklung der Menschheit einverleibt worden. Seitdem können wir davon wissen, damit umgehen und uns daran selber weiterentwickeln.

Dass wir erst dadurch als heutige Menschen wieder in die Lage kommen, uns selbst, den heutigen Menschen und seine Situation überhaupt – einschließlich aller Irrtümer und Zerstörungen – als notwendiges Glied einer sinnvollen Entwicklung zu erkennen, ist ja in den bisherigen Darstellungen vielfach aufgewiesen worden.8 Was also ist dann das Auftreten Rudolf Steiners im Rahmen dieses Entwicklungsprozesses?

Anthroposophische Bewegung

Die anthroposophische Geisteswissenschaft als menschheitsgeschichtliche Tatsache trat zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins öffentliche Bewusstsein Mitteleuropas (und der Welt). Die in Gedankenform gefasste Grundlegung aus dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts (vgl. vorigen Abschnitt) war zuvor nahezu unbemerkt und unverstanden einfach unberücksichtigt geblieben.

Erst mit dem Anknüpfen an altüberkommene esoterische Überlieferungen gewann Aufmerksamkeit, was Rudolf Steiner zu sagen hatte. Wenn man das äußere Wachstum der anthroposophischen Bewegung ins Auge fasst, kann es scheinen, als ob dabei das Erlangen von Anerkennung durch die hergebrachten Gesellschaftsformationen von Vielen als wichtigstes Zeichen eines Gelingens dieser geisteswissenschaftlichen Bewegung angesehen wurde. Die Denkweise der Macht, die äußere Anerkennung als Grundlage braucht (da sie keine Wahrheit in sich trägt), wurde offenbar auch auf die Anthroposophie angewendet – man wollte mitspielen im Kampf um die Lenkung der Menschheit.

Rudolf Steiner hat diese Haltung vielfach und jederzeit wieder auf das Schärfste abgelehnt und jede Bestrebung, durch die anthroposophische Geisteswissenschaft sich zahm in den Kanon hergebrachter Theorien über Welt und Mensch einreihen sollte, unmißverständlich als zerstörerisch und der Anthroposophie entgegengesetzt gekennzeichnet.9 Das liegt ja auch auf der Hand, ist doch jeder Gedanke an äußere Machtausübung der unbedingten Wahrheitsverpflichtung der Geisteswissenschaft abträglich.

Rudolf Steiner wollte nur durch die Wahrheit wirken, die Wahrheit im Sinne des Maßstabes, in dem sich das Denken in der Selbstbeobachtung selbst erschafft, oder – anders ausgedrückt – im Sinne des Maßstabes, der sich aus der Betrachtung der Evolution von Mensch und Welt als Selbsterschaffungsprozess des göttlichen Urgrundes in der Selbsterkenntnis ergibt.10

Dieser eigentliche Kern der Anthroposophie ist unabhängig von äußeren Machtfaktoren, zielt er doch eigentlich darauf, die diese äußere Macht steuernden geistigen Wesenheiten kennenzulernen und in ihrem Chor selbstbewusst mitzuwirken. Dieser Kern ist vielfach verraten worden, zu Rudolf Steiners Lebenszeit ebenso wie danach, bis heute. Er ist dennoch unzerstörbar, als eine Tatsache der Menschenentwicklung, die ein für alle Mal Bestandteil der Menschheit geworden ist.

Manchmal bekommt man den Eindruck, als ob gerade in Zeiten, in denen der Druck von Außen immer stärker wird, gleichzeitig – oft im Verborgenen und nur bei wenigen Menschen – die Besinnung auf das Wesentliche immer umfassender wird, ganz im Sinne der oben skizzierten „Sprache der Ohnmacht“.

Wozu Geisteswissenschaft?

Wenn nun die anthroposophische Geisteswissenschaft nicht einfach eine Bewegung wie viele andere ist (auch und schon gar nicht die endgültige, alles klärende ultimative Wahrheitslehre!) – was ist sie dann? Welche Bedeutung hat diese Geisteswissenschaft im Rahmen des Ganzen von Mensch und Welt?

Dies zu klären, hat – wie Rudolf Steiner selber immer wieder und häufig genug betonte – allein diese Geisteswissenschaft selbst die Möglichkeit in unserer Zeit. Nur sie selber entspringt dem universellen Wahrheitskriterium, das ins Bewusstsein zu bringen sie immer wieder zu ihrem Ziel gemacht hat.11 Das entspricht der Einsicht, dass eben nur das Denken selbst die Möglichkeit hat, seine eigene Bedeutung zu erkennen.

Wenn also die Denkwege des sich selbst erkennenden denkenden Menschen sich in den Entwicklungswegen der Menschheit wiederfinden können, so erkennen sie sich selber dadurch als wahr.

Zeichnen wir diese Entwicklungswege noch einmal nach:

Aus dem schaffenden – grundlos schaffenden, d.i. liebenden – Göttlich-Geistigen entsteht die geistdurchglühte Welt, in ihr der Mensch als dasjenige Wesen, das dem Gotte zum Bilde werden soll, und darum dessen liebende Schöpferkraft als Möglichkeit in sich schließt. Das Menschenwesen entwickelt seine Kräfte zunächst unter der Leitung der göttlichen Weisheit. Soll es aber eigenschöpferisch werden, also lieben lernen, so muss es frei werden und dafür zunächst alle vorgefasste Weisheit verlieren; sie würde – bliebe sie dem Menschen erhalten – die Voraussetzung wirklicher Liebe, nämlich seine Freiheit schmälern. Der irdische Mensch hat heute alle überkommene Weisheit verloren; aus der Sehnsucht nach dem Verlorenen heraus kann er zunächst nur spekulieren und experimentieren.

Damit nun nicht die äußere Erdenwelt gänzlich verloren gehe – sie ist ja nötig, damit der Mensch in seiner Ohnmacht darin sich selber finden kann – tritt das zentrale göttliche Wesen ins irdische Dasein und erleidet den irdischen Tod. Wie der Mensch, wenn er durch den Tod geht, eins wird mit demjenigen, was er im Leben als sein „Außen” ansah, mit den Urgründen der irdischen Welt also, eint sich im irdischen Gottestod das göttliche Wesen mit dem Wesen der Erde, dem irdischen Sein, demjenigen also, was – vom göttlichen Gesichtspunkt aus – das „Außen“ ist. Seit diesem Zeitpunkt des Mysteriums von Golgatha ist das Göttliche als Christusprinzip im Irdischen auffindbar.

Der Mensch, der die göttliche Weisheit verloren hat, sich also in einer gott- und geistlosen Welt erlebt, kann dieses Christus-Ereignis aber nur verstehen, wenn er Wege findet, sich die göttliche Weisheit aus sich selbst wiederum zu erringen. Das ist Intention der Anthroposophie, der „Weisheit vom Menschen“, derjenigen Weisheit also, die vom Menschen ausgeht.

Das Menschheits-Ereignis verstehen

Indem nun das göttliche Wesen sich mit dem irdischen Sein verbunden hat – wo ist es dann dort zu finden? Ganz sicher nicht in der gott- und geistlosen Erscheinungswelt, die den einzelnen individuellen Menschen heutzutage als seine „Welt-Anschauung“ umgibt. Das allumfassende göttliche Wesen kann nur dort erscheinen, wo ein Allumfassendes, Universelles waltet: im individuellen, ohnmächtigen Menschen also, der sich selbst erkennt.

Dies ist durch die Zeit in vielfältigster Weise von den Menschen angestrebt worden seit dem Eintreten des Mysteriums von Golgatha: sich selbst erkennen, den Christus in sich finden. Dieses Streben ist aber seit langer Zeit, bis heute, geprägt von alten, überkommenen Verhaltensweisen des Menschen.

Die enthusiasmierten, von Resten alter Weisheit noch nicht gänzlich freien Urchristen, die Askese mittelalterlicher Mönche ebenso wie die mystische Versenkung einzelner Weiser waren eines nicht: getragen von einem gänzlich selbst errungenen Urverständnis des Zentralereignisses der Menschheitsentwicklung, des Mysteriums von Golgatha. All diese Menschen hatten auf andere Weise – aus empfundener Nachfolge Christi, aus durch Kultus und Versenkung vermittelter innerer Schau oder auch durch den Glauben an die Gültigkeit der Lehren, die die Priester verbreiteten zur Rechtfertigung ihres eigenen Daseins als Elemente der „Kirche Gottes“ – ein Verhältnis zu dem gefunden, was für sie „der Christus“ war.

Ein wirkliches Verständnis für das Christus-Ereignis kann erst derjenige gewinnen, dem alle Reste alter Traditionen nichts mehr bedeuten, über den all diese Einflüsse keine Macht mehr haben, und der daher nur noch aus sich selbst heraus Leben in die geist- und gottlosen Vorgänge der Welt bringen kann. Das ist der Mensch unserer Zeit.

Rudolf Steiners Leben

Wie in einem einzelnen Menschen konzentriert erscheint im Leben Rudolf Steiners, was den Menschen fehlt, um sich zur Selbstbeobachtung im Denken aufzuschwingen. In alle Lebensgebiete hinein wirkte das, was durch Rudolf Steiners irdisches Wirken den Weg fand in das Leben der Menschen. In schier unglaublicher Weise wirkte die Person Rudolf Steiner inspirierend und weckend auf diejenigen, die zeitweise oder auch länger in seinem Lebensumfeld sein konnten.

Diese direkte Art des Wirkens, im irdischen Dasein, wurde darum auch von selbst den nächsten Freunden und Mitarbeitern Steiners als das Eigentliche der Anthroposophie gesehen, als dasjenige, worauf es ankam. Im direkten Mitleben des irdischen Wirkens schwand vielleicht bei Manchem der Gedanke an die Frage, welches Verhältnis dieses irdische Wirken zum geistig fassbaren Entwicklungsgang der Menschheit haben könnte.

Wenn Rudolf Steiner immer wieder beteuerte, nur durch die anthroposophische Geisteswissenschaft, niemals durch irgendein „Glauben“ könne wirklich verstanden werden, wovon er spreche, und insbesondere dasjenige, was er als das Mysterium von Golgatha benannte, sei nur durch diese Geisteswissenschaft zu verstehen, dann folgten seine Zuhörer seinen Gedankengängen und – glaubten ihnen. Wie sollte es angesichts einer solchen Persönlichkeit wie Rudolf Steiner auch anders sein?

Oft genug wies Rudolf Steiner darauf hin, dass selbständige anthroposophische Forschungen nötig seien, und stellte alles, was auf diesem Gebiet, meist durch einige wenige Menschen seiner nächsten Umgebung geschah, als Vorbild vor seine Zuhörer hin.

Eine ungeheure Fülle von Anregungen ging von ihm aus, die zu verarbeiten seine Umgebung bis weit über ihre Möglichkeiten forderte. Wer kann es den Menschen verdenken, dass sie nicht wirklich daran dachten, was geschehen solle, wenn dieser schier unerschöpfliche Quell versiegt?

Der Übergang

Dies Versäumnis zeigte seine Folgen unmittelbar nach dem Tode Rudolf Steiners. Was er durch sein unermüdliches Wirken zusammengehalten hatte, zerbrach schnell, wenn es auch einige Zeit brauchte, bis dies Zerbrechen ins Bewusstsein der Beteiligten trat. Und ebenso schnell, wie die Streitigkeiten zwischen vorher einmütig zusammenarbeitenden Menschen eskalierten, wurde aus der anthroposophischen Bewegung etwas, was Rudolf Steiner niemals wollte: eine Institution, in der die Leitenden glaubten – jeder für sich, oftmals untereinander streitende Fraktionen bildend – für die Gesamtheit entscheiden zu müssen.

Wie in der Vergangenheit in der katholischen Kirche entstand in der geisteswissenschaftlichen Bewegung schnell eine Art „Kastensystem“ aus „einfachen“ und „besseren“ Anthroposophen, die nur durch eines zusammengehalten wurden: den gemeinsamen Glauben an die Mission der Anthroposophie innerhalb der Menschheitsentwicklung.

Was aber war eigentlich geschehen? Derjenige Mensch, der das grundlegende Erkenntnisproblem seiner Zeit einer Lösung zuführte in seinen frühen Werken (vgl. oben, Abschnitt „Neue Einsicht“) und niemals aufhörte zu beteuern, dass alles, was er später gesagt oder geschrieben hatte, von dem dort, ganz zu Anfang formulierten Gesichtspunkt zu erschließen sei; derjenige Mensch, der jahrhunderte-, ja jahrtausendelang geheim gehaltenes Mysterienwissen rückhaltlos veröffentlichte, weil jede Geheimhaltung die nunmehr notwendige Freiheit des Menschen beeinträchtigt – dieser Mensch war aus dem irdischen Dasein in diejenige Welt übergegangen, die er selber als seine geistige „Außenwelt“ beschrieben hatte.

Was er als Keime für ein Verständnis des Mysteriums von Golgatha aussäte in seinen Schriften und Vorträgen, war nun auf dem Wege, Gemeingut der Menschheit zu werden.

Dass es in der Folge immer wieder Menschen gab, die die Aussaat-Tätigkeit Rudolf Steiners meinten nachmachen zu müssen, zeigt nur, wie wenig verstanden wurde, was er tat.

