Wie wird der Mensch?

„O Mensch, erkenne dich selbst!“ – so tönte es dem Sucher aus den alten Mysterien entgegen. Da der Mensch als Werdender aber niemals gleich bleibt, sondern immer in Entwicklung ist, kann er sich selber nur verstehen, indem er sein eigenes Werden geistig umfasst.

Das innere Erkenntnislicht entsteht aus dem Selbst-Bewusst-Werden des Menschen als einem aus dem Weltganzen gleichsam „Hinausgeworfenen“, der die Welt verloren hat und den die Welt verloren hat, und der aus alldem, was er in seinem (seelischen) Innenwesen finden kann, diesen Verlust als seinen eigenen Anfang erleben lernt, indem er seine Situation in seiner Seele anschauen lernt, bedenken lernt, mit seinem inneren Denk-Seelenlicht bescheint. Er bemerkt: Ich bin anders als die Welt, „mein Reich ist nicht von dieser Welt“.

Indem der Mensch so in innerer Besinnung auf diesen „Hinauswurf“ sein eigenes Werden nachvollziehen lernt, wendet sich der Geist, der Mensch und Welt als polar sich tragende Einheit umfasst, aus dem Menschen zur Welt, fügt dieser Welt damit etwas Neues, aus ihm selber Stammendes hinzu, und muss doch gleichzeitig bemerken, dass, was er gerade hervorbrachte, ihm im selben Augenblick wieder entgleitet. Seinen eigenen geistigen Erkenntnisprozess kann der Mensch nicht festhalten, so wie es auch der Gottesgeist mit dem seinigen nicht konnte, da dieser Prozess in ständiger Wandlung ist und nur im Tun vorhanden und anschaubar.

Zwischen Welt und Geist weben also Kräfte, welche aus beiden in unterschiedlicher Weise hervorgehen, die Einheit des jeweils individuellen Menschen. Indem der Mensch als irdisches Einzelwesen in diese gleichsam kosmische Polarität und damit als Mittelpunktswesen seines eigenen, umfassenden Seins in den Raum der Welt gestellt ist, wird er zum Träger des Ausgleichs zwischen Außenwelt und Seelengründen. Vom kosmischen Schicksal ergriffen und in diesen Mittelpunkt gestellt, findet er sich auf der Suche nach dem rechten Greifen des Ausgleichs, nach demjenigen, worin sich nach Schillers Worten Anmut und Würde ausdrücken können: der Kunst und dem Spiel.1

Der einzelne individuelle Erdenmensch, so, wie er aus dem kosmischen Schicksal heraus geworden ist als ein Mittelpunktswesen des Universums, erwacht für sein eigenes Sein, und wird dadurch zugleich diesem Mittelpunkts-Sein gerecht, indem er in seinem eigenen Erwachen die eigene, in ihrem ganzen Umfang ihm noch unbewusste Göttlichkeit bemerkt. So kann er ahnen und schauen, wie aus dem Kosmos heraus dieses ganz dem Kosmos entfremdete Wesen seiner selbst, aus sich selbst heraus, zunächst in strenger innerer Denk- oder Meditations-Arbeit den Gedanken des kosmischen Wesens und Werdens hervorzubringen beginnt, der ihm selber immer mehr zur Stütze seines eigenen Seins wird. Dadurch wird er unabhängig vom kosmischen Werden, kann aus sich selbst heraus den Weg der Freiheit betreten.

Aber er muss ertragen, dass alles, was er sich und dem Weltenprozess aus sich selber hingibt, im Augenblick der ersten Wahrnehmung des gerade Gegebenen ihm entfällt, das Leben verliert, aus einem Ergebnis seiner eigenen Entwicklung zu einem Hindernis für das Weiterschreiten wird; der Mensch schafft sich also selber Widerstände, an deren Überwindung er dann zu wachsen hat2. So wird er von einem Geschöpf des Lebens zum Mit-Schöpfer, zu einem fortlaufend sich höher entwickelnden Quell des Lebens. Der Mensch selber wird dadurch zum Quell der Lebenskraft, einem Quell, der aus dem eigenen fortwährenden Schaffen heraus nach und nach zum verlässlichen Bestandteil des lebendigen Weltganzen werden kann, da er seine Kraft eben aus sich selbst, aus dem Beobachten des eigenen Tuns immer neu zu schöpfen lernt.

Was der Mensch in der Welt schafft, unterliegt deren Gesetzen in dem Augenblick, wo es der Welt übereignet wird. Macht sich der Mensch als schaffender Kräftequell aber selbst zum Gegenstand, der ihm schließlich im Weltganzen gegenübertritt, so schenkt er sein Leben gleichsam weg, geht selber durch den Tod, verändert dieses Weltganze damit aber so, dass er ihm neues Leben einhaucht. Sein eigener Zeitenstrom des Lebens gliedert sich dem kosmischen Entwicklungsstrom ein, verrinnt in diesem. Damit werden beide – Erdenmenschenwerden und kosmisches Werden – nach und nach eines. Indem der Mensch sein eigenes Selbst-Werden der Welt schenkt, soweit er dies sich selber gegenüberstellen kann, ist er dem Weltenwerden einverwoben3.

Damit tritt er ein in den geistigen „Raum“, dem das Werden entstammt. Was der Mensch im Bewusstwerden des eigenen Wesens erschafft, wird Bestandteil des Ewigen im Weltganzen. Sein eigenes Menschsein wird damit Ausdruck und untrennbarer Bestandteil des geistigen Seins und Werdens im Ganzen der göttlichen Schöpfung; seiner Aufgabe als Mittelpunkt und Schau-Platz des Weltenwerdens kann der Mensch so gerecht werden. Dass er selber die Welt und die Welt ihn verlor, ist damit Voraussetzung für beider neue Belebung und Auferstehung in die Zukunft hinein.

Kein Mensch ohne die Welt, aber auch keine Welt ohne den Menschen.


Im Erdendasein des Christus Jesus wurde daher gleichsam exemplarisch das Wesen Gottes als Urheber aller Werdekraft, aller Weltenziele und aller Weltobjekte im Rahmen des Weltenwerdens durch den Menschen Jesus und den ihm einverleibten Christus all den „Hinausgeworfenen“, den „verlorenen Seelen“ ganz handfest als Auftrag und Verheißung gezeigt: werde wie er, indem du ihn in dir wirken lässt (also: in Form deines eigenen, freien Lebens-Werdens). Nur im Rahmen der Gesamtbewegung der Menschenentwicklung bekommt dieses Ereignis einen Sinn. Indem wir lernen, im „Buch des Lebens“ zu lesen, also in den in unserem Denken erfassten Bewegungen der Lebensvorgänge, bekommen einzelne Tatsachen so ihren guten Sinn.


Auch mit den Worten, die aus dem lebendigen Schaffen des Dichters heraus bis zu toten Buchstaben auf Papier geronnen sind, ist es so. Ihren wirklichen Sinn bekommen sie nur, wenn wir Zugang finden zu den sie hervorbringenden lebendigen Denk- und Lautbewegungen – niemals aus dem einzelnen Wort heraus oder gar aus dem, was wir gewohnheitsmäßig mit ihm verbinden.

Und auch die Sprache des Schicksals folgt diesem Gesetz: nicht die „Worte“, hier also die einzelnen Ereignisse im Gang des Lebens lassen uns diese Sprache verstehen; es sind erst die Bewegungen, welche die Abfolge der Ereignisse in unserem Leben veranlassen, durch die wir die Bedeutung der Ereignisse ermessen lernen. Wie im ewigen Gesetz von Leben und Tod, aus dem wiederum neues Leben aufsteigen soll, der Menschengeist sich selbst erschafft und sein Leben der Welt übergibt, so gibt die Sprache des Schicksals zwischen Sterben und Auferstehung dem Menschen erst den Sinn seiner selbst.

© Stefan Carl em Huisken 2023

1vgl. Schiller, Friedrich: Über Anmut und Würde. In: Schiller, Friedrich: Schriften. Schillers Werke. Band 4. – Frankfurt a.M. 1966, S. 141ff, besonders S. 170ff

2Tat dies der Gott nicht in ähnlicher Weise? Vgl. den Aufsatz „Wer ist Gott?“, https://emhuisken.de/wer-ist-gott/

3An einer eher praktischen Frage habe ich dieses Sich-Einverweben in den Weltenstrom ein wenig erörtert in meinem Artikel „Was hilft die Aufregung? – Die Kräfte wirksam nutzen“, hier: https://emhuisken.de/das-boese-was-hilft-die-aufregung-die-kraefte-wirksam-nutzen/


Cover Wahnsinn und Denken Menschen-Werden

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Schicksal und Freiheit – Tore der Zukunft

Schicksal und Freiheit erscheinen uns zunächst wie unversöhnliche Gegensätze – das Schicksal zwingt uns unerbittlich, und die Freiheit will allen Zwang unwirksam machen. Die Ereignisse der Zeit, in der wir leben, geben zu einer solchen Ansicht vielfach Anlass. Dass Schicksal und Freiheit nicht wirklich Gegensätze sind, und dass beide uns vielmehr Eingangstore zu einer Zukunft werden können, in der die beiden Seiten des menschlichen Lebens, auf die diese Worte verweisen, sich ergänzen und zu einer neuen Gegenwart des Menschen im Weltgeschehen führen können, soll in den hier geschilderten Denkwegen aufgewiesen werden.

Daraus ergibt sich zugleich ein Hinweis auf die Rolle des Denkens im heutigen Menschen: für das Eindringen in geistige Zusammenhänge ist zunächst nichts als dieses Denken selber notwendig; „Geistesschau“ im Sinne sogenannter „Hellsichtigkeit“ muss dafür nicht in Anspruch genommen werden. Dieses Thema soll in späteren Beiträgen weiter ausgearbeitet werden.

Schicksal

Was wir im Laufe unseres Lebens in der Welt erleben, kann ganz unterschiedliche Formen annehmen, Formen, die uns gefallen oder missfallen, mit denen wir uns leichter oder schwerer verbinden können und die uns mehr oder weniger Freude oder Leid bereiten. Damit ist aber nur eine Art „Außenseite“ der erlebten Tatsachen und Verhältnisse angedeutet. Was unsere Erlebnisse viel fundamentaler in zwei grundsätzlich verschiedene Arten gliedert, ist der jeweilige Quell ihres Auftretens.

Im Schicksal begegnen können uns Gegenstände und Verhältnisse der Außenwelt ebenso wie solche, die unserer eigenen seelisch-geistigen Innenwelt entstammen. Süchte, Sehnsuchten, Strebensrichtungen, Erkenntnisweisen, Gewohnheiten und vieles mehr liegen in uns genauso als Gegebenheiten vor wie die Verführungen und Notwendigkeiten der uns umgebenden Welt. All dies, was uns im Erleben auf bestimmte Wege lenkt, macht unser Geschick aus, im Wortsinne also das, was für uns passend und geeignet scheint und als solches uns „geschickt“ wird, oder – anders gesagt – was „Gott“ oder „die Vorsehung“1 uns als zu Erlebendes auferlegt. Wir umfassen es mit dem Worte „Schicksal“.

Einer Auffassung, die nur dasjenige, was uns in der äußeren, durch unsere Sinne erlebten Welt begegnet, als „Schicksal“ ansehen möchte, sei entgegengehalten, dass zunächst unsere inneren, geistig-seelischen Lebensverhältnisse ebenso unausweichlich vorbestimmt sind wie diejenigen der Außenwelt; erst mit zunehmender Bewusstwerdung lernen wir nach und nach, die gegebenen Verhältnisse umzugestalten, innen wie außen. Es bleibt aber allzeit genügend Unbearbeitetes auf allen Lebensgebieten übrig, um das „Schicksal“ als eine gleichermaßen innerlich wie äußerlich auftretende, das ganze Leben hindurch vorhandene Tatsache anzusehen.

Als „Schicksal“ kann also die Gesamtmasse all desjenigen angesehen werden, was uns im Gang des Lebens im Gegebenen vorgesetzt ist und uns bestimmt. Umfang und Charakter dieses Gegebenen können sich im Laufe unseres Lebens – auch durch unsere eigenen Aktivitäten – fortlaufend verändern. Dennoch bleibt immer ein Anteil an Lebenseinflüssen, die wir nicht oder kaum vorhersehen und kontrollieren können. Das „Schicksal“ tritt uns gleichsam in unausweichlicher Notwendigkeit entgegen; sein Quell scheint uns unzugänglich und kaum beeinflussbar.

Freiheit

Ganz anders dagegen tritt dasjenige auf, was wir als unsere eigenen Taten der schicksalsbestimmten Innen- und Außenwelt entgegentragen. Auch wenn wir in vielen Fällen nicht genau sagen können, wie und warum wir gerade so und nicht anders handeln, so ist doch immer eines klar: es sind unsere eigenen Taten, wir stecken darin, sie gehen von uns selber aus, und wir selber sind Quell des Geschehens. Ohne uns selber – das ist unmittelbar einsichtig – fänden diese Taten nicht gleichermaßen statt.

Insofern knüpft sich heutzutage immer der Gedanke der Freiheit an alle Taten, die wir zu vollbringen trachten. Wohl sind wir uns in der Regel darüber im Klaren, dass unbemerkt Einflüsse aus anderen Quellen als uns selber uns zu dieser oder jener Tat veranlassen können; unbezweifelt bleibt dabei jedoch (wenn wir einmal von direkt krankhaften Situationen absehen), dass wir selber der Täter und damit für das Geschehen verantwortlich sind.

Nur – wer ist das eigentlich genau: ich selber? Diese Frage – einmal aufgetaucht – kann sich schnell zu einer der bestürzendsten Verunsicherungen ausweiten, die wir je erlebt haben. Natürlich, jeder von uns weiß dies oder jenes aus Erfahrung über sich selber zu sagen. Auch diverse Theorien über das Wesen des Menschen können zunächst den Anschein erwecken, die Frage nach uns selbst neutralisieren zu können. Es liegt aber im Wesen von Theorien als in sich gedanklich feststehender Erklärungssysteme, dass sie jederzeit vom konkreten Leben in Frage gestellt werden können (und werden!). Das weist uns darauf hin, dass die Frage nach uns selber eine ist, für deren Beantwortung niemals Sicherheit zu erlangen ist. Eben dies ist uns Garant der Freiheit; wären wir etwas Definierbares, Feststehendes, so wären wir nur eine Variation des Notwendigen. Für Freiheit bliebe da kein Raum. Wir würden dann zu einem Gegenstand, der uns wie die innere und äußere Welt im Sinne des Schicksales gegeben wäre, und an dem wir nichts verändern könnten.

Es stimmt ja, dass der Quell unseres Schicksales uns selbst erschaffen hat, wir uns sozusagen selber ein „Gegebenes“ sind. Dieser Quell hat aber auch die Tatsache über uns verhängt, dass wir mit unserem Ich zugleich den Urgrund des Freiheitsgedankens in uns tragen. Dadurch, dass wir den wahren Quell unserer selbst ebensowenig erlebend kennen wie den Quell unseres Schicksales (den man in der Regel „Gott“ oder ähnlich zu nennen pflegt), herrscht in der Frage der Selbsterkenntnis dieselbe Unsicherheit wie gegenüber der erlebten Innen- und Außenwelt.

Aber es gibt einen Unterschied: die Welt begegnet mir gleichsam „gottgegeben”, ohne dass ich unmittelbar etwas daran tun kann. Meine eigenen Taten sind aber ohne mich selber gar nicht denkbar. Darin liegt meine Freiheitsmöglichkeit: ich stecke in jeder meiner Taten zumindest mit-bestimmend darinnen.

„Freiheit“ ist also etwas, was mir nicht gegeben ist in derselben Weise wie die mich umgebende Welt, oder meine Talente, mein Leib, meine Wünsche und Ziele. Freiheit entsteht immer erst im Rahmen meiner Mitwirkung am Geschehen, nach Maßgabe meines Bewusstseins über die Quellen und Motive meines Handelns.

Ich und Person

So sind in jedem von uns zwei Seiten des Lebens ineinander geflochten: die schicksalhaften, gleichsam aus unentrinnbarer, meist unerkannter Notwendigkeit hervorgehenden Gegebenheiten einerseits, und die aus der Erkenntnisunsicherheit heraus von uns selber bestimmten, auf Freiheit orientierten eigenen Taten. Beide Seiten haben Anteil an dem, was wir sind und was wir werden können.

Es ist ja unbezweifelbar: was ich heute tue, ist morgen bereits Bestandteil des allgemeinen Geschehens geworden, das durch seine Folgen gewissermaßen unerbittlich nunmehr seine Anerkennung als Bestandteil der im Schicksal fortwirkenden Kraft fordert. Was getan ist, ist geschehen. Die Vergangenheit können wir nicht ändern, und war die Tat zum Zeitpunkt ihrer Ausführung noch so frei. Nun zwingt sie durch ihre Folgen.

