Un he löppt

(niederdeutsche Kurzgeschichte, 2017 zum Wettbewerb „Vertell doch mal“ eingereicht)

In Ostfreesland word seggt, dat de Möven de Kinner ut de See an Land brengen un se bi de Moders oflevern, wenn‘t Tied is. Un kiekst du disse Vögels na, wenn se dör de Lucht swajen, denn kannst du woll to dat Menen komen dat se de Lüü ok wiederhen in de Luur hebben. Un wenn se in grote Swarms över de Hemel trecken: well weet wat se in d‘Sinn hebben?

„Löppt?!“ froog de Een.

„Kiek sülvst!“ see de Anner un geev dat Kiekgatt free. De Een luurde dör dat Gatt, un daar sach he hum: de Mann. De weer an‘t Lopen as mall.

„Waar sitt he achter to?“ froog de Een.

„Kiek sülvst!“ see de Anner un wees na de Kimm. Un de Een luurde na de Kimm, un daar sach he en grote staatske Fent, de leep as de Wind. Man de harr noch Tied um sük of un to na de Mann um to kieken. Dat weer düdelk genoog, funn de Een. Un as he weer na de Mann keek, muss he haast en bietjet lachen. De geef sük Meite as mall um de Fent to kriegen, man daar sull woll niks van worden, dat sach de Een so. De Mann harr al en rode Kopp, und de Ogen rullden as of se hum glieks ut de Kopp fallen wullen. Man he leep, un feller und feller. Dat dee de lange Fent natürelk ok …

„Willn wi hum helpen?“ froog de Een.

„Woso?“ antwoordde de Anner.

„Wi hebben hum daar hen brocht waar he nu is.“ see de Een.

„Man de Updracht hebben wi van hum sülvst,“ see de Anner, „hett he sülvst Schuld.“

„Man daan hebben wi‘t doch!“ brummel de Een.

„Laat uns noch wachten. Denn könen wi uns noch wat vermaken bi‘t Tokieken.“ see de Anner. Un dat deden se denn ok.

Un de Mann wurr immer mehr Baas över de Loperee. He keek de Fent sien Maneer van Lopen of, un tosamen mit sien Dülligheid sörgde dat daarför, dat de Afstand lüttjeder un lüttjeder wurr. Do kunn de Mann de Fent wat toropen.

„Well büst du?“ reep he.

„De de löppt!“ geev de Fent torüch.

„Dat seh ik doch! Man waarum löppst du so gau weg, dat ik di neet kriegen kann?“

„Kiek na di sülvst: well sitt di up de Hacken?“ see de Fent, un he leep weer en bietjet feller, so dat de Mann hum nett neet griepen kunn.

Eerst bössel de Mann noch wat achter hum an, man upeens bleev he stahn. „Recht hett he egentlik. Well sitt mi up de Hacken?“ doch he bi sük. Un denn dreihde he sük um. Un do verfehrde he sük baldadig. Mit all de Loperee weer he man blot so en paar Meters vörut komen, neet van Belang, dat lüttje Stück. Un he haar doch so up de lange Fent an diest, un de rönn doch al so gau as of de Swarte sülvst achter hum to satt! Upeens föhl de Mann sük oll un klöterg, un de Tranen fungen an to lopen, un sien Gesicht wurr langer un langer, haast bit an sien Buuk.

„Nu is‘t so wiet!“ see do de Anner. Un he swung sük hoch in de blaue Hemel, un mit hum all sien Frünnen, un de Een ok.

As de Mann de Möven sach, do doch he bi sük: „Vör Jahren hebben de mi hier an Land brocht, wiet van d‘See. Of de mi nu woll helpen?“ – Un dat deden de Möven. De hele Swarm schoot up de arme Mann daal, un se packden hum mit hör Snavels, un all tosamen weern se genoog um de Mann van d‘Eer to kriegen. Se flogen hoch in de Hemel mit hum, un fix vörut, achter de lange Fent an, de nu al nett noch an d‘Kimm to sehn weer. Fell genoog gung dat dör de Lucht, un neet lang düürde dat, bit dat se de Fent inhaalt harren. De Mann kun hum nu al unner sük sehn. Man de Möwen flogen noch wieder, en good Stück vörut, ehrdat se de Mann weer up d‘Eer settden. En bietjet gruuv leten‘s hum in d‘Sand pluntjen, un hör Ralleree klung hum as „Kiek to! Kiek to!“ in de Ohren.

As he nu upstunn un torüch keek, kunn he de Fent up sük to jachtern sehn. Nader un nader kweem he, un do kunn de Mann hum kennen. Un nu? Weetst du woll, well he daar in‘t Gesicht keek? Vör well lopen woll de meeste Minsken weg, un well sitt hör achter to? Bi well is dat besünners stuur um hum to kennen? Ik kann‘t di neet seggen, man dat een kann‘k di verraden: he sücht meest ut as de Düvel, man elk un een kennt hum heel good, beter as all anner Lüü. He is för elk un een sien Nahste, so to seggen.

Un wat dee de Mann daar? Vull van Angst dreihde he sük um un fung an to lopen. He biester daar langs as of he een sehn harr. Harr he ok ja. Dat hum de Fent blot neet kriegen dee!