Liebe und Freiheit

Etwas Neues war dem Menschheitsbewusstsein übergeben worden: die Möglichkeit, nicht nur äußerlich von dem Mysterium von Golgatha zu wissen, sondern es in allen Einzelheiten aus eigener Kraft zu verstehen. Allerdings war diese Möglichkeit eine solche, die allen überkommenen Denkgewohnheiten der Menschen widersprach. Verstehen kann bei einem solchen Ereignis nämlich nicht bedeuten, alle Einzelheiten zu wissen, als Erkenntnisinhalte aufzuspeichern und ansonsten dabei der gleiche Mensch zu bleiben wie vorher. Verstehen erfordert hier ein inneres Mitgehen mit dem Gang der Menschheitsgeschichte, damit verbunden dem übenden Nachvollziehen der dafür erforderlichen Denkbewegungen aus derjenigen Kraft heraus, die erst aus der vollständigen Geistverlassenheit der Mensch sich selber erringen kann.12

Ein lebendiger irdischer Mensch, dem wir folgen können, wird immer diejenigen mitreißen, die dies wollen; er kann sich selber noch so viel dagegen wehren. Rudolf Steiner hat dies leidvoll erfahren müssen.

Ein wirklich selbsterrungenes Verständnis für das, was Rudolf Steiner als das unserer Zeit so Nötige bezeichnete, das Verständnis für das Mysterium von Golgatha also, es konnte erst verbreitet auftreten, als die irdische Person, die dieses Verständnis zu wecken angetreten war, nicht mehr auf dem physischen Plan wirken konnte. Erst dann war für jeden, der dies wollte, wirklich vollständige Freiheit gegeben – sie hat ja als Voraussetzung die ohnmächtige Vereinzelung in der geistverlassenen Welt.

Der Vortragende Rudolf Steiner, der ursprünglich nicht wollte, dass das gesprochene Wort festgehalten würde, musste es der Unvollkommenheit seiner Zuhörer zugeben, dass die Mitschriften doch geschahen und dann auch veröffentlicht wurden. Diese Vorträge waren ja immer an ein bestimmtes Auditorium, niemals an die allgemeine Öffentlichkeit gerichtet. Was von Anfang an für die Öffentlichkeit bestimmt war – die Schriften Rudolf Steiners also – sie sind nun dasjenige, durch das wir mit seinem Wirken in unmittelbare Berührung kommen können. Sie sind aber zugleich derjenige Teil seines Wirkens, der am meisten Nichtbeachtung und Ablehnung gefunden hat.

Man erlebt die Texte als zu „schwer“, zu „unverständlich“, zu „kompakt“, manchmal auch „zu schwülstig und unnötig kompliziert“ – nun, das sollten sie wohl sein, denn sie sind aus demjenigen Geist heraus geschrieben, der für jeden Menschen, die „Öffentlichkeit“ also, zu einem Erüben des geistigen Grundereignisses des Menschen führen sollten: der liebenden Zuwendung zum Menschen in seiner Entwicklung. Bereits in der Vorbemerkung wurde ja auf den besonderen Charakter solcher Texte hingewiesen.

Liebe setzt Freiheit voraus; ist sie durch irgendetwas vorbestimmt, so wird sie zum „Haben-Wollen“ oder „Etwas-erreichen-wollen“. Liebe zum sich entwickelnden Menschen – im einzelnen, individuellen Menschen ebenso wie in der Menschheitsentwickelung als Ganzer – will nur diesen Menschen fördern, so, wie er sich selber entwickelt. Diese Liebe kann ebenso ausgehen von jedem Einzelnen wie vom Menschheitsgott, dem menschgewordenen Gott im Christus, durch jeden Einzelnen.

Christus im Ätherischen

Wenn Rudolf Steiner vom Erscheinen des Christus im Ätherischen spricht, so spricht er davon, dass dasjenige göttliche Wesen, das einst durch den Gang durch den Menschentod sich mit der Erde vereinigte, nunmehr im Lebendigen erscheint, in den Lebensprozessen, die im Menschen durch innere Bemühung in inneren Bewegungsbildern aufsteigen können. Die Bedingung dafür ist das Aufschwingen zur Selbstbeobachtung im Denken in der Weise, wie es hier und in vorangegangenen Darstellungen umschrieben wurde.

Die Erscheinung des Christus im Ätherischen ist also identisch mit dem denkenden Verstehen-Lernen gegenüber dem Mysterium von Golgatha. Wird uns beim Denken über die Menschheitsentwicklung, und darin über das Mysterium von Golgatha, die Zeit zum Raum, lernen wir, dies in uns selbst als Bewegungsbild der eigenen Entwicklung denkend zu durchlaufen, so erleben wir den Gang des Christus durch den Tod als den verstehenden Gang des in der Zeit lebenden sich entwickelnden Denkens durch den selbstgewollten Tod unseres gewordenen Weltwissens.

Rudolf Steiner sprach immer wieder davon, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Erscheinung des Christus in der ätherischen Welt anheben sollte. Er meinte damit sicherlich keine visionären Gestalt-Erscheinungen, Licht-Offenbarungen oder dergleichen. Er wird wohl von der Erscheinung der geistigen Wirklichkeit des Christus, die im Entwicklungsgang des sich selbst beobachtenden Denkens besteht, gesprochen haben.

Rudolf Steiner kann insofern als eine Art „Gesandter“, „Vorbereiter“, „Verkündiger“ oder auch „Auslöser“ dieses Christus-Ereignisses des 20. Jahrhunderts angesehen werden.

Er starb in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, am 30. März 1925. Seitdem wirkt er in der geistigen Welt, in derjenigen Welt, in der wir alle als Geistwesen leben. Durch ihn sind wir in der Lage, uns zu demjenigen inneren Erleben aufzuschwingen, in dem die Erscheinung des Christus im Ätherischen ins sich selbst verstehende Bewusstsein treten kann.

© Stefan Carl em Huisken 2021


1 Vgl. z.B. „Den Anderen nach-denken hilft“, vor allem aber „Vom Sterben in den Geist

2 Rudolf Steiner: Das Johannes-Evangelium. GA 103. – Dornach, 1995. S. 174f. Der darin enthaltene Ausdruck „Manas-Kultur“ deutet auf eine zukünftige menschheitliche Entwicklungsepoche hin, in der das alle Menschen einigende Geistige prägend werden soll.

3 Rudolf Steiner: Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen, GA 192.Dornach 1964, S. 354

4 Im Zusammenhang mit der proletarischen Bewegung seiner Zeit wies Rudolf Steiner immer wieder darauf hin, dass das Berechtigte dieser Bewegung gerade darin zu finden ist, dass der Proletarier im Vergleich zu anderen, Besitzenden oder sozial Protegierten eben ein Mensch ist, der im irdischen Leben nichts als sich selbst hat, um damit sein Leben zu fristen, und daher gezwungen ist, sich ganz auf sich selbst zu stellen. Vgl. z.B. Rudolf Steiner: Neugestaltung des sozialen Organismus. GA 330. – Dornach, 1983, in fast jedem in dem Buch enthaltenen Vortrag.

5 vgl. z.B. meinen Artikel „Dämonisierte Zone Corona“ unter https://emhuisken.de/daemonisierte-zone/. Der Text kann dort als .pdf-Datei heruntergeladen werden.

6 Lewis Mumford: Mythos der Maschine. Frankfurt, 1978, S. 108

7 vgl. diverse Artikel auf meiner Website, u.a. „Den Anderen nach-denken hilft“, „Der Spiegel des Individuellen – Den Anderen nach-denken II“, „Aufwachen für das Kommende“, „Vom Sterben in den Geist“, „Der individuelle Mensch als Ausdruck und Bedingung einer geistigen Welt“, „Vom Einswerden mit der geistigen Welt“. Eine Übersicht über alle Artikel mit geisteswissenschaftlichen Inhalten findet sich hier: https://emhuisken.de/uebersicht-beitraege-geisteswissenschaft/

8 vgl. Anmerkungen 5 und 7

9 Es gibt dazu derartig viele Aussagen Rudolf Steiners in seinen Vorträgen, als dass ein einzelnes Aufzählen an dieser Stelle überhaupt sinnvoll scheinen könnte. Vgl. vor allem die Vorträge aus dem Jahr 1923.

10 Vgl. Der individuelle Mensch als Ausdruck und Bedingung einer geistigen Welt, auch in: Die Lahnung, Mitteilungen für individuelle Entwicklung und Lebenskunde, Nr. 4, 2021, S. 12 ff

11 Vgl. Anmerkung 10

12 Vgl. Anmerkung 10




Europa braucht etwas Anderes

Das technokratische Wissenschafts-Dogma

Fast überall herrscht es, kaum widersprochen: das Dogma von der universellen Alleingültigkeit der heutigen Form materialistischer Wissenschaft und der aus ihr abgeleiteten Technik als Problemlöser. Dogma nenne ich diese Ansicht, weil sie umfassende Alleingültigkeit für sich in Anspruch nimmt, Glaube also fordert, und jede abweichende Ansicht daher auszurotten versucht.

Beherrschender Aspekt dieser Sichtweise ist die daraus abgeleitete Auffassung, dass das rein materiell-biologische Dasein unbedingten Vorrang vor allem anderen hat; denn alles andere ist ja materialistisch nicht messbar, nicht in dieser Wissenschaft erfassbar – allenfalls noch durch umfangreiche Statistiken zu Wahrscheinlichkeiten zu verdichten – und daher eigentlich gar nicht wirklich. Der Mensch ist dann mehr oder weniger eine Art „wirtschaftender Automat“1, der eben auf der Erde herumgeht, und dort durch seine wirtschaftliche Tätigkeit die Grundlagen für seine Existenz schafft. Das Wirtschaftliche, da für den materiell fassbaren Leib am wichtigsten, ist darum für den Menschen das Vorrangige.

Zwei Varianten – China und die USA

Von dieser Ansicht gibt es zwei in unserer Zeit sehr gegensätzlich scheinende Varianten: die westlich, vor allem amerikanisch geprägte, und die östliche, die sich in einer Extremform zur Zeit in China zeigt. Geht die westliche Form davon aus, dass das Optimum an Erfolg für den Menschen herauskommt, wenn jeder Einzelne möglichst ungehemmt über einen Teil der Erde verfügen kann, den man als „Privatbesitz“ bezeichnet, und das Zusammenleben der Menschen sich auf diese Art und Weise nach den Gesichtspunkten des „freien Spiels der Kräfte“ mehr zufällig ergibt, geht die östliche Variante den anderen Weg, der das Wirtschaften stramm Top-Down aufgrund vorab festgelegter ideologischer Kriterien für den Bedarf der einzelnen Menschen regelt, und daher menschliche Freiheit nur insofern zum Tragen kommen kann, als sie die vorrangige Wirtschaftsorganisation nicht stört.

Wie verderblich beide Varianten sind, kann man leicht einsehen: man schätzt die Zahl der Todesopfer der chinesischen Kulturrevolution, die letztlich ja die Grundlage schuf für die heutige Situation auf ca. 20 Millionen Menschen ein; andere Schätzungen, die die Wirkungen auf umliegende asiatische Staaten und die Verbrechen von deren Regimes einbeziehen, kommen auf 70 Millionen. Das amerikanische Wirtschaftsmodell hat durch die Betonung der Freiheit des wirtschaftenden Menschen die Tendenz hervorgebracht, immer mehr und mehr produzieren zu wollen und damit begrenzte natürliche und menschliche Ressourcen zu verbrauchen, was wiederum die Konkurrenz zwischen Menschen und Staaten auf der Erde immer mehr verschärft, so dass dieses System eigentlich ohne ständige Kriege gar nicht bestehen kann. Die Millionen Menschen, die durch diese Kriege getötet wurden, sind schwerer zählbar, aber sie werden wohl mindestens das Maß der chinesischen Kulturrevolution erreichen.

Am heutigen Zustand unserer Welt kann man also sehen, wohin eine solche einseitige Sicht auf den Menschen führt. Wo nur das Biologisch-Materielle zählt, haben moralische oder auch einfach das Seelisch-Geistige des Menschen berücksichtigende Ansichten keine Bedeutung. Der „Glaube“ an die Materie macht alle Wissenschaft nach und nach zwangsläufig vollkommen a-moralisch. Und diese Weltanschauung, die uns durch ihre Wissenschaft und Technologie in die Krisen der heutigen Zeit gebracht hat, soll die Probleme jetzt auch lösen? Aber andere Lösungswege kennt sie ja nicht.

Streit um die Weltherrschaft

Die beiden Systeme – so will ich sie einmal nennen – streiten sich nun schon seit Aufkommen der materialistischen Wissenschaft um die Weltherrschaft. Vorbereitet hat sich das seit dem 15. Jahrhundert, so richtig Fahrt aufgenommen hat es seit dem 18. Jahrhundert.

In England kam der Ökonom Adam Smith auf den Gedanken, das der wirtschaftende Mensch gerade dann, wenn er seine egoistischen Eigeninteressen verfolgt, am meisten für die Gesamtheit leistet; die „unsichtbare Hand“ des Marktgeschehens regele das, ganz unabhängig vom Menschen. Die westliche Form materialistischer Weltgestaltung ging aus solchen Gedanken hervor; sie ist vor allem von England, später Amerika als den mächtigsten Akteuren propagiert worden.

Karl Marx legte den Schwerpunkt auf die durch die ökonomischen Verhältnisse geschaffenen Ungleichheiten der Menschen, woraus sich mit der Zeit das Konzept des Klassenkampfes und der „Diktatur des Proletariates“ ergab, das immer größere zentral verwaltete Volkswirtschaften ergab. Die wirtschaftlich mächtigste Variante davon gibt es heute in China, getragen von einem religiös anmutenden Glauben an die ideologische Führung, entstanden in der chinesischen „Kulturrevolution“ unter der Führung Mao-Tse-Tungs..