So entsteht nach und nach ein Teil der mir zu Anfang noch gänzlich fremd gegenüber stehenden Schicksalswelt, mit dem ich fest verbunden bin, da ich mitgestaltend daran beteiligt war.

Alles, was an Bildungseinflüssen auf mich eingedrungen ist in der Form, dass es mein Mittun forderte – egal, ob ich es im Augenblick des Geschehens verstanden habe oder nicht – wird dadurch zu einem Teil meines Tuns in der Zukunft. Wie ich gehandelt habe in der Vergangenheit, prägt wie durch einen Übungseffekt die Art meines Handelns heute und in Zukunft mit. Diesen Teil unseres Lebens in der Welt können wir auch unsere Person nennen.

Wo ist der Unterschied zwischen mir und meiner Person2? Das Wort sagt es bereits: das lateinische per-sonare bedeutet soviel wie „hindurchklingen“. Durch all meine Taten klingt also immer auch dasjenige mit, was mich aus Schicksalseinflüssen und eigenen (mehr oder weniger freien) Taten bis hierher gestaltet hat. Ich handele insofern durch meine Person; sie ist mein Werkzeug, durch das ich meine Willensimpulse im Tun mit der Schicksalswelt verbinden kann.

Die Person selbst kann insofern niemals frei sein. Sie ist bestimmt von den Einflüssen des Schicksals und von mir. Die Frage der Freiheit stellt sich daher nur für das menschliche Ich selber: wieviel Bewusstsein kann es im Augenblicke der Tat, das heißt also seines Wirkens durch die Person, von den Quellen und Motiven haben, aus denen dieses Tun hervorgeht? Wieweit lässt andererseits das Ich die Person gleichsam automatisch aus ihren gewordenen Bedingungen heraus wirken? Man sollte sich da nichts vorlügen: die Entscheidung, nicht selbst aus der Freiheit-tragendenden Unsicherheit heraus seine Person zu steuern, ist selber auch eine Tat, und wer so handelt, bleibt für sein Tun – hier in Form des Nicht-selber-tun-Wollens – verantwortlich.

Ein – ideal gedacht – freier Mensch hätte daher seine eigene Person im Sinne einer Selbsterziehung so gestaltet (und würde sie weiter so gestalten), dass bei jedem Geschehen bewusst entschieden würde, wo der Person – oder im weiteren Sinne dem Weltgeschehen – ein Weiterlaufen aus dem schon Erworbenen heraus „erlaubt“ würde, und wo der freie Mensch selber die Zügel in die Hand nimmt.

Ich und Welt

Was hier als Person beschrieben wurde, ist also gleichsam ein besonderer Weltgegenstand, der nicht rein aus der „göttlichen Vorsehung“, also unabhängig von meinem bewussten Einfluss entstanden ist, sondern mein Mitgestalten einbezieht. Nichtsdestoweniger ist diese Person zu jedem Zeitpunkt Bestandteil des Gewordenen, also aktuell desjenigen, was in einem bestimmten Zeitpunkt mein Schicksal ausmacht. Zu einem Teil habe ich da mein Schicksal mitgestaltet.

Das ist aber nur derjenige Teil der Welt, an dem ich meine Mitwirkung und ihre Ergebnisse im Prinzip selber beobachten und berücksichtigen kann. Ein anderer Teil meines Tuns prägt sich ja nicht in Veränderungen meiner eigenen Lebenskonfiguration aus, sondern in Ergebnissen und Taten, die sich mehr oder weniger von mir und meinem Leben ablösen und gleichsam „ihre eigenen Wege“ im Weltgeschehen gehen.

Oft genug kann es vorkommen, dass mir später im Leben Folgen meiner eigenen Taten begegnen, die ich als solche gar nicht sofort erkenne und die daher zunächst ungeschmälert den Eindruck als „vom Schicksal über mich verhängt“ auf mich machen. Erst wenn ich ihnen erkennend nachgehe, kann ich in ihnen freilegen, wie und wodurch ich sozusagen selber einen „Schicksalszwang“ über mich selber ausgeübt habe.

Wie aber ist es dann mit allen anderen Ereignissen, die mir im Schicksal als Weltvorgang begegnen, und deren Quell ich erst einmal gar nicht kenne? Leben darin – neben den ursprünglichen, anfänglichen „Schöpfer-Taten Gottes“ – nicht auch die Folgen der Taten unendlich vieler anderer Menschen, die in all den Äonen vor mir und auch heute, gleichzeitig mit mir gelebt haben und leben? Bin ich dadurch nicht unausweichlich verbunden mit allen anderen Menschen, die je auf der Erde gelebt haben und noch heute leben? Ist nicht – so angeschaut – jede meiner Taten auch mehr oder weniger schicksalsbildend für alle anderen Menschen?

Und ist nicht diese Welt, die ich erlebe, meine ganz individuelle, nur mir zu eigen und sonst niemandem? Geht es nicht jedem anderen Menschen im Grunde genauso wie mir? Dennoch: in den vielen unterschiedlichen, individuell erlebten Welten steckt eine gemeinsame Welt, in der, was der eine tut, auf den anderen wirkt und umgekehrt. Nur ist diese eine – ich nenne sie „wahre“ – Welt eine solche, die niemals ein einzelner lebender Mensch in ihrer Gänze erleben könnte – es sei denn, er wäre Gott.

Wollen wir als Menschen nun dieser „wahren Welt“ näherkommen, so bleibt nur ein Weg: und selber, unsere „Person“ immer mehr demjenigen ähnlich zu machen, was wir uns als den allwissenden, allmächtigen und allweisen Gott zu denken imstande sind. Nicht, um uns selber über diese „Wahre Welt“ zum Herrscher zu erheben, um sie unseren eigenen Wünschen also dienstbar zu machen. Das tun heutzutage viel zu viele Menschen, und es ist ein furchtbarer Quell von Leid und Unfreiheit. Wer sein Schicksal, in dem doch alle anderen Menschen auch vorkommen, nur den im eigenen Inneren als Gegebenes aufsteigenden, gewordenen Tendenzen überlassen will, löscht sich selber aus dem Weltgeschehen aus. Das läuft dann nur noch automatisch weiter, jedenfalls von mir und meiner freien Tat unbeeinflusst, das schon Geschehene fortsetzend in eine berechenbare Zukunft, in der das Ich des Menschen, das doch sein eigentlich Lebendiges und sich Entwickelndes ist, keine Rolle mehr spielt.

Je mehr Menschen so handeln, desto mehr wird allerdings die Welt auch bald keine Welt im bisherigen Sinne mehr sein, nur noch ein tot sich immer reproduzierender Mechanismus. Der Quell des Lebens, der heute dem Menschen in seinem Ich als Urgrund freier Taten übereignet ist, wird dann erlöschen. Wo es kein erlebendes Ich gibt, gibt es auch keinen zu erlebenden Schicksalsinhalt. Das alles ist dann durch ein feststehendendes, sich selber immer gleich wiederholendes Maschinenwesen ersetzt.

Wir können daran sehen: Ich und Welt, Freiheit und Schicksal können ohne einander nicht existieren. Das eine bedingt das andere, Freiheit braucht eherne Notwendigkeit für ihre Entfaltung und umgekehrt. Wie aber können so grundsätzliche Gegensätze miteinander existieren, die doch eigentlich unversöhnlich sind und gar nicht anders können, als einander auslöschen zu wollen?

Liebe

Die Vorstellungen, die wir uns im Verlaufe unseres Lebens als Zeitgenossen erworben haben, machen uns oftmals das Begreifen schwer. Wer nur fertige Begriffe sucht, die er auf das Weltgeschehen anwenden kann, macht sich zum Sklaven des Gewordenen. Wer ist es denn, um dessen Freiheit es geht?

Ist es die Gesamtheit meiner Wünsche und Vorlieben, die hier unbegrenzte Erfüllung sucht? Oder ist es ein Moralgesetz, im Innern auffindbar, das von mir Folgsamkeit verlangt, damit es frei wirken könne? In allen solchen Gedankengängen lebt nur ein Missverständnis dessen, was Freiheit sein kann. Freiheit braucht immer ein erlebendes Subjekt, dem sie zugeeignet werden kann. Weder meine Wünsche und Neigungen, noch ein Moralgesetz sind solche Subjekte: das kann nur das menschliche Ich sein.

Das erlebende Subjekt lebt aus der Existenz des erlebten Objekts, wie wir gesehen haben. Eines ist nicht ohne das andere. Das sich tätig erlebende Subjekt aber kennt sich selbst nicht – dann wäre es ja ein gegebenes, erlebtes Objekt. Es ist daher immer nur auf sich selber angewiesen, und gerade dadurch, in größter Unsicherheit – frei. Wie aber kann es selbst sich dann jemals in der Anschauung zu Bewusstsein kommen?

Der Weg dazu wurde auf einem begrenzten Feld schon aufgewiesen, in dem Prozess der Selbsterziehung im Gestalten der eigenen Person. Indem das freie Ich die eigene Person umgestaltet und so immer mehr zu einem Eigengeschöpf macht, wird diese Person immer geeigneter, in ihrem Erleben und Handeln sich von den Einflüssen der Vergangenheit zu befreien.

Nun kann es für eine solche „Handhabung“ der eigenen Person verschiedene Beweggründe geben. Es kann dies nämlich entweder erfolgen, um sich selber vom drückenden Erlebnis der Unfreiheit zu lösen, dem eigenen Drang zur Unbegrenztheit folgend, oder das Freiheitsstreben wird der Person zu eigen gemacht, um aller Unfreiheit und allem unbewussten, blinden Folgen den Einflüssen des Schicksals gegenüber das Ich und sein Streben nach Freiheit einzuverleiben. Die Freiheit des Ich wird dann eingesetzt, um allen anderen Tendenzen der Welt – die ja, wie schon angedeutet, aus dem gleichsam „göttlichen“ Schaffen ebenso wie aus den Taten aller Menschen als eine Notwendigkeit für den Menschen hervorgehen –, um diesen Tendenzen der Welt immer mehr die Freiheit einzupflanzen, ja, zu schenken.

Das Schicksal schenkte mir das Streben nach Freiheit und die grundsätzliche Möglichkeit zu ihrer Verwirklichung. Schenke ich sie aus freien Stücken weiter, in meinen Weltentaten, so wirke ich mit an der Befreiung der Welt und aller anderen Menschen.

Die eigene Freiheit zu verschenken, sich selber aus freien Stücken zum Helfer des Anderen auf seinem Wege zu sich selbst zu machen, ihm dafür zu dienen, das wird gewöhnlich mit dem Wort Liebe gefasst. Liebe und Freiheit können also gar nicht ohne einander auftreten; wirkliches Lieben um des Geliebten willen kann nur aus Freiheit hervorgehen, sonst wäre es nicht mehr als ein „Haben-Wollen“. Wirkliches Lieben schafft daher Freiheit – beim Geliebten.

Es ist darum bezeichnend, was eine sprachgeschichtliche Betrachtung des Wortes „frei“ ergibt. Es leitet sich ab von der (rekonstruierten) indogermanischen Stammsilbe *prijo- , die „lieb“ bedeutete. Das daraus gebildete gotische Wort frijōn hieß „lieben“, woraus sich das heute in seiner Bedeutung ja eingeschränkte Wort „freien“ ableitet. Im Angelsächsischen wurde daraus frēod für „Gunst“, das schon im Klang Ähnlichkeit zum daraus gebildeten „Friede“ zeigt. Freiheit, Liebe und Frieden sind also Wörter, die einer gemeinsamen sprachlichen Wurzel entstammen.3

„Liebe“ und „Freiheit“ waren also vor Urzeiten für die Menschen offenbar eines. Erst die neuere Zeit hat sie getrennt. Nun liegt es an uns, sie wieder zu einander zu bringen.

Das Schicksal frei gestalten

Worte verändern in der Regel ihre Bedeutung, indem sie Veränderungen im Bewusstsein der Menschen spiegeln. Wie lässt sich dies für die Auseinanderentwicklung der Bedeutungen von „Liebe“ und „Freiheit“ beschreiben? Warum stehen diese Worte heute für so verschiedene, ja gegensätzlich erscheinende Verhältnisse? Wie anders war das Erleben der Menschen in den alten Zeiten gegenüber der heutigen Zeit? Waren sie dem Geist der Freiheit und der Liebe näher als wir?

Vorstellbar wäre das. Vor Urzeiten erlebte der Mensch seine Umgebung noch als belebt von allerlei Wesen, sah sich eins mit ihnen und seiner Welt. Wir heutige betrachten uns ja in der Regel als völlig von den Anderen getrennte Wesen, jeder in seinen Leib eingeschlossen und von demjenigen abhängig, was diesen Leib betrifft; den Menschen als geistiges Wesen, unabhängig vom Leib, erleben wir nicht mehr unmittelbar, schon gar nicht eine wesenhafte Belebung unserer Umwelt. Mancher hält solche Vorstellungen auch für Einbildung.

Noch die Griechen sprachen allerdings von Gedanken als gegebenen (geistigen!) Realitäten, die sie wahrnahmen, und die darum überindividuell wahr sein konnten. Für uns Heutige ist das ungewöhnlich zu denken. Und doch: wie oben gezeigt wurde, führt folgerichtiges Denken zu der Einsicht, dass der Einzelne ohne liebendes Eingehen auf sein in der Welt sich aussprechendes Schicksal nicht zu wirklicher Freiheit, also zum Darleben seiner selbst kommen kann. Sein eigenes geistiges Wesen lebt sich also gewissermaßen mindestens zum Teil in der Außenwelt dar, genauer gesagt, in seinem Schicksal.

Vor Urzeiten, als die Sprache entstand, war wohl der Zusammenhang des Ganzen, von dem jeder Mensch nur ein Glied ist, und in dem der Eine nur leben kann durch den Anderen, den Menschen noch etwas Selbstverständliches. Aber das ergab sich auch so aus den Lebensbedingungen der Gemeinschaft, in der die Menschen lebten.

Aus dem Einzelnen, der sich als Glied der Gemeinschaft sah, entwickelte sich der individuelle Mensch in den Grenzen seinen persönlichen Leibes. War die Liebe bis ins Mittelalter noch die Freude an der Existenz des Anderen, so wird sie heute vor allem als Erfüllung eines (auch leiblichen) eigenen Begehrens aufgefasst. Der auf seinen Leib begrenzte Mensch tendiert zum Egoismus, wenn er zur Freiheit strebt.

Unser heutiger, eigentlich zeitgemäßer Weg zum Umgang mit der Welt, unserem Schicksal und dem Streben nach Freiheit fordert daher eine neue Grundlage. Notwendig ist dafür die Abkehr von geglaubten Inhalten, Moralideen und Theorien, und stattdessen das Ausgehen von demjenigen, was unser unmittelbares Erleben gibt: dem einzelnen Menschen, seinem Schicksal gegenüberstehend, gänzlich auf sein eigenes Denken und Handeln angewiesen. Will er zur Freiheit fortschreiten, so muss er sich aus sich selbst der Welt in Liebe handelnd hingeben, der Welt, durch die sein Schicksal spricht, und diese nach und nach in sein freies Handeln einbeziehen. Dadurch verbindet er seine Sehnsucht nach Freiheit und all das, was er durch die Verfolgung dieser Sehnsucht errungen hat, mit der Welt, und macht so sich selber – und die angestrebte Freiheit – zum Bestandteil des Welten-Schicksales (und damit auch seines eigenen). Dann erst wird ihm sein Schicksal auch so erscheinen können, dass es die Freiheit fördert und nicht einschränkt.

Liegt da nicht ein Gedanke nahe? Wenn ich selber ganz grundsätzlich die Möglichkeit habe, mich von allen Zwängen des Gewordenen zu lösen: ist das nicht der Beweis, dass ich unabhängig davon ein eigenes, geistiges Sein habe? Ist es dann nicht unabweisbar, von einem ewigen Kern meiner selbst zu sprechen, der vor dem Auftreten meiner gegenwärtigen irdischen Person schon da war und nach ihrem Ableben weiterbestehen wird? Bin ich selber in anderen Personen zu anderen Zeiten schon auf der Erde gewesen und werde es wieder sein? Dann wäre ich einer von den unzähligen Menschen, die vor meinem derzeitigen irdischen Dasein schon gelebt hätten, und meine damaligen Taten wären dem Weltgeschehen einverleibt. Was mir also als persönliches Schicksal begegnet: habe ich selber daran mitgewirkt, bin in manchen Fällen vielleicht selber der Ausgangspunkt von Ereignissen, die mich jetzt prägen?

