Das Ringen um die anthroposophische Gesellschaft

Immer wieder neu stellt sich das Ringen um die Frage ein, was eigentlich wirklich die anthroposophische Gesellschaft sei und wie mit ihr – so, wie sie derzeit im äußeren Leben auffindbar scheint – zu verfahren wäre. Die Diskussion wird innerhalb wie außerhalb des nach der anthroposophischen Gesellschaft benannten Dornacher Vereins immer wieder neu aufgeworfen, und bindet Kräfte, Zeit und Einsatz von Menschen, die in unbezweifelbar allerbester Absicht handeln.

Zur Frage der Mitgliedschaft und Mitarbeit in der anthroposophischen Gesellschaft habe ich in der Vergangenheit bereits mehrere Stellungnahmen abgegeben, von denen zwei ja auch in ENB 14/2022 und 22/2022 veröffentlicht wurden1. Nun war ja der Nachweis eines für die Sache wichtigen Zitates offen geblieben, in dem Rudolf Steiner „immer wieder darauf aufmerksam machte, dass geistige Initiativen, wenn sie zu irdischen Institutionen werden, verkannt werden und sich in ihr Gegenteil verkehren müssen, wie ich damals in meiner ersten Stellungnahme formulierte.

Einige Aussagen Rudolf Steiners zum Thema hatte ich in der zweiten veröffentlichten Stellungnahme bereits angeführt, nun kam mir eine weitere unter die Augen, die die Sache vielleicht noch unmissverständlicher formuliert. Ich will daher hier darauf hinweisen und ein paar Gedanken daran anschließen. Die hier gemeinte Aussage:

„Die Sache ist nämlich wie bei einem Pendel: die Kraft zum Hinaufschwung wird beim Herunterschwingen als Fallkraft gewonnen. Wie also gerade die entgegengesetzte Kraft angesammelt wird beim Herunterschwung, die dann verbraucht wird beim Hinaufschwung, so ist es in rhythmischer Folge im geschichtlichen Leben der Menschheit. Was Sie für ein gewisses Zeitalter finden können als die vollkommene soziale Ordnung, überhaupt als irgendeine Ordnung: wenn Sie es realisieren, so verbraucht es sich und führt nach einiger Zeit wiederum in die Unordnung hinein. Das Evolutionsleben ist nicht ein solches, daß es gleichmäßig aufsteigend ist, sondern das Evolutionsleben verläuft in Ebbe und Flut, verläuft in einer Wellenschwingung. Und durch das Beste, was Sie einrichten, wenn Sie es realisieren auf dem physischen Plan, rufen Sie Zustände hervor, welche nach der entsprechenden Zeit die Vernichtung desjenigen bewirken, was Sie eingerichtet haben. Es würde ganz anders um die Menschheit stehen, wenn man dieses unerbittliche Gesetz der Notwendigkeit im geschichtlichen Geschehen gehörig erkennen würde Man würde dann nicht glauben, daß man im absoluten Sinne ein Paradies auf Erden begründen kann, aber man würde genötigt sein, hinzuschauen auf das zyklische Gesetz der Menschheitsevolution. Und indem man eine absolute Beantwortung der Frage: Wie soll das soziale Leben sich gestalten? – ausschließt, wird man das Richtige tun, wenn man fragt: Was muß für unser Zeitalter getan werden? Was erfordern gerade die Impulse unseres fünften nachatlantischen Zeitalters? Was will sich in Wahrheit umsetzen? – Indem man sich bewußt ist, daß dasjenige, was man realisiert, sich im zyklischen Umschwunge notwendigerweise wieder vernichten wird, muß man sich klar sein, daß man nur in dieser relativen Weise, indem man die Entwickelungsimpulse eines bestimmten Zeitalters erkennt, auch sozial denken kann. Man muß mit der Wirklichkeit arbeiten. Man arbeitet gegen die Wirklichkeit, wenn man glaubt, mit abstrakt-absoluten Idealen irgend etwas ausrichten zu können.“2

Vor dem Hintergrund dieser Darlegung von Rudolf Steiner stellt sich mir die Frage, inwieweit die äußeren Strukturen, die zu Rudolf Steiners Zeit mit der freien Geistgemeinschaft der anthroposophischen Gesellschaft verbunden wurden, um deren Existenz in der physischen Welt zu unterstützen, heutzutage überhaupt noch relevant sein können. Hat eine Bemühung um eine Aufrechterhaltung dieser Strukturen – auch bei umfassenden Reformen – überhaupt einen Sinn, der der geistigen anthroposophischen Gesellschaft dienlich sein kann? Oder bindet die Auseinandersetzung damit nicht gerade die Gedanken, Gefühle und Willensimpulse der damit befassten Menschen an etwas notwendig Untergehendes?

Insbesondere, wenn ich die Auseinandersetzung um Beratungsgremien, Zusammenkünfte und dergleichen aus der Ferne zu verfolgen trachte, die manche ja sehr engagierte Menschen gemeinsam mit den Funktionären des derzeitigen Dornacher Vereins immer wieder veranstalten, klingt mir zusätzlich eine weitere Aussage Rudolf Steiner in demselben Band in den Ohren:

„Und sagt man: Der Mensch ist ein soziales Wesen – wie es heute geradezu Mode geworden ist –, so ist das Unsinn, denn der Mensch ist ebenso stark ein antisoziales Wesen, wie er ein soziales Wesen ist. Das Leben selber macht den Menschen zu einem antisozialen Wesen. Deshalb denken Sie sich einmal einen solchen Paradieseszustand auf Erden durchgeführt, wie es ihn gar nicht geben kann, aber wie er angestrebt wird, weil die Menschen ja immer das Unwirkliche viel mehr lieben als das Wirkliche – denken wir uns, ein solcher Paradieseszustand würde hergestellt (…). Sehr bald schon würden sich unzählige Menschen dagegen auflehnen müssen, weil sie dabei nicht Menschen bleiben können, weil in einem solchen Zustande eben nur die sozialen Triebe Befriedigung finden würden, sich aber die antisozialen Triebe sogleich regen würden. Das ist ebenso notwendig, wie ein Pendel nicht bloß nach der einen Seite ausschlägt. In dem Augenblicke, wo Sie einen Paradieseszustand herstellen, müssen sich die antisozialen Triebe regen. (…) Denn das ist eben das Leben, daß es zwischen Ebbe und Flut hin und her geht. Und wenn man das nicht verstehen will, so versteht man eben überhaupt nichts von der Welt. Man hört ja oft: Das Ideal eines staatlichen Zusammenlebens ist die Demokratie. – Gut, nehmen wir also an, das Ideal eines staatlichen Zusammenlebens sei die Demokratie. Aber, wenn man diese Demokratie irgendwo einführen wollte, so würde sie notwendigerweise in ihrer letzten Phase zu ihrer eigenen Auflösung führen. Die Demokratie strebt notwendigerweise danach, wenn die Demokraten beisammen sind, daß immer einer den andern überwältigen will, immer will einer recht haben gegenüber dem andern. Das ist ganz selbstverständlich. Sie strebt nach ihrer eigenen Auflösung. Führen Sie also irgendwo die Demokratie ein, so können Sie das in Gedanken schön ausmalen. Aber in die Wirklichkeit übergeführt, führt die Demokratie ebenso zum Gegenteil der Demokratie, wie das Pendel nach der entgegengesetzten Seite ausschlägt. Das geht gar nicht anders im Leben. Demokratien werden immer nach einiger Zeit sterben an ihrer eigenen demokratischen Natur.“3

Wäre es nicht vielleicht wünschenswert, sich hier mit noch mehr Nachdruck – fern aller äußeren Details – auch im Blick auf die Situation der anthroposophischen Gesellschaft um dasjenige zu kümmern, worauf Rudolf Steiner verwies, als er im oben zitierten Vortrag vom 1. Dezember 1918 auf eine Karte hinwies, die er zwei Jahre vorher den Zuhörern aufgezeichnet hatte:

„Sie erinnern sich, ich habe vor zwei Jahren hier eine Karte aufgezeichnet, die sich jetzt realisiert. Und diese Karte habe ich nicht nur Ihnen aufgezeichnet. Ich habe diese Karte dazumal angeben wollen, um auszusprechen, wie die Impulse von einer gewissen Seite her gehen, weil es ein Gesetz ist, daß, wenn man diese Impulse kennt, wenn man sich einläßt darauf, wenn man sie ins Bewußtsein aufnimmt, sie in einer gewissen Weise korrigiert, sie in anderes gelenkt werden können. Das ist sehr wichtig, daß man dies erfaßt.“4

Mir fällt zusätzlich dazu die Aussage Ita Wegmans ein, Dämonen könne man nicht besiegen, nur austrocknen5. Wer sich gerade gegen eine Sache mit seinen Kräften einspannt, stärkt sie dadurch, denn er erfüllt sein Bewusstsein damit und gibt seine individuelle Kraft hinein – so verstehe ich das. Sind unter solchem Gesichtspunkt die vielen Bemühungen um die Rettung der (äußeren) anthroposophischen Gesellschaft sinnvoll?

Die folgende, von Rüdiger Blankertz unter (leider nicht exakt nachgewiesenem) Bezug auf Christoph Lindenberg geschilderte Szene beim Brand des Goetheanums wirft vielleicht ein zusätzliches, erschütterndes Licht auf die Frage des Umganges mit der heute im äußeren Leben aktiven „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“:

„Nehmen wir eigentlich jene verstörende Szene zur Kenntnis, die sich am Silvesterabend 1922 in Dornach zugetragen hat? Die Zukunftsbau der Menschheitskultur, das Haus des Wortes Rudolf Steiners, brannte in dieser Nacht bis auf die Grundmauern ab. Rudolf Steiner hatte vielfach gewarnt, dass die Gefahr einer Brandstiftung seitens der (damals klerikal maskierten) Gegner besteht, gerufen und geduldet durch die der akademischen Gruppenseele verfallenden Anthroposophen. Der Brand, so Rudolf Steiner, wurde möglich, weil die Art und Weise, wie von »den lieben Freunden« in diesem »Bau des Wortes Rudolf Steiners« bei öffentlichen Anlässen zu Inhalten der Anthroposophie gesprochen wurde, als schriller Gegensatz zu den Formen dieses Baues empfunden werden musste.6 Halten wir diese Aussage gut im Gedächtnis. Und fragen wir uns: Haben wir verstanden, was das heißt? Und nun sehen wir zu, was in dieser Nacht durch Rudolf Steiner selbst geschehen ist. – Erst durch die Rauchentwicklung wurde der noch schwelende Brand entdeckt, konnte aber zunächst nicht lokalisiert werden. Schließlich stellte man fest, dass die Doppelwand des »weißen Saales« stark erwärmt war. Einige junge Leute stiegen aufs Dach, um – nach schlichter Hausfrauenphysik handelnd – die Schindeln abzuheben und das Feuer korrekt von oben zu löschen. In Kenntnis dieser Rettungsaktion aber ließ sich währenddessen Rudolf Steiner unten im Saal eine schwere Brandschutz-Axt reichen. Christoph Lindenberg beschreibt in seiner Steiner-Chronologie unter dem 31.12.1922 mit süffisantem Unterton, was nun – horribile dictu! – durch den Meister selbst geschah. Steiner sagte zu den aufgeregten, ihn umstehenden Anthroposophie-Freunden, so Lindenberg, er müsse jetzt Gewissheit haben, und begann, die zentimeterdicke Bretterwand mit der Axt zu bearbeiten. Wie gelähmt standen die Freunde dabei, keiner fiel Rudolf Steiner in den Arm, niemand wies ihn darauf hin, dass nach den elementaren Kenntnissen, die bei der Beheizung eines beliebigen Ofens zur Anwendung kommen, das Öffnen einer Luftzufuhr von unten die entschiedene Anfachung eines bloß schwelenden Feuers zur Folge haben muss. Als Steiner mit der Axt nach etlichen wuchtigen Schlägen die Wand durchbrach, schoss die Flamme, nunmehr entfesselt, in der Wandhöhlung nach oben, in Sekundenschnelle entstand ein brausender Feuersturm, vor dem sich die Helfer auf dem Dach nur mit Mühe retten konnten. Nach der Begründung seiner Entscheidung: »Wir müssen Gewissheit haben!« – die Holzwand war doch heiß! – kommentierte Rudolf Steiner die Ausführung mit den Worten: »Nun, da ist nichts mehr zu retten!« Was ist das???“7

Rüdiger Blankertz schließt an diese Darstellung eine Vielzahl wichtiger, sehr schmerzhafter Fragen an, die hier wiederzugeben zu weit führen würde – man lese selber nach8. Wenn Rudolf Steiner wirklich so handelte im Umgang mit dem Goetheanum-Bau, wie können wir Heutige dann sinnvoll handeln der äußeren, von Krisen durchschüttelten „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ gegenüber?