„Löppt weer?“ froog de Anner. „Löppt?!“ see de Een. „Dat is Jachtern as mall!“ – „Un wo faken geiht dat nu noch so?“ höörde he de Anner seggen. Man daar wuss he keen Antwoord up. Weetst du een?

© Stefan Carl em Huisken 2017

Veröffentlicht in: NDR (Hrsg.): Vertell doch mal – Löppt?!. Kiel/Hamburg, Wachholtz, 2017, S. 42ff




Disse Ogen

(niederdeutsche Kurzgeschichte, eingereicht für den Wettbewerb „Vertell doch mal“ des NDR 2019)

He harr dat mooi kommodig vandaag: mit sien Wark alls good in de Riege, und sien Baas in de anner Kamer weer best up sien Dreev. Dat weer lang neet alltied so. Sien Baas, de harr ok so‘n „düstere“ Sied, un wenn he de rutkehr, denn kun een woll dat Grieseln ankomen. Man vandaag eer‘t all good.

Dat weer ok midden in de Maant, un he harr mit de Bookhollen minner to doon. Egentlik weer‘t sotoseggen en heel gode Dag. Man geneten kunn he dat neet so recht. He harr – sünner sük sülvst dat klaar to maken – dat Geföhl, dat vandaag noch wat komen sull.

Dat kloppde sacht an de Döör, un up sien „Herein!“ kweem en moje junge Froo binnen. En heel moje junge Froo, funn he. Se vertellde hum, dat sien Baas hör inbestellt harr. Dat gung um wat Geld, dat hör Mann – „De hebb ik je nu neet mehr.“ see se un kreeg en Blick as Füür un Isen daarbi -, dat gung um dat Geld dat hör Mann van sien Baas lehnt un neet torüggbetaalt harr. Dat weer klaar, doch he bi sük. Wenn du Geld utlehnst un kriggst dat neet torügg, denn kiekst du good ut well du daarför to faten kriegen kannst. „Daar hett een sien Bookhollen neet good up de Riege hatt!“, doch he, un weer en bietjet stolt, dat dat bi hum nooit geböhren sull.

He gung na sien Baas um se an to melden, un as he torüggkweem leet he de Döör open för hör. Se leet de Döör achter sük en bietjet up Gluup staan. Man dat full hum eerst up as he weer an sien Schrievdisk satt. Deit nix, doch he, un gung weer an‘t Wark.

Jüst boven up de Stapel lagg een Vörgang mit en open Schüld. Hé, dat gung um hör Saak, doch he, se harr ja hör Naam seggt, un de stunn daar ok up. En örnlik Bedrag, funn he. Wat en Tofall, nett sovööl harr he vanmörgen van de Bank haalt, um dat Geschenk för sien Froo to betahlen, dat he vanmiddag kopen wull.

Mit leverlaa wurr dat in de Kamer van sien Baas immer luter. De Baas wurr kievig, un se klung vertwiefelt. „Ik hebb sovööl Geld doch neet!“ see se, „un wat ik hebb, dat bruuk ik för mien Kind!“ – „Denn halen‘s sük dat doch van hör Mann torügg!“ see de Baas höhnsk. „De hett hör dat Kind ok ja maakt!“

He wuss neet good wat mit hum geböhren dee. De Krakeel in de Kamer gung wieder, man he haalde de Baargeld-Kass ut de lüttje Tresor, neem dat Geld för dat Geschenk ut sien Knippke un dee dat in de Kass. He schreef en Quittung over de Bedrag, mit een Fantasienaam bi „erhalten von“, un de Vermark dat dat Geld för de Schüld van de Froo weer. Beneden noch sien egen Unnerschrift as Bewies dat he dat Geld kregen un in de Kass daan harr. Dat alls truck as ’n Droom an hum vörbi, so as wenn he dat neet würkelk sülvst dee. So, nu weer de Kass weer in de Tresor. Ut de Kamer höörde he dat Snückern van de Froo luter worden, as de Baas see: „Ik weet noch wat. Se hebben ok ja noch heel wat anners an to beden as Geld, dat seh ik ja. Wi könen dat gliek vanavend regeln.“

He doch blot noch „Wat geböhrt hier egentlik?“ – Un denn greep he de Quittung van sien Schrievdisk, kloppde an de Döör van sien Baas und stappde in sünner to wachten. „Tschulligung!“ see he, „man daar het nett even een de Schüld van disse Froo betahlt!“ Un he leggde de Quittung vör sien Baas up de Tafel. De keek staff up de Quittung, denn mit Ogen as en Märtkater na de Froo, un denn froog he: „Well was dat, de dat betahlt hett?“ – „Weet ik ok neet,“ loog he, „he hett disse Naam seggt för de Quittung.“ Nog nooit in sien Levend harr he so mit Benüll logen, un nu dee he dat sünner daarbi rood to worden. „Nu, denn is‘t ja all regelt.“ see de Baas, un he weer heel düdelk neet tofree mit disse Ofloop van de Saak. As he sük weer an sien Schrievdisk settde, wunk he blot nog na de twee annern, dat se de Kamer verlaten sullen.