Dann würde all das, was ich nun tue, Folgen tragen in der Zukunft, für alle Menschen und dann natürlich auch für mich in zukünftigen Leben. Mein mangelndes Freiheitsstreben, meine fehlende Liebe im Umgang mit der Welt, mit meinem Schicksal hätte Folgen, für mich, für die Anderen, denen ich begegne, für die Menschenwelt als Ganzes. Streben ich nur nach persönlicher Freiheit, dann überlasse ich die Welt dem ewig gleichen Maschinenwesen; dies wird dann in der Welt – und damit auch in meinem zukünftigen Erdenschicksal – immer stärker prägend werden und immer größere Anstrengungen von den Menschen fordern, die sich zur Freiheit und Liebe entwickeln wollen.

Die Liebe zur Freiheit des Einzelnen ohne die Liebe zur Freiheit aller Wesen in der Welt zerstört sich selbst. Der Mensch kann sich nur selber frei entwickeln, wenn er sein Schaffen zugleich der Entwicklung der Welt und aller Anderen zur Verfügung stellt. Dann erst wird er zum freien Mitgestalter seines Schicksales, im Verbund mit dem Schicksal der Welt und der Menschheit. Dann erst wird es ihm auch immer mehr möglich werden, im Fortgang durch die Erdenleben, in seinem Schicksal die Wirkung der eigenen, früheren Taten zu entdecken, ihr Verhältnis zum Ganzen der Menschheit und zu den einzelnen Menschen zu bestimmen, die ihm begegnen. Seine eigene Entwicklung und diejenige der Welt, in der er lebt, werden zunehmend zu Einem.

Vor Urzeiten empfand der Mensch sich wie von Gott schicksalhaft zum Aufgehen in der Gemeinschaft bestimmt; nunmehr kann er sich frei zum Mitgestalter des Schicksals aufschwingen, dem Ersterben der Welt im Immer-Gleichen neues Leben einhauchen und in der Liebe zum Leben der Welt seine eigene Freiheit finden.

© Stefan Carl em Huisken 2021

1Meinetwillen kann man diese Macht auch „Zufall“ nennen, wenngleich diese Benennung irreführend ist. Lebensprägend bleibt sie allemal.

2Rudolf Steiner spricht hier vom „niederen“ und „höheren“ Ich. Das „niedere“ Ich nenne ich Person.

3Dass wir heute ein zunächst einseitigeres Verständnis von Freiheit haben, und an die Stelle des Wortes „freien“ das „lieben“ getreten ist, hat mit der Bewusstseinsentwicklung der Menschheit zu tun. Darauf sei hier nur hingewiesen; die damit verbundenen Einzelheiten sprengen hier aber den Rahmen der Darstellung und müssen daher auf eine zukünftige Beschreibung warten.


Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können. Auch der oben angesprochene Weg der Selbsterziehung zur wahrer Erkenntnis wird darin angesprochen.




Furcht und Angst – Schlüssel zur Gegenwart des Menschen

Gegenwart

Was uns derzeit im Verhältnis zur Gegenwart am meisten zu schaffen macht, sind Furcht und Angst. Die Verunsicherung, die Unberechenbarkeit durch die uns betreffenden Weltereignisse – von manchmal täglich wechselnden Vorschriften bis zu den Folgen unbedachter Schritte der Menschen – wachsen fortwährend, fordern uns und werfen uns aus stabilisierenden Gewohnheiten und Alltagsritualen immer wieder hinaus.

Dabei entwickeln wir Furcht vor Neuem, das uns möglicherweise bedrohen kann. Enttäuschungen – eigentlich etwas Positives, das Entwicklungsmöglichkeiten freilegen kann , wenn die Täuschung der Wahrheit weicht – und Ahnungen entwickeln sich zu neuen Gewissheiten, die uns fordern und manchmal daran zweifeln lassen, dass unsere Kräfte und Fähigkeiten ausreichen werden, das Neue angemessen zu verarbeiten. Solche Furcht verweist uns immer auf einen Kern in uns selbst, der schon durchschimmert durch das Erscheinen der Ereignisse. Durchdringen wir den Schein, graben die darinliegende Wahrheit aus, so können wir die Furcht überwinden, und es klingt eine bessere Zeit durch die Furcht hindurch – mal stärker, mal schwächer.

Furcht hat also auch immer einen fast „prophetischen“ Charakter, denn im Gegenstand, auf den die Furcht sich bezieht, tritt mir etwas entgegen, was je nach meinem Umgang damit mich stärker oder schwächer beeinträchtigt oder fördert. Sie steigt aus mir selber, meinem innersten Kern herauf ins Bewusstsein und ist insofern mein Eigen, meine Furcht, die zu besiegen dann auch meine Sache ist.

Das Wort „Furcht“ stammt von derselben germanischen Wurzel *furh- ab wie die „Furche“, womit ursprünglich die Ackerfurche gemeint ist, durch die das dunkle Erdinnere für das Licht geöffnet und damit der menschlichen Bearbeitung zugänglich wird. Furcht kann mir insofern auch den Weg öffnen zu demjenigen, vor das sie sich stellt.

Ganz anders die Angst: sie besteht gerade im Unbestimmten, dessen Quell und Ziel man nicht kennt und kennen kann, und kommt uns wie von außen her in die Seele herein. Das Wort stammt von der indogermanischen Wurzel *angh- ab, die „eng“ bedeutete (auch dieses Wort entstammt ja dieser Wurzel), und verwandt ist mit dem lateinischen angere = „würgen“. In der Angst begegnet uns also etwas wie eine Gewalt von außen, die uns zusammenschnürt, würgt, beengt und uns alle Tätigkeitsmöglichkeiten rauben will, bis hin zur tatsächlichen Angststarre.

Und genau darauf bezieht sich unsere Angst auch zumeist: einer Gewalt ohnmächtig ausgeliefert zu sein, aller Handlungsmöglichkeiten beraubt zu werden, letztlich selber überwältigt und ausgelöscht zu werden.

Die Angst fällt uns also wie von außen an, aus der ganzen Welt, uns einengend, vernichtend, während die Furcht aus unserem Inneren aufsteigt, eine bestimmte Gefahr vorherahnend.

So lebt der gegenwärtige Mensch einer Welt gegenüber, die er nicht überschauen kann und die ihn immer wieder einschränkt, beengt und schwächt; aus dem eigenen Kern heraus, der es schwer hat, die Wahrheit seiner selbst einschließlich der eigenen Erlebniswelt im eigenen Tun und Erleiden mutvoll zu enthüllen und dem Dunkel der Täuschung zu entreißen, steigt die Furcht auf.

Angst und Furcht wirken zusammen: ich fürchte die Angst, und die Angst verschafft mir Furcht vor dem Erlöschen meiner selbst. Beides prägt in verschiedensten Variationen unser Dasein in der Welt der Gegenwart. Mutvolles Überwinden der Furcht und standhaftes Ertragen der Notwendigkeiten in der Hinwendung zur Welt können helfen, den eigenen Weg zu finden.

Furcht und Schein

Die Welt, wie ich sie in meiner Umgebung erlebe, ist nicht das Ganze des Seins. Ich erlebe ja nur den Teil des Ganzen, der sich mir zeigen kann: durch meine Sinne, durch mein Gefühl, in meinen Gedanken. Und da ich – wenn ich mich selber nicht gerade für einen unfehlbaren und allmächtigen Gott halte – ein begrenztes Wesen bin, ist auch dasjenige begrenzt, was sich vom Ganzen des Seins mir zeigt.

Damit ist aber die Welt, die ich kenne, nicht die wirkliche, wahre Welt, sondern sie scheint mir im alltäglichen Leben nur so. Sobald ich mich über das Alltägliche hinaufraffe, kann ich dieses unmittelbar einsehen. Von diesem Scheincharakter der Welt ist aber mein ganzes Erleben – bewusst oder unbewusst – bestimmt.

Überall nämlich, wo ich etwas anschaue, durchdenke, näher verstehen will, schwingt dieses Wissen mit: was dir begegnet, ist nicht immer so, wie du glaubst, es scheint dir nur so. Wie aber den Weg zur Wahrheit finden?

Hier bin ich nun auf mich selbst verwiesen. Diesen Weg zur Wahrheit finden kann nur ich selber. Denn was mir gegeben ist als Sinneswelt, als Gefühls- und Gedankenwelt, ist eben Schein. Ich kann mich auf nichts stützen, was schon da ist. Bei der Suche nach der Wahrheit kommt alles auf mich selber an, meine eigene Wahrhaftigkeit im Denken, Fühlen und Wollen, meine Geistesgegenwart.

Es liegt also auf der Hand, dass eine solche Situation nichts für Furchtsame ist. Wo Furcht vor der eigenen, ja unabweisbar vorhandenen Unvollkommenheit diesem inneren und äußeren Weltenschein gegenüber den Lebensweg beherrscht, stellt die Furcht sich vor die Wahrheit, hindert mich daran, zur Wahrheit des Daseins zu kommen, ja, setzt sich selber an die Stelle dieser Wahrheit.

Es liegt nun an mir, ob die Wahrheit meiner selbst mir als meine Furcht begegnet, oder ob mein eigenes Voranschreiten im Erkenntnisschaffen, mit Erkenntnismut die Furcht entkräftet, sozusagen „die Ackerfurche meines Lebens öffnet“ und die gefürchteten, im Dunkel verborgenen, lebendigen Gründe des Seins ans Licht des Bewusstseins befördert, so dass dann die Saat meiner Taten auch fruchtbaren Boden vorfinden und gedeihen kann.

Die Tatsache, dass das Dasein mir zunächst als ein vielfach begrenzter Schein begegnet, weist mich also auf mich selber als möglicher Miterschaffer eines Weges zur Wahrheit hin. Wo ich diese Aufgabe ergreife und die Furcht überwinde, wirke ich mit daran, die Wahrheit des Daseins ans Licht zu bringen und den Schein zu überwinden.

Angst und Gewalt

Was uns als Welt erscheint, uns gegenüber steht, trägt immer die Möglichkeit in sich, uns zu überwältigen und in Handlungsrichtungen zu bringen, die wir nicht als unsere eigenen erkennen können. Die Einflüsse, die aus der Welt auf uns eindringen, sind auch oftmals solche, die nicht nur uns selber, sondern Gruppen von Menschen betreffen: Familie, regionale oder nationale Bevölkerung, ein bestimmtes Volkstum, oder eben andere Gruppen, die durch bestimmte Merkmale verbunden sind und dadurch teilweise ähnliche Schicksalswege haben. Letztlich können das auch Einflüsse sein, die die gesamte Menschheit betreffen.

Solche Einflüsse scheinen zumeist ganz unabhängig von uns, treten ohne unser Mitwirken, ja, oft überhaupt ohne klares Bewusstsein davon auf. Aber sie walten in der Welt, walten damit auch im Verlauf unseres äußeren Lebens, unseres Schicksales also. Ihre Verursacher sind sehr oft nicht sichtbar für uns, bleiben im Dunkel, egal, ob es bestimmte Menschen oder einfach äußerlich gegebene Verhältnisse sind. Ihr Walten kann in sehr vielen Fällen nicht auf eine bewusste Absicht von wem auch immer zurückgeführt werden; darüber kann dann allenfalls vermutet werden. In diesem Sinne kann man sagen: es waltet dunkle, blinde Gewalt in vielen Ereignissen des Lebens.

Wir nennen das dann „Zufall“ oder meinetwegen auch „göttliche Vorsehung“; verstehen können wir es nicht vollständig. Wer sich ernsthaft prüft, wird viel mehr solcher Einflüsse aus „blinder Gewalt“ in seinem eigenen Leben entdecken als zunächst vermutet.

All diese Einflüsse begrenzen aber unsere eigenen Aktionsmöglichkeiten, beschränken sie und engen sie oft genug ein. Und da wir nicht wissen, was ihnen zugrund liegt (in den Ausnahmefällen, wo wir das unzweifelhaft wissen können, ist es anders), emfinden wir das Einengen, das Vorbestimmt-Werden unso stärker und bekommen Angst, im ursprünglichen Wortsinne das, was „mit dem Engen verbunden ist“.

Angst tritt insofern überall dort auf, wo ein Walten in der Welt uns übermächtig in die Enge treibt, einschränkt, unfrei macht, weil wir es nicht verstehen können, seinen Ausgangspunkt nicht kennen und ihm darum nichts entgegenzusetzen haben. Diese Macht erleben wir als Gewalt. Treten wir ihr eigenmächtig entgegen, versuchen wir also der Gewalt eine Gegengewalt gegenüber zu stellen, wird alles nur schlimmer und eskaliert. Denn weil wir nicht ganz konkret verstehen, wie das zustandekommt, was uns einengt, können wir ihm nur in der Nachahmung begegnen, die Welten-Gewalt auf ihrem eigenen Feld zu imitieren versuchen, und da wird das „Original“ wohl in den meisten Fällen die Oberhand gewinnen.

Nur wo wir wirklich erlebend erkennen können, was und wie das Weltenwalten wirken will, haben wir eine Chance, die Gewalt, die uns begegnet zu überwinden, gleichsam nachhaltig „auszurotten“1.

Überwindung

Nun gibt es Ratschläge zuhauf, wie der Mensch aus dem Dilemma kommen kann, das ihn in Angst und Furcht versetzt: in Angst vor dem Welten-Walten, und in Furcht vor der Wahrheit seiner selbst. „Wo die Angst ist, geht es lang“, tönt es uns aus Kreisen entgegen, die die Angst zur Genüge kennen2. Für die Furcht wird man wohl zu Recht Ähnliches sagen können; wer einen Feind im Duell überwinden will, wird sich ihm stellen müssen.

Wer aber gar nicht weiß wo er den „Feind“ zu suchen hat, ringt allzu oft nur mit dem Schein, mit Chimären, verausgabt sich dabei ohne Sinn, und wo man der Übermacht begegnet, wächst schnell die Hoffnungslosigkeit. Beides hat aber denselben Grund: ich habe die Richtung nicht erkannt, aus der der „Angriff“ wirklich kommt.

Ringe ich um die Wahrheit, so hat alles noch so ausgeklügelte Bedenken der Einzelheiten des Scheins, der meine begrenzte Welt ausmacht, keinen Wert: es führt doch immer nur in dieselbe Sackgasse. Mache ich mir aber klar, wo die Ursache der begrenzten Welt-Erscheinung liegt, so öffnet sich der Weg. Ich bin es nämlich selbst, der sich die Grenzen setzt. Ich selber gebe dem Schein erst seine Geltung, den An-Schein der Wahrheit, einfach durch meine Existenz. Dass ich die Wahrheit nicht finden kann, die dem Schein zugrundeliegt, liegt daran, dass ich mich selbst nicht kenne, und darum meine eigenen Wege zur Erkenntnis nicht genügend zu kontrollieren weiß. Es nützt also nicht, noch so atemberaubend über das Dasein zu philosophieren. Ich muss einsehen, dass es meine eigene Art des Umganges mit diesem Daseins-Schein ist, der ihm die Wahrheit gibt oder nimmt.

Das Dasein ist in Wahrheit eben nicht etwas von vornherein so und nicht anders Feststehendes; das wäre freilich bequem und dadurch für mich verlockend. Die unbequeme Einsicht aber, dass das Dasein, das ich erlebe, untrennbar Teil meiner selbst und meines Lebens ist, und sich daher nur mit mir selber zusammen lebendig entwickeln kann, öffnet die Aussicht auf eine Art Wahrheit, die es nirgend anders geben kann.

Denn meine Möglichkeiten, mich selber zu entwickeln, sind im Prinzip unbegrenzt, und führen zur Freiheit. Wo unübersteigliche Grenzen zu sein scheinen, bin ich es ja selbst, der sie als feststehend ansieht; ich setze sie mir sozusagen selber.

Nun ist es natürlich keineswegs so, dass ich mich selber weiterentwickle, indem ich mir einfach etwas Anderes als den mir begegnenden Schein einrede und fest daran glaube, dass die Welt dann eben so ist, wie sie mir erscheint. Das wäre ja dasselbe wie vorher: eben dem Schein glauben. Ich muss erst die Art meines Umganges mit der Welt kennen und kontrollieren lernen, mich selber also in meinem Tun nicht mehr vom Schein des Daseins bestimmen lassen. Dann kann ich nach und nach ausfindig machen, wie mein eigenes Wesen erst die vorläufigen Grenzen des Daseins gesetzt hat. Ich kann dann mich selber erst in Wahrheit kennen lernen. Ist es nicht so, dass ich auch davon bisher nur ein begrenztes Verständnis habe, und Ansichten, die mir gegeben sind, ich weiß nicht wie? Vorurteile also über das, was ich ICH nenne?

Die Ackerkrume dieser Vorurteile zu öffnen, ans Licht zu bringen, was in den Tiefen meiner selbst west, Furchen mit dem Pflug des Erkenntnismutes da hinein zu ziehen, wird die Furcht vor der eigenen Unvollkommenheit in Mut zum Erkenntnisschaffen umwandeln helfen.