© Stefan Carl em Huisken 2023

1Ein Nachrichtenblatt, Näheres unter https://einnachrichtenblatt.org. Die beiden Stellungnahmen finden sich in ENB 14/2022, S. 14 ff (auf meiner Website unter https://ogy.de/5wuo) und ENB 22/2022, S. 9f (Website https://ogy.de/27dd). Weiteres unter dem Stichort „anthroposophische Gesellschaft“ auf www.emhuisken.de

2Steiner, Rudolf: Die soziale Grundforderung unserer Zeit. In geänderter Zeitlage. – Dornach, 1979, Vortrag vom 1. Dezember 1918, S. 58, Hervorhebung SCeH

3Steiner, Rudolf: Die soziale Grundforderung unserer Zeit. In geänderter Zeitlage. – Dornach, 1979, Vortrag vom 6. Dezember 1918, S. 100f

4ebd, S. 64f, Hervorhebung SCeH

5Da muß ich mal wieder die Quelle schuldig bleiben; zu gegebener Zeit taucht sie wieder auf.

6(Fussnote von Rüdiger Blankertz): Vgl. Rudolf Steiner, »An die Mitglieder«, Nachrichtenblatt vom 27. Januar 1924, II. Brief: »Das rechte Verhältnis der Gesellschaft zur Anthroposophie«, in GA 260a, S. 43

7Blankertz, Rüdiger: Die drei Feinde der Anthroposophie in uns erkennen. Oder: Wenn das eigene anthroposophische Versagen als »Rettung der Anthroposophie« gelten soll ….. Zitiert nach einer .pdf-Version des Artikels (im Netz leider nicht mehr verfügbar), S. 12f, der auch in AGORA 2022, Nr.4 veröffentlicht wurde. Das AGORA-Heft liegt mir leider nicht vor.

8Im angegebenen Heft der AGORA; der Artikel ist außerdem offenbar für ein Buch vorgesehen, dass die Edition Nadelöhr herausbringen will. Vgl. https://agora-agenda.ch/buchprojekte/


Cover Wahnsinn und Denken anthroposophische Gesellschaft

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




So kann es nicht weitergehen

Ausgangslage

Die Welt ist ohne Zweifel in Aufruhr. Unversöhnliche Standpunkte stehen einander gegenüber und bekämpfen sich praktisch unbegrenzt. Einen wirklichen Ausweg kennt jede Seite immer nur im Rahmen ihrer eigenen Vorstellungen – die andere Seite muss klein beigeben, sagt man. Das sind ja ganz offensichtlich keine Auswege, sondern nur Wege zu immer weiteren Kämpfen und Katastrophen. Und immer neue, immer größere Gegensätze werden beschworen, in denen sich die Parteien über die Erde hin zu vernichten trachten können: in bezug auf den Zustand der Erde als Wohnort für Pflanzen, Tiere und Menschen, in bezug auf das Wirtschaften der Menschen und ihre Lebensmöglichkeiten auf der Erde, in bezug auf dasjenige, was jede Partei als Menschlichkeit ansieht, und so weiter, und so fort. Wo ist da ein Ausweg, oder ein Weg zur Überwindung der Situation zu sehen?

Was am meisten auffallen kann, das ist die Ausschließlichkeit (im wörtlichen Sinne), mit der die unterschiedlichen Gruppen von Akteuren ihre Auffassungen zur Geltung bringen wollen. Immer wird der andere, der Gegner oder Feind, als unmenschlich, unwert, böse, zerstörerisch oder anderweitig nicht zur eigenen Art gehörig gekennzeichnet. So sind aus der in Europa derzeit herrschenden Sicht die Angehörigen östlicher Gesellschaften entweder unmenschliche Apparatschiks, Diktatoren, bornierte Ideologen, menschheitszerstörende Aggressoren oder eben von diesen grässlichen Monstern versklavte arme Individuen; aus der Sicht östlicher Gesellschaften stellt sich dies ganz anders dar, da ist es eine im Westen rücksichtslos herrschende, das Daseinsrecht aller anderen Menschen missachtende egoistische sogenannte „Elite“, die die Menschheit durch ihre Uneinsichtigkeit und Unersättlichkeit an den Rand der Gesamtvernichtung im Atomkrieg treibt. Die „integralen Nationalisten“ der Ukraine – die Verehrer des unter dem nationalsozialistischen Regime brutal mordenden Stepan Bandera – die inzwischen die ukrainische Rasse per Gesetz als über allen anderen stehend erklärt haben und Russen nur „abschießen wollen wie Schweine“ (Originalton eines ukrainischen Funktionärs) – haben Förderer in aller Welt, und werden dort als „Vorkämpfer westlicher freiheitlicher Ideologie“ dargestellt. Ebenso gilt auf der anderen Seite der im Krieg gefallen Soldat der Ukraine nicht als Mensch, sondern als Sache, die man „vernichtet“ hat. Schon mehren sich Stimmen in den Kreisen der Befürworter der russischen Seite, die Ukrainer wegen der von ihnen vollführten Brutalitäten als „Untermenschen“ bezeichnen.

Wer so redet, handelt auch so. Alle Gründe, die von der einen oder anderen Seite geltend gemacht werden, mögen ihre Berechtigung haben; es ist aber einerlei, aus welchem Blickwinkel man immer die andere Seite zu entmenschlichen trachtet. Die Sichtweisen sind insofern gleich, als sie immer die andere Seite ausschließen, für ungültig erklären und nicht als einen für Menschen möglichen Gesichtspunkt akzeptieren wollen.

Um solche Akzeptanz wird man allerdings nicht herumkommen. Erstens zeigt man sich selber durch diese Ausschließerei um nichts besser als die andere Seite, und zweitens wird es nicht angehen, dass nur eine Gruppe Menschen ihre Gesichtspunkte für allgemeingültig allen anderen aufzwingt. Dafür sind wir einfach zu viele auf der Erde. Und meint man denn wirklich, dass man die Hälfte, oder – wie ja manche Transhumanisten meinen oder wünschen (siehe Yuval Harari) – 80 % der Menschheit ausrotten sollte, damit der Rest dann so leben kann wie er will? Was für eine Art „Menschen“ ist dann dieser Rest?

Nein, so wird es nicht gehen. Das haben die Menschen seit Jahrhunderten versucht: immer die „Anderen“ auzurotten, zu drangsalieren, zu versklaven oder anderweitig „unberücksichtigt“ zu lassen. Heute würde dieser Versuch zu irgendeinem Zeitpunkt der Eskalation unweigerlich zum Ende aller Menschen führen. So kann es eben nicht weitergehen.

Warum?

Woran liegt es denn – einmal versucht, gewissermaßen „von oben“ auf die Verhältnisse zu blicken – dass diese Kämpfe so zerstörerisch immer weiter eskalieren, und nirgends ein wirklicher Ausweg sichtbar ist?

Es liegt vielleicht – wie bei fast allem, was wir heute erleben – an den einzelnen Menschen und ihren persönlichen Auffassungen, Wünschen und Absichten. Soll eine solche Feststellung nicht einfach nur abstraktes Gejammer sein, so wird sie konkretisiert werden müssen; das soll nun hier versucht werden.

Einig sind sich doch alle Seiten immer darin, dass sie selber, und nur sie selber die Wahrheit vertreten, wissen, wie ein gutes Leben des Menschen auszusehen hat und so weiter. Dabei geht der Zeitgenosse ganz unwillkürlich von den Gedankenformen aus, die er als unserer Zeit entsprechend eingeprägt bekommen hat. Und diese Gedankenformen laufen eben darauf hinaus, dass der einzelne, im Erdenleben stehende Mensch nur diese eine irdische Existenz hat, und mit deren Ablauf auch seine eigene Individualität erledigt ist.

Solch eine Haltung hat ja ihre Berechtigung, wissen wir doch nur dadurch, dass wir uns einer ohne unser bewusstes Zutun gegebenen Außenwelt gegenüber erleben, überhaupt von unserer eigenen Existenz. Und dieses Wissen ist uns lieb und teuer – wir wollen es auf keinen Fall missen, warum wir uns auch an diese eine Existenz klammern und nicht vor ihr lassen wollen. Und zu dieser Existenz gehören eben auch die eigenen Meinungen, Wünsche und Absichten, die man darum auch in diesem einen Leben realisieren möchte.

Damit ist aber notwendig der Einzelne zu einem gewissen Egoismus verdammt. Denn auch, wenn er sich „philanthropisch“ gebärdet, tut er das in der Regel nicht, weil er andere über sich selber stellt, sondern weil er selber gut und moralisch sein will, also den eigenen Auffassungen von Moral entsprechen. Womit er wieder in den eigenen Meinungen von „Gut“ und „Böse“ gefangen ist.

Man kann ja gar nicht abstreiten, dass die vielen Vorschläge – von welcher Seite auch immer – wenn sie zu einer allgemeinen Auffassung aller Menschen würden, vielleicht hilfreich und gut wären. Aber sie sind eben nicht allgemeine Auffassung aller, und lassen sich auch nicht allen anderen aufzwingen, wie viel man das auch versucht. Damit wird klar, dass all diese Denksysteme Utopien sind, ideal gedachte Systeme, die immer nur für den Teil der Menschheit Gültigkeit haben, der unter ihrem Einfluss steht. Damit sind all diese Systeme Ideologien: Versprachlichungen von Ideensystemen, die irgendwer irgendwann ausgedacht hat und die nun alle anderen beglücken sollen. Damit verkennen alle diese Denksysteme aber notwendig die Tatsache, dass sie eben nicht alleine sind auf der Erde. Das Paradies lässt sich wohl denken, aber nicht auf der Erde realisieren. Jeder Versuch einer solchen Realisierung kann nicht anders als egoistisch sein – für einen Einzelnen, eine Gruppe, einen Teil der Menschheit eben. Ideologien sind also die Grundlage für den Illusionismus und die Brutalitäten, die die Menschheit derzeit zu zerreißen scheinen.

Unsere Welt ist in diesem Sinne durch-ideologisiert.

Geht es anders?

Wie aber kann der Einzelne sich zu einem Gesichtspunkt aufschwingen, der das Ganze der Menschheit einschließt und die einzelne, persönliche, individuelle Handlung von dort aus betrachtet und beurteilt?

Wer nur genügend will, kann das leisten – der Mensch ist in seinen Gedankenbildungen frei. Wer also will, kann den Versuch machen, sich selber als ein Glied in der Gesamtentwicklung der Menschheit zu betrachten, und zwar als dasjenige Glied, in dem die Gesamtmenschheit und ihre Entwicklung ins Bewusstsein treten kann. Ob er sich so betrachtet, ist seine eigene Entscheidung, die jeder Mensch insbesondere bei vorbehaltloser Anschauung des zerstörerischen Charakters aller ideologischen Einzelgesichtspunkte auch treffen kann.

Was uns in der Regel hindert, einen solchen Gesichtspunkt für uns selber einzunehmen, ist die Bindung an die eigene, als einzig angenommene irdische Existenz. Denn die würde dann ja eventuell vom übergeordneten Gesichtspunkt aus sich ganz anders darstellen als ich es gewohnt bin – vielleicht viel weniger bedeutend, als ich mich selber immer gefunden habe, oder – vielleicht noch beängstigender – viel bedeutender (und darum noch viel wichtiger als alle anderen ….).

Vor allem wäre dann ja sozusagen die Grundlage weg, auf der ich immer alle Verantwortung auf die Urheber der mich jeweils tragenden Ideologie abwälzen kann. Und – das mag sehr ketzerisch klingen, gilt bei genauer Betrachtung aber uneingeschränkt – auch die Auffassung, dass der Mensch nur eine Existenz habe und diese sich in seinem materiellen Sein erschöpfe (alles Seelische und Geistige insofern nur ein Ergebnis materieller Prozesse sei und damit sekundär) ist eine Ideologie. Allein die Tatsache, dass man zur Formulierung dieser Auffassung das Denken benötigt – also durch Denken die Determiniertheit des Denkens feststellen will – zeigt, auf welchem Terrain man ist. Da ist ziemlich viel Glatteis. Warum kommt denn das determinierte Denken darauf, sich selber als determiniert anzusehen? Warum soll die Materie sich als allein gültiges Sein zeigen, indem sie im Menschen das Denken erzeugt, durch das sie diese Alleingültigkeit feststellt? Da haben wir manchen Zirkelschluss.

Wenn aber meine bisherige Art zu denken – immer bestimmt durch Auffassungen, die mir durch die Verhältnisse der Welt eintrainiert sind von Geburt an – nicht weiterführt, und wegen ihrer Bindung an den irdischen Einzelmenschen notwendig egoistisch und zerstörerisch werden muss, wo finde ich dann einen sicheren Halt? – Gar nicht. Den muss ich mir selber geben. Das ist eben der Charakter der Freiheit, dass sie sehr anstrengend ist, weil man alle Grundlagen selber immer wieder neu auferbauen muss.

Das ist auch etwas, was es für z.B. mittelalterliche Menschen gar nicht gab. Damals war die Welt nicht in derselben Weise materialistisch durchideologisiert wie heute. Auch viele östliche Gesellschaften leben heute noch in ganz anderen Verhältnissen als wir westlich ge- oder verbildete Menschen. Wenn wir auf dieser Erde zusammen leben wollen, müssen wir einander verstehen, und „Verstehen“ bedeutet eben für verschiedene Menschen auch Verschiedenes. Ist nicht die Auffassung allgemein vorherrschend, wir Heutige allein hätten der Weisheit letzten Schluss gefunden, viel mehr jedenfalls als unsere Vorfahren? Sind wir nicht einfach nur ganz anders als sie, und können sie erst wieder verstehen, wenn wir uns in ihre Art des Verstehens hineindenken können?