Tosamen mit de Froo gung he na buten un mook de Döör achter sük good dicht. As he sük umdreihde, stunn daar de Froo und keek hum stief in sien Ogen. „Disse Ogen ….“ doch he,

un do verdween sien hele Bürokamer, alls wat um hum to weer, blot de Ogen, de bleven. Se höörden nu bi en staatske und bliekbaar stolte Fent. He sülvst – he weer nu en Froo, de noch full satt van de Schrick, de se beleefd harr. Se harr disse körtere Weg nomen na de Medizinmann, dat weer doch so hoognödig för hör Moder, ok wenn se wuss, dat up disse Weg faker Rovers up Padd weern. Un jüst dat weer geböhrt. Dree Rovers weern miteens ut dat Unnerholt broken un wullen over hör herfallen. Se harr noch versöcht weg to lopen, man dat hulp nix, de dree weern feller. Un as se hör nett to griepen harren, do weer disse Fent mit sien Peerd angalopperd komen, un weer tüsken de Rovers mit sien blitzende Biel so tokehr gahn dat se‘t up‘t Lopen smieten mussen. Un nu stunn he daar, keek hör liekut un stolt in de Ogen. Vördat se en Woord van Dank seggen kunn, kehrde he sük of, um weg to rieden ….

As se hör Ogen wegdreihde um to gahn, klung dat in hum as wenn se see: „Nu is’t weer liek.“ Of he dat würkelk höört harr, dat wuss he nadeem neet mehr. Uprecht un mit faste Tree stappde se de Döör ut.

As ’n Droom weer dat all an hum vörbi trucken. As ’n Droom. Man dat harr keen Droom west, dat wuss he heel seker. Man wat harr dat denn west?

© Stefan Carl em Huisken 2019




Fräiske Soang – friesisches Musik-Projekt braucht Unterstützung

Logo Fräiske Soang

Ein außergewöhnliches Projekt hat sich das ostfriesische Musik-Duo „jank frison“ vorgenommen: Ende März soll die CD „Fräiske Soang“ aufgenommen werden. Alle Lieder auf dieser CD haben Tekste auf Seeltersk (Saterfriesisch), Altfriesisch oder Oostfreeske Taal (ostfriesisches Niederdeutsch).

Der
Kopf des Duos, der ostfriesische Musiker und Autor Stefan Carl em
Huisken aus Norden tritt schon seit vielen Jahren für die Friesische
Sache ein.
Als in Ostfriesland vor mehr als 20 Jahren das Friesische Forum e.V.
gegründet wurde als eine Art Bund für friesische Anliegen, war er
schon mit dabei. Die Oostfreeske Taal (ostfriesisches
Niederdeutsch) hat er sich selbständig beigebracht, da
er nicht mit
dieser Sprache
aufgewachsen
ist.
Seit zwei Jahren schreibt er auch Texte auf Saterfriesisch. Bei
seinem ersten Lied hat ihm Gretchen Grosser (†)

eine große Förderin des Saterfriesischen – noch helfen können. Der
Text hat ihr gut gefallen, wie sie ihm schrieb.

Gemeinsam mit Heike Büsing aus Jade, die verschiedene Dudelsäcke spielt, hat em Huisken (er singt und spielt Gitarre, Akkordeon, Oboe und Bombarde) als Duo „jank frison“ schon öfter Musik zu den Friesentreffen am Pfingstdienstag am Upstalsboom in Aurich/Ostfriesland beigesteuert. Dort, am Upstalboom, entstand die Idee, auch neue Lieder in der alten Ostfriesischen Sprache zu schreiben, die in Ostfriesland längst ausgestorben ist. Aber diese Sprache lebt noch heute, als Saterfriesisch.

Dieses besondere Projekt braucht dringend Unterstützung. Vor allem fehlen noch weitere Geldmittel, um das Studio und die Herstellung der CD zu bezahlen. Wer auf die eine oder andere Art helfen will, kann sich melden bei Stefan Carl em Huisken, Tel. +49-4931-972537, E-Mail info@emhuisken.de. Mehr über das Projekt „Fräiske Soang“, das Duo „jank frison“ und Stefan Carl em Huisken kann man unter www.jank-frison.de und www.emhuisken.de finden. Wer über das Projekt auf dem Laufenden bleiben möchte, kann sich für die E-Post auf beiden Websites anmelden.

Diesen Text gibt es auf der Website von „jank frison“ auch auf
Saterfriesisch, Oostfreeske Taal und Niederländisch.




Plattdeutsch, Niederdeutsch, Sassisk, Oostfreeske Taal – Ja was denn nun?

Bedrohte Sprache

Das Niederdeutsche (ich nenne es vorläufig mal so) hat heutzutage ein Problem: es weiß nicht wirklich wer es ist. Und genau dadurch ist es angreifbar, bedroht. Natürlich gibt es viele Sprecher und Nicht-Sprecher dieser Sprachform, die sehr genau wissen, wie es heißt – nur leider wissen die verschiedenen Menschen auch sehr Verschiedenes. Und darum ergibt sich auch kein einheitliches Bild.

Man kann so eine Frage auch als unwichtig, unbedeutend, uninteressant oder sonst etwas beiseite schieben – leider nur ist sie diffiziler als man zunächst denkt.

Ein paar der gar nicht so einfachen Punkte möchte ich hier anreißen – ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit. In anderem Zusammenhang hatte ich einige Aspekte des Themas schon einmal angesprochen (=> „Warum ich (kein) plattdeutscher Liedermacher bin“).

Sprache oder Dialekt?