In unserer Zeit ist die Kriegführung nach und nach auf andere Methoden als ausschließlich den „heißen“ Krieg mit Waffen verfallen. Die Konkurrenz zwischen den USA und China um den Einfluss in der Welt liegt ja auf der Hand; derzeit hat dabei offenbar China „die Nase vorn“. Die sogenannten „Lockdowns“ sind eine Sache, die gleich zu Beginn der derzeitigen „Pandemie“ von China aus propagiert wurden. Zu keinem Zeitpunkt wäre man in China allerdings darauf gekommen, gleich ganze Länder mit Lockdowns zu überziehen; das war dort immer eine spektakulär propagierte lokale Massnahme in China. Die Welt hat das System verallgemeinert übernommen.

So hat man es nun erreicht, dass die Staaten der Welt sich von Lockdown zu Lockdown hangeln und dabei ihre Wirtschaft, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und ihre gesamte Lebensform zerstören. Mit dem Effekt, dass alle Länder geschwächt werden, nur China nicht – das hat mit diesen Dingen längst aufgehört, oder bietet hin und wieder eine gut durchkalkulierte, in jeder Hinsicht verkraftbare Propagandaaktion, mit Abriegelungen, riesigen Desinfektionsspritzen und derlei mehr. Heutzutage führt man eben Informations- oder besser Propaganda-Kriege.2

Europa zwischen den Blöcken

Wir hier in Mitteleuropa sind bisher ja vor allem unter dem Einfluß der westlichen, Egoismus-orientierten Modelle regiert worden. Nun kommt Europa durch die ausgedehnte Propaganda von Seiten Chinas in die Lage, mittels des harten Lockdown-Regimes deren Gesellschaftssystem zu kopieren, das mit den eigenen Lebensbedürfnissen aber nichts zu tun hat. In China mit seiner ganz anderen Geschichte, auch gewachsenen Mentalität der Menschen, mag so ein System, wenn es zusätzlich immer nur lokal angewandt wird, funktionieren. Je weiter man nach Westen kommt, desto schlechter funktionieren die Lockdowns. Nur, wo man China in der Unerbittlichkeit, auch des gewaltsamen Zwanges noch übertrifft, in Neuseeland und Australien zum Beispiel, kann man mit einem solchen Modell leben. Das sind im Übrigen auch Inselstaaten, die sich problemlos nach außen abriegeln lassen.

Dass Lockdowns nicht funktionieren in Europa, hat unterschiedliche Gründe. Zum einen wohl ganz praktische: ein ausgemachtes Transitland wie Deutschland zu Beispiel, von den unterschiedlichsten anderen Staaten umgeben, mit langen, für alle „normalen“ Lebensgewohnheiten notwendig offenen Grenzen und im Übrigen vom Export lebend, kann solche Abriegelung gar nicht realisieren. Also wirkt sie dann auch nicht.

Aber es gibt auch noch ganz andere Gründe: beide Ideologieen, die des Westens und die des Ostens, passen nicht zu den Menschen, die hier leben. Weder der ausgeprägte, auf den Eigennutz zentrierte Egoismus als herrschendes Gesellschaftsprinzip wie in Amerika, noch die erzwungene und engmaschig überwachte Unterordnung unter ein von oben herab verordnetes sogenanntes „Wohl des Ganzen“ wie in China können die Menschen bei uns auf die Dauer zufriedenstellen. Zu stark ist immer auch die andere, die Gegenfraktion. Und so ergehen sich die Menschen in dauernden Streitereien, so dass sie keine Kraft finden können, etwas Eigenes den beiden übermächtigen Einflüssen entgegen zu stellen.

Einerseits versucht man, in der derzeitigen „Pandemie“ zugunsten der besseren Regierbarkeit das Unterdrückungs- und Überwachungssystem Chinas zu kopieren, andererseits aber wird gerade dies dann vor allem von mit Europa verflochtenen Großkonzernen des Westens genutzt, um ins Irreale steigende Profite zu erwirtschaften. Ja, man findet in der kleinen Gruppe von Superreichen sogar, dass die Gelegenheit zu tiefgreifenden Umgestaltungen der Wirtschaft zum eigenen Nutzen jetzt gerade besonders günstig ist. So wirken bei uns beide einträchtig zusammen: Das Unterdrückungssystem Chinas zerstört durch die Lockdowns unseren gesellschaftlichen Zusammenhang, und unter diesem Deckmantel setzt man von der anderen Seite zum ultimativen wirtschaftlichen Ausrauben an. Von freiem europäischem Geist keine Spur.

Man sieht, was letztlich auf derselben Basis – der materialistischen Weltanschauung im Bunde mit dem technokratischen Wissenschaftsdogma – an ganz verschiedenen Orten der Erde, im Westen und im Osten, ganz unterschiedliche Gesellschaften begründet, wirkt für Europa gerade zusammen, und umfassend zerstörend.

Und was dann?

Schon nach dem sogenannten „ersten Weltkrieg“ wies Rudolf Steiner darauf hin, dass in Europa und davon ausgehend dann in der ganzen Welt etwas Anderes geschehen müsse3. Die Gesellschaftsverfassung seiner Zeit zeigte bereits, was wir heute bis ins Extrem getrieben vorfinden: wirtschaftliche Macht, die die Staatsstrukturen unter ihre Kontrolle bringt, und auf diesem Wege das von Staat gänzlich kontrollierte Geistesleben (Wissenschaft, Bildung, Kultur) ebenfalls seinen Wünschen unterordnen kann. Was Not tut – so wurde er nicht müde zu betonen – sei eine völlige Trennung dieser Bereiche des Wirtschaftlichen, des Geistig-Kulturellen und des Rechtlich-Staatlichen, anzufangen mit einer Befreiung des Geisteslebens aus den Zwängen des Staates. Dann könnten Deutschland und Europa ihren eigenen Beitrag zur positiven Entwicklung der Welt leisten: die richtige Mitte zu finden zwischen dem übermächtigen Zwang der Ideologie (China) und der Orientierung am individuellen Egoismus (Amerika) als eigenen Weg.

In China herrscht durch die allumfassende Ideologie ein völlig einseitiges Geistesleben; in den USA (und Großbritannien, ansonsten überall in Europa infiltriert) ein alles beherrschendes, vom wirtschaftlichen Egoismus geprägtes Wirtschaftsleben. Was aber den Menschen in seinem Zentrum betrifft, im sozialen Leben der Gesellschaft, das also, was wir auch „Staat“ zu nennen pflegen, ist nur noch Instrument – entweder für die Ideologie, oder für die Interessen von Wirtschaftsmächten.

Es wäre gut, wenn sich im Herzen Europas, dort, wo sich in der Schweiz einst eine erste Art Basisdemokratie gründete, und wo aus Deutschland eine ungeheuer wirksame Kulturblüte das Leben der Welt veränderte und bereicherte, möglichst bald und möglichst kräftig ein eigener Weg zum Regeln des menschlichen Zusammenlebens finden ließe. Rudolf Steiners Überlegungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts haben an Aktualität nichts eingebüßt, im Gegenteil. Die Probleme, die er damals sah und zum Anlass seiner Ausführungen machte, sind bis heute in immer wieder gesteigerter Form als Zertrümmerer von Kultur, Kunst, Bildung, Wissenschaft, ja, als allgemeiner Zerstörer jeder geistigen Entwicklung überhaupt zutage getreten. Aber es sind eben immer noch dieselben Tendenzen, und sie brauchen daher immer noch Lösungsansätze, wie sie Rudolf Steiner schilderte.

© Stefan Carl em Huisken 2021

1Vgl. Rudolf Steiner: „Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physischen des Menschen“, GA 202, Dornach, 1993. S. 116 ff

2Eine sehr ausführliche und äußerst umfangreich belegte Stellungnahme zur Rolle Chinas in der Pandemie von einer Gruppe renommierter US-Anwälte gibt es hier in deutscher Übersetzung https://www.wodarg.com/app/download/9041427014/Der%20globale%20Lockdownbetrug%20der%20CCP.pdf?t=1610370568. Das englische Original mit allen Quellenangaben hier: https://ccpgloballockdownfraud.medium.com/the-chinese-communist-partys-global-lockdown-fraud-88e1a7286c2b

3Vgl. zum Beispiel Rudolf Steiner: Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft. Erstausgabe 1919, diverse Auflagen Dornach, Rudolf Steiner Verlag




Verbotener Spaß, erlaubte Pflicht – die Katastrophe unserer Zeit

Der Anlass

„Der Spaß ist verboten, die Pflicht erlaubt“, so fasste ein Freund den Charakter der in immer neuen Wellen auf uns hereinstürmenden Regeln „zum Infektionsschutz“ zusammen. Ein schlichter Satz, der aber symptomatisch hinweist auf tiefgründige Unterlagen der derzeitigen Ereignisse.

Nehmen wir diesen Satz doch einmal genauer unter die Lupe, „sine ira et studio“, also ganz nüchtern, und ohne auf gewiss vorliegende Sympathien und Antipathien Rücksicht zu nehmen. Was sagt er eigentlich genau?

Pflicht und Spaß

„Pflicht“ ist etwas, was dem Einzelnen auferlegt ist, „insbesondere auch das …, was von einer äußeren Autorität oder durch ein Gesetz von jemandem gefordert wird und Verbindlichkeit beansprucht“ (Wikipedia). Es trägt also den Charakter des nicht frei Gewählten, das ggf. auch die Möglichkeiten, Befindlichkeiten und Strebensrichtungen des Einzelnen unberücksichtigt lässt. In dem obenstehenden Satz also ganz offenbar vor allem Dinge, die eher unangenehm sind, keinen Spaß machen. Und genau das bezeichnet der Satz als „erlaubt“.

Im Wort „erlauben“ liegt in der Vorsilbe „er-“ die Bedeutung von „etwas hervorbringen“ darinnen, im Sinne von „etwas erschaffen“. Und im „-laubt“ steckt das loben, das gutheißen. Das Wort spricht also eigentlich davon, dass etwas hervorgebracht wird durch loben und gutheißen, und ist urverwandt mit dem altindischen Wort lōbháyati ‚erregt Verlangen, lockt an‘. Was erlaubt ist, sollte also eigentlich, der Wortbedeutung nach, wohl etwas Sympathisches sein, etwas, was man niemandem als „Pflicht“ auferlegen muss. In dem untersuchten Satz klingt das etwas anders. Die Formulierung scheint widersprüchlich, lässt aufhorchen.

Was Spaß ist, erklärt sich von selbst. Und wenn verboten ist, was Spaß macht, ist das ganz klar eine unsympathische Angelegenheit, da gibt es nicht viel zu verhandeln. Das Wort „bieten“ verbindet noch im mittelhochdeutschen die Bedeutungen für „anbieten, darreichen“ und „gebieten“ oder „befehlen“.

Mit der Vorsilbe „ver-“ ist die Verneinung verbunden, das Vergehen von etwas, ganz im Gegensatz zum „er-“ im Erlauben.

Der ganze Satz enthält also klar ein Über- und Unterordnungsverhältnis, in dem der eine dem anderen vorschreiben kann, was er in diesem Fall zu lassen hat: „Spaß“ nämlich, und was ihm „erlaubt“ ist, die Pflicht nämlich, das heißt das Gehorchen.

Freiheit und Selbstbestimmung

Warum so eine Sprachbetrachtung? Nun, sie differenziert genauer, was man normalerweise sowieso fühlt bei einem solchen Satz. Und diese Differenzierung weist auf Tieferliegendes hin. Nämlich darauf, dass wir in der Regel die Pflicht nicht lieben, den Spaß aber sehr wohl. Das hat seinen Grund darin, dass die Pflicht eben etwas ist, was nicht von uns selber ausgeht, was wir also in der Regel nicht frei gewählt haben. Der Spaß taucht hier als das Gegenteil auf, als das, was wir also selber, von uns aus wollen können.

In dem Satz spricht sich also der Freiheitswille des Menschen aus und die Empfindung, dass nur, was diesem Willen entspricht, auch eigentlich wirklich „Verlangen erregt“ und „anlockt“, und darum eigentlich „erlaubt“ sein sollte.

Darin spricht sich eigentlich die ganze Tragik unserer Zeit aus. Warum sind wir so darauf aus, vor allem Spaß zu haben, also angenehme Erlebnisse, und empfinden schon beim Worte „Pflicht“ eher etwas säuerliches, Ungeliebtes? Es gab doch Zeiten, da haben Menschen die Pflicht als heilig angesehen, also als etwas, was der Mensch aus sich selbst heraus anstrebte, wollte, und darum auch Freude an der Pflichterfüllung haben konnte. Warum ist das heute so anders? Warum sind die „Pflicht“ und der „Spaß“ so etwas Gegensätzliches geworden?

Charakter unserer Zeit

Ich will in diesem Text – auf diese Feststellung lege ich Wert – nicht irgendwen oder irgendetwas verurteilen, kritisieren oder dergleichen. Ich will nur beschreiben, um ausfindig zu machen, wie sich in allerkleinsten Dingen des Alltags ganz Grundsätzliches, für die Erkenntnis unserer Zeit Bedeutendes aussprechen kann. Darum auch solche scheinbar nutzlosen Sprachbetrachtungen; der Sinn wird sich gleich schon zeigen.