Und ein Weiteres ist zu bedenken. Wer sich als Glied einer Entwicklung betrachtet, orientiert sein Urteil an einem Prozess, dessen Gesamtheit sich ihm erst nach und nach aus seinen eigenen Verständnisbemühungen ergibt. Ein solcher Mensch schafft also maßgeblich an seinen eigenen Urteilsgrundlagen mit, kennt sie darum genauer und kann sie von den einzelnen Objekten und den an sie geknüpften Sympathien und Antipathien loslösen. Dadurch kann er sich selber zum Objekt werden und bei ausreichender Bemühung auch wahrheitsgemäßer beurteilen lernen. Manch einer fürchtet sich davor – also vor sich selber, ungeschminkt betrachtet. Die Verlässlichkeit des eigenen Urteils gewinnt aber dadurch.

Freiheit

Die Freiheit, in die der Einzelne gestellt ist in unserer Zeit, existierte für unsere Vorfahren gar nicht in derselben Weise. Darum waren die Gesellschaften der Vergangenheit auch anders konfiguriert. Sie waren darum nicht schlechter oder besser als unsere heutige – für uns Heutige würden sie vielleicht gar nicht mehr passen, das stimmt – sondern einfach nur für andere Menschen. Die Menschen entwickeln sich ja auch durch die Jahrhunderte und Jahrtausende.

Und für uns heutige ist eben die Freiheit, selber für das eigene Denken einzustehen und es zu verantworten, ein Ergebnis der Verhältnisse. Wir können ja sehen, dass keine der Parteien für die ganze Menschheit spricht. Wenn wir diesen Gesichtspunkt geltend machen wollen, den der Gesamtmenschheit, können wir damit nur bei uns selber anfangen, aus freiem Wollen. Diese Freiheit schließt aber zweierlei ein:

  • die Einsicht, dass jeder andere Mensch prinzipiell in derselben Lage ist in Punkto Freiheit
  • die Einsicht, dass jede Ablehnung der eigenen Freiheit und der an sie gebundenen Absichten zu eben jenen Sichtweisen – Ideologien – gehört, die andere Menschen-Meinungen ausschließen müssen, notwendig also gegen die Freiheit aller Andersmeinenden gerichtet sein muss. Es gibt in diesem Zusammenhang auch eine Ideologie der „Meinungsfreiheit“, die darin besteht zu sagen, dass es eben keine Wahrheit gibt, nur Meinungen; eine solche Ansicht rechtfertigt darum die derzeitige Menschheitssituation, in der sich eben die Meinungen durch Macht bekämpfen, und erklärt sie für dauerhaft unvermeidbar. Wenn nun jemand sagt, Machtdemonstration sei in diesem Fall nicht zulässig, stellt er wieder seine persönliche Auffassung von Moral über die des Anderen, der vielleicht meint, Meinungen könnten sich nur durch Machtausübung und Erfolg oder Misserfolg im Leben als wahr oder unwahr herausstellen. Das hilft also auch nicht weiter. Nur die Freiheit gibt einen Ausgangspunkt, der keinen anderen ausschließt.

Es handelt sich also um eine Grundsatzentscheidung, entweder aus freier Entscheidung sich (die aktuelle irdische Person) zum Funktionär der Entwicklung der Gesamtmenschheit zur Freiheit zu machen, oder die eigenen, irdischen Parteiinteressen über andere, widerstrebende Interessen zu stellen.

Freiheit ist anstrengend, wie schon gesagt.

Übersicht schafft Zusammenhang

Denkt man genau, so wird schnell klar, dass mit Einbeziehung der Freiheit jeder Mensch in seiner Gänze nur verstanden werden kann, wenn er nicht auf einen irdischen Lebenslauf (und schon gar nicht auf das dabei stattfindende Innenleben der Seele) begrenzt gedacht wird, sondern seine Voraussetzungen (äußerlich-leiblich, seelisch, geistig) ebenso wie die Wirkensfolgen durch seine Taten (ebenso äußerlich-leiblich, seelisch, geistig) ihm auch zugerechnet werden. Der Gedanke einer – wie immer im Einzelnen auch gedachten – wiederholten Verkörperung der menschlichen Individualität wird damit unabweisbar. Unvollkommenheiten und Misserfolg in diesem einen irdischen Leben können dann in anderem Licht erscheinen.

Eine Tat ist es dann auch, ob sich ein Mensch entscheidet, sich auf die Suche nach seiner wahren Aufgabe im Menschheitsganzen zu machen, indem er sich frei macht von den Vorbetern der verschiedenen kirchlichen, wissenschaftlichen und anderen ideologischen Denksysteme und Schulen. Es kostet diese Entscheidung jeden Tag immer wieder Kraft, die vor allem dafür aufgewendet werden muss, das eigene Denken, Fühlen und Tun daraufhin zu durchleuchten, ob es wirklich eigenes ist, oder doch nur wieder Nachgeplapper welcher Ideologie auch immer.

Jeder Einzelne kann diese Kraft aber aufbringen, sie ist in uns allen angelegt. Wir müssen sie nur gebrauchen, üben, immer weiter entwickeln.

Vollmenschliche Zukunft

Der Weg in eine vollmenschliche Zukunft der Menschheit insgesamt geht damit durch den frei und bewusst sich in den Dienst an dieser Zukunft stellenden individuellen Menschen, der damit einem allgemeinen Gesetz dient, ohne ihm unterworfen zu sein, ohne also seine Freiheit einzubüßen. Der Mensch ist in diesem Sinne die Auflösung des Dilemmas, in das er hinein gestellt ist.

Der einzelne Mensch, der sich darum bemüht, erkennt von dieser Warte aus den auch irdisch-persönlichen Wert seiner individuell erlebten Welt – einschließlich aller darin vorkommenden Menschen* – für die eigene Weiterentwicklung ebenso wie für diejenige aller anderen. Und er kann dabei lernen einzusehen, wie ohne den frei denkenden Menschen – also konkret ohne ihn selber – keine vollmenschliche Entwicklung in die Zukunft hinein möglich ist. Sonst regieren weiter Ideologien über die Menschen, bis hin zur völligen Zerstörung.

So wie bisher kann es eben nicht weitergehen.

© Stefan Carl em Huisken 2022

*In gewissem Sinne kommen ganz grundsätzlich ja mittelbar alle Menschen in jeder individuellen Lebenswelt vor. Der Einzelne ist sich ihrer nur in unterschiedlichem Grad bewusse, je nachdem sie ihm näher oder ferner stehen.



Cover Wahnsinn und Denken Ideologien

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Moralpredigten helfen nicht – was kann Mitteleuropa beitragen?

Eine ungeheure Welle moralischer Empörung rollt durch die Welt, insbesondere durch diejenigen Länder, die sich als dem sogenannten „Wertewesten“ zugehörig betrachten. In immer höheren Tönen verdammt man den russischen Aggressor, verbunden mit ebenso vielen Beteuerungen der eigenen moralischen Integrität.

Man täte vielleicht aber gut daran, ganz nüchtern zu erwägen, worüber man hier eigentlich spricht. In lapidarer Weise fasst das ein Wort von Egon Bahr zusammen: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“1 Und da der Krieg ja bekanntlich als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln angesehen wird, muss man diesen Satz wohl auch auf Kriege anwenden; hier liegt seine Gültigkeit ja sogar unmittelbar auf der Hand.

Seit Jahrzehnten wird die internationale Politik geprägt von wenigen großen und mächtigen Staaten: vor allem die USA mit ihrem Anspruch, die „einzige Weltmacht“ zu sein2, dann aber Russland, das sich nach seiner zeitweiligen Übernahme durch vom Westen gesteuerte Politiker wieder auf seine eigenen Grundsätze stellen will, und schließlich China. Europa, insbesondere Mitteleuropa spielt keine besondere Rolle, da es durch die von den USA dominierte NATO und durch Einbindung in von den USA gesteuerte Personal- und Organisationsstrukturen praktisch wenig oder kaum eigene, souveräne Entscheidungen treffen kann (bzw. durch die entscheidenden Personen überhaupt treffen will). Rein geografisch, aber auch im Hinblick auf die Geschichte ist für Europa das Verhältnis zwischen den USA und Russland prägend.

Da lohnt sich ein Blick auf die Interessen dieser beiden. Sie sind ja klar genug öffentlich formuliert und nachvollziehbar, ihre Hintergründe leicht ersichtlich.

Die USA sind – zumindest in ihrem Selbstverständnis – dasjenige Land, das die größten Erfolge in der Bemeisterung der äußeren Welt, zum Zwecke eines möglichst großartigen Lebens in dieser Welt errungen hat. Rein äußerlich ist dies auch stimmig, wenngleich in Rechnung gestellt werden sollte, welche Rolle dabei aus Europa „importierte“ hochkarätige Wissenschaftler besonders nach 1945 gespielt haben. Daraus ergab sich ein Lebensstil, der auch in Sachen Ressourcenverbrauch und Umweltzerstörung führend in der Welt ist. Dieser Lebensstil definiert aber das Selbstverständnis von „Great America“ maßgeblich mit, und ist deswegen etwas, worauf man nicht verzichten will – jedenfalls, was die wesentlichen, entscheidenden Kreise betrifft. Da die eigenen natürlichen, technologischen und menschlichen Ressourcen Nordamerikas dafür schon lange nicht mehr ausreichen, ist man dazu übergegangen, die Ressourcen eben auf dem Wege der heißen oder kalten Eroberung den Menschen anderer Weltgegenden wegzunehmen.

Das wird zwar immer schwieriger, da sich immer öfter die zu Erobernden wehren, mit der Folge höheren Aufwandes für die Eroberung, was wieder zusätzliche Ressourcen fordert; aber bisher hat es noch immer geklappt, insbesondere durch die Einbeziehung von Staaten (wie vielen der europäischen), die man hat veranlassen können, ihre eigenen Interessen denjenigen der USA unterzuordnen. Hierbei spielt das Moralisieren als psychologisches Massensteuerungsmittel eine große Rolle.

Kurz gesagt, liegt das Interesse der USA auf der Fortsetzung ihres zerstörerischen Lebensstiles (den sie möglicherweise in großen Teilen gar nicht als solchen erkennen!), wofür die Ressourcen (nicht die Menschen) anderer Länder benötigt werden. Menschen braucht man dafür nur insofern, als sie einem möglichst die Kastanien aus dem Feuer holen sollen; das ist ansonsten nämlich anstrengend und risikobehaftet, und man hält es daher mehr für andere Menschen geeignet als für Amerikaner, die ja auf ihrem eigenen Kontinent, weitab von den europäischen Konfliktfeldern leben.

Dieser Lebensstil als der eigentlich „beste“, die zugehörige Denkweise und die Akzeptanz für das Dominieren der USA wurde nach dem 2. Weltkrieg im 20. Jahrhundert gezielt in der Kultur West- und Mitteleuropas verankert3 und wirkt bis heute tiefgreifend fort4.

Dem steht im wiedererstarkten Russland ein ganz anderes Welt- und Menschenbild gegenüber. Der russische Präsident Putin und weitere Angehörige der russischen Regierung formulierten es aus, im Dezember 2021 zunächst in einem umfassenden Vorschlag zur vertragsmäßigen Friedenssicherung in Europa und der Welt. Näher am persönlichen Empfinden und gerade im Zusammenhang mit den Vorgängen und Auseinandersetzungen in der Ukraine sprach Wladimir Putin davon. Ich zitiere hier eine Meldung der russischen Agentur Sputnik vom 10. März 2022:

Russland kann nicht in „gedemütigtem Zustand“ existieren – Putin

Nach Ansicht des russischen Präsidenten nehmen viele Länder einen untergeordneten Platz ein und treffen alle Entscheidungen unter Berücksichtigung der Meinung „ihres Souveräns“. Russland könne sich eine solche Position allerdings nicht leisten.

»Wir alle wissen gut, dass sich viele Länder bereits daran angepasst haben, mit gebeugten Rücken und alle Entscheidungen ihres Souveräns 20 Mal treffend zu leben. Russland kann in einem solchen Zustand, einem erbärmlichen, gedemütigten Zustand nicht existieren.«“5

Man sieht deutlich: hier geht es um ganz andere Interessen als Ressourcenbeschaffung und Ähnliches. Wladimir Putin spricht das Gefühl der eigenen Würde an, des Geachtet-Werdens, das durch das Verhalten der USA, die die in den russischen Vertragsvorschlägen formulierten Sicherheits-Interessen schlicht unberücksichtigt gelassen haben, verletzt wurde. So musste man in Russland annehmen, was ja auch vielfältig im Westen angedeutet und formuliert wurde, dass man eben im Westen kein Interesse an den Bewohnern Russlands und ihrer Souveränität im eigenen Land hat, sondern nur an ihren Bodenschätzen, an denen Russland ja reich ist. Das Verhalten der USA in den letzten Jahrzehnten (siehe Syrien, Irak, Iran, Libyen, Jugoslawien, Afghanistan) legt eine solche Annahme nahe; in der Denkweise des Westens erobert sich der Mensch seine Würde ja gerade durch seine Freiheit, nach Gutdünken schalten und walten zu können.

Nun soll an dieser Stelle eben deutlich werden, dass moralische Argumentationen hier gar keinen Sinn haben. Jede Seite hat ihre eigene Auffassung von Moral, und diese Auffassungen sind unvereinbar: der Nützlichkeitsmoral des Westens, der vor allem fragt, wie ihm der andere für seine Interessen dienen kann, steht die Auffassung vom souveränen Menschen gegenüber, dem einfach durch seine Existenz die Würde eignet.