Ähnlich wie mit der Furcht vor dem, als was ich mir selber in meinem Dasein erscheine, ist es mit der Angst, in die uns das Weltenwalten wohl drängen kann. Die Angst entsteht ja, weil wir die Gewalt, die uns bestimmt, nicht selber zu lenken verstehen, der Übermacht im Äußeren immer wieder erliegen. Hier kommen wir nicht zum Ziele, wenn wir der Macht mit eigener Macht entgegenzutreten versuchen; die Weltenmacht wird immer größer sein.

Wie kommen wir also dem Weltenwollen, dem Weltenwalten nahe, so dass wir unser Wollen, unser Schaffen in das Weltenwalten hineinmischen können, es umformen in ein Walten, das wir nicht als blinde Gewalt erleben müssen?3

Wie schon bei der Furcht, so liegt auch hier die Lösung in einer völligen Umkehr. Nicht Macht gegen Macht zu setzen hilft hier, sondern der Macht sich zu öffnen, um sie aufzunehmen in sich und in seine eigene Selbstentwicklung einzugliedern. Wieder bäumt sich erst einmal alles auf: was, klein beigeben, die Gewalt unwidersprochen einfach walten lassen? Aber davon ist ja keine Rede.

Äußerlich gesehen, wird es wohl häufig keinen anderen Weg geben, als der Gewalt zu weichen. Aber nicht, weil sie zwingt, sondern weil man sie versteht, in sich selber, sein Denken und Sinnen aufnimmt und so erst einer Umarbeitung zugänglich macht. Dazu wird man sich erkennend dem hingeben müssen, was die Gewalt erst schafft – aber nur, um sie zu verstehen. Man muss ja nicht wollen, was sie will, die Gewalt. Erst wenn man Sehnsucht entwickelt aus sich selber, die Gewalt zu verstehen, sie mit dem eigenen Leben zu verbinden aus freiem Entschluss, kann man lernen, sie auch umzuarbeiten.

Das wird freilich Neues, Ungewohntes von uns fordern, und uns Manches zu erleiden auferleben. Aber es öffnet den Weg, die Enge zu weiten, die Angst zu überwinden, ohne in immer neue Fehden mit der Welten-Gewalt zu geraten, die im Übrigen dann über kurz oder lang in einer Niederlage und neuen Katastrophen enden werden.

Wie schon am Beginn dieses Abschnittes gesagt: wo die Angst ist, geht es lang. Ebenso wie die Furcht mich zu mir selber und meiner Selbstentwicklung leiten kann, indem sie mich auf mich selbst verweist, führt die Angst uns mitten hinein ins wahre Welterleben, in dem wir ringend mit den Welten-Gewalten uns zum Mit-Gestalter des Weltenwerdens entwickeln können.

Die Freiheit furchtlos ergreifen

Im eigenen Innern kann Gewalt auch förderliche Seiten entfalten, nämlich da, wo ich sie auf mich selber anwende, mein eigenes Inneres wie der Landmann den Acker umzupflügen beginne (das ist – der „Ackererde“ gegenüber – ganz sicher Gewalt!) und mich selber gleichsam zum „Experimentierfeld meines selbst“ mache. Jedesmal, wenn ich mir selber die Ziele meiner Selbstentwicklung setze, und sie energisch gegenüber mir selber umzusetzen versuche, geschieht das.

Aber es wird unterschiedlich verlaufen, je nachdem, ob ich meine, durch gewissermaßen „äußerliche“ Veränderungen an mir arbeiten zu sollen, oder ob ich mich wirklich ganz auf mein Inneres verlege dabei. Was ist mit dieser Unterscheidung gemeint?

Nun, was mein eigenes Wesen ganz im tiefsten Inneren ist, das weiß ich zunächst kaum. Zuerst treten mir selber unter meinem Namen Eigenschaften meiner irdischen Erscheinung gegenüber: ich habe ein aus der Vergangenheit mir zugewachsenes Bild von mir selber. Wenn man sich das anschaut, muss man oftmals einsehen, wie dieses gewachsene Bild ein Ergebnis der Gewalten ist, die in der Vergangenheit auf mich gewirkt haben. Eine Unmenge von Einflüssen ist auf mich eingeströmt, die mich geformt haben. Dieses Bild ist daher eigentlich Bestandteil des Welten-Scheins, der mir gegenüber steht; ich selber bin es nicht, denn ich stehe ihm gegenüber.

Ich selber, der Verstehen-Wollende, der sich selber auf den Weg zur Wahrheit bringen will, ist in allem, was ich gewohnt bin zu betrachten unsichtbar, kommt dort nicht vor. Er ist ja gerade derjenige, der die Tätigkeit des Betrachtens ausübt, der Erlebende, der gleichsam eine lebendige Form bildet für alles, was ihm in seiner Innen- und Außenwelt an Inhalten begegnet. Und von dieser Form etwas zu bemerken, mich selber kennen zu lernen, nicht meine Gedanken, sondern das Denken, nicht meine Gefühle, sondern das Fühlen selbst, ja, auch nicht meine Willensziele, sondern das tätige Wollens-Wesen, das ist mir erst einmal ungewohnt, etwas ganz Neues, das ich noch nicht beherrsche, und das ich darum vielleicht auch – fürchte. Denn ich habe dann nichts außer mir selbst, um mich daran zu halten.

Es ist aber weniger schwer, dem nahe zu kommen, als es zunächst scheinen mag. Es ist zu einem großen Teil einfach eine Übungs- und Gewohnheitsangelegenheit. Ich bin es ja nicht gewohnt, Dinge denken und verstehen zu wollen, die mir nicht fertig als Gegebenes gegenüberstehen, sondern die sich sozusagen „verstecken“, ein wenig „geheim“ bleiben wollen.4 Da ich es aber selber bin, den ich da kennenlernen will, und ich ohne mich selber sowieso gar nichts verstehen oder erklären kann, bin ich eigentlich in einer guten Lage: um mich selber kennen zu lernen, muss ich mich selber denken lernen, und dazu brauche ich nichts außer mir und meinem Denken.

Darin liegt aber genau der Haken: die Welt, den Schein in allen Einzelheiten, den brauche ich dazu zunächst nicht. Ihn in meinem Denken loszuwerden ist aber nicht leicht: wende ich mich von der Welt, also von allen Wahrnehmungen ab, schlafe ich in der Regel ein5. Will ich lernen, in diese Seelenregion bewusst, also wach einzudringen, muss ich lernen, mir nicht nur diejenigen Inhalte gegenüber zu stellen, die eben von alleine auftauchen, sondern es geht darum, meine eigene Tätigkeit zu verfolgen, die ich ausübe, wenn ich über etwas nachdenke, also darüber Gedanken hervorbringe.

Das kann man üben, indem man sich einen Gedanken selber aufbaut, auf dem man dann seine Aufmerksamkeit ruhen lässt, ihn gleichsam innerlich „durchleuchtet“. Es muss dies nur ein Gedanke sein, der möglichst wenig mit denjenigen Gedanken-Inhalten zu tun hat, die ich schon kenne, die schon in mir vorhanden sind. Das kann zum Beispiel eine Frage sein, die ich mir nicht beantworten kann, in die ich mich vertiefe. Wohlgemerkt: nicht um sie zu beantworten, sondern um die Frage tiefer zu erleben!

Rudolf Steiner gibt in seinen Büchern vielfältige Beispiele; solchen „Vorgaben“ eines eventuellen „Gurus“ haften aber leicht Vorprägungen an, die mich ablenken von der eigentlich wichtigen Tätigkeit des Vertiefens ins eigene denkende Tun. Möglicherweise ist es dann besser, sich selber Gedanken-Inhalte aufzubauen, die dem Erfordernis intensiver Abwendung von allen schon bekannten (Sinnes- und Seelen-)Wahrnehmungen so gut es gehen will entsprechen. Kurz gesagt, geht es darum, das eigene Denken von der Führung durch den mir gegebenen Welten-Schein loszureißen, und gerade dadurch mein eigenes Mit-Tun im Entstehen dieses Scheines unmittelbar erlebend zu erkunden und so in den Bereich der Entstehung des Welten-Scheines erkennend vorzustoßen.

Je mehr mir dies gelingt – es gehört allerdings energisches und regelmäßiges Üben dazu –, desto mehr bekomme ich mein eigenes Denken in den Griff, kann es kontrollieren und daher auch selber beurteilen, inwieweit das, was es zutage fördert, wahr ist oder nicht. Durch die immer wieder geübte Anstrengung, meinen Denk-Willen auf das Denken selbst zu lenken und von allem Anderen abzulösen, begebe ich mich zugleich auf den Weg zu wirklicher Freiheit in und aus mir selber, auch gegenüber allem, was sonst in meinem Seelenleben auftreten kann.

Innere Freiheit entsteht so aus dem energischen Anstreben wirklich selbstbestimmten Denkens. Diese Freiheit eröffnet zugleich den Weg zum Erleben der Wahrheit. Die Furcht vor dem Schein selber weist mir den Weg zu ihrer Überwindung, indem der Schein durchdrungen wird und die Furcht die Wahrheit freigibt.

Die Welt angstfrei lieben

Gewalt und Angst hängen zusammen, wie oben gezeigt werden konnte. Begegnet der Mensch dem Walten von Mächten, die seinen Lebensweg einengen, ohne dass er dies selber mit sich und seinen Intentionen verbinden kann, so erlebt er es als Äußerung von Gewalt, und damit in der Regel angsterregend. Überwältigt die aus der Welt entgegenkommende Gewalt den Menschen, so entsteht in der Enge, der Angst, Gezwungensein statt Freiheit.

Eine erste Reaktion darauf kann der Versuch sein, Gewalt mit Gegengewalt zu begegnen, dem Zwang der Welt nun die Bezwingung der Welteinflüsse durch eigene Gewaltausübung entgegenzusetzen. Dass dies niemals zu einem durchgreifenden Erfolg führen kann, sondern immer nur zu einer – mehr oder weniger offensichtlichen – Eskalation in einer Gewaltspirale, ist wohl unmittelbar einsichtig. Denn selbst wenn eine Seite zunächst unterworfen wird, bleibt sie ja bestehen, und wird sich selber bei der nächstmöglichen Gelegenheit wieder zur Geltung zu bringen versuchen. Die Geschichte der Kriege der Menschheit bietet genügend Anschauungsmaterial; gewaltsame Unterwerfung führt längerfristig immer zum nächsten Konflikt.

Natürlich kann eine Seite versuchen, den von ihr ausgemachten „Gegner“ vollständig zu vernichten; auch für solche Versuche gibt es Beispiele in der Geschichte genug. Nur ist solche Vernichtung immer auf denjenigen Bereich des Existenz begrenzt, der eben der Gewalt zugänglich ist. Und das ist derjenige Bereich, der sich in seinen Wegen und Methoden auf die äußere, materielle Raumeswelt beschränkt. Nur dort ist es unmöglich, dass zwei Wesen sich durchdringen, sozusagen zusammen, ineinander existieren. Die Welt der seelisch-geistigen Erlebnisse, durch die erst die äußere Welt überhaupt ins Bewusstsein treten kann, kennt diese Einschränkung nicht.

Friedrich Schiller formulierte es so:

Eng ist die Welt und das Gehirn ist weit –
Leicht beieinander wohnen die Gedanken,
Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen“
(Friedrich Schiller, Wallensteins Tod, 2,2)

Ist es nicht frappierend, wie leicht man gewöhnlich geneigt ist, den Widerspruch zu unserem alltäglichen Erleben in einem solchen Zitat zu übersehen? Erleben wir nicht eher uns selber, unsere Gedanken als etwas eng Begrenztes – eben in ihrer Gültigkeit auf uns selber beschränkt –, dagegen die Welt als etwas Weites, ja Unendliches? Schiller sah das anders.

Wie aber bereits dargelegt, kommt es bei solchen Urteilen auf den Gesichtspunkt an, von dem aus sie getätigt werden. Vom Gesichtspunkt der physischen Außenwelt gesehen, ist diese Welt weit, unendlich weit, und der einzelne Mensch greift in seinem Erleben nur einen winzigen Teil des unendlichen Ganzen heraus. Vom Gesichtspunkt des denkenden, erlebenden Menschen aus sind die im Geiste liegenden Möglichkeiten, sich zu verbinden, unbegrenzt; die äußere Welt jedoch erscheint als eine Zusammenstellung von begrenzten Ausschließlichkeiten: wo ein Raumeskörper ist, kann eben kein anderer sein.

Geistig gesehen gibt es keine vollständige Vernichtung. Auch, was äußerlich in der Sinneswelt vollständig vernichtet scheint, bleibt geistig vorhanden und wird sich in der Zukunft wiederum Geltung verschaffen. Wie Wellen aus dem Untergrund schlagen solche Bewegungen dann in die Außenwelt hinein.

Nun ist aber bereits deutlich geworden6, dass die von mir erlebte Raumeswelt, meine Welt also, nicht das Ganze der Wahrheit der Welt ist. Dieser von mir erlebten Welt zugrunde liegt etwas, was ich nicht in ihren Gegenständen, sondern nur dort finden kann, wo ich in einen Umgang mit dem mir gegenüber stehenden Welten-Schein eintrete: in meinem eigenen Seelisch-Geistigen also.

Neben dem oben schon angesprochenen geistigen Freiheits-Kern meines eigenen Lebens hat das Welt-Erleben noch eine andere Seite: die mir im Alltag verborgenen Untergründe der äußeren Raumeswelt. Warum ist diese Welt so, wie sie ist? Wie kommt es, dass diese Welt mich selber in die Lage gebracht hat, sie als „eng“, angstbesetzt zu erleben, und zugleich das Freilegen von nur meinem eigenen Geist zugänglichen Zusammenhängen zu fürchten, kurzum, die „Gewalt der Welt“ und die „Welt als Schein“ erleben zu müssen?

Wir kommen hier an die polare Frage zu derjenigen nach für uns Heutige nur im Innern aufzufindenden Wahrheit; zu der Frage nämlich, wie die im Innern denkend mögliche Befreiung in der Welt wirksam werden könnte. Einen Hinweis gab die Betrachtung des Zusammenhanges von Angst und Gewalt7: nur völliges Verstehen der auf den Menschen wirkenden Welten-Gewalt kann helfen, die Gewalt gleichsam „auszurotten“ und damit die innerlich im Denken mögliche Freiheit auch in der äußeren Welt zu finden.

Hier stellen sich allerdings sofort Denk- und Lebensgewohnheiten in den Weg, die das Weiterschreiten verhindern wollen. Es scheint uns ja selbstverständlich, dass wir äußere Gewalt nur auf ihrem Felde – dem äußeren Weltendasein also – besiegen und „ausrotten“ können. Wie schon gezeigt, ist dies aber ein Irrtum. Denn auch unsere Anschauung von der zwingenden Außenwelt ist eben – unsere Anschauung. Sie liegt in uns selber, in unserer Art, über die Welt zu denken, die zu erkennen uns die Furcht vor der Wahrheit unserer selbst gewöhnlich hindern will.

Damit kann aber etwas beginnen, was sehr viel mühsamer, langwieriger und schwieriger zu sein scheint als die gefürchtete Begegnung mit der Wahrheit unserer selbst. Es ist dies das Eintreten in die reale Umgestaltung des Welterlebens aus der bewussten Einsicht in die Tatsache, dass die geistigen Urgründe der Außenwelt nur dann aufgefunden werden können, wenn sie im Geiste, also niemals in den einzelnen, gegebenen Gegenständen des Weltenscheins selber gesucht werden. Der Weltengeist muss eben durch den Menschengeist gesucht werden, den der individuelle Mensch in sich zum Bewusstsein bringen kann.

Wer ist dieser Weltengeist? Es ist derjenige Geist, oder besser gesagt dasjenige geistige Wesen, das uns bis an diejenige Stelle gebracht hat, an der wir jetzt sind und beginnen können, bewusst in diesen Werdeprozess mitgestaltend einzutreten. Traditionell wird dieses Wesen „Gott“ genannt. Es hat uns also in die Lage versetzt, nun gleichsam „Mit-Gott“ zu werden. Uns als „Mit-Gott“ zu erkennen, können wir durch die Überwindung der Furcht lernen, also durch Umgestaltung unseres eigenen seelisch-geistigen Lebens. Der von uns gefürchtete Gott, den wir in uns finden können durch Überwindung der Furcht, hat eine zweite Seite in einem Prozess, der sich in der äußeren Welt zeigen muss, in dem sich nach und nach die Wahrheit der Welt erweisen soll.