Dass „Pflicht“ und „Spaß“ für uns Gegensätze sind, weist auf ein Charakteristikum unserer Zeit hin: wir arbeiten, um die nötigen Ressourcen zu haben, um dann – zu leben, also Spaß zu haben. Die Arbeit ist in der Regel eher notwendiges Übel. Deswegen gelten ja Musiker und Künstler zum Beispiel vielfach nicht als „arbeitende Menschen“, denn sie machen ja bloss, „was ihnen Spaß macht“, tun also nichts Ernsthaftes, Bedeutendes. Arbeit ist eben Pflicht, und wir beneiden diejenigen, die ohne Arbeit genug haben für ihren Spaß1. Muss das eigentlich so sein?

Es hat seinen Grund in der Art und Weise, wie unsere Arbeit, unser schaffendes Tun in der Welt also, in die menschliche Gesellschaft eingeordnet ist. Arbeit gilt ja bei uns als etwas Käufliches, als Kostenfaktor bei Unternehmern, als in seinem Wert durch den „Markt“ bestimmt. Wenn man die Arbeit also billiger kriegen kann, nimmt man sie natürlich da. Nur: Arbeit gibt es niemals ohne den Menschen, der sie leistet. Der muss dann immer mit der Arbeit mitgehen. Er kann sie nicht auf dem Markt verkaufen, dann nach Hause gehen und den erlangten Erlös genießen. Er muss seine Lebenszeit dafür hingeben. Bei den alten Griechen kaufte man die ganzen Menschen als Sklaven. Im Mittelalter gab es Leibeigene. Und heute eben „Arbeitskräfte“, was mindestens für die gekaufte Lebenszeit nicht viel Unterschied macht zum Leibeigenen und Sklaven. Die Auffassung von der menschlichen Arbeit als Ware – käufliches Gut also – verletzt die Würde des freien Menschen; das fühlt heutzutage wohl fast jeder, und diese Empfindung liegt der Ungeliebtheit der Arbeit zugrunde.

Gleichheit im Recht

Jeder Mensch, der etwas arbeitet, gibt der Welt und allen anderen sein eigenes Leben hin, seine Zeit, seine Kraft, oft auch seine Gesundheit. Das gilt für alle Menschen gleich, und auf dieser Grundlage müsste eigentlich rechtlich geregelt werden im Hinblick auf die vorhandenen gesellschaftlichen Bedürfnisse, das heißt auf die in einer Region insgesamt nötige Arbeit, wie viel, wie lange und unter welchen Umständen jeder seinen Beitrag zu Ganzen zu leisten hat. Und eine solche rechtliche Regelung müsste selbstverständlich so getroffen werden, dass jeder Einzelne bei dieser Regelung betroffen ist und mitwirken kann, d.h. dass das, was er für andere fordert immer auch genauso für ihn selber gilt – also einfach demokratisch2.

Und genauso müssten natürlich auf rechtlicher Grundlage jedem, der etwas für die Gesamtheit schafft, auch die nötigen Mittel gegeben werden: Werkzeuge, Maschinen, Grund und Boden, was auch immer. Es ist doch eigentlich, bei näherer Betrachtung nichts weiter als ein völliger Unsinn, wenn jemand davon sprechen will, er habe einen Teil der Erde – also Grund und Boden – als sein persönliches Eigentum, mit dem er machen kann, was er will. Genauso wie der Mensch ja mitgehen muss, wenn seine Arbeit gekauft werden soll, was der heute immer intensiver empfundenen Menschenwürde widerspricht, soll mit dem Eigentum an Grund und Boden etwas Unmögliches getan werden: ein Stück Erde isoliert und vom Rest der Welt unabhängig gekauft und verkauft werden.

Besitz und Eigentum

Leider ist aber genau das heutzutage die Regel: die Menschen meinen, die Erde gehöre ihnen, und sie könnten damit machen, was sie wollen. Die Erde selber, und bei rechter Überlegung auch jeder klar denkende Mensch kann davon eigentlich nicht erbaut sein; die Erde wehrt sich ja inzwischen auch und macht uns klar, dass wir als Menschheit auf diese Art nicht mehr lange auf ihr weilen werden. Die Masse der Menschen hat aber offenbar noch nicht erkannt, wie unsinnig so ein Gedanke ist: ein Stück Erde zum willkürlichen Gebrauch ohne Rücksicht auf Verluste einfach als Eigentum haben zu wollen.

Um hier Missverständnisse zu vermeiden: Besitz ist keineswegs unsinnig, das ist – wie das Wort besagt – das „darauf sitzen“, sich und seine Tätigkeit darauf stützen. Wenn also auf rechtlicher Grundlage jemandem ein Gut zum Besitz gegeben wird, dann muß er selbstverständlich frei damit umgehen können, wir hätten ja sonst eine überbordende Bürokratie mit noch viel schlimmeren Herrschaftsmöglichkeiten, als sie derzeit bei uns in Deutschland jedenfalls gegeben sind (kommunistische Gesellschaftssysteme lassen grüßen … warum gehen sie auf die Dauer in Korruption und eigensüchtiger Nomenklatura unter?).

Der Mensch, dem wir im Vertrauen in seine Fähigkeiten ein Gut zur Nutzung für das Wohl der Allgemeinheit hin die Hände legen, muss natürlich seine Kräfte und Fähigkeiten frei entfalten können, nur dann wird er mit vollem Engagement und dadurch aucheffektiv arbeiten können.

Eigentum im Unterschied zu Besitz kann daher nur sein, was auf dem eigenen Schaffen beruht, also beim Künstler zum Beispiel die Gestalt (die nur geistig fassbare Form), die er einem Material gegeben hat. Das Material gehört weiterhin der Erde und allen Menschen gemeinsam. Die Ressourcen an Grund und Boden, Maschinen, Hilfsmitteln, die einem Unternehmer zur Verfügung gestellt werden, gehören natürlich der Erde und der Menschheit an, aber sein Umgang damit ist der originäre Beitrag des Unternehmers, der diese Ressourcen erst für die Allgemeinheit ertragreich machen kann.

Das ist nur ein Beispiel, das man aber auf sehr viele andere Situationen, bei genauem Hinsehen selbst für traditionelle Arbeitssituationen wie diejenigen in der Industrie anwenden kann.

Ideologie der Unfreiheit

Wo aber die Arbeit gebraucht wird, um die Menschen zu versklaven (nein, es sind nicht einfach nur die „bösen Kapitalisten“, die die Lage für sich ausnutzen, es sind alle Menschen, die überhaupt Arbeit als käuflich ansehen, die dafür sorgen, dass hier kein Umdenken einsetzt), da kann die Arbeit nur zu etwas werden, was ungeliebte Pflicht ist. (Und wo man die Erde als beliebig zerstückelbare Ware zum Zwecke der Eigentumsanhäufung ansieht, da kann sie nur leiden und nach und nach absterben.)

Damit man die Menschen weiterhin in dieser Unmündigkeit und Unfreiheit halten kann, hat man den Spaß erfunden, der eben der Gegensatz ist zur ungeliebten Pflicht. Strenge reformiert-protestantische Ideologie sprach davon, dass die Erde eben ein Jammertal ist, wo man nur immer arbeiten und leiden könne, und später erst, nach dem Tode, käme man ins Himmelreich, zum „Spaß“.

Heute geht das dann so, dass man eben nach der Arbeit (dem „Jammertal“) dann die Freizeit hat (in der man frei sein darf, im Gegensatz zur Arbeitszeit – das „Himmelreich“), wo man sich dann – scheinbar frei, aber gesteuert von der in der Arbeit unterdrückten Sehnsucht, seine inneren Impulse und Möglichkeiten zur Geltung zu bringen – bis in wüsteste (Selbst-)Zerstörung und Verschwendung „ausleben” kann.

Verfolgt man die Argumentationen, die die immer neuen Regelungen derzeit begleiten, so kann man leicht erkennen, dass die Ideologie „erst kommt die Arbeit, dann das Vergnügen“ offenbar das Denken mancher an den obrigkeitlichen Entscheidungen Beteiligter regiert. Es liegt das ja auch im Grundzug unserer Zeit. Aber es liegt dann auch an uns, uns allen, ob wir damit weiterhin einverstanden sind und – auch in unserem ureigensten Denken – mitmachen.

Freiheit kann heilen

Auf ein Weiteres muss hier noch hingewiesen werden; ausführen kann ich es hier nicht. Es ist doch eigentlich eigenartig, dass aus geistigen Tätigkeiten, wie zum Beispiel der ärztlichen, die ja darauf verpflichtet ist, in Ansehung des Einzelnen Leidenden heilend zu helfen, inzwischen Computermodelle geworden sind (also keine menschliche Arbeit mehr), die ausrechnen, welche Zukunft sich aus dem bisherigen Gang der Dinge ergibt, und diese Ausrechnungen dann herangezogen werden, um rechtliche Festlegungen zu treffen, die dann für alle Menschen gelten. Der Mensch – ein Teil eines Computermodells? Wo ist da Menschenwürde?

Derselbe Staat, der sich hier anmaßt, Heiler der Gesellschaft sein zu wollen, verteilt dann auch die Mittel, nach seinem Gusto, damit seine Art der Heilung auch erfolgen kann. Das ist wie der Säufer, der zur Heilung seines Alkoholismus immer neue Schnapssorten erfindet und behauptet, die würden ihn jetzt vom Saufen abbringen.

Dieser Staat sollte lieber selber einen Heiler suchen, bei den Menschen, die ihn ausmachen, um sich selbst in etwas zu transformieren, was den Menschen und ihren Bedürfnissen entspricht, also menschenwürdig ist. Er ist zur Zeit nämlich krank, sterbenskrank. Aber er braucht einen Heiler, der sich frei machen kann von dem Glauben, alle Bereiche des menschlichen Daseins sollten zentral von einer Stelle aus – dem Staat nämlich – reguliert werden.

Die geistige Tätigkeit der Menschen, also alles, was sich aus den individuellen Begabungen und Fähigkeiten der Menschen ergibt, ist individuell, und muss frei walten können. Dann wird auch der Mensch seine Fähigkeiten mit Freude in den Dienst der Allgemeinheit und der anderen stellen. Jedes Gesetz, jede Vorschrift, die hier angibt was und wie der einzelne zu sein und zu arbeiten hat, kann die volle Wirksamkeit des einzelnen Menschen nur behindern. Aber dies Gesetz der Freiheit gilt eben nur in Bezug auf die besonderen Begabungen und Fähigkeiten jedes Einzelnen.

Wieviel von seinem Individuellen er für die Allgemeinheit zu geben hat, das muss für alle Menschen gleich sein, also eine demokratisch festzulegende Rechtsregel, im Hinblick auf die vorhandenen Bedürfnisse der Menschen. Und das Wirtschaften ist dann eigentlich nur noch das Hervorbringen all dessen, was aufgrund der natürlichen Verhältnisse und der von den Menschen geleisteten Arbeit zur Befriedigung dieser vorhandenen Bedürfnisse möglich und nötig ist. Das kann nur in vertrauensvoller Zusammenarbeit im Blick auf die Gesamtheit des Bedarfs erfolgen.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit

So bekommen die drei Ideale der französischen Revolution eine genauere Bedeutung:

Freiheit im Gebrauch der individuellen Fähigkeiten, im geistigen Anteil aller menschlichen Tätigkeit also; Gleichheit bei der Regelung all dessen, was für jeden Menschen gleich ist (die Fähigkeiten und Begabungen sind ebenso nicht gleich wie die Bedürfnisse, also nicht Inhalt demokratischer Festlegungen); Brüderlichkeit im gemeinsamen Hervorbringen all dessen, was zur Befriedigung der insgesamt vorhandenen Bedürfnisse nötig ist, auf der Grundlage der natürlichen Gegebenheiten.

Man kann auf dieser Grundlage immer weiter denken, bis in viele Einzelheiten hinein. Das Konkrete wird immer von den tatsächlich vorhandenen Menschen, den Naturgegebenheiten und dem mehr oder weniger effektiven Umgang damit abhängen. Das ist dann eben das konkrete Leben, aus dem sich die Einzelheiten erst ergeben.

So können sich dann Lösungen finden für viele ernsthafte Probleme, vor denen die Menschheit steht. Der Anfang ist aber immer da, wo jeder Einzelne anfängt, umzudenken, und davon abkommt, die Arbeitskraft des Menschen ebenso als Ware anzusehen wie die Erde, die unser aller Leben erst ermöglicht, und wo die Achtung vor der Freiheit des Individuums – nicht seiner Willkür! – den rechten Ort bekommt.

Rudolf Steiner in den Katastrophen unserer Zeit

Solche Gedanken stellte Rudolf Steiner bereits Anfang des 20. Jahrhunderts, im allgemeinen Chaos nach dem ersten Weltkrieg dar und führte sie aus, unter dem Namen der „Dreigliederung des sozialen Organismus“ Sie wurden damals nicht berücksichtigt.

Die zweite Katastrophe folgte dann auch bald: die allgemeine brutale Barbarei der Mitte des 20. Jahrhunderts, die schlimmer wurde als die vorige Katastrophe, und die gipfelte im Abwurf zweier Atombomben in Japan. Auch damals wurden zumindest in Deutschland Gedanken laut, die an Rudolf Steiners Darstellungen anknüpfen wollten. Sie blieben unberücksichtigt.