Insbesondere der Nützlichkeitsgedanke hat erst einmal gar keinen Bezug zu irgendetwas Moralischem, ist durch sich selber a-moralisch. Aber die Art, wie Russland seine Sichtweise vertritt, will ja die eigene, immanente Moralität (das, was man unter Menschenwürde versteht) niemandem aufzwingen; sie wird als eigenes Interesse gleichsam neutral dem anderen Interesse gegenüber gestellt. Diese beinahe religiös anmutende Vorstellung von Würde hat etwas Ehrwürdiges, Konservatives: die Idee der individuellen Freiheit, wie sie im Westen im Vordergrund steht, ist damit nicht leicht vereinbar, rangiert doch die Lebensmöglichkeit des Volkes, der Nation, die Würde der Gesamtheit „Russland“ über dem einzelnen Individuum. Möglichkeiten für Missverständnisse sind hier viele.

Was wir in den Weltvorgängen derzeit erleben, ist das Aufeinanderprallen beider geistig so verschiedenen Interessenssphären. Im Osten versteht man aufgrund des eigenen Menschenbildes sehr gut, wie der westliche Mensch in seiner Nützlichkeitsorientierung denkt. Das nimmt man ihm nicht grundsätzlich übel, besteht aber auf einem Interessensausgleich. Der westliche Mensch hat es schwerer. „Menschenwürde“ ist ihm etwas, was mit materiell fassbarer Nützlichkeit für das irdische (Wohl-)Leben erst einmal nichts zu tun hat; man erringt sie doch erst durch Erfolg im materiellen Leben. Daher liegt es nahe, solche Begriffe wie „Würde“ vor allem psychologisch als Werkzeuge zur Durchsetzung eigener Interessen anzusehen (mit Moral kann man viele Menschen lenken) – und auf diese Art die andere Seite völlig misszuverstehen.

Wie schon gesagt, es geht hier nicht darum, die eine oder andere Denkweise zur „Richtigen“, „Besseren“ oder „Höheren “ zu erklären. Beide Denkansätze haben auf ihrem Felde ihre Berechtigung. Darum wird auch jeder Versuch, nur dem Einen oder dem Anderen zu folgen, auf die Dauer notwendig fruchtlos sein. Nein, es geht darum, in voller Achtung des Anderen aus den natürlichen, technologischen und menschlichen Ressourcen, über die jeder verfügt, für ALLE das Beste zu machen. Das geht nur in verlässlicher, vertrauensvoller Zusammenarbeit. Lügen und Missachtung des Anderen haben da keinen Platz und müssen durch das ständige Bemühen um Verstehen des Anderen ersetzt werden.

Vielleicht wäre es den europäischen Menschen, insbesondere ihren Entscheidungsträgern einmal nahe zu legen, sich auf die eigenen Möglichkeiten zu besinnen, die doch in der Vergangenheit aus vielfältigen Bindungen in beide Richtungen entstanden sind und den besonderen mitteleuropäischen Geist ausmachen; einen Geist, der beiden Seiten zu fehlen scheint.

Nur von hier aus kann das Eine mit dem Anderen zusammengeschaut werden, und so im Gespräch nach beiden Seiten die jeweils andere Seite verständlich gemacht werden. Dafür wäre es allerdings nötig, insbesondere das Nützlichkeitsdenken des Westens vorurteilslos anzusehen, und dabei die Verwendung moralischer Kategorien als psychologische Kampfmittel zu durchschauen; die Infiltration westlichen Denkens in die mitteleuropäische Kultur hat den Mitteleuropäern, besonders den Deutschen hier Hürden aufgerichtet. Vielen westlichen Menschen ist es eben nicht gegeben, Moralität als unverzichtbare Eigenschaft ihrer selbst zu sehen; und wenn, dann nur begrenzt auf den gänzlich privaten, religiösen Bereich.

Beide Seiten wirklich verstehen, ganz innerlich, kann wohl vor allem der mitteleuropäische Mensch. Er sollte diese Qualität, die ihn vom westlichen Nützlichkeitsdenken ebenso wie vom östlich-relgiös getönten Feiern der Menschenwürde unterscheidet, ja, die sich ihm vielleicht auch einfach durch seinen Lebensraum als Prellbock zwischen Ost und West ganz naturgemäß ergibt, stärker als seinen eigenen, mitteleuropäischen Beitrag zum Zusammenleben in der Welt einbringen, nüchtern, klar und ohne Moralpredigten ebenso wie ohne Machtgelüste. Beides hat in Mitteleuropa genügend Schaden angerichtet.

© Stefan Carl em Huisken 2022

1Sehr schön im Kontext dargestellt hier: https://schicketanz.eu/2016-08-egon-bahr-es-geht-um-interessen/

2Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft. – Rottenburg, Kopp Verlag, 2015

3ausführlich dazu Frances Stonor Saunders: Wer die Zeche zahlt … Der CIA und die Kultur im Kalten Krieg. – Berlin: Siedler Verlag, 2001

4wie Thomas Röper zum Thema „Corona“ ausführlich deutlich machen konnte: Thomas Röper: Inside Corona. Die Pandemie, das Netzwerk & die Hintermänner. – Gelnhausen: J-K-Fischer, 2022

5vgl. https://t.me/snanews_de vom 10. März 2022


Hier finden Sie geisteswissenschaftliche Beträge, die das hier besprochene Thema ergänzen und erweitern können:
https://emhuisken.de/wordpress/2022/02/furcht-und-angst-schluessel-zur-gegenwart-des-menschen/
(auch als Broschüre bestellbar: https://emhuisken.de/wordpress/produkt/die-lahnung-sonderheft-1-furcht-und-angst-schluessel-zur-gegenwart-des-menschen/)
ebenso mein Buch von 2021: https://emhuisken.de/wordpress/produkt/wahnsinn-und-denken-der-kampf-um-den-menschen/




Der künstliche Mensch – oder?

Anmerkungen zu einem Artikel von Wilfried Nelles1

In seinem Artikel mit dem Titel „Der künstliche Mensch“ im multipolar-Magazin geht der Autor auf Fragen ein, die sich sonst selten jemand veranlasst sieht, sie überhaupt zu stellen. Und er macht dabei deutlich, dass sehr, sehr viele Aspekte der weltgeschichtlichen Vorgänge der letzten zwei Jahre, die man bei einigermaßen realistischer Selbstbeurteilung nicht leicht (oder manchmal gar nicht) verstehen kann, von seinem in gewisser Hinsicht radikaleren Gesichtspunkt aus plötzlich erklärbar werden. Seiner Argumentation kann ich in weiten Teilen zustimmen, es ist auch gewissermaßen ein Genuss, in dem Wust der vermutenden, anklagenden, anpreisenden oder sonstwie dahinschlingernden Erklärungstexte zum Geschehen hier einen Artikel zu finden, der das Ziel von Anfang an im Auge hat, und daher sehr gut auf sich selber stehen kann.

Dennoch finde ich, dass der Autor an einer entscheidenden Stelle zu kurz gedacht hat. Seine Argumentation kann ich hier natürlich nicht adäquat „mal eben kurz“ referieren – es hat schon seinen Sinn, dass sein Artikel auch einen gewissen Umfang hat. Ich will daher nur auf einige wenige Punkte eingehen, die für meine Ergänzung wichtig sind.

1. Anlass

Eingangs schildert Nelles, wie er – angeregt durch das Auffinden einer Art Flugblatt bei seinem Bäcker, das den Psalm 912 wiedergab – darauf kommt, dass die heutige Erscheinungsform der sogenannten „Corona“-Krise alle Kennzeichen einer fehlgeleiteten Religiosität hat. Aus dem Psalm ergab sich für ihn: „Wer in Gott ruht, ist geschützt.“ Aber: „Unser heutiges Gebet ist ein anderes. Es richtet sich nicht an Gott, sondern an die Wissenschaft, im Fall Corona an die Impfung.“3. Ziel sei der Triumph über die Natur: „WIR besiegen den Tod, und zwar ganz im Diesseits.“4

Dann fasst Nelles noch kurz zusammen, dass ja dieser „Triumph“ eben nicht stattgefunden hat, dass die Versprechen der Wissenschaft Stück für Stück einkassiert werden mussten.

Die Darstellung ist treffend; hier bleibt von meiner Seite hinzuzufügen, dass dieses „Einkassieren“ ja mit der Berufung auf die „Wissenschaftlichkeit“ erfolgte, die eben ihre Ergebnisse revidieren muss, wenn neue Erkenntnisse hinzukommen. Dieses Argument fußt auf dem seit Kant ja fast unumstößlich geltenden „wissenschaftlichen Dogma“, dass eben – etwas lapidar ausgedrückt – die Wahrheit unerkennbar sei und daher der Mensch nur Theorien bilden und durch Experimentieren und Evaluieren bis zu einer gewissen Plausibilität vordringen könne. Darauf komme ich später zurück.

2. Worum es bei Corona geht

Im Kern – findet Nelles – geht es bei Corona wie bei vielen modernen Themen um die „Ersetzung des Menschen durch Maschinen – und zwar nicht nur, wie bisher, der menschlichen Muskelkraft, also des Körpers, sondern des Denkens, also des menschlichen Geistes.“5. Daraus entsteht eine Art „Heiliger Krieg“ um die „wahre“ Religion, der allerdings ein „unbewusster Krieg“6 bleibt. „Bei Corona handelt es sich um einen Gottesdienst.“7. Im Verlaufe dieses Krieges entstehen all die Verwerfungen, wie die Ausgrenzung Ungläubiger oder die „Pervertierung von Wissenschaft zum Dogma“8.

Der Abschnitt gipfelt in dem Satz: „Es geht darum, dass sich der moderne Mensch nicht mehr seiner Natur fügen, sondern sie seinem Willen unterwerfen will. Ich bestimme selbst, wer und was ich bin – das ist das moderne Credo.“9 Nelles verweist in diesem Zusammenhang auf Yuval Noah Hariri, der „den modernen Menschen daher »Homo Deus« [nennt], Gottmensch, weil er sich zum Schöpfer des Lebens machen will.“10

Der Argumentation kann ich weitgehend zustimmen. Ich merke hier aber an: die Sehnsucht des Menschen nach Freiheit, sein Freiheitsdrang, den er ja nun einmal auch hat, kann mit einer solchen Argumentation schnell abgewimmelt werden. Warum sollte der Mensch sich denn nicht zum Schöpfer des Lebens machen wollen, wenn er denn wüsste, wie Leben entsteht, und wirkliches Leben hervorbringen könnte, das mit dem schon vorhandenen zusammen schadlos bestehen kann – was ihm bis heute allerdings nicht einmal ansatzweise gelungen ist? Ich komme darauf zurück.

3. Den Menschen gegen die Natur immunisieren

Nelles stellt hier fest, dass der gesamte Prozess darauf abzielt, „mit technischen Mitteln einen Damm gegen die Natur zu errichten, darum, den Menschen gegen die Natur zu immunisieren. Nicht, dass dies allen oder auch nur den meisten Akteuren bewusst wäre – es ist der ganz überpersönliche Geist unserer Zeit, der hier am Werk ist. Er setzt sich ganz unbewusst durch, weil wir gar nicht mehr anders denken können.“11 Da sage ich nur: d’accord, genau das ist es! Wir können gar nicht mehr anders! Es geht darum, Krankheit, Leid und Tod zu überwinden, die eben auch Bestandteil der Natur sind, und das mit rein technologischem Denken

Nelles sieht darin den „finale[n] Countdown einer Geschichte, die schon im 8. Jahrhundert mit der Christianisierung der germanischen »Heiden« und der Auslöschung ihres mythischen Glaubens begann, sich in der Verfolgung von »Hexen« und Ketzern fortsetzte, dann mit der Aufklärung in ihr scheinbares Gegenteil umschlug und zunächst die moderne Wissenschaft und in ihrem Gefolge Technik und Industrie hervorbrachte.“12 Wiederum schön beschrieben!

Aber zwei Anmerkungen hätte ich doch: warum nennt er das Verhältnis der germanischen „Heiden“ mythischen Glauben? Könnte es nicht genauso gut sein, dass diese Germanen ein wirkliches spirituelles Wissen hatten, das in der Überlieferung für uns (unter anderem durch Kant aufgeklärte?) Geister nur eben wie ein bisschen kindlicher Aberglaube erscheinen muss? Und zum Zweiten: Das System der Priesterherrschaft, verbunden mit der Verfolgung Andersdenkender ist keineswegs eine Erfindung des sogenannten „Christentums“. Die Entstehung lässt sich viel eher im alten Ägypten oder Mesopotamien ansiedeln, wie Lewis Mumford in seinem monumentalen Werk „Mythos der Maschine“ breit dargelegt hat13. Das System ist also älter, viel älter.