Wie die Umgestaltung unseres Inneren einhergehen muss mit der Überwindung der Furcht vor der Wahrheit durch den Erkenntnismut, so muss auch die Angst vor der Gewalt überwunden werden durch genau dasjenige, was uns der Welten-Gewalt gegenüber am schwersten fällt: durch das verstehende Aufnehmen der Gewalt als zukünftig von uns zu Überwindendes. Um es nochmals deutlich zu machen: Verstehen ist nicht Gutheißen, und schon gar nicht Unterwerfung. Verstehen ist aber Vorbedingung jeder Umgestaltung. Und dieses Verstehen kann nicht ein äußerliches Beschreiben sein. Äußerlich beschreiben kann man nur die äußere Erscheinung der Gewalt. Nein, verstehen heißt hier, etwas ganz aus sich selbst heraus nachvollziehen zu können, sich selber also gleichsam in den Urgrund der Gewalt hineinversetzen zu können. Und etwas ganz aus seinem Urgrund verstehen, es in uns aufzunehmen, indem wir uns in dieses Fremde selber hineinversetzen, etwas also ganz aus sich selber heraus verstehen, das können wir nur, wenn wir uns frei aus uns selber ihm zuwenden wollen, es also – lieben.

Bei so einem Satz sträubt sich alles in uns zunächst. Das liegt aber nur an unerkannten Denkgewohnheiten. Wie schon gesagt: denkendes Verstehen ist nicht Gutheißen der Erscheinung, und entsprechend heißt Lieben nicht, alles genauso haben oder tun zu wollen, wie es gerade geschieht oder von uns verlangt wird. Ebenso wie selbst-bewusstes, denkendes Verstehen uns vom Schein zur Wahrheit führen kann, soll die Liebe die Welt durch das „Ausrotten“ der Gewalt zu einer menschen- und geistgemäßen umgestalten. Ein solcher Weg fordert aber von dem Menschen, der ihn betritt, Geduld und Leidenskraft, eine Kraft also, die nicht sich der Gewalt bloß unterwirft (ein zeitweises Ausweichen ist keine Unterwerfung), sondern die sich selber aus den Quellen des Menschengeistes immer wieder so zu stärken weiß, dass die Gewalt letztendlich davor schwinden und sich selber begrenzen muss.

Gegenwart des Menschen

Der Mensch, der sich selber zwischen der Furcht und der Angst zu verlieren droht, ist damit auf zwei unterschiedliche Wege zur Behauptung seiner selbst verwiesen: nach innen, wo er in der Überwindung der Furcht vor der Wahrheit den Schöpfergott in sich finden kann, und nach außen, wo liebendes Erkennen des angsterregenden Schicksales den Menschen in die Weite der unbegrenzten Entwicklungsmöglichkeiten voranschreiten lässt.

Kann der Mensch den Mut nicht aufbringen, den Schleier vor der Wahrheit der eigenen Freiheit zu durchdringen, so verbleibt er im Schein. Versucht der Mensch – egal ob innerlich frei oder dem Schein verhaftet – sein Schicksal in der Welt zu erzwingen, so prallt er an der äußeren Gewalt ab. Wie im Innern der Schein der Welt nur entkräftet werden kann, indem sich das denkende Erkennen auf sich selber wendet und stützt, so kann die Gewalt nur „ausgerottet“ werden, indem der Mensch liebend den wahren Intentionen des Weltgeschehens seine eigene Kraft schenkt und ihnen dadurch zur wahren Offenbarung und Wirkung verhilft. Dadurch verbinden sich Freiheit und Liebe zur Weisheit.

Damit macht der Mensch sein Inneres in sich selbst zum Objekt (wie oben dargelegt), und gleichzeitig das Weltgeschehen zu seiner eigenen Sache8. Freiheit und Liebe sind die beiden Seiten ein und desselben: des MENSCHEN, der sich in allen individuellen Variationen der irdischen Person nach und nach als lebendiges Entwicklungszentrum des Zukünftigen geltend machen will.

Das ist niemals möglich, wenn man nur die Angst und die Furcht loswerden, sich selber (und damit den grundlegenden Charakter der Erscheinungswelt) aber unverändert lassen will. Wer so etwas anstrebt, löscht den Menschen aus, der dann nämlich, durch Angst und Gewalt aus der Welt gesteuert, jede Chance vergibt, die Furcht und damit den Schein zu überwinden.

Das ICH des Menschen dringt eben zur wirklichen Gegenwart nur vor, indem es die Furcht und die Angst als Wegweiser zu seiner eigenen, frei sich gestaltenden Existenz anerkennt – und, ja, auch erleidet, was ihm dadurch zukommt. Den Schein und die Gewalt kann man eben nicht überwinden, indem man sich ihnen unterwirft oder sie einfach nur wegschaffen will9. In beiden Fällen glaubt man ihnen, was sie vorgeben zu sein. Der Mensch muss aber durchdringen zum Erkennen ihrer Wahrheit. Dann erst, wenn der Mensch dem Schein und der Gewalt ihr Wahrheit spiegelt, mitleidend mit dem Gott, der ihm den Schein erschuf, und mit dem Geist, der aller Gewalt erst entrungen werden muss, – dann erst wird der Mensch seiner Gegenwart gerecht und damit weise werden können.

Nachbemerkung

Rudolf Steiner schuf unter anderem auch eine Holzstatue, die in der Mitte den „Menschheitsrepräsentanten“, den er auch den Christus nennt, und oben und unten zwei Verführermächte zeigt, die eine hochfliegend, aber ohne Bezug zur Erde nehmen zu wollen, die andere in der Erde, von dortaus in die Menschensphäre drängend. Beiden gegenüber verhält sich der Menschheitsrepräsentant so, dass er ihnen durch seine Haltung erkennendes, unendliches Mitleiden zeigt, sie selber aber sich dadurch an der Ausführung ihrer Intentionen hindern. Die Schilderung ist sehr eindrucksvoll; ich empfehle hier, sie nachzulesen10.

© Stefan Carl em Huisken 2021

1Diesen treffenden Ausdruck verwendet Rudolf Steiner in seinem Vortrag vom 19. Dezember 1920, der sowieso eine empfehlenswerte, vertiefende Lektüre ist. Steiner, Rudolf: Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physischen des Menschen. GA 202. – Dornach, 1993, S. 199 ff

2Ein in der Szene der anonymen Alkoholiker bekanntes Wort, das ihnen vielfach Wegleitung aus der Bedrängnis zu geben vermag.

3vgl. dazu auch https://emhuisken.de/das-boese-was-hilft-die-aufregung-die-kraefte-wirksam-nutzen/, wo ich diese Situation im Zusammenhang mit der Frage von Gut und Böse besprochen habe.

4Ganz in diesem Sinne ist ja der Titel von Rudolf Steiners Buch „Die Geheimwissenschaft im Umriss“ zu verstehen: eine Wissenschaft, die von dem handelt, was für das alltägliche Bewusstsein „geheim“ ist, also ihm nicht ohne Weiteres erscheint.

5Auch im Traum hat man ja Wahrnehmungen; gemeint ist hier also der wirkliche traumlose Schlaf.

6s.o. Abschnitt „Furcht und Schein“

7s.o. Abschnitt „Angst und Gewalt“

8Ich verweise in diesem Zusammenhang immer wieder auf einen frühen Aufsatz von Rudolf Steiner, in dem das hier Dargestellte in einer gewissen Schärfe und Klarheit auf den Punkt gebracht ist. Steiner schreibt dort: „Nicht selbstlos soll der Mensch werden; das kann er nicht. Und wer sagt, er kann es, der lügt. Aber die Selbstsucht kann sich bis zu den höchsten Weltinteressen aufschwingen. Ich kann die Angelegenheiten der ganzen Menschheit besorgen, weil sie mich ebenso wie meine eigenen interessieren, weil sie zu meinen eigenen geworden sind. (…) Erweitert euer Selbst nur erst zu Welt-Selbst, und dann handelt immerzu egoistisch. Seid wie das Hökerweib, das Eier auf dem Markt verkauft. Nur besorgt nicht das Eiergeschäft aus Egoismus, sondern besorgt das Weltgeschäft aus Egoismus.“ (Rudolf Steiner: Der geniale Mensch. in: Steiner, Rudolf: Methodische Grundlagen der Anthroposophie. Gesammelte Aufsätze 1884-1901. GA 30. – Dornach, 1989. S. 431 f)

9vgl. dazu den Satz Rudolf Steiners: „Man muss sich der Idee erlebend gegenüberstellen können; sonst gerät man unter ihre Knechtschaft.“ Steiner, Rudolf: Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode. – Dornach, 1973. S. 271

10vgl. Steiner, Rudolf: Das Geheimnis des Todes. GA 159. – Dornach, a980, S. 248 f




So weit haben wir es also gebracht – eine Brandrede zu Weihnachten

Nun fällt sie uns auf die Füße, die Frucht unserer Selbstvergessenheit. Wir haben es versäumt, rechtzeitig herauszufinden, woran es liegt, dass jeder neue Gewinn an technologischer Macht über Kurz oder Lang zu neuen Wellen der Selbstzerstörung führt. Selbstzerstörung nicht bei allen und bei jedem, selbstverständlich. Aber bei dem „Wir“ das ich hier meine: dem „Wir“ aller Menschen, der Menschheit insgesamt. Denn ohne das Ganze der Menschheit ist der Einzelne nichts, nicht existenzfähig.

Wir haben lange gemeint, die ungeheure äußere Macht der toten Maschine würde uns in eine neue Welt sorgenfreien Lebens katapultieren. In beeindruckendem Maße scheint das ja auch geglückt zu sein – für Einige. Und wir hier, in der sogenannten zivilisierten, entwickelten Welt danken der Technik unsere Freiheit in gewissem Sinne ja auch wirklich. Aber auf wessen Kosten?

Der in der äußeren Welt lebende Mensch, der so Vieles in der Welt zu erklären gelernt hat, hat darüber Eines ganz vergessen: sich selber als real erlebendes Wesen kennt er nicht mehr.

Gewiss, wir wissen Vieles über bestimmte leibliche Erfordernisse eines jeden Menschenlebens; auch über sogenannte „seelische Bedürfnisse“ dessen, was wir in unseren Erklärungsversuchen „Mensch“ nennen, glauben wir Einiges sagen zu können. Es mag ja auch Vieles davon sinnvoll und richtig sein im Rahmen der gewählten Erklärungsansätze.

Was wir aber nicht wirklich kennen, was wir sogar aus aller Erkenntnis meinen heraushalten zu müssen, weil die Erkenntnis sonst Gefahr liefe, „falsch“ zu werden, das sind wir selbst: die konkreten erlebenden, denkenden, fühlenden, wollenden Wesen, die wir niemals in der äußeren Welt finden können, weil sie dort einfach nicht sind: das ICH, das all das erlebt und tut, es ist nirgends dort zu finden, wo all das Erlebte, Erkannte und Getane west und wirkt.

Das ist unser Versäumnis: wir haben den Menschen aus der Welterkenntnis ausgeschlossen: uns selbst, von dem wir doch sicherer als bei allem Anderen wissen können, dass es existiert. Ohne das Ich als Zentrum und Schauplatz des Weltgeschehens hätte alles, was uns umgibt, Bedeutung und Ziel verloren. Genau dies, die Ausrottung des real im Geist sich selbst erlebenden MENSCHEN, betreiben wir dadurch, dass wir nicht danach streben, uns selbst für die Welt zu entwickeln, sondern stattdessen die Welt zu unserer Bequemlichkeit technologisch auszubeuten, oder – wie Manche wollen – sie als unbedeutend anzusehen, nämlich als etwas, das möglichst schnell für unser Wohlergehen (darum geht es!) unnötig werden soll.

Wenn wir auf uns selber zu schauen vermeinen, sehen wir vorrangig unsere Wünsche, die sich aus den Bedingungen des irdischen Daseins ergeben. Das ist unser irdisches Wesen, das Weltenwesen, das wir auch sind. Was aber in diesem irdischen Wesen als Geistiges lebt, ist das ICH, das frei sein will. Das wird es aber niemals durch Erfüllung irdischer Wünsche. Dieser Weg führt in die Sucht, in immer weiteres Ausufern der Wünsche, und zugleich in immer größere Bequemlichkeit und damit einhergehenden Verfall menschlicher Fähigkeiten. Der derzeitige Zustand der Welt ist Beweis genug dafür.

Damit ist nichts gesagt gegen den Gebrauch heutiger Wissenschaft und Technik; beide haben ihren Anteil an unserem Freiwerden. Aber es ist entscheidend, ob wir selber, aus dem freien Geist, in Ansehung unserer eigenen Bedeutung im Weltenganzen all diese Gaben zu nutzen verstehen, oder ob wir es tun ohne den Blick darauf, wer wir selber sind, werden wollen und werden sollen.

Was ICH bin, bin ich geworden aus der Welt, mit allen Wirkungen der Taten zahlloser Menschen vor mir im Gang der gesamten Menschheitsentwicklung seit einem wie immer gearteten Weltenbeginn. Was wir heute tun, prägt die Welt, aus der unsere Nachkommen hervorgehen werden und in der sie zu leben haben. Das sollten wir bedenken.

Selbst wenn wir das tun, fehlt uns ohne eine wirkliche Erkenntnis unserer Selbst, unseres geistigen Kernes, aller Sinn und jedes Ziel für unser Tun. Wenn wir ehrlich sind: wir haben doch alle Ideale verloren, jedenfalls die, die über unsere eigenen irdischen Lebenswünsche hinausgehen. Solche Ideale erleben wir nicht als etwas Wirkliches, sie sind uns nur Meinungen subjektiver Art, die eben jeder für sich selber setzt und mehr oder weniger befolgt.

Wir selber sind uns dabei völlig abstrakt geworden, und damit auch alle Welterkenntnis. Mit der Wahrheit unserer Selbst haben wir auch die Wahrheit der Welt verloren. Gewaltige Denkkraft wird und wurde darauf verwendet, zu beweisen, zu begründen und als großartige Erkenntnis anzupreisen, dass es eine Wahrheit gar nicht geben kann. Aber ist denn diese Erkenntnis wahr?1Jeder einzelne Mensch, der sich selber ernst nimmt, ist doch der lebende Beweis der Wahrheit seiner Existenz! Und alles, was er über die Welt erkennt, existiert doch nicht ohne ihn! Und diese Grundbedingung aller Erkenntnis soll unwahr, subjektiv, erkenntnisverfälschend sein?

Ja, das kann sein. Aber nur solange bis der erkennende Mensch sich aufrafft, seine eigene, grundlegende, wahre Bedeutung für alle Erkenntnis anzuerkennen, und dann dieses Anerkenntnis zum Anlass nimmt, sich selber zu erforschen, zu erkunden und davon ausgehend sich selber geeignet und würdig zu machen für eine unverfälschte Erkenntnis der Wahrheit. Solange er selber sich ausschließt aus der Erkenntnis, gibt es keine Wahrheit. Solange werden auch die Ergebnisse seiner Erkenntnistätigkeit ihn selber unberücksichtigt lassen – und eben unmenschlich, nicht menschengemäß, nicht menschenwürdig sein.

Das ist unser Versäumnis, dessen Folgen uns jetzt auf die Füße fallen. Wir haben uns selber als real sich selber im Geiste erlebende Wesen aus der Erkenntnis und damit aus der Wissenschaft und Technik ausgeschlossen. Jetzt wirken die von uns aufgebauten toten, maschinellen Prozesse im Sinne des auf das irdische, einzelpersönliche Sein bezogenen Egoismus. Sein Ziel ist immer das Erlangen von Macht zur Erfüllung solcher egoistischer Wünsche. Und wem aus den Eroberungen der Vergangenheit solche Macht zugefallen ist, der wird sie zu erweitern trachten, und sicher niemals freiwillig aus der Hand geben.

Aber auch diese Machtegoisten sind Menschen. Auch sie zerstören mit ihrem Tun letztlich die Grundlage ihres eigenen Seins. Auch sie werden – wenn die Entwicklung so weitergeht wie bisher – ihre Menschlichkeit, ihr ICH nicht dauerhaft machen können. Denn auch sie sind, weil auch sie sich selber nicht kennen, nur Sklaven des technologischen Dogmas der vermeintlichen Weltbeherrschung.

Was hält uns davon ab, endlich dem MENSCHEN den ihm gebührenden, seiner Stellung in der Welt würdigen Platz zu geben? Alles, was dagegen eingewendet werden kann, ist letztlich Frucht der Selbstvergessenheit. Wollen wir wirklich weiter mit einem Denken, einer Wissenschaft, die den eigenen Kern nicht kennt, die Schäden zu bekämpfen suchen, die gerade Folgen sind dieses Denkens, dieser Wissenschaft? Es ist hoffnungslos – das wird nicht funktionieren.

Und je länger wir uns weigern, uns selber als reale Geistwesen, als wirkliche ICH-Menschen anzuerkennen, desto tiefer versinken wir alle im Sumpf menschenunwürdiger (!) Selbstvergessenheit.

Sei im Bewußtsein Träger des Ich
Des Alten vom Tage
Des Herz die Zeit
Des Leib der Weltraum ist,
Des Geist in Deinem Geist
Als Kind erwacht.
Sei Deines Kindes wissender Hüter.
Bedecke es nicht mit Staub.
Gib Nahrung ihm.