Es ist offensichtlich, dass die kommende, auch durch die Handlungen der Mächtigen zur Zeit aktiv vorangetriebene Katastrophe (in vielen, in unseren Medien weitgehend unberücksichtigten Ländern ist sie bereits da) noch tiefgreifender und furchtbarer werden kann als alles bisherige, auf allen Gebieten: Natur, Gesellschaft, Wirtschaft – alles Leben auf der Erde. Wer sich standhaft weigert, eine Lebensweise zu ändern, die ganz offensichtlich auf Lebenslügen basiert (Käuflichkeit von Erde und Mensch, Mißachtung des freien Menschen) – die Menschheit insgesamt also, das heißt jeder Einzelne von uns – muss damit rechnen, dass die Katastrophen sich immer weiter aufschaukeln werden, und das Menschsein ganz allgemein vielleicht unmöglich machen werden.

Ist es nicht erstaunlich, was man alles an tiefen Betrachtungen aus so einem einfachen Satz hervorholen kann: „Die Pflicht ist erlaubt, der Spaß ist verboten“?

© Stefan Carl em Huisken 2021

1 Konsequent gedacht, müsste man dann allerdings auch festhalten, dass sie nichts Bedeutendes tun.

2 Unter „Demokratie“ wird hier allerdings nicht die derzeitig überall vorherrschende Parteien- und Funktionärsoligarche verstanden, die heute oftmals mit dem Wort bezeichnet wird. Diese Art der Beherrschung von Untertanen sollte wohl eigentlich mit dem Ende des 19. Jahrhunderts schon als überholt gelten; leider hat sich diese Einsicht bisher noch nicht durchgesetzt.




Vom Sterben in den Geist

Das Einswerden mit der Welt im inspirierten Handeln

Unser Zeitalter ist beherrscht vom Geist der Furcht. Unser Dasein ist bodenlos geworden. Wir können es nicht mehr verstehen und versinken darum in Angst und Furcht vor dem Unverstandenen. Umso fester klammern wir uns an das, was wir glauben zu verstehen – unsere eigene, persönliche Weltanschauung also. Mit allem, was wir haben, verteidigen wir sie – ihr Verlust würde uns ins Bodenlose stürzen lassen. Die Furcht davor bringt Hass hervor. Hass auf alles, was mir fremd ist, auf alles, was ich nicht verstehe. Unsere ganze Kultur beruht auf der verdrängten Furcht vor der Wahrheit – der Wahrheit des Todes, des Kontrollverlustes, der Endlichkeit des Irdischen. Die Wahrheit lässt sich aber nicht endlos unterdrücken.

Der vereinzelte Mensch im geistleeren Raum

Jeder Mensch ist individuell, einzigartig. Was er mit seinen Sinnen wahrnimmt, was er dazu denkt, fühlt und will, kann niemand so wie er wahrnehmen, denken, fühlen. Wer kann schon durch die Augen des Anderen sehen?

Was wir aber mit den Sinnen wahrnehmen, ist niemals die ganze Wahrheit des Seins. In der Sinneswahrnehmung erscheint uns das Sein. Was es aber letztendlich ist, wissen wir nicht. Wir erleben es jedenfalls nicht unmittelbar als wahr; das unmittelbare Erleben beschränkt sich auf die Erscheinung.

Was diese Erscheinung konfiguriert, ihr zugrunde liegt, ist also letztlich etwas, was wir nur durch innere Tätigkeit herausfinden können: indem wir denken, die Wahrnehmungen durch Begriffe ordnen und zueinander in Beziehung setzen. Ohne unsere eigene Tätigkeit wäre das Ganze der Welt für uns heutige Menschen nur eine ungeordnete Ansammlung von Wahrnehmungen – nichts, was wir wirklich verstehen könnten.

Nun ist unsere eigene Tätigkeit leider auch etwas Unsicheres. Auch bei unserem Denken, Fühlen und Wollen können wir zunächst nicht wissen, ob es Wahres hervorbringt; wir können uns ja irren, es können unbemerkt Vorurteile einfließen oder Denkfehler passieren. Ebenso wie ein geschädigtes Sinneswerkzeug uns Wahrnehmungen verzerren kann, kann unsere eigene Tätigkeit uns täuschen.

Wir schweben also sozusagen haltlos zwischen unverstandenen Wahrnehmungen und fehleranfälliger Eigentätigkeit, ohne irgendwo Aussicht auf sichere Wahrheit. Es ist selbstverständlich, dass jeder Einzelne sich da seine eigene Weltanschauung baut, um sich darin in Sicherheit zu bringen. Nur sind alle diese Weltanschauungen Illusionen: sie haben keine unmittelbar erlebte Wahrheit als Grundlage, auf der aufgebaut werden könnte.

Alle heutige Wissenschaft funktioniert nach diesem Prinzip: man hat Wahrnehmungen, und man baut sich zur Erklärung Gedankengebäude, sogenannte „Theorien“. Für die alten Griechen waren Theorien noch als wahr erlebte begriffliche Welterklärungen, bestehend aus Gedanken, die man wahrnahm. Davon kann ja heute keine Rede mehr sein: was wir an Gedanken haben, ist aus unserer eigenen Tätigkeit erwachsen. Und die ist individuell, im Rahmen unserer individuellen Weltanschauung.

Was der Grieche also noch als geistige Tatsache erlebte – den Gedanken – das bringen wir als individuell-persönliches Produkt hervor, indem wir uns auf Wahrnehmungen der äußeren Sinne oder im Innern der Seele beziehen. Die Wahrnehmung gibt uns aber nicht preis, was sie so konfiguriert hat, wie sie ist. Dazu müssen wir immer denken. Und denken ist eine unsichtbare, nicht-sinnliche Tätigkeit, vielleicht begleitet von leiblichen Erscheinungen (Gehirnströmen z.B.); aber auch die Ansicht, die Gehirnströme seien die Ursache der Gedanken, ist schon – erdacht, und damit geistig, nicht-sinnlich, erst einmal eine Theorie.

So leben wir Heutige in einem geistleeren Raum. Den Geist, der diesen Raum konfiguriert, können wir nicht erleben, wir können darüber zunächst nur theoretisieren. Dadurch wird Wahrheit irreal, beliebig, fällt der Meinung des Individuums anheim. Dadurch werden wir alle aber auch einsam, denn niemand kann unsere individuelle Welt-Anschauung wirklich ganz nachvollziehen. Wir können nur noch in Kompromissen miteinander auskommen, oder einfach einander glauben. Wahrheit wird heute also zu einer Frage des Glaubens oder des ausgehandelten Kompromisses.

Damit macht uns diese Situation aber auch frei. Denn es gibt für uns keine Wahrheit mehr, die von jedem Menschen als selbstverständlich gültig erlebt werden kann. Und diese Freiheit können wir – von der vereinzelten Situation aus – im Aushandeln von Kompromissen immer in zwei Richtungen nutzen, die beide von der Macht geprägt sind: wir können den Anderen zwingen, uns zu glauben, oder der Andere zwingt uns, ihm zu glauben. Das Leben wird also zu einer Machtfrage.

Mit dieser Feststellung haben wir aber etwas Entscheidendes erreicht: wir haben eine Situation beschrieben, die bei einigermaßen ehrlichem Nachdenken jeder bei sich selber feststellen kann. Und wir können wissen, dass alle anderen in genau derselben Situation sind: vereinzelt im geistleeren Raum leben zu müssen, und nichts zu haben als sich selbst, um damit zurecht zu kommen. Diese Situation ist also etwas Allgemein-Menschliches, das unmittelbar als wahr erlebt werden kann. Damit wäre ein Ausgangspunkt gefunden, von dem aus alles Weitere Denken über Mensch und Welt beurteilt werden könnte. Man muss sich nur trauen, sich darauf einlassen.

Dass die Mehrzahl der Menschen genau diese Situation nicht wahrnimmt, sich auch wehrt dagegen, sie für sich selber festzustellen, ist nur zu verständlich. Die Bodenlosigkeit des eigenen Seins ist schwer erträglich, und ruft Furcht in uns auf. Aber nur durch sie sind wir als menschliche Individuen frei.

Realisieren wir diese Freiheit nicht, und behaupten sie nicht für uns selber, so bleibt uns kein Weg als der des Glaubens, der Über- und Unterordnung der Menschen untereinander, nach dem Maßstab der Macht. In unserer Zeit wehren sich die Menschen gegen den Blick in den Abgrund.

Was dadurch geschieht, treibt aber immer mehr in die Vereinzelung, jetzt nicht innerlich – dagegen wehren sich die Menschen ja gerade – aber nun äußerlich, durch Vorschriften, soziale Ausgrenzung, Hass und Hetze, die durch äußere Vereinzelung („Social Distancing“ – was vielleicht treffender „Antisocial Isolation“ genannt werden sollte) die innere Vereinzelung vertiefen. Allerdings ist jetzt die Freiheit nicht dabei, da die eigenständige Erkenntnis der Situation fehlt. Sie wird ersetzt durch dasjenige, was uns als virtuelle Realität durch die volle Wucht der mediengemachten Welt erreicht.

Die Wahrheit lässt sich eben nur begrenzt unterdrücken, sie fordert ihr Recht ein. Wollen wir aus dieser Vereinzelung heraus finden, so kann dies nur gelingen, indem wir aus uns selber Wege gehen, die immer weiter vertiefte Zersplitterung der Einzelnen zu überwinden. Wie gezeigt, ist die Besinnung auf die Wahrheit der inneren Situation jedes heutigen Menschen ein Ansatz dazu, sich bewusst von Gleich zu Gleich zu begegnen.

Das Ich als Entwicklungs-Zentrum

Die Einsicht in die Bodenlosigkeit des eigenen Seins im Denken, Fühlen, Wollen führt uns zum Zweifel an aller Wahrheit dessen, was wir als eigene Welt-Anschauung in uns tragen. Nun ist Zweifel aber letztlich die Grundlage für das Erreichen eines Wissens; der Glaube muss dagegen jeden Zweifel ablehnen, denn er würde sich selber dadurch entkräften. Wer nicht zweifelt, wird willfähriges Instrument dessen, an den er glaubt, also nicht frei, sondern Untertan. Zweifel an der eigenen Welt-Anschauung produziert also notwendig Zweifel an derjenigen des Anderen und hilft dadurch der Freiheit voran.

Von wem aber geht dieser Zweifel aus, wenn er denn wirklich frei machen soll? Das kann nur ich selber sein, als Souverän in meinem eigenen (Welt-Anschauungs-)Hause. Ich selber bin es letztlich auch, der anfängt zu unterscheiden zwischen Glaube und Wissen, zwischen Wahrheit, Täuschung, Irrtum und Lüge. Ständig bin ich aktiv in der Handhabung aller meiner inneren und äußeren Wahrnehmungen. Aber: weiß ich eigentlich, wer ich bin?

Schon, wenn ich mir selber eine Vorstellung über mich selbst mache, meiner irgendwie aus der Vergangenheit entstandenen, gewordenen Selbstvorstellung also nicht einfach glaube, sondern an ihr zweifele, zerspalte ich mich in zwei. Einer ist der, der diese Vorstellung hervorbringt, der also in seiner Tätigkeit lebt und schafft und daher niemals etwas sein kann, denn das, was ist, was er betrachten kann, schafft er ja gerade. Und der andere „Ich“ ist eben der, den ich mit der Vorstellung von mir zu fassen versuche. Nur: immer, wenn ich gerade solche eine Vorstellung fertig habe und zu fassen versuche, bin ich in diesem Augenblick schon wieder ein anderer, nämlich der, der diese Vorstellung betrachtet und nicht mehr ihr Hervorbringer. Was ich also von mir in Vorstellungen fassen kann, ist immer ein Vergangenes.

Indem ich aber nun immer auf Neue meine Vorstellung von mir zu verändern trachte, die jetzige Situation in sie zu integrieren versuche, bringe ich wieder den Schaffenden ins Spiel. Im Miterleben der Veränderungen, die ich selber hervorbringe, durchlebe ich nach und nach mein eigenes Schaffen, also: mich als Schaffenden, den, den ich eben nicht in eine feste Vorstellung fassen kann. Ihn lerne ich dabei kennen, also: mich selber, als lebendigen, tätigen Hervorbringer.

Damit schaffe ich für mich eine neue Kategorie von Wahrnehmungen, nämlich diejenige von Lebendigem, das immer in Entwicklung ist, niemals fest und abgeschlossen. Alle Sinneswahrnehmung, die ich sonst habe, bezieht sich immer auf einen Zustand, einen Augenblick, etwas Feststehendes, also: Totes. Leben ist darin nur zu finden in der Bewegung, die lebendige Entwicklung erst hervorbringt. Im Verfolgen meiner eigenen Selbst-Entwicklung im fortdauernden Nachführen der Vorstellung von mir nach Maßgabe der selbstgeschaffenen Veränderungen schaffe ich also mir selber ein Organ für das Lebendige, ja, werde selber dazu.

Nun kann man natürlich sagen, dass dasselbe ja auch anhand aller anderen lebendigen Prozesse der Welt geschehen könnte. Warum also gerade bei mir selber und meiner Selbst-Entwicklung ansetzen? Die Antwort ist einfach: nur dort, wo ich selber weiß, wie und durch wen oder was etwas zustandekommt, kann ich von wahren Tatsachen reden. Bei allem anderen bleibt es zunächst dabei, dass alles Denken darüber – und sei es noch so hingebungsvoll – den Charakter einer Theorie hat. Denn der schaffende Geist, der darin wirkt, ist mir noch unbekannt, ich weiß nicht, wie er wirkt. Das ist bei mir selber anders. Indem ich selber Vorstellungen von mir schaffe, kenne ich deren Ursprung, denn ich bin es selbst, und ich kennen den Entstehungsprozess, denn ich habe ihn selber ausgeführt. Zwar kann ich darüber immer nur im Rahmen von gewordenen Vorstellungen etwas sagen, habe aber als Korrekturmaßstab immer mich selber dabei.