Diese Frage kann – soweit ich das Feld überblicke – als beantwortet gelten. Das Niederdeutsche ist sowohl strukturell als auch der Reichweite nach als eigenständige Sprache anzusehen. Der Abstand in Grammatik und Wortschatz zum überdachenden Hochdeutschen ist so groß, dass die unterschiedlichen Sprachformen des Niederdeutschen nicht einfach als Dialekte des Hochdeutschen aufgefasst werden können. Vielmehr hat das Niederdeutsche selbst teilweise ziemlich unterschiedliche Dialekte: ich nenne hier nur einmal Ostfriesland, Mecklenburg-Vorpommern und Westfalen als in ihren niederdeutschen Dialekten sehr unterschiedliche Landschaften.

Allerdings ist das Niederdeutsche bei Weitem nicht in allen gesellschaftlichen Anwendungsbereichen von Sprache gleich stark. Es gibt Bereiche, für die der eigene Wortschatz fehlt, Fachsprachen nur wenig oder gar nicht entwickelt sind etc. Darauf komme ich gleich noch.

Sprache und „Stammeswesen“

Sprachen werden vielfach – mehr oder weniger reflektiert – mit Bezeichnungen früher vorhandener, ethnisch weitgehend homogen angenommener Menschengruppierungen – sprich „Stämme“ – in Zusammenhang gebracht. Das mag für die historische Betrachtung seine Berechtigung haben, für unsere Zeit ist das sicher nicht mehr angemessen und führt zu Widersprüchlichkeiten.

Ein hervorstechendes Beispiel stellt hier Ostfriesland dar: die ostfriesische Mentalität sieht sich verwandt mit den (friesischsprachigen!) Friesen im Norden Deutschlands und in den Niederlanden, weniger mit den Sachsen weiter im Osten. Die ehemals vorhandene ostfriesische Varietät des Friesischen ist aber bis auf eine kleine Sprachinsel im Saterland ausgestorben, und Friesisch spricht in Ostfriesland kaum jemand. Die verbreitete Regionalsprache ist ein stark vom friesischen Substrat und von niederländischen Einflüssen geprägter niederdeutscher Dialekt.

Wer also hier einem Ostfriesen zumuten wollte, er spräche „Sassisk“, der würde – denke ich einmal – nicht wirklich auf Gegenliebe treffen.

In Ostfriesland spricht man darum mit einem gewissen Stolz von der „Oostfreeske Taal“ – der ostfriesischen Sprache – und macht damit das nächste Faß auf.

Wissenschaftliche und umgangssprachliche Sprachbezeichnungen

Denn: als Bezeichnung der Regionalsprache des heutigen Ostfriesland mag „Oostfreeske Taal“ ja treffend sein, nur passt es so gar nicht zu einem ganz anderen Wortgebrauch im Bereich der Sprachwissenschaft. Dort sind nämlich Friesisch und Niederdeutsch zwei deutlich zu unterscheidende Sprachen, beide mit differenzierten Dialekten. Und da die „Oostfreeske Taal“ sehr eindeutig kein Friesisch ist, bleibt diese Bezeichnung umstritten, problematisch, jedenfalls nicht unbelastet, allgemein anerkannt und überall brauchbar.

Umgangssprachlich nennt man allerdings die „Oostfreeske Taal“ ganz überwiegend „Platt“ oder „Plattdeutsch“. Womit wir beim nächsten Problem wären.

Was ist eigentlich „Plattdeutsch“?

Der Ausdruck „Plattdeutsch“ wurde ursprünglich verwendet, um eine besonders klare und verständliche Ausdrucksweise eines Menschen zu charakterisieren. Der sprach dann „in goeden platten Duitse“. In diesem Sinne wird das Wort z.B. auch in Gebieten für den örtlichen Dialekt verwendet, die nicht zum niederdeutschen Sprachgebiet gehören.

Es gibt weitere Probleme mit diesem Ausdruck. So wurde er im Zuge der gezielten Unterdrückung des Niederdeutschen als eine Art „Kampfbegriff“ eingesetzt und mit der Auffassung verbunden, dass sich in dieser Sprache eben nur „Plattheiten“ – sprich Unkultiviertes, Bäurisches, einseitig Unterschichtorientiertes – sagen lasse. Die einseitig auf Unterhaltsames ausgelegte Verwendung des Niederdeutschen in der Öffentlichkeit – auch in der Selbstdarstellung ihrer Sprecher – nährte und nährt diese Auffassung mindestens unterschwellig.

„Die schlimmsten Feinde mancher Sprache sind ihre Sprecher“, las ich letztens (sinngemäß). So haben denn gerade auch wohlmeinende und dem Niederdeutschen sehr zugetane Menschen (der Sprache kundig oder nicht) häufig darauf hingewiesen, dass diese Sprache ja viele Dinge viel netter ausdrücken kann als das manchmal grobe Hochdeutsche. Das mag inhaltlich stimmen – aber charakterisiert das diese Sprache vollständig und treffend? Als Ergebnis bleibt eine ständige Notwendigkeit zu betonen, dass das Niederdeutsche auch für allerlei Ernsthaftigkeiten tauglich sei (ein Ausdruck des Liedermachers Wolfgang Rieck in dieser Sache, von ihm durch seine eigene Arbeit nachhaltig belegt).