(Helmut Siegfried Unbehoven)

Das hier genannte Kind ist das wahre „Kind in der Krippe“, dessen Kommen die Welt zu feiern hat. Die unwürdigen Umstände, unter denen wir zur Zeit diese Feier zu begehen haben, sind eine der heutigen Welt entsprechende Metamorphose des biblischen Bildes: der Erlöser soll geboren werden, aber es findet sich keine Herberge. Bei den Tieren im Stall schließlich findet statt, was der Welt die Erlösung bringen soll2.

Beruhigen wir uns also über diese Zustände. Wenden wir uns lieber dem zu, worum es eigentlich gehen muss, was uns obliegt: uns selber als vor der Welt und für die Welt verantwortliche Menschen anzuerkennen, und auf dieser Grundlage dem in uns zu gebärenden neuen, geistigen Menschen – dem „Kind“, dem „Künder“, unserem „höheren ICH“ – eine Herberge zu geben. Dann haben wir auch eine Chance, dem in uns erstehenden Kind die rechte Nahrung zu geben, so dass es kräftig und weltenwirksam heranwachsen kann.

© Stefan Carl em Huisken 2021

1Anders gesagt: Alle Kretenser lügen, sagt ein Kretenser.

2Man durchdenke das Bild in meditativer Form. Es stimmt bis in die Einzelheiten.


Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können. Auch der oben angesprochene Weg der Selbsterziehung zur wahrer Erkenntnis wird darin angesprochen.




Plädoyer für den Menschen – gegen die Missachtung

Warum muss man ihn eigentlich verteidigen, für ihn „plädieren“, den Menschen? Kann er das nicht selber? Aber ja doch, tut er ja gerade, denn ich bin auch Mensch, oder? Und andere Verteidiger als Menschen sind ja nicht zur Hand ….

Missachtung

Aber wogegen überhaupt? Wer greift ihn an? Nun, das ist eine schwere Frage, denn die Missachtung des Menschen ist groß in der Welt, aber die Missachtenden sind alle eines: Menschen. Und dann ist das mit der Verteidigung auch so eine Sache, denn nach gängigem Verständnis hätte der Verteidiger als seine Gegner eben Menschen. Und deren Missachtung des Menschen müsste man dann, wenn man ihr nicht beipflichten kann und will – was ja ein Verteidiger natürlich weder kann noch darf – eben erst einmal als ungerechtfertigt ansehen und dadurch diese Menschen in ihrer Ansicht erst einmal – und jetzt wird es schwierig – missachten.

Kurzum: die Missachtung des Menschen, des realen, der ich bin, von dem ich ganz sicher weiß wie jeder andere Mensch auch, ist eine Art selbsterfüllende Vorgabe: hat sie ein Mensch, diese Missachtung, so ist jeder, der gegen sie streitet, und damit ihre Existenz im anderen nicht gelten lassen will, erst einmal gezwungen, sie auch zu haben. Oder?

Erlebte Wirklichkeit

Worauf das hinweist, ist aber eigentlich eine ganz einfache Sache. Jeder von uns erlebt sich in sich, geistig-seelisch, von außen unmessbar und nur für den sich selber erlebenden real. Sehr real allerdings, denn man braucht nicht einmal äußere Sinne, um von der eigenen Realität überzeugt zu sein. Sie ist für jeden wachen Menschen einfach gegeben in unserer heutigen Welt.

Wohl brauchen wir die Sinne, aber nur mittelbar. Denn ohne Sinneswahrnehmung sind wir in der Regel nicht wach, und wissen daher auch nicht von uns selber, der wir ja allen diesen Wahrnehmungen gegenüberstehen und sie doch nicht sind. Könnten wir wach sein ohne Sinneswahrnehmungen – und es gibt Menschen, die sagen, dass sie das können – so wüssten wir auch dann von unserer eigenen Existenz, und hätten darin dann den praktischen Beweis, dass wir selber, die geistig-seelischen Menschen, von der Sinneswelt unabhängige, sagen wir einmal „übersinnliche“ oder „geistige“ Wesen sind.

Weil wir solche Wesen eben nur sind, aber nicht wahrnehmen, vor allem dieses geistige Sein im Anderen nicht wahrnehmen können, missachten wir es. Denn für wirklich halten wir immer nur, was wir auch wahrnehmen können, was uns gewissermaßen „gegenübersteht“. Denn das können wir uns dann von Anderen bestätigen lassen, und erst dann gilt es uns als „wirklich“.

Selbst-Missachtung

Warum eigentlich? Genau, weil wir selber mit der Missachtung des Menschen bei uns selber anfangen. Selbst, was wir als ganz unumstößlich vorhanden erleben, uns selber nämlich, und unser Denken, achten wir nicht.

Womit der Quell der sich selbst erfüllenden Vorgabe der Missachtung des Menschen ausfindig gemacht wäre: er liegt in der Selbst-Missachtung des Einzelnen. Allerdings, um hier einem Missverständnis gleich zuvor zu kommen: es geht um die Missachtung oder wieder zu erlangende Achtung des unmittelbaren, geistig-seelischen Selbst-Erlebens des Menschen, nicht um die Missachtung oder Achtung gegenüber irgendwelchen inhaltlichen, auf die erlebte Welt bezogenen Meinungen, Gefühlen, Erkenntnissen oder „Wollungen“. Das sind nämlich alles beschreibbare Gegenstände einer inneren geistig-seelischen Umwelt. Die sieht man in der Regel als genauso unwirklich, “bloß subjektiv“ an wie sich selber. Aber wenn man erst einmal die Wirklichkeit der eigenen geistig-seelischen Existenz anerkennt, also überhaupt etwas Un-Sinnliches, Übersinnliches als wirklich anerkennt, stellen sich in Bezug auf die genannten innerseelischen „Begleiter“ auch andere Fragen.

Diagnose

Jedenfalls können wir festhalten: die allgemein zu beklagende Missachtung des Menschen in der Welt hat einen Ausgangspunkt in uns selber, in unserer Missachtung für unser ohne Zweifel reales Selbst-Erleben. Wer sich selber nicht achtet, hat es schwer, das Menschsein des Anderen zu achten. Allerdings gibt es da viele Regeln, Gewohnheiten und Haltungen, die uns im verflossenen Leben zugewachsen sind, und die uns dann auch dazu bringen können, es mit der Missachtung nicht zu übertreiben. Wie die einfache Beobachtung des Lebens ergibt, verlieren diese Regeln aber rasant an Kraft.

Denn freilich, freie Achtung für einander wächst nur in Menschen, die sich selber genauso achten wie den Anderen. Man kann das auch so ausdrücken: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Auch diese Formulierung gibt ja nur dann einen Sinn, wenn man mit der Selbst-Liebe nicht die Liebe zur Erfüllung der eigenen Wünsche, zum eigenen Rechthaben oder zur Macht über Andere meint, sondern wirklich zu sich selbst, diesem elementaren Ich-Erlebnis, unabhängig von allen geistig-seelischen „Begleitern“.

Heilmittel

Dann kennen wir aber – wie überhaupt in der Heilkunde überall – mit der Diagnose das Heilmittel. Nehmen wir uns selber ernst in unserer geistig-seelischen Existenz! Wachen wir auf dafür, dass auch unsere inneren „Begleiter“ Tatsachen sind, Wirklichkeiten, mit denen zu rechnen ist! Wie viele Dinge in der Welt hat es zuerst als Gedanken, als Wünsche gegeben, die nun aber Welt-Tatsachen sind!? Nur leider, wie oft haben wir oder die anderen Urheber solcher Gedanken, Gefühle oder Willensimpulse nicht gewusst, was sie auslösen, wenn das Innere durch Taten erst zu Lebens-Tatsachen wird! Und dann stehen wir staunend, manchmal auch schaudernd vor den Ergebnissen.

Wie gut wäre es, wenn wir über das Verhältnis zwischen der geistig-seelischen Welt, als deren Teil wir selber in uns leben, und der äußeren Sinneswelt mehr wüssten als bisher? Diejenige Wissenschaft, die nur auf das Äußere geht, kann das niemals klären; sie kann nur eines, was sie ja auch ganz ausdrücklich will: den inneren, sich selbst erlebenden, „bloß subjektiven“ Menschen missachten.

Und da solche Dinge wie Moral, Achtung, Gefühl und Ähnliches eben alles keine äußeren Gegenstände sind und bloß im „subjektiven“ Menschen vorkommen, gelten diese Dinge solcher Wissenschaft nichts. Sie soll ja „wertfrei“ sein. Damit schließt sie aber den unmittelbar wahren, lebenden Menschen aus.

Leider merkt sie dabei gar nicht, dass sie sich selber auch für unwirklich erklärt: ihre Gedanken über die Welt, ihre theoretischen Gedankengebäude, die den inneren Menschen zu etwas Unwirklichem erklären, sind ja bloß eines, nämlich: Gedanken, also subjektiv. Und ihre subjektiven Gedanken sind dann eben so, dass sie den real sich selbst erlebenden Menschen missachten müssen.

Geisteswissenschaft

Was uns fehlt, ist daher eine erneuerte Wissenschaft, eine Wissenschaft vom Menschen aus, und damit eine Geistes-Wissenschaft vom realen Geist, der in jedem Menschen lebt, denn der erlebende Mensch ist geistig. Solche Wissenschaft kann man auch Anthroposophie nennen; sie erkennt dann selbstverständlich an, was Welt-Wissenschaft über ihren Gegenstand zu sagen hat, geht aber darüber hinaus und schließt auch die reale Grundlage der Welt-Wissenschaft mit ein: den realen, geistigen Menschen. Und dann kommt es auch zu einem Ende mit der Missachtung des Menschen.

Und wir kennen damit auch den „Retter“, der alle Verteidigung, jedes Plädoyer für den Menschen dann unnötig macht: den Menschen selber, der sich in freiem Entschluss zu sich selbst und dem Geist bekennt, dem er entstammt und in dem er lebt.

Tut er das nicht, so wird die Missachtung bleiben, und voraussichtlich wachsen. Denn ohne den Menschen ist kein Leben in der Erkenntnis; nur er kann dieses Leben geben. Ohne ihn wird alle Erkenntnis nur eine abstrakte, absterbende, tote sein. Und wie alles, was erst im Geiste ist, wird sie dann auch Welten-Wirklichkeit – also den Tod in die Welt bringen. Sehen wir das nicht täglich, wo scheinbar „wertfreie“ Wissenschaft und Technik den Menschen missachtet, ihm seinen inneren Wert raubt und seine Welt zerstört?

© Stefan Carl em Huisken 2021




Wahnsinn und Denken – neues Buch erscheint in Kürze

Cover Wahnsinn und Denken

In Kürze wird im Ch. Möllmann Verlag mein neues Buch „Wahnsinn und Denken – Der Kampf um den Menschen“ erscheinen, das sich mit den Fragen und Aufgaben beschäftigt, die den Menschen weltweit im Zusammenhang mit der sogenannten „Corona-Pandemie“ ins Bewusstsein drängen.

„Es entstand aus dem Wunsch, der allgemeinen und zunehmenden Desorientierung und Verwirrung, die durch die Vorgänge im Zusammenhang mit der sogenannten „Corona-Pandemie“ ausgelöst wurde, einen klaren Denkweg entgegen zu stellen, der für jeden Menschen nachvollziehbar ist, ausgehend von unmittelbar erlebbaren Tatsachen. Nur so – war der Gedanke – kann zu einer Beurteilung der Ereignisse gefunden werden, die nicht nur eine weitere Theorie dem Streit der Parteien hinzufügt. Es musste daher von Grundtatsachen ausgegangen werden, die jeder einigermaßen Gutwillige unmittelbar und gleichermaßen einsehen kann. (…)

Der Anlass für die Ausarbeitungen dieses Buches ergab sich in einem kleinen Arbeitskreis, in dem ich seit mehr als zehn Jahren regelmäßig meist monatlich Vorträge gehalten habe. Als im Zuge der diversen „Corona-Verordnungen“ solche Zusammenkünfte zu verbotenen Aktivitäten gemacht wurden, musste von der Darstellung von Mund zu Ohr abgewichen werden und zu schriftlichen Ausarbeitungen übergegangen werden. Ein solches Vorgehen ist natürlich sehr viel aufwendiger als ein mündlicher Vortrag; was sich dort aus dem lebendigen Miteinander ergeben kann, musste nun in allen Einzelheiten der viel größeren Anonymität des Geschriebenen angepasst werden. Dabei wurde allerdings schnell deutlich, dass damit auch den Anforderungen an eine Veröffentlichung entsprochen werden kann.“
(aus dem Vorwort).

„Vielleicht ist es ja möglich, hiermit einen Beitrag zu größerer Ordnung und Verantwortung im Umgang der Menschen miteinander, mit der Erde und der gemeinsamen Zukunft beider zu leisten.“ schließt das Vorwort ab.

Das Buch erscheint mit Hardcover, Fadenheftung, 116 Seiten im Mai im Verlag Ch. Möllmann zum Preis von 15 €. ISBN 978-3-89979-335-2
Es kann ab sofort => hier oder per Email an info@emhuisken.de bestellt werden.




Den Menschen überwinden? – Transhumanismus und Geist-Erkenntnis

Transhumanismus1

Es funktioniert einfach gar nicht, was sich so manche Visionäre des Transhumanismus da vorstellen: durch eine Verschmelzung mit Maschinen den Menschen zu überwinden, zu übertreffen, und seine Möglichkeiten zu erweitern. Denn: die Maschinen, die man dazu verwenden will, hat doch jemand gebaut, oder? Das waren Menschen. Selbst wenn sie eine Maschine gebaut haben, die – äußerlich gesehen – bestimmte Dinge perfekter zu können scheint als der Mensch. Das Grundprinzip bleibt, bei dieser Sache: am Anfang war der Mensch.

Aber sie haben ja natürlich auch recht, die Verfechter einer solchen Vision: so wie die Menschen derzeit sind und leben, kommen sie an Grenzen, die sie mit ihren derzeitigen Möglichkeiten nicht überwinden können. Grenzen, die die Natur steckt, aber auch Grenzen, die die Menschen sich selber stecken in ihrem Denken. Und genau diese Grenzen, die des Menschen selber, soll er nun überwinden, sagen die Transhumanisten, durch Technik, die ja, wie gesagt, von Menschen in die Welt gesetzt ist.

Aber damit wollen sie nicht wirklich etwas Neues. Sie wollen nur noch mehr von dem, was wir schon haben: Technik. Und dadurch weniger von dem, was wir sind: Menschen.

Das Gegenteil

Mit der zugrundeliegenden Analyse der derzeitigen Situation der Menschheit kann man ja nur einverstanden sein. Wir stehen an Grenzen: ökologisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich, und im Denken. Nur wie kann man diese Grenzen überwinden?

Da wird man wohl genauer hinschauen müssen auf diese Grenzen. Sie trennen nämlich den Menschen, der sich in sich selbst erlebt und darum unumstößlich sicher von sich selber weiß, von der Welt, die da draußen und nicht unmittelbar erkennbar, sondern nur theoretisch erklärbar ist. Und weil die Menschen derzeit einfach nichts anderes gelernt haben, und auch keine Wege zu etwas anderem finden wollen, können sie Grenzen überschreiten eben nur nach draußen, in die unbekannte Welt, bei der man nicht weiß, wie sie genau ist, und darum auch nicht vorhersehen kann, was für Folgen die Grenzüberschreitungen haben. Die Folgen bekämpft man dann auf dieselbe Weise: Neues in die Welt setzen, ohne zu wissen, wohin das führt.

Aber können wir wirklich nichts Anderes? Wir erleben uns doch selber? Zwar wird es schwierig, wenn wir eine Vorstellung von uns selber entwickeln wollen, da wird alles irgendwie unbefriedigend. Aber das ist ja auch klar: die Vorstellung von mir selber bin ja nicht ich, der Vorstellende, sondern sie ist eben nur die Vorstellung davon. Und darüber, ob die nun stimmt, können wir dann erstmal nur theoretisieren. Dennoch können wir festhalten: genau da, wo ich, der Mensch selber, als erlebendes Wesen bin, wo ich also die Welt anschaue, tätig bin, aber nichts sehen kann von mir, da könnte ich wirklich eine Grenze überschreiten, mich über das Bestehende hinaus weiter entwickeln.

Unbeherrschbar

In einer dematerialisierten Zukunft besitzt der Konsument weniger Dinge – wir benutzen sie nur noch – »Teilen ist das neue Haben«“ schrieb gerade ein Kolumnist in einer deutschen Tageszeitung2. Das brachte mich auf die hier formulierten Gedanken, und es ist ja genau das Credo der Transhumanisten vom Schlage eines Klaus Schwab oder Elon Musk. Die Menschen sollen nichts mehr besitzen. Das besitzen dann alles Klaus Schwab, Elon Musk etc. Und die anderen dürfen es dann gegen Entgelt von denen leihen – digital, versteht sich, am besten per eingepflanztem Chip im Leib.