Und da ich weiß, dass dasjenige, was sich als Schaffendes darin betätigt, das ICH, allen Menschen eigen ist, und daher alle Menschen sich auf diesen Weg der Selbst-Entwicklung des ICH begeben können, kann ich auch wissen, dass jeder Mensch dieses Wahrheitskriterium gleichermaßen in sich trägt.

In diesem Charakter des menschlichen Ich als Entwicklungs-Zentrum aller individuellen Welt-Anschauungen liegt ein Universelles, aus dem heraus die individuellen Welt-Anschauungen und die Personen, die sie in der Welt darleben, zu einander finden können, denn sie tragen es ausnahmslos alle in sich, so unterschiedlich die Inhalte ihrer Anschauungen, ihre Erscheinungswelten auch sein mögen..

Zeit-Räume

Im Verfolgen meiner eigenen Tätigkeit im fortlaufenden Bilden und Umbilden einer Selbst-Vorstellung durchlebe ich einen Vorgang, in den ich bei entsprechender Besinnung und Übung jederzeit wieder eintreten kann – immer auf der Grundlage der dann erreichten Vorstellung von mir selber. Ich bilde in mir dabei die Fähigkeit heran, bewegliche, sich entwickelnde Vorstellungen zu erbauen.

Nun kann ich einen weiteren Schritt tun, indem ich diese sich entwickelnde Vorstellung als solche zum Gegenstand der Betrachtung zu machen versuche. Wohlgemerkt: nicht zum Gegenstand im Sinne des Konstatierens und Aufzählens von Entwicklungsstationen – das mache ich ja ständig, im lebendigen Prozess – sondern indem ich die Situation selber, in der dies alles geschieht als meine eigene erleben lerne. Ich – der Schaffende, Ich – der (als Vorstellung zunächst) Hervorgebrachte, und jetzt Ich – der dies alles betrachtet.

Es wird auffallen, dass das Aufschwingen zu diesem Zustand – Rudolf Steiner nennt ihn in seiner „Philosophie der Freiheit“ einen „Ausnahmezustand“1 – höchste Anstrengung und Aufmerksamkeit benötigt. Lasse ich auch nur einen Augenblick nach im Erschaffen dieses Zustandes (als der „Schaffende“), so bricht er sofort in sich zusammen. Er ist also nicht etwas, was man einmal erwerben kann und dann einfach immer „hat“, sondern er ist nur da, wenn und solange ich das will.

Die Selbst-Wahrnehmung im Ausnahmezustand gibt es also nur aus eigener Anstrengung, von „des ICHes Gnaden“ sozusagen. Erreiche ich ihn, begegne ich aber darin mir selber als Selbst-Erschaffer, und ich erarbeite mir im Weg dahin den Umgang mit beweglichen Vorstellungen, lebendigen Vorstellungen also, in denen sich Entwicklungsgänge wie in einem inneren Tableau betrachten lassen.

Ich lerne dabei innerlich Zeit-Räume zu erschaffen, die ich aus eigenem Erleben überschauen kann. Was früher ist und später, was sich wie woraus entwickelt, es wird nach und nach sichtbar vor dem inneren Auge. So entsteht ein innerliches Bild des Lebendigen. Was ich da betrachten kann, ist noch nicht das Lebendige selbst, denn es fasst nur das, was ich daran durchlebt habe. Aber es ist dies ein Bild eines völlig Geistigen, von etwas, was es in der Sinnenwelt überhaupt nicht gibt, wovon sie nur immer in ständiger Bewegung befindlicher Ausdruck ist.

In immer wiederholter Bemühung kann ich mir so eine neue Fähigkeit anerziehen, erüben, die Rudolf Steiner die Imagination nennt. In der Imagination wird die Zeit zum Raum, in inneren Bildern erfasst. Als Garant für die Wahrheit dessen, was ich in ihr erlebe, kann mir der immer wieder erübte Ausnahmezustand dienen, denn in ihm schaue ich alles, was es zum Entstehen der Imagination braucht. Was von Außen herandringt und den Ausnahmezustand stört, verzerrt auch die Imagination.

Im Schau-Platz der Seele

Im genannten Ausnahmezustand kann ich erschauen, inwieweit meine irdische Persönlichkeit (das schon Erreichte, das sich in meiner Selbstvorstellung niederschlägt) mit meinem schaffenden Geist-Kern (der Hervorbringer) übereinstimmt. Inwieweit passen also mein Bild von mir und meine schaffende, aber niemals voll bewusste wahre Individualität zusammen? In mir, dem Betrachter, lebt gleichzeitig der Hervorbringer der geänderten irdischen Persönlichkeit, der sich entwickelnden Selbst-Vorstellung – und damit ein Selbst-Erzieher.

Indem ich meine Selbst-Entwicklung beginne zu überschauen als Zeiten-Raum, bilde ich der Gesamt-Situation etwas Neues ein: die ersten Ansätze wirklicher Freiheit als eine Ausdrucksart meiner geistigen Individualität. Und diese Individualität umfasst jetzt wirklich individuell, nämlich unteilbar, Ausgangspunkt und Ziel des Menschen im geistigen Erschaffer und Betrachter, zwischen denen in ständiger Entwicklung die irdische Person sich bewegt. In jedem MENSCHEN drücken sich Ursprung und Ziel des Menschenseins, der Mensch-HEIT aus2.

Der immer wieder neu zu erringende Aufbau des Ausnahmezustandes ist daher ein freier Beitrag des individuellen Menschen zum Ganzen, der Mensch-HEIT. Er geht hervor aus ihm selber, wie er sich selber schaffend sich in seiner Seele erscheinen kann. Der Wille zum Leben, wie er sich so durch die irdische Person frei darlebt, kann von niemandem „angeordnet“ werden. Er entsteht allein aus dem Menschen selber, aus Liebe zum Leben.

Ich selber, wenn ich beginne, mich eigenverantwortlich und selbst-bewusst selber zu entwickeln, bin also mein Beitrag zum Ganzen – falls und solange ich es will. Meine Seele ist der Platz, in dem und von dem aus dies geschaut werden kann. Und vergessen wir nicht eines: zu mir gehört meine ganze Welt, die Erscheinung der mich umgebenden Welt also, wie sie in mir auftritt, mich geprägt hat, mich hervorgebracht hat, und in die ich hineinwirke.

Losreißen vom Gewordenen

In meinem Tun reiße ich mich dann aber los von all dem, was mich hervorgebracht hat und mir in der mich umgebenden Welt wie feststehend erscheint. Ich folge nicht mehr einfach all dem, was mir als äußere Wahrnehmung gegeben ist und durch in mir schon vorhandene Denkmöglichkeiten diese Wahrnehmungen gewohnheitsmäßig ordnet. Denn ich baue lebendige, sich entwickelnde Vorstellungen in mir auf, die ohne mein Dazutun niemals vorhanden wären. Diese Vorstellungen sind nur innerlich-geistig fassbar. Nur aus dem lebendigen, selber schaffenden Menschen sind Vorstellungen vom Leben erreichbar.

Alles, was in die mir gegebenen Erscheinungswelt vorkommt und nicht von mir selber aus mir selber bewusst erschaffen wurde, verändert sich aber auch, ist also in Entwicklung. Habe ich erst an mir selber erlernt, wie lebendige Vorstellungen erschaffen und betrachtet werden können (im wiederholten Durchleben erschaffen, er-kannt, er-fahren), so wächst in mir ein neues Organ, das in der Imagination Bilder des Lebendigen geben kann, die ich aufgrund eigener Erfahrung des Wahrnehmungweges prüfen und in ihrer Wahrheit beurteilen kann.

Die geistig-wahre Lebenswelt, die mich umgibt und die mir durch die Sinne (auch die inneren Sinne der Seele) ihre Erscheinung gibt, ist mir ja zum allergrößten Teil (noch) unbewusst. Ich kenne nur ihre Erscheinung. Jetzt kann ich aber lernen, meine selbstgewollte Lebens-Erfahrung zu erweitern, und die Welt der Erscheinungen immer weiter zu enträtseln. All das, was schaffend die Erscheinungen um mich her hervorgebracht hat, es wird jetzt ins Bewusstsein aufgenommen. Ich lebe mich in die Welt hinein, und die Welt lebt immer mehr in mir, indem ich ihre Sprache zu entziffern beginne.

So wirke ich daran mit, all das, was mich umgibt, durch mein Tun reicher zu machen, sein Leben mit Bewusstsein zu er-fahren. Das ist etwas ganz anderes, als die Erscheinungen der Welt her zu nehmen, um ihnen dann die Ordnung aufzuzwingen, die ich mir, die Erscheinungen kombinierend, erdacht habe. Lebens-Erfahrung ist keine theoretische Lebens-Erklärung. Sie ist existenzielles Verbinden mit dem Erfahrenen, und wird erkannt im Imaginieren des Lebendigen.

Ich-Vorstellung und Imagination

Durch den Ausnahmezustand, in dem ich mir selber begegne als Einheit aus meiner Selbst-Vorstellung, ihrem Erschaffer und ihrem Betrachter, lerne ich, eine Imagination meines aktuellen Zustandes aufzubauen. Sie gibt mir Orientierung und Maß. Die darin vorkommenden Erscheinungsformen meiner selbst als Erschaffer und Betrachter sind aber zunächst gleichsam Hohlformen: ich erlebe sie in ihrer Wirkung, nicht aber als anschaubaren Weltgegenstand wie alle anderen Dinge meiner inneren und äußeren Welt.

Es gibt aber einen Weltgegenstand – zugleich viele Weltgegenstände, die aber alle eines zeigen – der mich selber spiegeln kann: das ist jeder andere Mensch. Von ihm kann ich wissen, dass er in derselben Situation ist wie ich. Er mag sich mehr oder weniger seiner Lage bewusst sein als ich, aber das bedeutet im Grundsatz nichts anderes, als dass er eventuell in seinem Entwicklungsstand vergangene oder zukünftige Erscheinungsmöglichkeiten meiner selbst spiegelt.

Wohl sind seine Weltinhalte andere als meine: die kenne ich aber nicht, kann ich auch nicht kennen. Durch die Augen des Anderen kann ich nicht schauen, und sein Seeleninneres bleibt mir zunächst verschlossen. Wohl aber kann ich an ihm mit-erleben, wie er sich entwickelt. Seine Entwicklungswege, seine Denk-Wege kann ich versuchen, mit zu gehen, um ihn kennen zu lernen und in ihm einen Spiegel meiner selbst.

In jedem Menschen, und sei er mir in seiner Stellung zur Welt und seiner Lebensführung noch so fern, kann ich doch eine Seite meiner selbst kennen lernen. Denn der andere Mensch erscheint mir in meinem individuellen Leben. Gerade diejenigen, die mir schwere Aufgaben stellen, zeigen mir, wo ich mir die größten Entwicklungsmöglichkeiten im mit-durchlebenden Verständnis ihrer Individualität erringen kann. Nicht das Angenehme, mir schon eigene hilft mir zur Entwicklung; das macht nur bequem. Was meine ganze Kraft fordert, um es innerlich mit zu gehen, kann die Macht in mir wecken, das Fremde zu überwinden und mir frei zu Eigen zu machen.

Zersplitterung in einem Boot

Aller Gegensatz, den es zwischen den gewordenen Auffassungen, Gewohnheiten, „Standpunkten“ und Lebensweisen geben kann, er wird aufgehoben im verstehenden mit-denken der Wege des Anderen. Darin erst kann ich dann erkennen lernen, dass wir als Menschen wirklich „in einem Boot“ sitzen. Alle sind wir in individueller Entwicklung, und dadurch sind wir Menschen, und als solche gleich. Daraus erst kann sich ergeben, was Recht unter Menschen ist, lebendiges Recht, das sich aus dem Mensch-Sein aller ergibt. Das heutige geschriebene, bis in Einzelheiten aus der Vergangenheit festgelegte und damit tote, ent-individualisierte Recht ist ein Überbleibsel der Römerzeit. Können wir es überwinden und neu, lebendig denken?

Alle irdischen Menschen sind sich darin gleich, und doch verschieden in den inneren und äußeren Orten ihrer Fortentwicklung. Alle irdischen, und im Irdischen voneinander geschiedenen Menschen entstammen einer gemeinsamen Vergangenheit (wenn wir die auch nicht im Einzelnen bewusst erkennen), und sie gehen in eine gemeinsame Zukunft, an der jeder Einzelne gleichermaßen mitwirkt. Nur die Furcht hält uns davon ab, uns der Bodenlosigkeit der Vereinzelung im Irdischen zu stellen und sie gerade dadurch, durch unsere Freiheit also, weiter zu entwickeln, in eine neue Gemeinschaft hinein.

Die Furcht vor mir selber begegnet mir aber in jedem anderen Menschen und ruft mich an, sie zu erkennen. Wer sich der Unsicherheit, die im nach-denkenden Verstehen des Anderen liegt, nicht stellen will, wird den Anderen ablehnen. Je nach Stärke der Furcht kann Ablehnung in Hass und Streit ausarten. Überall da, wo es uns nicht gelingt, einander in unseren Entwicklungswegen mit zu erleben, wird sich also Uneinigkeit unter den Menschen ausbreiten.