Nelles Darlegungen zu diesem Abschnitt laufen auf einige sehr wichtige Sätze hinaus, die ich deswegen hier im Zusammenhang zitiere: „Auch dem Buddha ging es um die Frage, wie Krankheit, Leid und Tod überwunden werden können. Buddhas Antwort lautet, dass man erkennen müsse, dass das »Ich«, das sich mit dem menschlichen Körper, der physischen Existenz, identifiziert, eine Illusion ist, dass alles, was wir »die Welt« und auch unser Ich oder Selbst nennen, nur eine vorübergehende Manifestation des einen und ewigen Geistes ist, und dass das Leid endet, wenn man dies erkennt. Er hat dies nicht als Theorie oder Philosophie oder Theologie formuliert, sondern es war, soweit man den historischen Zeugnissen entnehmen kann, seine persönliche Erfahrung und Erkenntnis, seine »Erleuchtung«. Bei Jesus ist es die Liebe, die Leid und Tod überwindet. Bei beiden geht es aber nicht um den physischen Tod – der bleibt, aber er zählt nicht mehr. Wenn ich im Innersten erkannt habe, dass alles Geist („Gott“) und das menschliche Leben (die Welt) nur eine vorübergehende Erscheinung dieses Geistes ist, den man auch Gott oder Bewusstsein nennen kann, hat der Tod, wie es in einem österlichen Kirchenlied heißt, »keinen Stachel mehr«. Dann ist man frei.“14

Diese Sätze mögen etwas Wirkliches schildern, sie sind aus meiner Sicht aber unvollständig. Denn sie enthalten nichts, was dem Menschen in irgendeiner Weise Freiheit ermöglichen würde. Die Wahrheit ist im Sinne dieser Sätze eben eine feststehende, der der Mensch sich zu fügen hat. Es wäre ja – wenn man den Buddha einmal auf die Sitze treiben wollte – eigentlich ganz egal, ob die Welt untergeht. Sie ist ja sowieso bloss eine Illusion. Und – auch etwas auf die Spitze getrieben – was ist eigentlich Liebe? Wenn sie nicht bloss irgendein Habenwollen sein soll, sondern wirklich Liebe um des Geliebten willen, dann muss sie ganz vom Zentrum meiner selbst ausgehen, und setzt insofern Freiheit voraus. Andernfalls praktiziert der Mensch göttlich fremdgesteuerte Selbstliebe des Gottes für seine Schöpfung. Wie aber kann dann Freiheit entstehen? Und schließlich: wie erkennt der Mensch, dass „alles Geist (Gott) ist“? Was ist also Geisterkenntnis im Unterschied zu Glaube? 15Ich komme darauf zurück.

4. Der Gott im Menschen

Wieder ganz nachvollziehbar ist es, wenn Nelles sagt: „Der Krieg gegen die Natur ist unser christliches Erbe, das die Wissenschaft, allem vordergründigen Rationalismus und Atheismus zum Trotz, nur fortführt. Der Mensch hat die Schöpfung zu seinem Projekt, mehr noch: zu seinem Daseinszweck gemacht. … Wir haben Gott zwar abgeschafft, haben ihn uns im Geiste unterworfen, aber indem wir dies taten, ist er unbemerkt in uns hineingeschlüpft. Anstatt ihn losgeworden zu sein, beherrscht er uns nun von innen: Wir müssen wie Gott sein, und das Instrument dafür ist die Wissenschaft. … Die Natur-Wissenschaft ist keine Arbeit mit der Natur …, kein Versuch, sich durch ihr tieferes Verständnis besser in sie einzufügen, sondern ein Angriff gegen sie. Damit ist sie aber auch ein Angriff auf den natürlichen Menschen.“16

Ein Aspekt fehlt mir dabei allerdings: ist denn die Art, wie Natur-Wissenschaft heutzutage betrieben wird – auf der Grundlage des Kantschen Axioms, dass die Wahrheit eben nicht erkennbar sei – die einzig mögliche? Oder hat Kant möglicherweise etwas übersehen, und sein Axiom stimmt überhaupt nicht? Gibt es vielleicht eine Natur-Wissenschaft, die mit der Natur arbeitet, und die sich nicht von einem ehemaligen Gott beherrschen lässt, sondern von uns selber vollständig bewusst ausgeht?

5. Was wir bekämpfen, sind wir selbst

Wie schon eingangs gesagt, es gibt wirklich nicht viele Artikel, die sich zu derartigen Einsichten aufschwingen und diese auch wirklich schlüssig darzulegen verstehen. Der in der Überschrift genannte Satz wird von Nelles erläutert, indem er darauf hinweist, dass wir selber ja Bestandteil der Natur sind, und in unserem Krieg gegen die Natur darum sozusagen uns selber töten; und wenn wir so weitermachen, gibt es zwar irgendwann noch Überlebende, aber die werden keine Menschen mehr sein, sondern Maschinenwesen17.

Er schildert dann, dass für uns der Gott aus den genannten Gründen eben tot ist, nicht mehr existent, aber da der Mensch offenbar ohne einen Gott nicht leben kann, sich der heutige Mensch eben selber zum Gott erklärt. Und damit wird dasjenige, was dieser Mensch dann aus seinem eigenen „göttlichen Ratschluß“ tut zur unwiderlegbaren Wahrheit, und alles, was heutige Wissenschaft auf der Grundlage Kants als Theorien, als Diskurs, als Zweifel braucht, um überhaupt ihre Berechtigung zu haben, wird über den Haufen geworfen. Interessant ist, dass er die Rolle der Priester, die dem einfachen Volk die Wahrheiten zu verkünden haben, bei den Journalisten sieht; ich hätte sie zumindest auch – wenn nicht überwiegend – bei denjenigen Wissenschaftlern gesehen, die sich zum Rechtfertigungswerkzeug politischer Absichten machen. Das ist aber nur ein Detail.

Grundlage des Ganzen – so findet Nelles – ist letztlich die Angst vor dem Tod. „Und diese Angst hat einen sehr, sehr tiefen Grund, nämlich den schon angesprochenen Tod Gottes.“18 Und damit ist der Tod für uns nicht zum Übergang in ein neues Sein im Schoße Gottes, sondern ein unwiderrufliches und absolutes Ende geworden. Da wir dies aber nicht aushalten können, müssen wir irgendwie ein Weiterleben organisieren, und zwar im Diesseits, denn etwas Anderes kennen wir nicht. „Und genau da funkt uns unsere Natur dazwischen. … Also müssen wir sie abschaffen. Überleben, »ewig« leben können wir nur als künstliche Wesen, als Plastikblumen, die nie verwelken, oder als virtuelle Kopien in einer virtuellen Welt. Das »ewige« Leben auf Erden kann nur ein totes Leben sein. Im Kleinen haben die Lockdowns uns das vorgeführt: Um nicht zu sterben, darf man sich nicht mehr bewegen.“19 Das ist sehr treffend beschrieben, vor allem der letzte Bezug zur aktuellen Situation.

Als Schlussergebnis kommt Nelles zu der Feststellung: „Wenn wir dies nicht wollen, gibt es nur einen Weg: Wir brauchen eine neue Spiritualität, wir müssen erkennen, dass wir nicht nur Körper, sondern auch – sogar zuallererst – Geist sind, und dass Leben und Tod nicht zwei, sondern eins sind. Es gibt das eine nicht ohne das andere. Wenn wir das sehen und im Geist zu Hause sind, sind wir geschützt. Der Psalm spricht die Wahrheit.“20

Ja, kann man ihm beinahe enthusiastisch zustimmen – wenn da nicht der letzte Satz wäre. Womit ich bei meiner Ergänzung angekommen bin.

6. Was ist der Mensch?

Was bei Nelles gar nicht genau geklärt wird, aber für die Beurteilung des Ganzen meiner Ansicht nach unverzichtbar ist, das ist die Frage, was eigentlich hier als „Mensch“ angesehen wird. Wenn schon das technologisch-mechanistische Menschenbild in Frage gestellt wird, das im Rahmen der Entwicklungen der letzten Jahrhunderte nun heute ja beinahe alleinherrschend ist, dann wäre doch eine Klärung schon notwendig, was der Mensch denn dann sein solle?

Nelles verweist darauf bloß implizit; ich lese aus seinen Darstellungen heraus, dass der Mensch eben ein Naturwesen ist, oder eine Schöpfung Gottes, das dann derzeit – so kann man annehmen – in eine Art Größenwahn verfallen ist und daher möglichst schnell wieder auf sein im göttlichen Naturplan vorgesehenes Maß zurückgestutzt werden müsse. Genaueres habe ich nicht gefunden; aber vielleicht habe ich auch nicht genau genug gelesen.

Falls ich richtig gelesen habe, kann ich dem Autor ja zustimmen, was die Analyse der Vergangenheit betrifft: der Mensch ist aus dem göttlichen oder natürlichen Zusammenhang gefallen, er kennt die Wahrheit nicht mehr, und in seiner Not ernennt er sich in seiner Unvollkommenheit jetzt zum neuen Gott. Das kann nicht gut gehen. Was aber nun?

Hier gibt es ja seit mehr als einhundert Jahren auch ganz andere Ansätze, die leider (auch durch manche „offizielle“ Vertreter dieser Richtung) in weitesten Kreisen nur völlig verzerrt und entstellt in die Öffentlichkeit dringen. Ich meine die anthroposophische Geisteswissenschaft Rudolf Steiners. Steiner hat bereits in seinen frühen philosophischen Werken21 das Kantsche Dogma von der Unerkennbarkeit der Wahrheit, das heißt ja auch von den unübersteiglichen Erkenntnisgrenzen des Menschen, abschließend widerlegt. Das hier referieren zu wollen, ist vollkommen unmöglich.

Letztendlich läuft es aber darauf hinaus, dass ja unbestreitbar ist, dass jede Erklärung des Daseins eines Menschen oder der Welt immer die Existenz eines erklärenden Denkens und eines Individuums, in dem sich dieses Denken zum Bewusstsein bringt, voraussetzt. Auch wenn ich also erkläre, der denkende, sich selber erlebende geistige Mensch sei gar kein selbständiges geistiges Wesen, sondern nur eine Illusion, die aus der Materie gleichsam „hervorschwitzt“, ist diese Erklärung eben eine, die nur durch einen denkenden Menschen erbracht werden kann, der sich damit sozusagen selber „wegerklärt“. Näheres dazu habe ich in meinem Buch zur aktuellen Menschheitskrise ausgeführt: „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“22.

Ausgehend von einem so aufgefundenen Primat des Geistes – zumindest von der Warte des Erkennenden Menschen aus – stellt sich dann die Frage nach dem Sinn der derzeitigen Situation der Menschheit noch einmal etwas anders. Vieles, was Nelles anführt, liegt ja völlig auf dieser Linie, und darum habe ich den Artikel auch erfreut gelesen. Nur bleibt bei ihm die Frage nach dem, was eine „neue Spiritualität“ denn sein könnte, leider unbeantwortet.

7. Neue Spiritualität

Denn die Konsequenz von Nelles – „Der Psalm hat recht“ – ist ja nichts anderes als der Rückgriff gerade auf eine alte Spiritualität, die eben mit zu den Gründen gehört, warum die Lage heute so ist, wie sie ist. Der helfende Gott, der den sündigen Menschen führt, der ist eben nicht mehr. Und ich denke nicht, dass man ihn zurückholen kann. Der Mensch ist frei geworden, auch zum Irrtum.

Warum kann man ihn nicht zurückholen? Man wird einen heutigen, selbständig denkenden Menschen, auch und gerade nach den Ereignissen der letzten zwei Jahre, nicht mehr leicht dazu bringen können, irgendwem einfach zu glauben. Das müsste er aber: der Bibel, dem Pfarrer, dem Imam, dem Professor, oder wem sonst auch. Sicher, derzeit glauben ja gerade viel zu viele alles Mögliche. Was aber, wenn die Sache auffliegt? Nein, der denkende Mensch will heute wissen, und zwar auch von dem, was nicht klar vor Augen liegt. Und das bedeutet, dass wir nicht nur eine irgendwie „neue Spiritualität“ benötigen, die sich eben geschützt glaubt, wenn man dem Psalm glaubt. Gott ist für die Menschen tot. Man erlebt ihn nicht mehr. Glaube als innere Stütze gegenüber der gottlosen Welt reicht für sehr viele Menschen nicht mehr aus.

Nein, wir brauchen sehr viel mehr, nämlich eine komplette Spiritualisierung der Wissenschaft. Und die wird nur gelingen, wenn der einzelne, individuelle, denkende Mensch erst einmal anfängt zu realisieren, dass er selber Geist ist, der derzeit eben in einem irdischen Leib auf der Erde herumläuft. Was vorher war (habe ich eventuell mein Schicksal, meine Aufgaben im Leben schon wie eine Art Vorhaben mitgebracht?) und was nachher sein wird (Fegefeuer, Himmel, Walhalla, oder was auch immer) kann ich erst lernen zu verstehen, wenn ich mich selber und mein Denken verstehen lerne. Vorher ist das nicht möglich. Aber ich kann vorher schon wissen – wenn ich mein unmittelbares Erleben nur ernst nehme, das nämlich ein geistiges ist, den materiellen Inhalten gegenüber – ich kann also vorher schon wissen, dass diese jetzt gerade von mir erlebte Welt nicht alles ist. Nur darf ich dabei eben nicht stehen bleiben, wie Kant und seine Nachfolger, sondern muss mich aufraffen zur eigenen Weiterentwicklung im Erkennen.