Es stimmt ja, es geht um „Dematerialisierung“, in gewissem Sinne. Nur wie stellt man sich diese Dematerialisierung vor? Da gibt es zwei Wege: einmal den maschinellen, in dem alle äußeren, physischen Vorgänge durch algorithmische Prozesse (also maschinelle Vorgänge) abgebildet und gesteuert werden. Davon reden die Transhumanisten, und von ihnen inspiriert und choreographiert die Digitalisierer. Nur nichts Menschliches! Das wäre ja ganz unkontrollierbar, unberechenbar, und darum – letztlich unbeherrschbar. Den Menschen, der sich selbst erlebt, den kennen diese Visionäre gar nicht. Der ist nämlich nicht draußen, materiell, messbar, berechenbar, maschinell. O Gott, der Mensch lebt!

Eben dadurch ist er unbeherrschbar. Das ist dann der zweite Weg, der des Menschen, den er aus eigener Kraft und frei gehen kann. Auch dafür muss er nichts Äußeres besitzen. Dazu braucht er nämlich nur sich selber. Allerdings muss er sich dann ernst nehmen, seinem unmittelbaren Erleben auch Bedeutung beimessen, seinem eigenen, bewusst gestalteten Denken vertrauen. Dann erkennt er den perfiden Herrschaftswillen, der hinter Verheißungen der schönen neuen digitalen transhumanistischen Welt steht, und der nur darauf abzielt, ganz sicher keinerlei neue Entwickelung zuzulassen, nur immer mehr vom selben: mehr Technik, mehr Kontrolle, mehr Maschine. Wer diesen Maschinenwillen erkennt, schlägt schon einen Nagel in den Sarg des Transhumanismus. Diese Erkenntnis ist nämlich das, was ich schon sagte: unbeherrschbar.

Scheideweg

Was wir derzeit erleben, ist – mal wieder, muss man leider sagen – das Stehen am Scheideweg. Es scheint ja klar: der Weg des Menschen geht in die „Dematerialisierung“, in den Geist also. Nur in welchen, das ist die Frage.

Auf ganz verschiedene Arten hat es das im vorigen Jahrhundert schon mehrfach gegeben, in den beiden sogenannten „Weltkriegen“ nämlich. Im „ersten“ davon wurde die tief seelisch erlebte Sehnsucht nach einer menschlicheren Welt im Einklang mit der Natur, die sich in einer ganzen Generation von jungen Menschen, am deutlichsten sichtbar in den sogenannten „Wandervögeln“3 darlebte, ganz wortwörtlich niedergemetzelt. Die Sehnsucht wurde zerstört, indem man ihre Träger ganz äußerlich als Kanonenfutter verbrauchte.

Das reichte aber noch nicht. So eine Sehnsucht kam wieder. Und nun ging es noch perfider: man missbrauchte sie, indem man sie mit verlogenen Idealen umleitete und zum aktiven Völkermord trieb. Eine stumme Generation war die Folge, verstummt vor der Ungeheuerlichkeit, eine Generation, die zwar äußerlich überlebte, aber innerlich zerstört war.

Wer die Prozesse genauer studiert, die zu diesen beiden Katastrophen geführt haben, kann leicht erkennen, dass sie geplant und gesteuert waren, und von vielerlei Opportunisten zusätzlich als gute Gelegenheit für das Verfolgen eigener Zwecke genutzt wurden. Immer wieder kamen in der Folge Krisen auf, mit neuen Generationen, die Neues forderten. Diejenigen, die steuerten, und die Opportunisten, die waren auch immer wieder dabei.

Bereits 1919 schrieb Rudolf Steiner: „Wenn nicht mehr Menschen über Menschen in der alten Art ‚regieren‘ sollen, so muß die Möglichkeit geschaffen werden, daß der freie Geist in jeder Menschenseele so kraftvoll, als es in den menschlichen Individualitä­ten jeweilig möglich ist, zum Lenker des Lebens wird. Dieser Geist läßt sich aber nicht unterdrücken. Einrichtungen, die aus den bloßen Gesichts­punkten einer wirtschaftlichen Ordnung das Schulwesen regeln wollten, wären der Versuch einer solchen Unterdrückung. Sie würde dazu führen, daß der freie Geist aus seinen Naturgrundlagen heraus fortdauernd revol­tieren würde. Die kontinuierliche Erschütterung des Gesellschaftsbaues wäre die notwendige Folge einer Ordnung, die aus der Leitung der Pro­duktionsprozesse zugleich das Schulwesen organisieren wollte.4

Mit großer Regelmäßigkeit sind die neuen Impulse, die neue Generationen dem menschlichen Zusammenleben einverleiben wollten, vor allem in den Schulen dem bestehenden Wirtschaften, den bestehenden Ideologien und deren Ansprüchen untergeordnet, und damit zerstört worden. Ich nenne hier nur die 1968er, die Antiatombewegung, ja, auch die Umweltbewegung mit ihrem letzten Spross namens „Fridays for Future“. Diese letzteren waren aber von Anfang an auf dem Holzweg: sie verlangten von eben derjenigen Wissenschaft, die nichts vom Menschen weiß, weil sie nur auf die äußeren Tatsachen schaut, und die uns all die Probleme beschert hat, die uns und der Erde nun das Leben versauern, – von eben dieser Wissenschaft verlangten sie die Lösung der drängenden Probleme. Da will man den Bock zum Gärtner machen.

Der Weg in den Geist

Zum Geist streben aber beide Wege, nur in gegensätzlicher Art und Weise. Das liegt eben in der Entwicklungsrichtung des Menschen. Beide Wege kommen nicht umhin, Un-Sinnliches zum Ausgangspunkt zu nehmen, also Dinge, die mit den uns gegebenen Sinnen nicht wahrnehmbar sind.

Das ist bei den Digitalisierern so, denn sie brauchen die Elektrizität, ohne die ihre Maschinen, die unsichtbare maschinelle Prozesskonzepte ablaufen lassen, nicht funktionieren. Das ist etwas, was man mit gutem Grund untersinnlich nennen kann, denn es ist eine Eigenschaft, die der sinnlich gegebenen Welt innewohnt, aber in dieser Sinnenwelt selber nicht erscheint, und auch im Menschen selber zunächst nicht erlebt werden kann. Der Mensch im Umgang mit der Sinnenwelt kann diese Eigenschaft nur erforschen, indem er sie gebraucht. Ihre Herkunft und Entstehung bleiben dem Menschen aber äußerlich.

Und dann gibt es noch den anderen Weg, den Weg des Menschen, den er in seinem Innern nehmen kann. Dann muss er sich aber dazu aufschwingen, sich neue Sinne zu erarbeiten, mit denen er die Welt, in der er selber lebt, ganz neu wahrnehmen lernen kann. Denn seine Sinne, das ist ja offensichtlich, sind Teil der gegebenen Außenwelt, durch die er mit dieser Außenwelt in Kontakt kommt. Nur zeigen sie ihm immer nur einen Teil dieser Welt, den Teil, der gerade ihm erscheinen kann. Die Welt, in der er selber lebt, bleibt den gegebenen Sinnen verborgen.

Das, was der Mensch sich da im Innern erarbeitet, wäre dann ebenso unzerstörbar, wie das entschiedene Bekenntnis zur Realität seiner selbst ihn unbeherrschbar macht. Es lebte nämlich rein im Geiste, und den kennen diejenigen nicht, die für ihre Art Geist digitale Maschinen, Raketen und Flüge zum Mars brauchen – neben einem Heer von Sklaven, das ihnen die dafür nötige Drecksarbeit abnimmt. All das hat der Mensch, der sich auf sich selber stellt, nicht nötig.

Rudolf Steiner beschrieb die Sache 1925 so: „Die Unter-Natur muß als solche begriffen werden. Sie kann es nur, wenn der Mensch in der geistigen Erkenntnis mindestens gerade so weit hinaufsteigt zur außerirdischen Über-Natur, wie er in der Technik in die Unter-Natur heruntergestiegen ist. Das Zeitalter braucht eine über die Natur gehende Erkenntnis, weil es innerlich mit einem gefährlich wirkenden Lebensinhalt fertig werden muß, der unter die Natur heruntergesunken ist.“ 5

Irrwege

Auf dem Weg zu einer wirklich selbsterrungenen Geisterkenntnis gibt es natürlich allerlei Irrwege. Der dabei häufigste ist – neben dem oben charakterisierten technologisch-materialistischen Weg der Transhumanisten – die Missachtung der äußeren physischen Welt als „bloßer Schein“ und darum überflüssig. Jawohl, diese Welt, so wie sie jedem einzelnen Menschen erscheint, ist Schein. Sie ist eben nur das, was gerade dieser Mensch davon sehen und erkennen kann, niemals das Ganze der Welt, niemals die „Wahrheit“.

Aber der Geist alleine, so wie er in jedem Menschen lebt, ist ebenfalls niemals das Ganze. Er weiß nämlich von seiner eigenen Existenz nur dadurch, dass es eben den Schein gibt, in dem er sich verlieren und untergehen kann. Darum hilft es auch nicht, immer nur nach dem Geist zu streben und die Welt dabei Welt sein lassen zu wollen. Dann kommt die Welt nämlich in die Hände der charakterisierten Transhumanisten, und die treiben den menschlichen Leibern schon nach und nach alle Neigung zu einem selbständigen, unbeherrschbaren Geist aus. Schritte dazu erleben wir ja zur Zeit: alles ursprünglich Menschliche wird verboten (Nähe, Zuneigung, Gesicht zeigen, Begegnung), alles Distanzierte, Feindliche (jeder Mensch ein Gefährder!), Äußerlich-Technische wird gefördert, und in diesem Zuge werden die Reste selbständigen Lebens zügig digitalisiert. Die Transhumanisten freuen sich: wir hatten Recht, das sieht man ja, es funktioniert!

Auferstehung

Aber sie haben eigentlich schon verloren, diese Technokraten, Tyrannen, Apparatschiks und Konsorten. Der menschliche Geist in jedem Menschen ist und bleibt eben unbeherrschbar. Sie betteln nur um Zeit, weil sie Angst haben vor dem Tod, den sie selber in der Welt verbreiten, aber nicht begreifen können. Sie wollen lieber selbstgewählt in der Maschine aufgehen, in den Maschinengeist hineinsterben – denn tot ist dieser Geist allemal – als in den wirklichen, lebendigen Geist hinein. Sie glauben, das sei die Unsterblichkeit; sie ist aber nur der ewige Tod in der Maschine.

In den wirklichen Geist hineinsterben6 tut nur derjenige, der in der Welt des Scheines lebend, diesen überwindet aus eigener Kraft. Die Welt des Scheines führt in den Tod – der ganzen Erde, der Menschheit, oder in den maschinellen Tod des Geistes. Wer sich auf sich selber besinnt, erkennend, dass er doch weiß, dass er selber nicht von dieser Welt ist, sondern ihr gegenüber steht, der bemerkt eine Kraft im Zentrum seiner selbst, in seinem Ich, die diesen Tod überwinden kann, immer, jederzeit. Aus ihr kommt das Leben.

Das kann man dann die Kraft der Auferstehung nennen: aus dem Tod des Scheines zum eigenen Leben auferstehen. Diese Kraft haben wir in uns von dem, der sie einstmals dem Erdensein überbrachte: dem Auferstandenen.

© Stefan Carl em Huisken 2021

1vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Transhumanismus

2Karl-Heinz Land im Ostfriesischen Kurier, 20. März 2021, S. 43

3vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Wandervogel

4Rudolf Steiner: Freie Schule und Dreigliederung. In: Steiner, Rudolf: Die pädagogische Grundlage und Zielsetzung der Waldorfschule. – Dornach, 1978, S. 13f

5Rudolf Steiner: Anthroposophische Leitsätze. GA 26. – Dornach, 1989, S. 257, Hervorhebung im Original

6vgl. https://emhuisken.de/vom-sterben-in-den-geist/




Aufwachen für das Kommende

In den zwei Artikeln über „Den Anderen nach-denken“ (=> hier und => hier) versuchte ich, auf einige grundlegende Aspekte und Wirkungen menschlicher Begegnungen aufmerksam zu machen, insbesondere im Hinblick auf die Frage, wohin die menschliche Gesellschaft sich entwickeln kann. Von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus komme ich hier nochmals auf die Bedeutung der menschlichen Begegnung im Zusammenhang der Gesamtentwicklung der Menschheit in unserer Zeit zurück.

Bewusstseinszustände

„Aufwachen!“ – dieser Anruf zielt darauf, den Angerufenen zu einer Veränderung seines Bewusstseinszustandes zu veranlassen. Bewusstseinszustände kennen wir beim Menschen drei grundsätzlich verschiedene – abgesehen von den unzähligen Varianten davon, die im täglichen Leben vorkommen. Diese drei Zustände sind das Wachbewusstsein, der Traum und der traumlose Schlaf. Wir sind heutzutage gewöhnt, diese drei Zustände mehr wie von außen, im Hinblick auf den menschlichen Leib zu betrachten. Dann scheint der eigentliche individuelle Mensch im Schlaf wie verschwunden: es ist eben nur noch der Leib da, ohne sichtbaren Ausdruck der Seele. Hier sollen diese drei Zustände von der Innenperspektive aus betrachtet werden.

Das Wachbewusstsein ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihm sowohl Sinneseindrücke als auch das Selbst-Bewusstsein des Menschen vorhanden ist. Der Mensch erlebt also eine Welt und weiß außerdem davon, dass er selber dieser Welt gegenübersteht, sie erlebt und durch sein Tun beeinflusst. Was er nicht wahrnehmen kann, ist er selber als der Erlebende, denn er ist selber die Formseite dieses Bewusstseinszustandes, also die Art und Weise, in der die Inhalte erlebt werden. Diese selber ist zunächst kein eigenständiger aktueller Inhalt, kann es auch nicht sein, sondern immer nur im Rückblick auf schon Vergangenes. Im Wachzustand Erlebtes können wir – mehr oder weniger, im Grundsatz aber sehr wohl – im Nachhinein erinnern. Und wir haben durch unser Selbstbewußtsein Möglichkeiten, selber den Ablauf der Ereignisse zu beeinflussen.

Daneben kennen wir den Traumzustand. Was wir in ihm erleben, können wir in der Regel nur insoweit erinnern, als sich dieses Erleben im Aufwachen in den Wachzustand noch fortsetzt. Wir erleben im Traum wohl auch Inhalte, die oftmals sehr ähnlich sind den Inhalten des Wachzustandes, soviel können wir wissen. Aber die Art des Erlebens ist eine andere. Wir sind im Traum nur eingeschränkt oder gar nicht in der Lage, unsere Eigenständigkeit gegenüber dem Verlauf des Erlebten zu behaupten, während des Traumes inne zu halten und uns auf uns selber zu besinnen. Wir sind gleichsam hineingezogen in das Geschehen und mit ihm verbunden, haben kaum oder gar keine Möglichkeiten, den Ablauf der Ereignisse mit zu bestimmen. Dennoch verändert das Erleben uns selber, ähnlich wie im Wachbewusstsein. Traumbewusstsein ist eben auch Bewusstsein.

Schließlich kennen wir auch noch den traumlosen Schlaf. Mancher mag es seltsam finden, diesen Zustand als einen Bewusstseinszustand zu bezeichnen. Aber es ist doch so: das Bewusstsein selber findet dort statt, wo die erlebten Inhalte eben nicht sind: Sinnesinhalte, Vorstellungsinhalte, Seelenregungen, Träume, Erinnerungen usw. Es ist sich selber – wie oben schon gesagt – nicht als Inhalt präsent. Es ist eben die Form, in der Inhalte auftreten können. Und wenn keine Inhalte auftreten, für die wir eine Wahrnehmungsmöglichkeit haben, dann bedeutet dies ja noch nicht, dass das Bewusstsein selber nicht vorhanden ist. Es ist nur inhaltsleer. Und weil wir bisher keine Möglichkeit haben, das Selbstbewusstsein aufrecht zu erhalten, wenn keine gegebenen Inhalte da sind, vergisst das Bewusstsein dann auch sich selber. Das nennen wir „Schlaf“.

Nacheinander – Ineinander

Gewöhnlich betrachten wir diese Bewusstseinszustände also solche, die zeitlich nacheinander stattfinden, nicht gleichzeitig. Wenn wir traumlos schlafen, haben wir keine Weltinhalte und wissen auch von uns selber nichts. Im Traum haben wir Weltinhalte, die sich sehr von dejenigen im Wachzustand unterscheiden können, im Grundcharakter ihnen aber ähnlich sind: das Bewusstsein steht den erlebten Inhalten gegenüber und folgt ihnen. Im Wachzustand kommt der bewusste, verändernde Zugriff des seiner selbst bewussten Menschen auf die erlebte Welt hinzu.