Ja, und gerade diejenigen, die – in verdienstvoller Weise! – den Gebrauch des Niederdeutschen voranbringen möchten, tun dies vor allem in Hinblick auf den Gebrauch im Alltag. Die dort benötigten Register einer Sprache sind und bleiben aber eingeschränkt. Eine vollständig ausgebaute Sprache braucht geeignete Ausdrucksweisen auch für Bereiche wie Wissenschaft, Dichtung, Fachsprachen verschiedenster Art, Bürokratie, Juristerei usw.. Hat eine Sprache diese nicht, fehlt ihr die entsprechende Anregung und gestaltende Weiterentwicklung. Da ist es vielleicht auch nicht immer angemessen, alles „platt“ heraus zu sagen. Wer behauptet, all diese vorwiegend intellektuell anspruchsvolleren Lebensbereiche seien „elaboriert“ und eigentlich überflüssig, denkt zu kurz. Man schaue sich als extremes Lehrbeispiel die Geschichte der Roten Khmer in Kambodscha an.

Kultur und Sprache

Regionale Mentalität, Kultur und Sprache sind untrennbar miteinander verwoben. In die Sprache gehen viele Elemente ein, die der regionalen Kultur entstammen, ebenso sind gewisse sprachliche Eigenheiten fester Bestandteil regionalen Selbstverständnisses. Das ist glaube ich unübersehbar. Aber: wenn gewisse Elemente der regionalen Kultur nicht weiter gepflegt und am Leben gehalten werden können, verschwinden auch die zugehörigen Sprachformen; ebenso wie eine einseitige Sprachpflege dazu führen kann, dass bestimmte kulturelle Eigenheiten absterben.

Ein ganz generelles Problem in diesem Zusammenhang ist die bereits genannte vorrangige Orientierung des „Plattdeutschen“ auf leichte, unterhaltsame Inhalte, die ja einhergeht mit einer allgemeinen gesellschaftlichen Tendenz zu einer gewissen Oberflächlichkeit und Bequemlichkeit. Die zunehmende Undurchschaubarkeit der gesellschaftlichen Vorgänge bringt als Reaktion die Sehnsucht nach Überschaubarkeit und einer gewissen Einfachheit hervor. Und die lässt sich durch die Hinwendung zu vergangenheitsorientierten Themen („wie es früher einmal war“) sehr gut bedienen, was einen besonderen Vorzug des „Plattdeutschen“ hervorgebracht hat. Die niederdeutsche Sprache von „früher“ ist eben noch „reiner“, weil noch nicht so stark vom Hochdeutschen beeinflusst.

Das Durchschnittsalter der Mitglieder entsprechender Vereine spricht für sich (Diese Art von Vergangenheitsorientierung ist allerdings keineswegs auf das „Plattdeutsche“ beschränkt – im Bereich populärer Musik dominieren z.B. Rückgriffe auf das vorige Jahrhundert, die gesamte Mittelalterszene lebt davon etc.). Leider trägt eine solche Handhabung kaum zu einem zeitgemäßen Ausbau der Sprache bei – allerdings sehr wohl zu einem zeitweisen Erhalt alter und urwüchsiger Sprachformen.

Ein weiteres Problem kommt dazu: wer sich – aus welchem Grunde auch immer – in einem Landstrich mit starker niederdeutscher Sprache niederläßt, ohne selbst durch Geburt oder Familie dorthin Bande zu haben (und daher auch nicht „auf natürlichem Wege“ in die Sprache hinein gewachsen ist), kann tun was er will: er gilt nicht als einheimisch. Er mag die Sprache noch so gut lernen, mag auch für die Region, ihre Sprache und Kultur eintreten so viel er will, er gehört einfach nicht „vollwertig“ dazu. Das wird man erst, wenn man von maßgeblicher Stelle aus anerkannt wird.

Ein Beispiel dafür ist die Handhabung in Ostfriesland: als Ostfriese gilt man nur, wenn man hier geboren ist (bis vor gar nicht langer Zeit galt zusätzlich: die Familie musste mindestens drei Generationen lang in Ostfriesland ansässig sein), oder durch gesellschaftlich anerkannten sehr nachhaltigen Einsatz für Ostfriesland durch das ostfriesische Kulturparlament (die „Ostfriesische Landschaft“) das „Indigenat“ als eine Art „Ehrenbürgerschaft“ verliehen bekommt.

Und so kann die Gefahr entstehen, dass ein immer älter werdender „Klub“ der „echten Ostfriesen“ – ungewollt! – dafür sorgt, dass kaum ein frischer Wind zur Geltung kommen kann (Anmerkung: ich verwende hier Ostfriesland als Beispiel, weiß aber sehr gut, dass es andernorts in anderer Form die selbe Erscheinung gibt, teilweise in noch sehr viel härterer Form).

Sprache und Kultur können aber nur LEBENDIG weiter geführt werden, wenn jedes Engagement zu ihrer Weiterentwicklung aufgenommen und eingearbeitet wird. Sprach- und Kulturaufseher („wir, die wir wissen, wie das RICHTIG ist“) wirken hier wenig förderlich (siehe meinen Artikel =>“Wer ist Friese?“)

Wie aber nun weiter?