Wo dieser Streit aber im Inneren des individuellen Menschen, durch ihn selber in seiner Seele im Überwinden der Furcht vor der Bodenlosigkeit ausgefochten wird, kann auch die Einsicht wachsen, dass wir alle auf dem selben Weg in eine gemeinsame Zukunft sind. Wo also die gewordene Welt waltet, ohne vom Menschen neu belebt zu werden, wird sie sich durch immer weitere Vereinzelung der Menschen, durch immer größere Zersplitterung in streitende Parteien darleben.

Wenn die Mensch-HEIT, also das allen gemeinsame Wie des Lebens eines jeden Menschen, sich nicht genügend auf sich selbst besinnt, um seine Fortentwicklung frei aus eigenem Wollen zu betreiben, wo die Welt also, und in ihr alle anderen Menschen, vom sich entwickelnden Ich verstoßen und allein gelassen wird, da wird Zerstörung wirken, die dann jeden Menschen betrifft. Mangelnde Besinnung in der Menschheit auf ihren eigenen, in jedem Individuum lebenden Kern wird also Selbst-Zerstörung statt Selbst-Entwicklung zur Folge haben.

Exkurs: Wegleitung

Wir können uns glücklich schätzen, dass es eine Wegleitung gibt bei unserer Suche nach unserem menschlichen und menschheitlichen Kern. Als ein letzter Spross alter Philosophie und gleichzeitig Erschaffer eines grundlegenden Neubeginnes ist uns Rudolf Steiner in seinem Werk, der anthroposophischen Geisteswissenschaft gegeben. Er ist für uns Heutige, für unsere Zeit der Bringer eines neuen Denkens von uns selbst und von der Welt.

Dabei sind viel weniger, als man das heutzutage meistens meint, seine unzähligen Ausführungen über die verschiedensten Themen entscheidend, die sich in mehreren Tausenden von Vorträgen finden, die er Anfang des 20. Jahrhunderts gehalten hat. Viel wichtiger sind seine von Anfang an für die Öffentlichkeit bestimmten Schriften, durch deren Nachdenken wir auf den Weg zu uns selber gebracht werden können. Genau dies war seine erklärte Absicht, das hauptsächliche Ziel seiner Arbeit: Menschen auf den Weg zu bringen.

Alle entscheidenden Sprünge in der Menschheitsentwicklung sind markiert durch das Auftauchen von Individualitäten, die die Aufgaben, die das Leben ihrer Zeit der menschlichen Gesellschaft stellte, in ihrer Tätigkeit erkennbar machten und neue Wege zum Umgang mit diesen Aufgaben aufzeigen konnten. Das grundsätzliche Erkenntnisproblem unserer Zeit – die charakterisierte Vereinzelung im geistleeren Raum – wurde durch Rudolf Steiner Zeit seines Lebens beschrieben, und Wege zu seiner Lösung (auch diejenigen, auf die dieser Text hinweist) aufgezeigt.

Aber die Furcht davor, dass der individuelle Kern des Menschen eben nicht in einer festen Vorstellung zu fassen ist, sondern dass der Mensch sich selber in einem Ringen existenzieller Art zu einem neuen Organ zur Wahrnehmung dieses Kerns aus Freiheit erst erziehen muss – diese Furcht hat immer wieder verhindert, dass die Wegleitung, die Rudolf Steiner in seinen Schriften uns bietet, angenommen und genügend zur Geltung gebracht wurde. Aus solcher Furcht auch sind Bestrebungen entstanden, sein Werk zu einer Weltanschauung unter vielen herabzuwürdigen. Sie ist aber etwas Besonderes, denn sie gibt eine Lösung von durch die Zeiten gehenden philosophischen Grundproblemen (vgl. die Bücher „Wahrheit und Wissenschaft“, „Die Philosophie der Freiheit“ und „Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“) und auf dieser Grundlage Wege zum Aufbau neuer Erkenntnismöglichkeiten3.

Lebendiger Maßstab

Dadurch, dass ich in der Begegnung mit dem Anderen mein eigenes selbst-entwickelndes Tun gleichsam von ihm aus, in einem menschheitlichen, und gemeinsamen Sinne, also im Geiste kennen lerne, indem ich mir belebte, immer in Entwicklung befindliche Bilder, Imaginationen davon aufbaue, wird die menschliche Entwicklung und damit auch meine eigene für mich beschreibbar, umsetzbar in Wort und Tat. Ich bekomme einen Maßstab für das, worin der Andere, jeder Andere ebenso wie ich selber lebt.

Handle ich aus diesem allen Menschen eigenen Geist heraus, so handle ich

  • frei, denn der Maßstab geht aus mir selber und meinem Tun hervor und zeigt mich im Allgemein-Menschlichen
  • aus Liebe, denn es gibt keinen Grund für meine Taten außer meinem Wollen
  • individuell, denn in solchen Taten, die aus dem Mit-Erleben des Anderen in der Welt hervorgehen ist der Gegensatz von Ich und Welt, der mich in die Vereinzelung stellte, aufgehoben; meine Tat wird Teil der Welt, die aber als meine Welt ein Teil meiner Individualität ist.
  • Selbstlos – aber NICHT Ich-los! – indem ich nicht an einer gewordenen Vorstellung von mir und meiner Welt hänge, die ich behalten will, sondern im selbstgewollten Werden eine Vorstellung von mir als Werdendem darlebe.

Der darin errungene Maßstab ist keiner, der als unveränderliches Ideal immer wieder die Angleichung an sich selbst erzwingt, sondern ein lebendiger, der mich und letztlich alle anderen Menschen universell umfasst. Durch mein Handeln gebe ich der Welt eine „Vorstellung“ von mir (ich gebe sozusagen eine Vorstellung im Welt-Theater), die im Grundsatz die ganze Welt einschließlich aller anderen in Freiheit aufzunehmen geeignet ist (in meiner erlebten Erscheinungswelt). Je mehr dies gelingt, kann es auch in der Welt heilend, einend wirken, und damit dem Göttlichen ähnlicher, das einst diese Welt der Vielfalt einschließlich meiner selbst mit all ihren Gegensätzen als seine in sich einige Tat hervorbrachte.

Wir heutige Menschen leben allerdings wie „auf Gottes Geheiß“ aus dem einigen Gotteswerk hinausgeworfen, vereinzelt und damit frei – ja, man kann sagen: ,,vogelfrei“. Im Aufnehmen, Miterleben und Aussprechen (auch in der Sprache der Tat) der Welt, wie ich sie erkenne, füge ich mich diesem Ganzen der Schöpfung erneut hinzu und werde so zum Mit-Erschaffer der Welt der Zukunft. Ich trage damit etwas Neues hinein in die Zukunft, nämlich die Freiheit und die Liebe.

Mit-Schöpfer im Geist

Unbewusst schaffe ich ja schon immer mit an der Entwicklung der Welt der Zukunft. Mein an der bestehenden, gewordenen Welt haftendes Bewusstsein einschließlich der Vorstellung von mir als Gewordenem, gleichsam „vorläufig fertigem“ Menschen muss ständig aufgelöst werden, damit neues Leben eintreten kann.

Die gewordene Sinneswelt, so wie sie mir erscheint, erkenne ich als tote Erscheinung, die erst wieder neues Leben erhält, indem ich sie mit-erlebend in meine Selbstentwicklung aufnehme. Aber was sich daraus ergibt, ist wiederum neues Fertiges, Totes. Ich wirke also dauernd mit an meinem Ersterben in die Welt hinein, am Schaffen von mit meiner Entwicklung verbundenen toten Erscheinungen. In jeder Hingabe an die Erscheinungen, um ihren lebendigen Gang mit zu erleben, ist also auch eine Art selbstgewähltes Sterben.

Dieses Sterben meint aber hier nicht ein äußerliches Absterben oder Vergehen meines Leibes, sondern ein Absterben des von mir ausgehenden Lebendigen in die Welt hinein, als Bestandteil ihres Lebens, das in die Zukunft führen soll.

Nicht ohne Grund findet sich hier das Wort vom Tode. Der geistig-seelische Bereich, in dem ich tagtäglich schaffend tätig lebe, ist nicht zeitlich-räumlich und damit nicht in feste Vorstellungen zu fassen. Er ist ewig wesenhaft4 und damit auch Garant für die Ewigkeit meiner Individualität, jeder Individualität des Menschen, und existiert damit über den Tod hinaus.

Im bewussten Handeln aus mir selbst, als selbstbewusstes Geistwesen im Ausnahmezustand aus eigener Kraft hervorgebracht, handle ich nicht mehr aus dem Irdischen Sein heraus, sondern aus dem Werden. Jedes Bild, auch jede Imagination von Entwicklung, die ich mir dabei erarbeitet habe, ist immer nur Ausfluss dieses geistigen Schaffens und muss ihm daher weichen. Handle ich also ganz aus dem Geiste, so ist mein Handeln inspiriert.

Rudolf Steiner schildert in den Beschreibungen des geist-erschaffenden Übungsweges des Menschen, wie die Imagination, also das Bild des Lebendigen, das aber als solches, als Bild, schon ein Totes ist, erst wieder überwunden werden muss zugunsten einer aufnahmebereiten, wachen Leere des Bewusstseins, damit die Inspiration konkret in unsere Seele eintreten kann.

Im Denken des Denkens, in der Beobachtung des Denkens im Ausnahmezustand können wir uns wach halten in dem Augenblick, in dem wir sonst als irdische Person einschlafen würden. Wo also in der Hingabe an das Mit-Erleben des Anderen, dann auch an das Mit-Erleben des Weltenlebens ansonsten unser irdisches Bewusstsein erlöschen würde, können wir lernen, wach zu bleiben.

Der Tod trägt das Leben

Das wache Selbst-Bewusstsein inspiriert in die Welt zu tragen, ist wie ein frei gewolltes, waches Sterben in die Welt und ihren sie bewegenden Geist. In diesem Sterben, der Welt Neues geben, tritt sie aber auch in den Menschen ein, der sie er-lebt, ihr so neues, geistiges Leben gibt. Der Weltengeist, von uns aufgenommen, erlebt durch uns sich selbst und kann so seiner selbst bewusst werden.

Damit dies geschehen konnte, brachte der Weltengeist die Welt und die Erde mit dem Menschen zustande, dem er das Leben schenkte, und dafür die Welt gleichsam in den Menschen hinein ersterben lassen musste. Diese Situation haben wir heute zum Ausgangspunkt: als Menschen stehen wir vor den erstorbenen Erscheinungen, kennen nicht mehr den unmittelbar lebendigen Geist, sind aus ihm „hinausgeworfen“. Das Leben ist aber uns geschenkt, ist unser, und wenn es in der Welt sein soll, müssen wir es ihr wiederum schenken. Dann erst werden wir, wovon das Wort spricht, dass der Mensch dem Gotte zum Ebenbilde erschaffen wurde.

Habe ich also aus mir selber, im irdischen Leben aus freiem Wollen geübt, mein Leben der geistigen Welt zu schenken, so kann ich das im Irdischen erworbene Selbst-Bewusstsein behalten, aus eigener Kraft, ohne die irdische Welt weiter dafür zu benötigen. Ich bleibe mir also gleichsam im Tode selber erhalten. Dies ist der Sinn des Wortes von Angelus Silesius:

„Stirb, ehe du noch stirbst, damit du nicht darfst sterben,
Wenn du nun sterben sollst; sonst möchtest du verderben.“5

Leben ist Eigen-Tätigkeit es Geistes. Ohne Leben ist kein Tod – und ohne Tod kein Leben! Wir sind zuinnerst verbunden mit dem Leben, durch das wir gehen. Wir müssen es aber der Erscheinungswelt, dem Tode also überlassen, wenn wir uns selber und die Menschheit im Leben halten wollen. Im Sterben in den Geist des Weltenganzen, dem ich selber unteilbar, individuell angehöre, liegt also ein Mittel, der Furcht, die unser irdisches Leben beherrscht, in Freiheit und Liebe Einhalt zu gebieten.


1Vgl. Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit.– Dornach, 1973, S. 40

2Die Nachsilbe -heit geht aus einem noch im Mittelhochdeutschen vorhandenen Wort heit = „Art und Weise“ hervor. Ursprung und Ziel des Menschen geben ihm also Bewusstsein davon, wie er im Irdischen ist.

3Seine Werke sind dadurch gekennzeichnet, dass sie vom Leser die Bereitschaft fordern, sich unvoreingenommen nach-denkend auf sie einzulassen. Man kann sich aus ihnen nicht „neutral informieren“ über das, was Rudolf Steiner mit ihnen bewirken wollte. So wie es aus der Bodenlosigkeit unserer vereinzelten Existenz der heutigen Zeit keinen Weg gibt außer der freien und selbstverantwortlichen Umbildung der eigenen Individualität im Ausnahmezustand, gibt es auch keinen Weg, Rudolf Steiner wirklich zu verstehen und zu würdigen, wenn man sich dem Risiko, das mit jedem selbstgewollten, freien Denken und Handeln verbunden ist, nicht stellen will.

4Das Wort „Wesen“ hat ursprünglich die Bedeutung „Art zu leben“. Was also „west“, das drückt seine Art zu leben aus, ist das dem Leben zugrunde Liegende, sein Charakter, seine Art und Weise. Auch die Verwandtschaft mit dem Wort „weisen“ zeigt etwas: es bedeutet ursprünglich „machen oder zeigen, dass etwas west“.

5Johannes Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann oder geistreiche Sinn- und Schlussreime. – Zürich: Manesse, 1986. IV, Nr. 77, S. 257. Es gibt eine eingängigere, vereinfachte Version dieses Spruches, für die ich aber keinen Beleg finden konnte: Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt.