Aus dem Schlaf finden wir durch den Traum in die Welt des Wachens, und aus dem Wachen sinken wir durch das Träumen in den Schlaf. Das jedenfalls sehen wir als den „Regelfall“ an, aus unserem Erleben. Wenn wir wach sind oder träumen, schlafen wir nicht traumlos, wenn wir träumen, sind wir nicht wach und schlafen auch nicht traumlos, und wenn wir im Tiefschlaf sind, träumen wir nicht und wachen auch nicht. Das ist zunächst unser Erleben im Durchgang durch das tägliche Leben.

Aber man kann die Sache auch anders betrachten, als eine Art Ineinander dieser drei Zustände, jeweils bezogen auf bestimmte Inhalte. Wenn wir wach der Welt begegnen und unser Bewusstsein mit ihren Inhalten erfüllen, vergessen wir uns selbst (siehe oben), schlafen also für uns selber. Hingabe an die Wahrnehmung der Welt lässt also das Bewusstsein von uns selber „in den Schlaf“ sinken. Umgekehrt kann es bei hoher Konzentration auf ein eigenes Tun geschehen, dass wir alles, was nicht mit diesem Tun zusammenhängt, vergessen. In einem Sonderfall, der Meditation, kann es sogar geschehen, dass wir uns so auf unsere eigene innere Tätigkeit und die dabei auftauchenden Seeleninhalte konzentrieren, dass die äußere Sinneswelt uns augenblicksweise gänzlich entschwindet. Dann wachen wir für unsere Seele und schlafen für die Außen-Welt. Und was sich an alle Seeleninhalte – innere wie äußere – als ein Gefühl knüpft, hat Traumcharakter. Es ist nur begrenzt dem vollbewussten Einfluss zugänglich, ist geeignet, uns mit zu reißen wie das Geschehen in einem Traum, und oftmals auch, unseren Willen aufzurufen und zu lenken.

Was unser eigenes Tun, den Prozess der eigenen Willensentfaltung betrifft, wurde ja oben schon angedeutet, dass wir davon in der Regel kaum eine Wahrnehmung haben. Wir nehmen nur wahr: da ist innerseelisch ein Vorsatz, und anschließend erleben wir, wie dieser Vorsatz im Tun realisiert wird oder nicht. Wie wir es fertigbringen, dass aus dem erlebten Vorsatz (der sich aus einer Vorstellung oder einem Gefühl ergeben kann) die ausgeführte Tat wird, das erleben wir nicht. Darüber gibt es nur Theorien, Denkmodelle und dergleichen. Wir wissen es, wenn wir wahrhaftig bleiben wollen, aus dem eigenen Erleben nicht. Das bedeutet, dass wir für das eigentliche Wollen schlafen.

In der Zeit

Und eine weitere Beobachtung können wir machen bezüglich der Bewusstseinszustände in unserem Leben in der Zeit.

Wofür können wir wachen? Das Wachbewusstsein ist zunächst ein Duales, in dem das eigentliche Erleben und der Inhalt gegenüberstehen. Darum können wir wachen für alles, was schon geworden ist, was einen Gegenstand für uns abgeben kann, dem wir uns gegenüberstellen können. Das sind dann also Sinneseindrücke (die sich immer auf etwas beziehen, was schon da ist), Vorstellungsinhalte, Gedanken, auch Erinnerungen; bei etwas Bemühung können wir uns auch unseren eigenen Gefühlen so gegenüberstellen, brauchen dann aber schon denkende Besinnung dazu. Generell kann man also sagen, dass alles, was in unserem Denken als Inhalt auftaucht, Inhalt des Wachbewußtseins ist. Alles dies kommt uns aus der Vergangenheit zu, ist Gewordenes. Mit dem Denken fassen wir also das Vergangene.

Wofür schlafen wir? Für alles, was noch in der Zukunft liegt, von dem wir also noch keinen Inhalt fassen können. Es ist dies der Bereich, in den hinein auch all unser Wollen gerichtet ist, und in den hinein wir durch unseren Willen wirken. Wir selber als unwahrgenommener Teil unserer alltäglichen Bewusstseinsverfassung sind also etwas Zukünftiges, was erst noch werden soll. Wir kennen uns eben selber noch nicht, können uns selber noch nicht gegenübertreten. Wer sich selber so betrachtet, wird kaum in die Versuchung kommen, sich selbst als feststehendes Mass aller Dinge anzusehen. Denn er selber und seine Taten sind Glied eines noch unbekannten Ganzen – der Zukunft, die eben noch nicht in die Dualität des Wachens getreten ist.

Und dazwischen träumen wir. In jedem Augenblick der Gegenwart, jetzt, jetzt, jetzt und jetzt wieder. Die Gegenwart ist also nur die Grenze, halb wach und halb Schlaf, zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Niemals klar fassbar und doch auch nicht im Dunkel des Schlafes versinkend. Und wenn wir etwas davon wissen, ist es schon Vergangenheit. Was die nächste Sekunde bringt, können wir nur vermuten, ahnen, wollen, bis wir sie erleben. Wir schwingen unaufhörlich zwischen dem der Vergangenheit Gegenüberstehen und der Einheit des Zukünftigen.

Menschenbegegnung

All diese Zustände spielen gleichsam oszillierend, ineinander übergehend, eine Rolle bei jeder Begegnung von Menschen. Wie in den beiden in der Einleitung angegebenen Artikeln gezeigt, können wir mit unserem Wachbewusstsein, also vor allem den Sinneswahrnehmungen und den Gedanken, entweder unserem eigenen Wollen folgen, oder uns dem eines anderen hingeben. Beides gleichzeitig geht zunächst nicht. Versinken wir ganz im Denken des Anderen, so schlafen wir für uns selber. Halten wir unser eigenes Denken dem anderen entgegen, so erleben wir unsere eigenen Gedanken und schlafen für die des Anderen.

Wollen wir einen Anderen also wirklich verstehen, so bleibt uns nur der Weg, uns seinem Gang des Denkens hin zu geben. Dann versinkt aber unser eigenes Selbstbewusstsein, vergisst sich selbst. Das ist der Grund, warum es so schwer ist, längeren Gedankengängen eines Anderen aufmerksam zu folgen, ohne – einzuschlafen. Es sei denn, er baut immer wieder Pausen für uns ein, in denen wir aufwachen können. Oder – und das wäre ja dann das anzustrebende Ideal – wir lernen nach und nach, den Anderen so in uns zu erleben, wie er sich selber erlebt. Dann erst ist die volle Hingabe erreicht, und wir können ihn ganz verstehen. Dafür müssen wir in diesem Verstehens-Augenblick aber auch die eigene irdische Persönlichkeit ganz vergessen.

Gegenseitiges Verstehen erfordert dann, dass beide Seiten sowohl dem Anderen hingegeben zuhören können, als auch beim Sprechen sich immer bemühen, den Anderen so in die eigene Darstellung aufzunehmen, dass er darin sich selber finden kann. Dann bleibt er auch wach. Dann hätten wir die wahren Begegnung des Menschen mit sich selbst im Anderen.

Menschheitsentwicklung

Der Mensch, wie er heute geworden ist, erlebt sich zunächst als Einzelner, Vereinzelter. Denn seine Welt kann niemand genau wie er erleben, und seinen Werdegang hat niemand genau wie er durchlaufen. Darin sind sich aber alle Menschen gleich.

Wir können noch davon wissen, dass dies nicht zu allen Zeiten so war. Wie auch bei manchen Naturvölkern noch heute üblich, erlebten die Menschen sich in früheren Zeiten viel mehr als Bestandteil eines größeren Ganzen, das sie als über dem Einzelnen stehend ansahen. Es gibt Berichte von Angehörigen solcher Völker, die es wie eine wirkliche Selbstvernichtung erlebten, wenn sie aus dem Stamm ausgestoßen wurden; der Tod war weniger schlimm, denn dann blieb man dem Ganzen, dem als eigentliches Selbst erlebten Stamm weiter verbunden. All das ist aber nicht mehr zeitgemäß; nur Rest aus uralten Zeiten rumoren noch in nationalistischen, völkischen und anderen Ideologien. Dass sie der heutigen Zeit nicht mehr entsprechen, läßt sich unschwer an der zerstörerischen Wirkung erkennen, die sie in der heutigen Gesellschaft ausüben, vor allem dadurch, dass sie nicht das klare, wache Denken, sondern direkt untergründig gärende Emotionen ansprechen. Der wirklich in der heutigen Zeit angekommene Mensch ist das vereinzelte, selber denkende und dadurch frei gewordene Individuum, das sich ganz selbstverständlich niemals einer übergeordneten Gesamtheit unterordnen, allenfalls selbstbestimmt einordnen will.

In dieser Vereinzelung liegt aber ein Riesenproblem. Jedes Einzelnen Welt unterscheidet sich von derjenigen jedes Anderen. Gegensätze entstehen so immer schneller und leichter, und mit dem Verfall der alten Gruppenstrukturen, mit dem Verfall von festen Moralregeln reduziert sich die Regulierung des Miteinanders auf ein durch äußere Gewalt gestütztes Einander-möglichst-wenig-Schaden.

Ausblick

Schauen wir noch einmal auf die Zeit: früher lebten die Menschen in größeren Zusammenhängen, sahen darin ihre eigene Menschlichkeit, und lebten daher auch aus von diesen größeren Zusammenhängen geprägten inneren Haltungen, Ganz selbstverständlich nahm jeder Einzelne Rücksicht auf das Wohl des für ihn sichtbaren Ganzen. Wer sich daraus löste, wurde verstoßen.

Heute sind wir gleichsam alle solche Verstoßene. Jeder kennt zunächst wirklich nur sein eigenes Erleben, und kann nur aus diesem entscheiden, was er tun und lassen will. Insofern ist er frei. Jeder Versuch, diesen Riesenschritt in die Freiheit des Einzelnen zurückzudrehen, die Menschen wieder zu Ent-individualisieren und zu reinen Gruppenwesen zu machen kann heute nur als der Versuch angesehen werden, den Menschen zu versklaven. Von sich aus ist er nicht mehr bereit, bedingungslos sich einem vorgegebenen sogenannten „Höheren“ zu unterwerfen. Auf die Spitze getrieben, scheint daher eine Art Krieg aller gegen alle unausweichlich.

Dennoch: Nein! Denn wir können – und wollen aus innerstem Bedürfnis – den Anderen kennen lernen. Denn er ist unser Spiegel. Wir brauchen ihn, um zu uns selber zu kommen. Was uns davon abhält, diesem Bedürfnis zu folgen, sind die Überbleibsel uralter Vergangenheit und die Furcht vor unserer Unfähigkeit, uns dem Anderen hinzugeben und darin doch wir selber zu bleiben. Fähigkeiten lassen sich aber nicht einfach so erwerben, sie wollen geübt werden. Und je mehr Menschen es üben, den Anderen durch hingebendes Zuhören verstehen zu wollen – auch und gerade dann, wenn uns nicht Sympathie zu ihm hin zieht – desto mehr kann einer im anderen aufleben, aufwachen, desto mehr können wir lernen, eben nicht einzuschlafen, wenn wir uns dem Anderen hingeben. Je mehr wir den Anderen wirklich verstehen, desto mehr können wir uns ihm auch verständlich machen, indem wir seine Denk- und Erlebenswege in unseren Sprechen und Tun berücksichtigen.

Dann kann nach und nach, in Äonen, so wie auch die heutige Menschheit entstanden ist, eine neue gemeinsame „Identität“ der Menschen entstehen, eine, die nicht den Einzelnen ausschließen muss, wenn er den vorgegebenen Regeln nicht folgt, sondern die dann die Kraft entfalten kann, scheinbar divergierende individuelle Wege aus freiem Wollen zu einander zu lenken. Die dafür nötige, frei wollende Hingabe an den Anderen ist aber nichts anderes als die Liebe.

Ein solches, aus Liebe geborenes „Gemeinschafts-Ich“ ist gleichermaßen unviersell und individuell, denn es schließt den Vereinzelten nicht aus, sondern braucht ihn und seinen freien Willen als seine eigene Vorbedingung. Es knüpft an bei dem, was schon heute alle Menschen in gewissem Sinne gleich macht: das freie Erleben der Welt als mehr oder weniger (noch) unbekanntes Geist-Wesen.

In der Vereinzelung und den menschheitlichen Problemen, die dadurch entstehen und in unserer Zeit kulminieren, können wir daher einen Aufruf sehen, aufzuwachen für das Kommende, das sich ankündigen und realisieren kann in jeder wirklich bewusst durchlebten Menschenbegegnung, aufzuwachen also im „Hineinschlafen“ in den Anderen, und damit für den kommenden, zukünftigen MENSCHEN.

Auf dass der MENSCH sich selber mache, und nicht gemacht werde durch irgendwen oder irgendwas!




Der Weise – Der Krüppel – Was uns bleibt

Ein Triptychon

Der Weise

Geh‘ nun, geh‘, du Frucht des Bösen,
Geh‘ die ersten Schritte selbst.
Sollst die Rätsel selber lösen,
Die du dir vor Augen hältst.

Kannst es nicht? Dir fehlt die Frage,
Die aus dir den Weg gebiert.
Was du selbst dir gibst, das trage
Dass es dich als Krone ziert.

Was aus Leiden und Fragen den Wanderer führt,
Was die Seele in Schmerzen zerreißt,
Die Herzen füllt mit erwollten Plagen –

Das öffnet die Wege, die es dir weist.
Die Wege zu selbst gelebten Tagen:
Das Neue, wie es dem Weisen gebührt.

Der Krüppel

Nur mit Mühe und Schmerzen den Steilpfad empor
Ohne Ziel kriecht zu Berg, der sich selber verlor,
Kann nicht stehen, nicht gehen, nicht leben, nicht sterben.
Doch ist er es, der einstmals den Himmel soll erben.

Kein Gesang, kein verständliches Wort kann die Kehle
verlassen und dringen von Seele zu Seele.
In Verwirrung und ohne ein leitendes Ziel
Durch das Leben sich quälend ist alles zu viel.

Doch ihn treibt unbesiegbare Kraft.
Was er will, kann niemals geschehen.
Er lässt es nicht los, trägt es durch in den Tod.

Sein Blick erschaut, was noch niemand gesehen.
Er kann es fassen, in höchster Not.
Wohl dem, der den Krüppel in sich erschafft.

Was uns bleibt

Was uns bleibt, ist die Mitte, die alles trägt.
Was noch niemand sah, keiner kann oder will,
und doch täglich lebt, ohne Sinn und Ziel,
Aus dem Quell, der alle Taten wägt.

Niemals quellen wilde Taten
Ohne Sinn aus tiefem Schlund.
Immer kannst du selber raten
Was dir zukommt aus dem Grund.

Trage, was weise,
Denke es gut,
Fühle es wesen,
in dir, in mir.

Wer ist es denn, den du fühlst, denkst, trägst?
Schaffst du ihn selber – wer ist sein Gott?
Wer ist sein Herz, sein Leib, sein Geist?
Selbstsein, im Denken, im Fühlen, im Tun?

Im Leiden
Im Tragen
Erstehe.

© Stefan Carl em Huisken 2020




Menschen-Regieren

Es gibt ein Land, wo Menschen sich regieren.
Es ist nicht hier und ist nicht dort,
Und willst du niemals es verlieren,
So suche es an keinem andern Ort.

Denn finden kann’s nur, wer schon ewig lebt
Im Strom des Lebens, ihn zu steuern,
Und im Geheimen nach dem Ziele strebt,
den MENSCHEN aus sich selber zu erneuern.

Was geworden ist, es muss zersplittern,
Dass jeder Splitter sich zum Einen schafft.
Vor diesem Ziel nicht zu erzittern,
erweckt dem MENSCHEN neue Lebenskraft.

Jeder Splitter, der sich selbst dem Ganzen schenkt,
Hat schon sein Schicksal dem des MENSCHEN einverleibt.
Wohin das ICH die EIG’NEN Schritte lenkt:
Es schafft das Neue, das im Wechsel bleibt.

Dies Land des MENSCHEN neu zu bauen
Im ICH, nur aus ihm selbst, nicht hier, nicht dort,
Erschafft die wundersamen Auen
Des neuen Lebens durch das Weltenwort.

Wer nun sich rafft und Antwort spricht
Auf diesen Ruf, der durch das Chaos klingt,
In dem das Alte hoffnungslos zerbricht:
In ihm lebt Neues, das die Zukunft bringt.

Die Ordnung; die schon ewig lenkt,
Was dann in jedem Einen neu ersteht:
Sie lebt in diesem Einen, wo sie Taten senkt
in Weltentiefen – und das Wort verweht.