Und da bin ich eben mit Herrn Nelles nicht einig: der Psalm hatte recht für die Menschen vergangener Zeiten. Jetzt müssen wir eine neue Art Psalm zu singen lernen. Wir haben nämlich die Welt schon umgestaltet, sie ist gar nicht mehr die „natürliche“, das ist frommer Glaube. Um uns herum sind eine Vielzahl technischer Einrichtungen tätig, deren Wirkungen wir noch gar nicht überblicken, und die uns noch auf die Füße fallen werden. Wenn wir lernen wollen, damit umzugehen, werden wir uns ganz auf uns selber verlassen müssen. Allerdings: was die Vergangenheit betrifft, die uns in diese Welt befördert hat, da gilt eben, was der Psalm sagt.

Denken wir doch einmal weiter: wenn der Gott, der uns beschirmte, uns in diese Situation gebracht hat, in der wir sind: was wollte er damit von uns erreichen? Ich finde, es ist ein berechtigtes Anliegen in dem Willen, selber das Leben schaffen zu lernen. Nur wird es dazu nötig sein, erst einmal zu wissen, was Leben überhaupt ist, und auch zu verstehen, wie und warum wir als Menschheit an die Stelle gekommen sind, an der wir jetzt stehen. Und dann müssen wir Wege finden, wie wir unsere Erkenntnisgrenzen weiten können.

Wir stehen also vor zwei Möglichkeiten: entweder weiter so wie bisher; jeder sieht, dass er für sich das Beste herausschlägt, man lebt ja nur einmal – also gar nichts verstehen wollenoder die Einsicht, dass wir selber nicht weiterkommen werden, wenn wir nicht die Welt um uns herum – und das bedeutet auch alle anderen Menschen – dabei mitnehmen. Wir werden uns also – sozusagen aus einer Art höherem Egoismus – liebevoll jeder Einzelheit des Lebens zuwenden müssen, um sie mitzunehmen auf unserem Weg in den Geist der Zukunft. Der Weg Buddhas ist nämlich auch ein alter: gar nicht erst ganz auf die Erde kommen zu wollen, da sie ja doch nur eine Illusion ist. Diesen Weg haben wir uns abgeschnitten. Wir können uns nämlich gar nicht mehr weiterentwickeln ohne die Welt. Unsere Taten sind längst Bestandteil der Welt und prägen sie. Und sie braucht uns jetzt. Unsere „Sünden“ werden wir schon selber abzutragen haben, indem wir uns umschaffen zu einem „neuen Menschen“.

Diesen Weg, der nicht auf ein „zurück zum leitenden Gott“ setzt, sondern auf die Kraft des freien Menschen (ohne die Freiheit hätten wir uns gar nicht derartig irren können – darum ist die materialistische Wissenschaft, die nichts vom Geiste weiß, als Durchgangsstation auch unumgänglich nötig gewesen), der in seinem Handeln Liebe entwickelt, stellt Rudolf Steiner in seinem Gesamtwerk dar. Ihm war zu keiner Zeit vorrangig wichtig, was an einzelnen Inhalten geistiger Tatsachen dargestellt wurde. Es ging immer zuerst um die Schaffung von Urteilsgrundlagen für eine wirkliche geisteswissenschaftliche Erkenntnis, eine solche also, die vollkommen vorurteilslos und kontrolliert an dem ansetzt, was der Mensch als geistiges Wesen im Geiste heutzutage unmittelbar erleben kann, und die eben dadurch den Weg in eine Spiritualisierung der Wissenschaft weisen kann.

© Stefan Carl em Huisken 2021

1https://multipolar-magazin.de/artikel/der-kunstliche-mensch, als pdf-Datei herunterladbar

2Wegen der Bedeutung, den der Psalm für das Ganze hat, hier der von Nelles zitierte Text ebd., S. 2:
„Wer im Schutz des Höchsten wohnt und ruht, im Schatten des Allmächtigen, der sagt zum Herrn: ‚Du bist für mich Zuflucht und Burg, mein Gott, dem ich vertraue.‘ Er rettet dich aus der Schlinge des Jägers und aus allem Verderben. Er beschirmt dich mit seinen Flügeln, unter seinen Schwingen findest du Zuflucht. Schild und Schutz ist dir seine Treue. Du brauchst dich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten, noch vor dem Pfeil, der am Tag dahinfliegt, nicht vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die wütet am Mittag …“

3ebd., S. 2 (alle Zitatnachweise beziehen sich auf die pdf-Datei)

4ebd., S. 3

5ebd.

6ebd., S. 4

7ebd., S. 3

8ebd., S. 4

9ebd., S. 5

10ebd.

11ebd., S. 6

12ebd., S. 7

13Mumford, Lewis: Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht. – Frankfurt a.M., Fischer Taschenbuch, 1977

14Nelles ebd., S. 7

15vgl. dazu von einem andere Ausgangspunkt aus zu „Transhumanismus und Geist-Erkenntnis“, https://emhuisken.de/den-menschen-ueberwinden-transhumanismus-und-geist-erkenntnis/

16ebd., S. 8

17vgl. hierzu auch im Folgenden den Schlussabsatz bei Nelles ebd., S. 8 ff

18ebd., S. 9

19ebd. S. 9 f

20ebd., S. 10

21„Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“, „Wahrheit und Wissenschaft“, „Die Philosophie der Freiheit“

22em Huisken, Stefan Carl: Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen. – Borchen, Ch. Möllmann, 2021, bestellbar =>hier; ebenso manche Artikel auf meiner Website www.emhuisken.de




So weit haben wir es also gebracht – eine Brandrede zu Weihnachten

Nun fällt sie uns auf die Füße, die Frucht unserer Selbstvergessenheit. Wir haben es versäumt, rechtzeitig herauszufinden, woran es liegt, dass jeder neue Gewinn an technologischer Macht über Kurz oder Lang zu neuen Wellen der Selbstzerstörung führt. Selbstzerstörung nicht bei allen und bei jedem, selbstverständlich. Aber bei dem „Wir“ das ich hier meine: dem „Wir“ aller Menschen, der Menschheit insgesamt. Denn ohne das Ganze der Menschheit ist der Einzelne nichts, nicht existenzfähig.

Wir haben lange gemeint, die ungeheure äußere Macht der toten Maschine würde uns in eine neue Welt sorgenfreien Lebens katapultieren. In beeindruckendem Maße scheint das ja auch geglückt zu sein – für Einige. Und wir hier, in der sogenannten zivilisierten, entwickelten Welt danken der Technik unsere Freiheit in gewissem Sinne ja auch wirklich. Aber auf wessen Kosten?

Der in der äußeren Welt lebende Mensch, der so Vieles in der Welt zu erklären gelernt hat, hat darüber Eines ganz vergessen: sich selber als real erlebendes Wesen kennt er nicht mehr.

Gewiss, wir wissen Vieles über bestimmte leibliche Erfordernisse eines jeden Menschenlebens; auch über sogenannte „seelische Bedürfnisse“ dessen, was wir in unseren Erklärungsversuchen „Mensch“ nennen, glauben wir Einiges sagen zu können. Es mag ja auch Vieles davon sinnvoll und richtig sein im Rahmen der gewählten Erklärungsansätze.

Was wir aber nicht wirklich kennen, was wir sogar aus aller Erkenntnis meinen heraushalten zu müssen, weil die Erkenntnis sonst Gefahr liefe, „falsch“ zu werden, das sind wir selbst: die konkreten erlebenden, denkenden, fühlenden, wollenden Wesen, die wir niemals in der äußeren Welt finden können, weil sie dort einfach nicht sind: das ICH, das all das erlebt und tut, es ist nirgends dort zu finden, wo all das Erlebte, Erkannte und Getane west und wirkt.

Das ist unser Versäumnis: wir haben den Menschen aus der Welterkenntnis ausgeschlossen: uns selbst, von dem wir doch sicherer als bei allem Anderen wissen können, dass es existiert. Ohne das Ich als Zentrum und Schauplatz des Weltgeschehens hätte alles, was uns umgibt, Bedeutung und Ziel verloren. Genau dies, die Ausrottung des real im Geist sich selbst erlebenden MENSCHEN, betreiben wir dadurch, dass wir nicht danach streben, uns selbst für die Welt zu entwickeln, sondern stattdessen die Welt zu unserer Bequemlichkeit technologisch auszubeuten, oder – wie Manche wollen – sie als unbedeutend anzusehen, nämlich als etwas, das möglichst schnell für unser Wohlergehen (darum geht es!) unnötig werden soll.

Wenn wir auf uns selber zu schauen vermeinen, sehen wir vorrangig unsere Wünsche, die sich aus den Bedingungen des irdischen Daseins ergeben. Das ist unser irdisches Wesen, das Weltenwesen, das wir auch sind. Was aber in diesem irdischen Wesen als Geistiges lebt, ist das ICH, das frei sein will. Das wird es aber niemals durch Erfüllung irdischer Wünsche. Dieser Weg führt in die Sucht, in immer weiteres Ausufern der Wünsche, und zugleich in immer größere Bequemlichkeit und damit einhergehenden Verfall menschlicher Fähigkeiten. Der derzeitige Zustand der Welt ist Beweis genug dafür.

Damit ist nichts gesagt gegen den Gebrauch heutiger Wissenschaft und Technik; beide haben ihren Anteil an unserem Freiwerden. Aber es ist entscheidend, ob wir selber, aus dem freien Geist, in Ansehung unserer eigenen Bedeutung im Weltenganzen all diese Gaben zu nutzen verstehen, oder ob wir es tun ohne den Blick darauf, wer wir selber sind, werden wollen und werden sollen.

Was ICH bin, bin ich geworden aus der Welt, mit allen Wirkungen der Taten zahlloser Menschen vor mir im Gang der gesamten Menschheitsentwicklung seit einem wie immer gearteten Weltenbeginn. Was wir heute tun, prägt die Welt, aus der unsere Nachkommen hervorgehen werden und in der sie zu leben haben. Das sollten wir bedenken.

Selbst wenn wir das tun, fehlt uns ohne eine wirkliche Erkenntnis unserer Selbst, unseres geistigen Kernes, aller Sinn und jedes Ziel für unser Tun. Wenn wir ehrlich sind: wir haben doch alle Ideale verloren, jedenfalls die, die über unsere eigenen irdischen Lebenswünsche hinausgehen. Solche Ideale erleben wir nicht als etwas Wirkliches, sie sind uns nur Meinungen subjektiver Art, die eben jeder für sich selber setzt und mehr oder weniger befolgt.

Wir selber sind uns dabei völlig abstrakt geworden, und damit auch alle Welterkenntnis. Mit der Wahrheit unserer Selbst haben wir auch die Wahrheit der Welt verloren. Gewaltige Denkkraft wird und wurde darauf verwendet, zu beweisen, zu begründen und als großartige Erkenntnis anzupreisen, dass es eine Wahrheit gar nicht geben kann. Aber ist denn diese Erkenntnis wahr?1Jeder einzelne Mensch, der sich selber ernst nimmt, ist doch der lebende Beweis der Wahrheit seiner Existenz! Und alles, was er über die Welt erkennt, existiert doch nicht ohne ihn! Und diese Grundbedingung aller Erkenntnis soll unwahr, subjektiv, erkenntnisverfälschend sein?

Ja, das kann sein. Aber nur solange bis der erkennende Mensch sich aufrafft, seine eigene, grundlegende, wahre Bedeutung für alle Erkenntnis anzuerkennen, und dann dieses Anerkenntnis zum Anlass nimmt, sich selber zu erforschen, zu erkunden und davon ausgehend sich selber geeignet und würdig zu machen für eine unverfälschte Erkenntnis der Wahrheit. Solange er selber sich ausschließt aus der Erkenntnis, gibt es keine Wahrheit. Solange werden auch die Ergebnisse seiner Erkenntnistätigkeit ihn selber unberücksichtigt lassen – und eben unmenschlich, nicht menschengemäß, nicht menschenwürdig sein.

Das ist unser Versäumnis, dessen Folgen uns jetzt auf die Füße fallen. Wir haben uns selber als real sich selber im Geiste erlebende Wesen aus der Erkenntnis und damit aus der Wissenschaft und Technik ausgeschlossen. Jetzt wirken die von uns aufgebauten toten, maschinellen Prozesse im Sinne des auf das irdische, einzelpersönliche Sein bezogenen Egoismus. Sein Ziel ist immer das Erlangen von Macht zur Erfüllung solcher egoistischer Wünsche. Und wem aus den Eroberungen der Vergangenheit solche Macht zugefallen ist, der wird sie zu erweitern trachten, und sicher niemals freiwillig aus der Hand geben.

Aber auch diese Machtegoisten sind Menschen. Auch sie zerstören mit ihrem Tun letztlich die Grundlage ihres eigenen Seins. Auch sie werden – wenn die Entwicklung so weitergeht wie bisher – ihre Menschlichkeit, ihr ICH nicht dauerhaft machen können. Denn auch sie sind, weil auch sie sich selber nicht kennen, nur Sklaven des technologischen Dogmas der vermeintlichen Weltbeherrschung.

Was hält uns davon ab, endlich dem MENSCHEN den ihm gebührenden, seiner Stellung in der Welt würdigen Platz zu geben? Alles, was dagegen eingewendet werden kann, ist letztlich Frucht der Selbstvergessenheit. Wollen wir wirklich weiter mit einem Denken, einer Wissenschaft, die den eigenen Kern nicht kennt, die Schäden zu bekämpfen suchen, die gerade Folgen sind dieses Denkens, dieser Wissenschaft? Es ist hoffnungslos – das wird nicht funktionieren.