Natürlich kann niemand irgendeine allein selig machende Antwort geben. Einige Punkte finde ich aber ernsthaft erwägenswert und zähle sie hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit auf:

  1. Ich sehe in der Bezeichnung „Niederdeutsch“ für die hier gemeinte Sprache den bisher neutralsten und am besten sachlich begründbaren Namen. Auf kleinere Regionen bezogene Bezeichnungen benennen immer nur Dialekte innerhalb des gesamten niederdeutschen Sprachraumes. Der Bezug auf den „Stamm“ der Sachsen ist aus den oben genannten Gründen problematisch, ebenso wie der Ausdruck „Plattdeutsch“, der wohl in vielen Bereichen des Alltags passend sein kann, aber niemals die Sprache als ganzes fassen kann. Das mag manchen wurmen, der wissenschaftliche Ausdrucksweise nicht mag, es bleibt aber aus meiner Sicht trotzdem gültig. Einrichtungen wie das „Institut für niederdeutsche Sprache“ haben in ihrem Namen diesen Verhältnissen Rechnung getragen.
  2. Es ist für die Weiterentwicklung der niederdeutschen Sprache unverzichtbar, immer neue Domänen zu „erobern“. Eine Ausweitung nur im Bereich der Populärkultur und orientiert auf Massenwirkung kann dafür keinesfalls ausreichen. Wo immer bedrohte Sprachen „wiederauferstanden“ sind, waren es einzelne wirkliche Enthusiasten, die „ansteckend“ gewirkt haben – als Aktivisten, als Dichter oder in anderer Weise (ein Beispiel ist das Revival des Manx, der keltischen Sprache der kleinen Isle of Man in der irischen See; siehe z.B. den Artikel im Guardian =>“How the Manx language came back from the dead“)
    Dass dieser mein Artikel zum Thema nicht niederdeutsch verfasst wurde, ist seiner Wirkungsabsicht geschuldet. Will man hier etwas wirklich Gediegenes abliefern, z.B. nicht überall in Wortschatz und Formulierungen Anleihen bei der hochdeutschen Sprache machen, so steckte sehr viel Arbeit darin. Und man hätte dann einen Artikel verfasst, den viele Menschen nicht lesen würden – mangels entsprechender Sprachkenntnisse oder wegen der unbequemen Anforderung, sich in den Gebrauch des Niederdeutschen auf einem ganz ungewohnten Feld ein zu leben. Gleichwohl wäre es konsequent.
  3. Wie in fast allen gesellschaftlichen Bereichen entstehen Probleme dann, wenn EINE Sichtweise zur allein gültigen gemacht werden soll. Sprachbenennungen können je nach dem Zusammenhang, in dem sie stehen, passend, anmaßend, hilfreich oder hinderlich sein. Wie oben schon angedeutet: im Alltag „Platt to proten“ ist aus meiner Sicht angemessen, „Plattdeutsch“ als übergeordnete Bezeichnung für eine selbständige, in Ausbau befindliche Sprache mit zahlreichen Dialekten aber nicht. Für mich spricht nichts dagegen, wenn die auf dem Gebiet niederdeutscher Sprachpflege ja sehr aktiven und erfolgreichen Ostfriesen ihre regionale Sprachform selbstbewusst „Oostfreeske Taal“ nennen – und dabei alle klare Unterscheidung von friesischen und niederdeutschen Sprachvarianten unter den Tisch fallen lassen, ja vielleicht sogar bei manchem Besucher ganz falsche Vorstellungen wecken (nämlich: diese Sprache sei „friesisch“)? Sie fühlen sich eben mehr als „Friesen“ denn als „Sachsen“, und so ist dieser Name der Sprache auch Ausdruck für ihre gelebte Identität (zur Frage der friesischen Identität nochmal der Hinweis auf meinen Artikel => „Wer ist Friese?“). Und mancher überzeugte Niedersachse kann seine Sprache gerne als „Sassisk“ bezeichnen – was spricht dagegen? Solange jeder deutlich werden lässt, dass seine Bezeichnung für diese Sprache SEINE persönliche Identifikation mit ausdrückt, spricht aus meiner Sicht nichts dagegen. All dies sind Namen für DIALEKTE des Niederdeutschen (auf Regionen oder bestimmte Anwendungsbereiche bezogene) – man sieht daran, wie bunt die Wirklichkeit dieser Sprache ist.
  4. Die niederdeutsche Sprache kann vielleicht gerade dadurch, dass sie als zusammenfassende gemeinsame GRUNDLAGE und nicht als bestimmendes DACH all ihrer Dialekte aufgefasst wird, eine Art „Gegenentwurf von unten“ zu den hoheitlich geförderten und von oben herab regierenden National- und Standardsprachen werden. Die Gemeinsamkeiten der niederdeutschen Dialekte sind groß genug, um dem noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden Gedanken einheitlicher Kulturräume, die sich durch Nationalität (sprich: Geburt und Wohnort, oder anders gesagt: Blut und Boden) definieren, einen subsidiären und durch freiwillige Zusammenarbeit lebendigen Kulturbegriff entgegen zu stellen. Fragen von „richtig“ und „falsch“, „Vorgaben“ für die Rechtschreibung sind dann keine hoheitlich sanktionierten Festlegungen, oder gar Ausdruck eines „ewigen nationalen Wesens“, sondern einfach flexible Absprachen zur Sicherung der gemeinsamen Verständigung. Warum sollte das Niederdeutsche dem in der Vergangenheit mit kulturimperialistischem Gehabe sprachliche Vielfalt unterdrückend aufgetretenen Hochdeutschen denn gerade DARIN nacheifern wollen?