Gespräche

In einem wirklichen Gespräch erleben wir ein Urphänomen des Sozialen: Lauschen auf den anderen und ihm in seinen Gedanken folgen, uns selbst vergessen und in ihn eintauchen wechselt mit dem Wachen für uns selbst, das eigene zur Geltung bringen.

Beides ist notwendig: fehlt das Lauschen, entsteht Kampf, fehlt das eigene wache Tun, so verfliesst das Gespräch in Stille und Einsamkeit.

Wir brauchen einander.

Ohne Gespräch, ohne das gemeinsame WORT bleiben wir stehen, vertrocknen, verdorren.

Erkenntnisgespräche

mit meiner Beteiligung finden regelmäßig statt im Rahmen von geisteswissenschaftlichen Arbeitsgruppen.  Sie dienen der gemeinsamen Suche nach Wahrheit. Falls Sie Interesse haben, fragen Sie gerne an.

Beratungsgespräche

gehen mehr auf die Individuelle Situation desjenigen ein, der solche Gespräche sucht oder braucht. Sie sollen Hilfen bieten zur Selbstfindung und Selbst-Entwicklung und Unterstützung bei zielgerichteter Aktion. Hierfür stehe ich auf Anfrage gerne zur Verfügung; Näheres unter dem Punkt „Beratung und Vorträge„.




Ein ganz grundsätzliches Problem

Anmerkungen zur sogenannten „Rassismus-Frage“ bei Steiner

Immer wieder findet man ja Diskussionen über die Frage, inwieweit bei Rudolf Steiner „rassistisch“ genanntes Gedankengut vorhanden sei. Nun ist durch die verdienstvollerweise von Thomas Meyer (DER EUROPÄER, Jg. 17 Nr.8, S. 28 ff) veröffentlichte schriftliche Diskussion zwischen ihm und Helmut Zander der Finger endgültig in die eigentliche, ganz grundsätzliche, schon seit langem offene Wunde gelegt: das ganz außerordentlich verbreitete Unverständnis unserer Zeit gegenüber der Bedeutung des Individuums (auch in seiner Inkarnation in einer Alltagspersönlichkeit) – jedes Individuums also – für das Weiterschreiten der Menschheit. Freiheit und Liebe sind untrennbar, und können sich nur darleben und ins Weltgeschehen einleben durch das freie Individuum; ohne den „Abgrund des Individuellen“ (GA 40, 1998, S. 224) – das Stehen vor dem Nichts – aber keine Freiheit, auch nicht bei Steiner.
Anknüpfend an seinen monumentalen Satz: „Im Denken steht der Mensch im Elemente des Ursprungs der Welt, hinter dem etwas anderes zu suchen als sich – den Denker – selbst, für den Menschen keine Veranlassung besteht.“ (Karl Ballmer, Rudolf-Steiner-Blätter Nr. I, S. 1) kommt Karl Ballmer im Jahre 1928 zu zwei nicht minder monumentalen Äußerungen: „Der Inhalt der ‚Geheimwissenschaft‘ Dr. Rudolf Steiners wird für uns nicht geringer, sondern um so größer und bedeutender, je mehr wir uns mit der Empfindung durchdringen, daß der das Produkt der wahrheitschaffenden Phantasie des Künstlers Rudolf Steiner ist.“ (S. 3) und: „Hatten die bisherigen Erkenntnistheorien die Frage zu beantworten versucht: Wie erfahre ich in meiner individuellen Eingeschlossenheit erkennend etwas über das Wesen einer von mir unabhängigen objektiven Welt?, so drängt das ‚Faktum Rudolf Steiner‘ zu der anderen Fragestellung: Was bedeutet das Faktum des Erkennens Rudolf Steiners, was bedeutet das individuell-persönliche Erkennen für die Welt?“ Es ist ja ganz leicht erkennbar, dass diese nun schon ziemlich alte Auseinandersetzung um die Bedeutung des Individuell-Persönlichen auch bei der Frage eines eventuellen „Rassismus bei Rudolf Steiner“ maßgeblich mitschwingt.
Das ist ja auch kein Wunder. Wer kann sich schon aufschwingen zu der Ansicht, jedes, auch sein eigenes persönlich-individuelles Erkennen, Erleben, Ringen habe Bedeutung für die Welt, und für dieses persönlich-individuelle Erkennen ergebe sich eben der wichtigste Maßstab aus der ganz eigenen, persönlichen Antwort auf die Frage von Freiheit und Liebe – und nicht aus einer irgendwie gearteten „Richtigkeit“, „Wissenschaftlichkeit“ oder einer sonstigen Ideologie (vgl. Ballmer: Wissenschaft“)? Die Begegnung mit dem Abgrund ist ganz offensichtlich nicht für jeden Menschen leistbar; mindestens erkennbar ist, das Menschen wie Herr Zander hier eine ausgeprägte Scheu haben. Wer sollte das nicht verstehen?
Wer aber wie Karl Ballmer zu der Einsicht kommen kann: „Wenn Rudolf Steiner ‚theosophisch‘ gestimmten Seelen den Inhalt des konkreten Ich als objektive geistige Welt in grandiosen Bildern darstellt, so geht das nicht so sehr den Geist als die pädagogischeTätigkeit des Geistes … an“ (S. 3, Hervorhebung im Original), für den kann die Annahme eines irgendwie gearteten „Rassismus“ bei Rudolf Steiner nur völlig abstrus erscheinen.
Gerade derjenige, der sich in unserer Zeit zum überragenden Pädagogen des im konkret-persönlichen Ich eines jeden sich darlebenden Geistes hat aufschwingen können, soll irgendwen oder irgendetwas (also „Rasse“, „Wissenschaft“, „fortgeschrittende Geistesschulung“, „ethische Unbedenklichkeit (im Sinne vorgefasster Regeln)“ etc.) über das freie Individuum stellen?
Es scheint, als ob Ballmers Artikel von 1928 an Aktualität nichts eingebüßt hat. Schrieb er doch schon damals: „Es geschieht ohne alle Bitterkeit, wenn der Herausgeber dieser Blätter, auf Grund eines mehr als zehnjährigen Darinnenstehens in der anthroposophischen Bewegung und des anthroposophischen Studiums zu dem Geständnis sich genötig sieht, daß er nirgend weniger wirkliches, erkämpftes und erlebtes Verständnis angetroffen hat für das Wesen der Denkautonomie im tiefsten Sinne Rudolf Steiners und damit letztlich für die Überwindung des abendländischen Theismus und Pantheismus als unter – Anthroposophen. Das ist vielleicht so, weil es nicht anders sein kann; und wir haben die Gegebenheiten gelassen hinzunehmen.“ (S. 1)
Und noch ein Zitat aus dem genannten Heft (dessen Wiederveröffentlichung vielleicht wünschenswert wäre) möchte ich mir nicht ersparen: „Erleben wir es nicht, daß man heute ‚Geisteswissenschaft‘ dadurch empfiehlt, daß man sich auf ihren Wissenschaftscharakter beruft? Warum entschließt man sich nicht, den Charakter und die Inhalte der Lehren Rudolf Steiner dadurch als gerechtfertigt zu verteidigen, daß man sie – im Sinne der oben erwähnten Idee Rudolf Steiners*) – als den Ausdruck einer Persönlichkeit behauptet. Das eben wäre vor dem Forum der Landläufigkeit unwissenschaftlich. Aber haben wir denn etwa nicht Gründe, just dieses ‚unwissenschaftliche‘ Kriterium tapfer zu dem unsern zu machen? Sind wir deswegen Zeugen eines Unerhörten, damit wir den Banalitäten des wissenschaftlichen Zeitgeistes Zugeständnisse machen?“ (S. 1f).
Stefan em Huisken, Norden/Ostfriesland
*) „Man nehme zum Beispiel eine Idee wie die folgende: ‚Eine Philosophie kann niemals eine allgemeingültige Wahrheit überliefern, sondern sie schildert die inneren Erlebnisse des Philosophen, durch die er die äußeren Erscheinungen deutet.‘ (Rudolf Steiner: Einleitung zu Goethes ‚Sprüchen in Prosa‘. – Es ist natürlich erkenntnistheoretisch ganz einerlei, ob für ‚Philosophie‘ ‚Geisteswissenschaft‘ gesetzt wird.)“ (Ballmer, a.a.O., S. 1)



Geisteswissenschaft

Geisteswissenschaft

Geisteswissenschaft handelt – recht verstanden – vom real im täglichen Leben wirksamen Geist. Jede Idee entspringt im Geist – oder haben Sie schon einmal eine Idee mit Augen gesehen oder mit Händen fassen können? Ohne Ideen gäbe es aber keine Entwicklung, denn jede Entwicklung lebt von der fortwährenden Realisation einer Idee in der Welt. Ganz egal, ob es um naturgegebene oder menschengemachte Entwicklungsprozesse geht. Ideen sind für uns innerlich – im Geiste – fassbar. Wir Menschen sind also ganz zweifellos Träger des Geistes. Auch jede Wissenschaft gründet sich auf Ideen. Ohne eine Wissenschaft von den Ideen, ihrer Entstehung im Denken und ihrer Entwicklung im Leben – ohne eine ganz praktische Geisteswissenschaft also – wird eine Grenze zwischen Glauben und Wissen nur schwer zu ziehen sein.

Eine solche Wissenschaft kann aber nur vom Menschen ausgehen, denn nur in ihm ist für uns das Geistige fassbar. Sie muss daher zugleich Wissenschaft vom Menschen sein. Und sein Kennzeichen, die individuelle Freiheit, mit einbeziehen.

Rudolf Steiner

Eine solche Wissenschaft wurde von Rudolf Steiner (1861-1925) ausgehend von seiner »Philosophie der Freiheit« unter dem Namen »Anthroposophie« (= Weisheit vom Menschen aus) zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründet. Der Name »Anthroposophie« wird inzwischen für sehr unterschiedliche Bestrebungen verwendet (und manchmal mißbraucht). Ich verstehe darunter ausschließlich die gerade gekennzeichnete Art von Geisteswissenschaft.

Zeitgemässe Wissenschaft

Eine wirklich zeitgemäße Geisteswissenschaft hat heute damit zu rechnen, dass der Geist in immer mehr Menschen als Realität auftritt, von ihnen als evidente Wahrheit erlebt wird. Menschen, die so erleben, verlangen zu Recht von der Geisteswissenschaft Orientierung über das von ihnen Erlebte. Demgegenüber versagt die traditionelle interpretierende Geisteswissenschaft. Die erlebten Tatsachen bleiben aber und werfen Fragen auf. Seit zwei Jahrhunderten beherrscht die Auffassung vom Geist als »Überbau«, als etwas von der eigentlichen, außerhalb liegenden Wirklichkeit Abstrahiertem (=»Abgezogenem«) die Wissenschaft. Reales Geist-Erleben nimmt dieser Ideologie nach und nach ihre alles andere ausschließende, das Geistesleben allein prägende Bedeutung.
Die heutige Wissenschaft, die mit aller Macht den erkennenden Menschen aus dem Erkenntnisprozess zu auszulöschen sucht, kann nicht anders, als immer unmenschlichere Verfahren und Ergebnisse zu zeitigen. Der immer unfasslichere äußere Aufwand, den diese Art Wissenschaft zum Erreichen neuer Erkenntnisse treiben muss, lässt sie immer mehr zu einer Geheimlehre, einer Wissenschaft für wenige Auserwählte, also zu einer neuen Art von »Esoterik« werden. Und hier gilt sicher: Wissen ist Macht.
Es ist das Verdienst Rudolf Steiners (1861-1925), die Haltlosigkeit dieser veräußerlichten Art Wissenschaft anhand zweifelsfrei nachvollziehbarer, im Prinzip jedem Menschen zugänglicher Denkbewegungen aufgezeigt zu haben (»Wahrheit und Wissenschaft«, »Die Philosophie der Freiheit«). Damit wird zugleich ein neuer, für jeden Menschen nachvollziehbarer, weil rein aus dem heutigen Menschsein geborener Weg zu Erkenntnis und Wissen gangbar gemacht. In diesem Sinne nannte Rudolf Steiner die von ihm vertretene Erkenntnisart »Anthroposophie«, d.i. Weisheit und Erkenntnis vom Menschen aus.

Geistige Revolution

Rudolf Steiner steht damit im Beginn einer geistigen Revolution, die bis heute nicht angemessen wahrgenommen geschweige denn gewürdigt wird: die Befreiung der Erkenntnis aus den Fesseln überkommener Bande, und damit die Befreiung des sich selbst erkennenden Individuums schlechthin.

Dazu ein anonymer Text, der Goethe zugeschrieben wird:

Hinter uns liegt die Revolution des Bürgers,
in welcher das Individuum sich
aus den ehernen Banden dunkler Vergangenheit
zu befreien trachtete.
Nunmehr erleben wir
den Anfang der Revolution durch die Maschine,
von welcher noch keiner weiß,
wohin sie uns alle führen mag:
denn sie stößt uns die Pforten des Künftigen auf.
Aber kommen wird sie dann – und sei`s auch erst in mehr denn hundert Jahren –
die große Revolution, die Revolution des Menschen,
die da aufräumt mit den Albernheiten unserer Kreatur,
ich meine die Revolution des Bewusstseins schlechthin.Doch was soll’s? – Das offenbar Geheimnis ist’s,
in dem ein jeder schon, kindlichen Gemüts,
sein Leben lang sich selbst benennt.Der von Ewigkeit zu Ewigkeit sich selbst Produzierende ist’s,
der noch keinen Namen hat, – es sei denn einmal unsern eigenen.

© Em Huisken 2012