Und je länger wir uns weigern, uns selber als reale Geistwesen, als wirkliche ICH-Menschen anzuerkennen, desto tiefer versinken wir alle im Sumpf menschenunwürdiger (!) Selbstvergessenheit.

Sei im Bewußtsein Träger des Ich
Des Alten vom Tage
Des Herz die Zeit
Des Leib der Weltraum ist,
Des Geist in Deinem Geist
Als Kind erwacht.
Sei Deines Kindes wissender Hüter.
Bedecke es nicht mit Staub.
Gib Nahrung ihm.

(Helmut Siegfried Unbehoven)

Das hier genannte Kind ist das wahre „Kind in der Krippe“, dessen Kommen die Welt zu feiern hat. Die unwürdigen Umstände, unter denen wir zur Zeit diese Feier zu begehen haben, sind eine der heutigen Welt entsprechende Metamorphose des biblischen Bildes: der Erlöser soll geboren werden, aber es findet sich keine Herberge. Bei den Tieren im Stall schließlich findet statt, was der Welt die Erlösung bringen soll2.

Beruhigen wir uns also über diese Zustände. Wenden wir uns lieber dem zu, worum es eigentlich gehen muss, was uns obliegt: uns selber als vor der Welt und für die Welt verantwortliche Menschen anzuerkennen, und auf dieser Grundlage dem in uns zu gebärenden neuen, geistigen Menschen – dem „Kind“, dem „Künder“, unserem „höheren ICH“ – eine Herberge zu geben. Dann haben wir auch eine Chance, dem in uns erstehenden Kind die rechte Nahrung zu geben, so dass es kräftig und weltenwirksam heranwachsen kann.

© Stefan Carl em Huisken 2021

1Anders gesagt: Alle Kretenser lügen, sagt ein Kretenser.

2Man durchdenke das Bild in meditativer Form. Es stimmt bis in die Einzelheiten.


Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können. Auch der oben angesprochene Weg der Selbsterziehung zur wahrer Erkenntnis wird darin angesprochen.




Undenkbar! Oder?

I

Undenkbar

Undenkbarkeiten gibt es viele. Derzeit immer mehr und immer ungeheuerlichere. Dass es Pläne geben könnte zum Beispiel, die seit Jahrzehnten, ja Jahrhunderten verfolgt werden und die völlige Versklavung der Menschheit anstreben. Dass alles Relevante, was in der Menschheit vorgeht, gesteuert, inszeniert, geplant sein könnte: 9/11, die Corona-Pandemie, aber auch schon die Weltkriege des 20. Jahrhunderts und viele andere Grausamkeiten. Dass die ach so gloriose „Wissenschaft“, die seit dem 19. Jahrhundert die äußere Sinneswelt zur alleinigen Wirklichkeit erklärt und die uns im Übrigen durch ihre Errungenschaften wie die Biochemie, die Atomkraft und die maschinelle Durchdringung und Industrialisierung des gesamten äußeren – und inzwischen durch die Computer auch des inneren – Lebens in die Lage gebracht hat, in der wir heute sind, – dass diese glorreiche Wissenschaft in ihrem alles beherrschenden Ziel, den Menschen aus der Erkenntnis zu eliminieren, vielleicht unrecht hätte und von der Wurzel her erneuert werden müsste. Dass Regierende überall auf der Welt vielleicht Getriebene, Gelenkte, oft grässlich Inkompetente, Korrupte und in einem Wahn Befangene sein könnten. Und so weiter, und so fort. Alles natürlich undenkbar.1

Furcht

Warum? Weil wir uns fürchten. Fürchten vor den dunklen Abgründen des Menschlichen, die man im Denken zu ergründen hätte, wenn man es doch versuchte so etwas zu denken. Fürchten auch davor, all die dunklen Unter- und Hintergründe solcher Dinge auch in uns selber zu entdecken. Stattdessen versuchen wir lieber, die Dinge zu tun, die wir nicht denken können oder wollen: Macht gewinnen; zügellos die eigenen Wünsche walten lassen; wissen, dass wir selber die „Guten“ sind; dass wir uns selber und unsere Lebensweise nicht ändern müssen – das müssen nur immer alle anderen.

Die Furcht vor dem Ende des schon Bekannten produziert ständige „Dosiserhöhungen“ dessen, was wir schon kennen. Wenn uns die heutige materialistische Wissenschaft in eine Sackgasse führt: mehr davon. Oder auch: wenn der Lockdown nicht wirkt: mehr davon. Wenn die Computermodelle mit ihren irrwitzigen Vorhersagen von der Wirklichkeit widerlegt werden: mehr und neue davon. Also, kurz gesagt: reines Suchtverhalten.

Sucht

Wer schon einmal ausführlicher mit Süchtigen zu tun hatte, weiß eines: da, wo die Angst ist, geht es lang. Das ist der einzig rettende Weg. Also: die eigene Ohnmacht eingestehen (aber nicht zu dem Zweck, sich dann zurückzulehnen und zu sagen: „ich wusste es schon immer, ich kann nichts machen, das müssen die anderen“; das ist nur eine noch perfidere Finte der Furcht). Die Ohnmacht des heutigen Wissenschaftsbetriebes einsehen, die Wirklichkeit zu erkennen. Die eigene moralische Labilität – freundlich ausgedrückt – und damit das eigene Getriebensein von Egoismus betrachten. All das dann aushalten und nicht aufgeben.

Dann können wir vielleicht auch nachvollziehen lernen, was die „bösen Anderen“, die „skrupellosen Weltenlenker“ bewegt, wenn sie tun, was sie tun, und ja auch unverblümt zugeben. Die Reichenversammlung des WEF fürchtet sich vor der Unvollkommenheit des menschlichen Wesens, findet offenbar Computer (Menschenwerk also!) viel perfekter und möchte gerne damit verschmelzen: Transhumanismus nennt sich das dann. Regierende überall fürchten sich vor ihrem Volk und möchten es daher gerne zu etwas Kontrollierbaren, Planbaren, Steuerbaren machen. Wissenschaftler fürchten sich vor den Abgründen des menschlichen Geistes und möchten ihn darum aus der Erkenntnis ausschließen; da treffen sie sich mit den Transhumanisten, siehe oben. Der Gläubige fürchtet sich davor über das Absolute etwas zu wissen, der Unvollkommenheit der Wirklichkeit des Irdischen unausweichlich gerecht werden zu müssen.

Und so arbeiten sie alle zusammen – aus Furcht. Aus dem gleichen Grund im Übrigen, aus dem wir das alles mitmachen. Und wenn wir aus Furcht nicht mehr mitmachen wollen, machen wir dasselbe wie sie: wir suchen Macht, moralische Erhebung, Perfektion (das heißt dann hier „Kompetenz“), um die „Despoten“ zu zwingen.

Wir suchen also – Macht für die Liebe, die des Anderen Freiheit zwingt? Aber etwas Anderes können wir doch nicht, das ist doch undenkbar! So? Wer sagt das? Schon mal versucht? Oder, wie der Kabarettist Bodo Wartke es in einem Lied sagt: „Was, wenn doch?“2

II

Grenzen

Wer beginnt, über die derzeitige Situation der Menschheit und ihre (möglichen) Hintergründe nachzudenken, kommt schnell an Grenzen: Grenzen des Fassbaren, des Verstehbaren, des Erträglichen, oder auch ganz grundsätzlich des für uns heutige Menschen überhaupt Denkbaren. Dadurch ergibt sich die auf allen Seiten gleichbleibende Wiederholung der immer gleichen Argumente, Attitüden, Urteile und Gedankengänge. Man ist es inzwischen irgendwie leid: man versucht etwas zu erfassen und muss sich dann eingestehen, dass es einem nicht gelingt. Oder man gesteht sich die Ohnmacht nicht ein und dreht sich weiter in den immer gleichen Gedankenkreisen.

Sicherheit

Es ist daher vielleicht Zeit, die Gründe für dieses Erlebnis des Zerbröselns aller Sicherheit – auch und gerade Urteilssicherheit – einmal woanders zu suchen als beim immer falschen Denken der Anderen, der „Gegenpartei“ also.

Vielleicht liegt das Zerfallen aller Denk- und Lebenssicherheit ja auch an Gewohnheiten weltanschaulicher Art, die allen beteiligten, streitenden und in immer kleinere Fraktionen zerfallenden Akteuren gleich sind, und die deswegen das menschliche Zusammenleben auf der Erde so allgemein zerstören können, wie das schon seit langer Zeit geschieht, derzeit aber erst wirklich an die Oberfläche des Bewusstseins dringt, als Ausdruck einer ins Extrem getriebenen Unterbewusstheit der Wahrheit gegenüber.

Aber das können wir nicht denken: die ganze Menschheit, zumindest in der überwältigenden Mehrzahl der leitenden Personen in einem grandiosen, die Menschheit als solche in ihrer Existenz bedrohenden Irrtum, ja vielleicht Wahn? Undenkbar!

Moral und Wahrheit

Was aber wäre die Alternative? Etwa, dass diese Mehrheit der Leitenden aus bösem Vorsatz handelten? Also, kurz gesagt, seit Jahrzehnten oder länger an ganz klaren Plänen zur Vernichtung der Menschlichkeit systematisch arbeiten, aus welchen – undenkbaren! – Motiven auch immer? Wieder eine solche Undenkbarkeit.

Aber was sollten dann auch die Motive derjenigen sein, die solche Pläne verfolgen? Reicht die Annahme eines grenzenlosen Egoismus‘ aus, um Menschen zu Taten zu treiben, die in dem Maße zerstörerisch sind, wie es derzeit geschieht? Und wenn ja: wer oder was treibt die Menschen dann in diesen überbordenden Egoismus? Und was treibt diejenigen an, die diesem Egoismus dann irgendeine – welche auch immer – moralisch sich gebende Ideologie entgegenhalten: „Man muss doch, man kann doch nicht …“.

Doch, man muss offenbar, man kann auch. Das beweist ja einfach die Existenz derjenigen Menschen, die man da bekämpfen will. Daraus folgt zwingend, dass die Ideale, die man da verfolgt, eben nicht allgemeingültig sind, denn für die Bekämpften gelten sie ganz offenbar nicht. Solche Ideale bleiben eben auf der Ebene persönlichen Glaubens und Meinens – die Meinungsfreiheit ist doch ein hohes Gut, oder? Gewiss, das ist sie, aber sie wirkt real zur Zeit extrem sozial desintegrativ, vorsichtig ausgedrückt. Das wäre nur überwindbar, wenn es eine wirkliche Wahrheit gäbe, die für jeden Menschen nachvollziehbar wäre, und über die es daher keinen Streit geben könnte.

Aber das ist undenkbar! Eine Wahrheit? Die gibt es nicht! Höchstens kann durch Zwang und Unterwerfung, durch Manipulation und ähnliche Machenschaften der äußere Anschein der einen wirklichen Wahrheit einer Mehrheit der Menschen aufgedrückt werden. Die eine Wahrheit, die Wirklichkeit selbst, die gibt es nicht! Das steht fest, alles andere ist undenkbar!

Wer entscheidet?

So könnte man noch viele Dinge aufzählen, die von dieser oder jener Warte aus undenkbar sind: so böse, so inkompetent, verlogen, oder auch so gottgleich philanthropisch, so messiashaft gut etc. pp., wie es sich auf solchen Denkwegen ergibt, können die Menschen gar nicht sein, das ist undenkbar. Der „Great Reset“, die „Corona-Pandemie“ als Weg zur Menschheits-Versklavung, die wirre Politik mancher Regierungen als Ausdruck völliger Lebensfremdheit, und was es dergleichen an Zumutungen in der gegenwärtigen Auseinandersetzung noch mehr gibt, all das ist dann für große Menschengruppen einfach „undenkbar“ (und wird ihnen auch täglich so dargestellt), und muss daher aufs Schärfste bekämpft werden.

Der Richter, der all diese Dinge beurteilt, ist aber immer da zu suchen, wo etwas als „undenkbar“ dargestellt wird. Also bei demjenigen, der aus seinem Denken entscheidet, was für ihn „undenkbar“ ist. Und genau da liegt die Crux.

Genauso wie derjenige, der an die universelle Gültigkeit irgendeines Moralsystemes glaubt, in uralten, längst vergangenen gesellschaftlichen Verhältnissen, den uralten Theokratien offenbar hängen geblieben ist – die in weiten Teilen vollkommen moralfreie, rein nützlichkeitsbezogene und aus blindem Egoismus getriebene Handhabung der Macht hat solche alle Menschen umfassenden Moralcodice längst abgelöst –, genauso also ist der Wissenschaftler, der mit unbeugsamem Willen versucht, den Menschen und seine heutzutage unvermeidliche Subjektivität aus aller Erkenntnis auszuschließen (natürlich nur im Dienste der Wahrheit!), vollkommen in die Irre gegangen. Woher weiß denn dieser Wissenschaftler, was objektiv ist und was subjektiv? Ja, genau: aus seinem, seiner eigenen Ansicht nach ja ganz subjektiven Denken!