Em Huisken – Soltküstensang

Soltküstensang
Em Huisken Soltküstensang 1

De Soltküsten van Europa hebben en egen Aroma. De faste Wall, waar wi weten waar unnern un boven is, geiht över in de See; wenn wi daar neet unnergahn willen, mutten wi en lüttje Stück Land mitneh­men – dat Schipp.. Man waar is disse Grenz nu akke­raat? Tweemal an d‘Dag ännert sük dat, un de Priels un Sandban­ken sünd van­daag womögelk neet mehr daar, waar se güs­tern west hebben. Niks is seker in‘t Wadd. Mien Soltküstensang vertellt daarvan.

Em Huisken Soltküstensang 2

Un binnen in d‘Seel hebben wi dat Tegenstück daarto: över Dag sünd wi an Land so­toseggen, un in de Nacht gahn wi unner in de See van Slaap. Un daartüsken? Daar is dat Land van de Drömen, van Jank un Iever, van Begehr un van Süchten.

Mien Soltküstensang vertellt van disse „Waterkanten“: de Wad­den­küst, waar gau Drömen upkomen, un van dat Dröömland in d‘Seel mit sien solten Aroma van Ge­fahr un De-Padd-Söken. Daar­van sing un spööl ik, mit Akkor­doen, Gitarr, Bombarde (en bre­toonske Schalmei), Mun­dörgel un Oboe. Maal mehr van Seelüü un Küstenkeerls, mal mehr van Elfkes, Water­mannen un sükse rare Lüü ut de anner Welt. Of un to word dat ok filosofisk. Man Soltküstensang blifft dat doch alltied.

=> hier gibt es (fast) den selben Text auf Hochdeutsch




Warum ich (kein) plattdeutscher Liedermacher bin

Ich muss mir hier mal etwas von der Seele schreiben, über die Sprache Ostfrieslands und was sie mir bedeutet:

Plattdeutsch ist doch etwas von gestern! Wer interessiert sich denn heute noch dafür? Rückständiges Volk, etwas bornierte Menschen, grobe Sprache, nur für den Alltag tauglich, Kultivierteres kann man damit gar nicht sagen! Für Komödien und Schwänke geeignet: also für Erzählungen aus der Welt von gestern! Kann man prächtig drüber lachen! Sag ich doch! Und die Lieder erst! „Dat du mien Leevsten büst“, „Wo ik herkam“, und so weiter und so fort – alles Gesäusel aus einer Zeit, die es nicht mehr gibt! Und wenn es denn neue Texte sind, bleibt der Inhalt – platte Schlager eben, für die Generation 60+!

Schlimme, einseitige Darstellung das, oder? Ja, aber – leider entspricht das meiste der Lebenswirklichkeit. Noch immer hört man das „Platt musst du mit de Modermelk insogen hebben, anners kannst du dat neet!“ (Oder etwas verträglicher: „Wi frein uns düchtig wenn daar een Platt lernen will, man wenn’t denn richtig worden sall mutt he of se uns, de echte Ostfresen fragen, sük korrigeren laten.“) Also noch immer: die „richtige“ Sprache gedeiht nur auf dem „richtigen“ Blut und Boden? So wahr es ist, dass ein Neu-Lerner Hilfe braucht und suchen sollte, so wahr bleibt es auch, dass alles Binden des Neuen in den Rahmen des Alten jede Veränderung tötet. Nicht verhindert, aber tötet. Die Veränderung ihrer selbst beraubt, nämlich des Lebens, der Möglichkeit, sich zu entwickeln. Entwicklung lebt aus dem Experiment, aus dem Unerlaubten, aus der Grenzüberschreitung und dem offenen Suchen, und jede auch noch so gut gemeinte Schulmeisterei verhilft da nur zum Misserfolg.

Damit ist allerdings das sogenannte „Plattdeutsch“ (wer hat eigentlich diesen unseligen Kampfausdruck gegen das Niederdeutsche „eingemeindet“, zur Selbstbezeichnung dieser Sprache gemacht – „Plattdütsk“?) leider nicht allein. Die allgemeine Neigung der Menschen unserer Zeit, sich in der Freizeit, zur Erholung lieber dem Verherrlichen überschaubarerer Zusammenhänge als unserer heutigen Lebenswelt zu widmen, gibt es ja überall. Allerdings: dass eine ganze Sprache dadurch in diese Vergangenheitsträumerei gezogen wird, gibt es nicht ganz so oft.

„Aber das wollen wir doch gerade ändern!“, werden die Aktivisten für die niederdeutsche Sprache ausrufen. „Wir wollen doch Plattdeutsch alltagstauglich machen und halten! Platt in Kindergärten, in der Schule, überall!“ Ja, das stimmt, und ich bin der letzte, der den teilweise sehr undankbaren Job und den hohen Einsatz dieser Menschen nicht zu würdigen wüsste. Aber es bleibt eben dabei (siehe oben): für den Alltag tauglich. Welche Sprache man auch ansieht, gerade die schon einmal vom Aussterben bedrohten: keine hat sich hier nachhaltig behauptet, die nicht eigenständige, neue Kulturleistungen und neue, mythisch wirkende Inhalte geschaffen hat. Das konnte durch begeisternde Dichter geschehen (ndl. Friesland), die Pflege einer unterscheidbaren, selbständigen Volksüberlieferung (Bretagne) oder andere Dinge, die schon allein wegen der Inhalte die Menschen faszinierten. Das in jeder Hinsicht verdienstvolle Wirken der Sprachpfleger hat auf die Dauer nur auf dieser Basis eine Chance. Das Kleben an saturierter Bürgerlichkeit gehört aus meiner Sicht nicht zu diesen notwendigen Inhalten.

Damit wäre dann eine Sprache auch in der unmittelbaren Zeitgenossenschaft angekommen. Neue Mythen, neue, begeisternde Bilder vom menschlichen Sein fehlen doch überall. Die Schulen – so wie sie nun einmal sind zur Zeit – können doch gar nichts anderes als das Wissen und Denken der Vergangenheit zu überliefern, und – auch das ganz offenbar abnehmend. Die Revolte der Jugend – offen ausgetragen oder im inneren Rückzug, in Verzerrungen, Verführtheiten, Haltlosigkeiten – ist doch allgegenwärtig. Wer also hier die niederdeutsche Sprache verankern will, muss Wege zu den inneren Beweggründen der heutigen Lebensunsicherheiten, Lebenslügen und Suchbewegungen finden. So wie überall, wo die Strukturen bröckeln. In der ganzen Gesellschaft also. Und da ist dann der freiwillige Rückzug auf Alltag, und alltägliche Freizeit-Träumerei nicht unbedingt hilfreich.

Da wäre doch das Lied, oder die kultivierte Theatersprache, oder das Gedicht etc. das passende Betätigungsfeld. Ganz wenige, einsame Leuchtfeuer gibt es da, die niemals faule Kompromisse gemacht haben: ich persönlich zähle Greta Schoon dazu, teilweise Oswald Andrae, aber auch Helmut Debus und Wolfgang Rieck. Nicht, dass all die anderen schlecht wären, oder unfähig. Von so einem Urteil bin ich weit entfernt. Aber sie haben eben vielfach Themen, die rückwärtsgewandt sind, wenn auch manchmal schwer erkennbar, aber doch. Dass es hier und da anderes gibt, was ich einfach nicht kenne, glaube ich ganz bestimmt, und hoffe ich sehr. Denn was für eine Chance hätte diese wunderbare Sprache sonst noch?

Und da haben wir es denn: ich bin kein plattdeutscher Liedermacher, ich bin dazu einfach ungeeignet. Weder in Ostfriesland geboren, noch von einem „echten“ Ostfriesen zur „richtigen“ plattdeutschen Sprache gebracht worden. Was ich im Niederdeutschen kann, habe ich mir gänzlich selbst erarbeitet. Was ich mache, kommt einfach aus mir selbst. Dann bleibe ich eben ich selbst, und werde kein plattdeutscher Liedermacher. Weil ich immer ein bisschen direkt bin, sind meine Lieder leider auch keine kommodigen Säuseleien. Und – leider, leider – sind sie natürlich (und das meine ich gänzlich ernst) qualitativ weit entfernt von wirklich relevanter Lyrik (wie z.B. bei Greta Schoon). Aber dennoch bleibe ich dabei: diese Sprache taugt zu allerlei „Ernsthaftigkeiten“ (ein Ausdruck von Wolfgang Rieck in dieser Sache), die sich im Hochdeutschen gar nicht adäquat sagen lassen. Und es wäre schade, wenn ich es sein ließe, einfach weil es nicht genügend gefällig ist. Eine niederdeutsche Sprache ohne Ecken und Kanten wäre nicht sie selbst, finde ich.

Darum sind meine Texte zunehmend in ostfriesischem Niederdeutsch verfasst. Gesungen werden sie auch. Leider musikalisch auch nicht im Rahmen des gemütlichen plattdeutschen Liedgutes aus dem bürgerlichen Leben des 19. und 20. Jahrhunderts. Sorry, nehmts mir nicht übel, aber wir haben jetzt das 21. Jahrhundert. Und da werden wir ganz viel ganz neu erfinden müssen. Auch im Niederdeutschen, wenn es denn auf die Dauer ein Rolle spielen soll. Den derzeitigen musikalischen Moden hinterher zu rennen (Metal, Rap, Hiphop) hilft hier auch nicht; das ist dann nämlich nichts wirklich Eigenes, neu Erfundenes, also nicht das, was wirklich fehlt. Da und nur da mache ich mit, mit Einsatz und Überzeugung: bei dem Neu-Erfinden, Probieren, Experimentieren.

P.S.: Dazu gehört auch, dass ich mit meinen Liedern ohne zu Zögern auch in Hessen, in der Eifel oder sonstwo auftrete, meinetwegen auch in Honolulu. Einem Schotten rechnet man es doch auch hoch an, wenn er schottisches Gälisch singt, oder einem Iren sein Irisch. Auch wenn man kein Wort versteht. Sehr viele englische Texte versteht kaum einer, wenn sie gesungen werden. Sonst könnten sie nicht so oft beim Nachsingen völlig entstellt werden (auch öffentlich, auf Bühnen). Aber das merkt ja sowieso keiner, wenn keiner die Texte versteht. Na also. Noch Fragen?

© Stefan Carl em Huisken 2015