Das Undenkbare denken

Nein, eine Wahrheit kann man den Menschen heute nicht mehr von oben herab verkünden. Die müssen sie schon selber einsehen können. Das gilt auch für scheinbar unumstößliche Wahrheiten wie sogenannte „Grundrechte“. Wer deren Existenz nicht einsehen kann, achtet sie eben nicht. Das ist die ungeschminkte Wirklichkeit. Und wer nun meint, die Achtung für diese Grundrechte erzwingen zu müssen, z.B. auch für die menschliche Freiheit? Der zerstört sie genau mit diesem Anspruch.

Es bleibt kein anderer Weg, als immer genau gerade das „Undenkbare“ – denken zu lernen. Das heißt ja nicht, dass man das, was man da denken lernt, um es zu verstehen, nun auch gut und richtig finden muss. Aber ohne ein wirklich vorurteilsfreies Nachdenken gerade des scheinbar Undenkbaren entsteht kein wirkliches Verständnis für einander, und auch keine Möglichkeit, einen lebbaren Umgang mit einander zu finden. Wenn ich lerne, auch das für mein Urteil Fürchterliche zu denken, zu verstehen, dann komme ich der Wirklichkeit näher und baue an einer Grundlage für ein neues Zusammenleben auf dieser Erde.3

Leider ist diese Grundlage dann – horribile dictu!4 –für Viele eine ganz undenkbare, nämlich keine, da bloß geistig, und daher subjektiv und darum unwirklich. Echt jetzt? Ist es denn ganz undenkbar, dass der menschliche Geist eine wirksame Tatsache wäre und keine Einbildung? Ist die Freiheit des Menschen denn nur als egoistische Freiheit des Ungezügelt-Seins denkbar? Ist Freiheit nicht auch Voraussetzung wirklicher Liebe? Nein, das geht gar nicht?

Undenkbar!

© Stefan Carl em Huisken 2021

1 Was man nicht denken kann, nennt man heute „Verschwörungstheorie“

2Das Lied findet sich z.B. hier: https://www.youtube.com/watch?v=T1IDSzs1Ai8

3Vgl. meine Artikel Den Anderen nach-denken hilft und Der Spiegel des Individuellen – Den Anderen nach-denken II, zu finden unter https://emhuisken.de/uebersicht-beitraege-geisteswissenschaft/

4„Es ist schrecklich zu sagen“




Dämonisierte Zone „Corona“

Die Situation, in die die menschliche Gesellschaft derzeit geraten ist, scheint aussichtslos. Gespalten wie nie ziehen die Parteien übereinander her und bekriegen sich, ohne jede Aussicht auf Verständigung. Jede Seite betont die Schuld der anderen an dieser Situation. Immer ist es die andere Seite, die jede Einigung torpediert, indem sie nicht tut, was man ihr als Vorbedingung jeder Einigung vorschreiben möchte. Das ist die eigentlich gefährliche Seuche, eine „dämonisierte Zone“.

Corona-Gläubige und Corona-Leugner

Die Bezeichnungen, die die Opponenten einander geben, sprechen für sich. Die eine Seite („Gläubige“) weiß natürlich, dass sie recht hat und im Besitz der Wahrheit ist. Daher kann jeder, der dies nicht akzeptieren will, nur ein „Leugner“ sein, jemand, der Tatsachen einfach abstreitet. Und deswegen ist der Vorwurf, „gläubig“ zu sein, ein völlig infamer Angriff – man weiß doch um die Tatsachen. Und die andere Seite weiß eben die Wahrheit auch: dass sich nämlich bei aufrechtem Wahrheitsstreben alles anders darstellt als die andere Seite behauptet, und diese deswegen nur aus „Gläubigen“ bestehen kann. Notabene: Jede Seite befindet sich aus eigener Sicht im Besitz der Wahrheit, die aber der Wahrheit der anderen Seite entgegengesetzt ist.

Die inhaltlichen Argumente, mit denen da übereinander her gezogen wird, können an dieser Stelle beiseite gelassen werden. Wo es zwei Wahrheiten gibt, die sich unversöhnlich gegenüberstehen, nützt eine dritte wenig bis nichts. Einzig die Frage nach der Grundlage der „Wahrheiten“ beider Seiten kann vielleicht helfen, das beiden Seiten Gemeinsame ausfindig zu machen.

Was ist Wahrheit?

Als Wahrheit kann eigentlich nur dasjenige bezeichnet werden, was für jeden Menschen gleichermaßen bei entsprechender Bemühung als Tatsache erkennbar ist. Alles andere sind nur Teilwahrheiten, subjektives Für-wahr-Halten (also Glauben) und damit Grundlagen für einen handfesten Streit.

Nun ist seit Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ die Auffassung zur (fast) alleinherrschenden Lehre geworden, dass die wahre Wirklichkeit (bei Kant das „Ding an sich“) unerkennbar ist für den Menschen. Will man also etwas erkennen, bleibt nur die Möglichkeit, sich etwas über dieses „Ding an sich“ zu denken und dieses durch Beispiele, Belege, Experimente etc. möglichst plausibel zu machen. Wirkliches Wissen entsteht dadurch aber nicht. Es bleibt letztlich nur eines: an das Erdachte, an die so erläuterte Theorie also, zu glauben.

Das menschliche Erkennen unserer Zeit aus dieser Kalamität hinauszuführen, war Intention Rudolf Steiners. Ich habe Aspekte davon in diversen Beiträgen auf meiner Website und anderswo versucht zu verdeutlichen, unter anderem in „Wahrheit, Glaube, Weltanschauung – Wo ist Wirklichkeit?“ und „Was Not tut – Wohin führt die „Krise“?“. Die eingehenden, grundlegenden Darstellungen dazu finden sich bei Rudolf Steiner in seinen Schriften „Wahrheit und Wissenschaft“ und „Die Philosophie der Freiheit“. Darauf kann ich hier nur hinweisen.

Ohne Denken keine Wahrheit

Der Ansatz zur Suche nach der Wahrheit gelingt nur an der Stelle, die für alle Erkenntnis unverzichtbar ist: dem eigenen Denken. Ohne Klarheit darüber, wie das eigene Denken vonstatten geht und wie es in kontrollierte, bewußte Bahnen gebracht werden kann, ist ein Urteil über die Ergebnisse dieses Denkens nicht möglich.

Ganz ungeachtet der Frage, ob wir alles andere erkennen können oder nicht, steht eines für das Denken außer Frage: da wir es selber tun müssen, um es überhaupt untersuchen zu können („Denken über das Denken“), liegt es grundsätzlich in unserer Macht, es so zu lenken, wie wir es wollen. Wir können es, sonst könnten wir es gar nicht bemerken.

Gleichzeitig hat das „Denken über das Denken“ aber auch den Vorzug, dass dafür nichts anderes nötig ist, als das Denken selbst. Alle Voraussetzungen, die wir machen können, sind letztlich – erdacht. Und damit sind diese Voraussetzungen dann offensichtlich von uns selber so gewollt, ebenso wie die dadurch aufgerichteten Schranken für das Erkennen. Oder wir verzichten darauf, solche Voraussetzungen zu machen und versuchen energisch, das Denken nur aus sich selbst zu verstehen.

Das Problem kann an dieser Stelle nicht eingehend bearbeitet werden – allein die Identifizierung des Problems hilft aber im Gang der Darstellung an dieser Stelle weiter.

Wissen und Glauben

Man kann nämlich fragen, inwieweit die heute sich so unversöhnlich gegenüber stehenden Parteien der „Gläubigen“ und „Leugner“ im Irrtum sind, wenn sie davon ausgehen, selber die Wahrheit besser zu kennen als die andere Seite. Beide Seiten behaupten, auf der Grundlage gängiger wissenschaftlicher Modelle und Methoden der Wahrheitssuche zu arbeiten, und beide werfen jeweils der anderen Seite vor, dies nicht oder nicht ausreichend zu tun. Es ist offensichtlich: keiner hat tatsachlich Wahrheit.

Es ist ja kein Wunder, dass eine Einigung so kaum möglich erscheint. Die „Wahrheiten“ beider Seiten unterscheiden sich zu sehr, als dass auf der Ebene der jeweils für wahr gehaltenen Inhalte eine Annäherung möglich wäre. Das Problem liegt darin, wie die beiden Seiten denken, das heißt also auch, wer die einzelnen Akteure des Streites sind und wie sie urteilen. Das eigentliche Problem ist also weniger eines der Inhalte, als eines der Personen und ihrer Denkwege in Bezug auf die Wahrheit.

Person und Verhalten

Nun gehört es ja zu jedem einigermaßen eskalierten Streit, dass die Streitenden auch über die Person des jeweils anderen genauer Bescheid zu wissen vermeinen als der andere selbst. Das sorgt dann dafür, dass der Streit weiter eskaliert, denn es geht auch hier weiter um Inhalte. Jedenfalls macht man die unterstellte Persönlichkeitsstruktur des jeweils anderen zu einem solchen bestreitbaren Inhalt. Allein die Bezeichnungen, die für einander gewählt werden, machen dies deutlich.

Es kann aber niemand wirklich wissen, was auf welche Art und Weise Grundlage der Persönlichkeit des anderen ist. Wir haben als möglichen gemeinsamen Ausgangspunkt nur das dem jeweils anderen gezeigte Verhalten. Das läßt sich beschreiben, und Konsequenzen daraus lassen sich ableiten, auch immer so, dass dabei Interpretationen über mögliche Absichten vermieden werden können (vgl. dazu Dieter Brüll: Der Anthroposophische Sozialimpuls. – Schaffhausen, 1984).

„Bewußtseinslöcher“

Verweigert eine Seite das Gespräch, gibt also auch auf Fragen keine oder für die andere Seite unzureichende Auskunft über Gründe und Anlässe ihres Verhaltens, so sorgt sie dafür, dass auf der anderen Seite „Bewußtseinslöcher“ entstehen, Bereiche also, für die es nur Fragen gibt, aber keine Antworten. Solche „Bewußtseinslöcher“ sind dann Anlaß für Spekulationen, da ja die andere Seite sich das Verhalten nicht anders erklären kann. Und das eigene Verhalten dieser anderen Seite wird sich dann natürlich auch an diesen eigenen Spekulationen orientieren und dadurch dazu neigen, die Tatsachen entsprechend zu deuten.

„Bewußtseinslöcher“ zu schaffen ist daher eines der besten Mittel, Konflikte zu eskalieren, da hierdurch davon abgelenkt wird, die jeweils andere Seite wirklich zu verstehen. Es ist dies also ein Täuschungsmanöver, das den anderen in die Unsicherheit stößt und die eigenen Intentionen verschleiert. Dadurch wird eine Zone geschaffen, die keine der Konfliktparteien beherrscht, die aus dem Bewußtsein entschwindet. Wer darauf aus ist, Konflikte zu eskalieren, kann kein besseres Mittel verwenden. Genau dies kann dann wieder als Vorwurf verwendet werden und Anlaß sein, darüber zu spekulieren, warum jemand an der Eskalation des Konfliktes interessiert sein könnte. Die Sache gewinnt so mit ziemlicher Sicherheit „Fahrt“.

Gleichzeitig ist der Vorwurf an die andere Seite, auf diese Weise eskalierend zu agieren, der letztlich „ultimative“ Vorwurf, um den anderen zum endgültig „Bösen“ zu erklären. Wer „Bewußtseinslöcher“ schafft, will den Konflikt, interessiert sich gar nicht für meine Intentionen und Bemühungen und will mich nur beherrschen! So kann man dann den Vorwurf formulieren. Aber: ist der Wille des anderen ein wirklich von ihm selber ausgehender bewußter, freier Wille? Weiß ich wirklich, was den anderen bewegt? Oder ist das nur meine Spekulation?

Interesse

Das kann ich nicht wissen, solange ich ihn nicht mit wirklichem Interesse danach frage, welche Beweggründe der „Gegner“ hat, und sein Antwortverhalten genau und unvoreingenommen beobachte. Das würde aber einschließen, dass ich meine eigenen Meinungen und Ansichten nicht von vornherein als seinen überlegen ansehe. Denn wirkliches Interesse setzt voraus, dass ich zunächst ohne Vorurteile versuche zu verstehen, was der andere mir sagt. Ich muß also mindestens als möglich ansehen, dass die Aussagen des anderen mich überzeugen.

Wirkliches Interesse scheinen mir heutzutage beide einander bekämpfende Seiten nicht für einander zu entwickeln. Jeder beurteilt das Verhalten des anderen nach seinen eigenen Gesichtspunkten. Und die scheinen sehr verschieden, so verschieden wie die möglichen Haltungen zum Geschehen.

Handelt der eine danach, was er eben denjenigen Wissenschaftlern glaubt, zu denen er – aus welchen Gründen auch immer – Vertrauen hat, und interessiert sich dabei eigentlich gar nicht besonders für die wissenschaftlichen Grundlagen von deren Aussagen, sondern für Handlungsanleitungen, so kann der andere von moralischen Gesichtspunkten ausgehen, die er für alle Wissenschaft als notwendig ansieht, und die er eben im Verhalten der anderen Seite verletzt sieht. Kurzum: der Streit ist sofort wieder auf der inhaltlichen Ebene, der Frage nach der „Wahrheit“ heutiger „Wissenschaft“, die redlicherweise – wie gezeigt wurde – niemals die wirkliche Wahrheit für sich beanspruchen kann.

Der Täuscher

Naturlich kann derjenige, der sich von seinen Vertrauens-Wissenschaftlern leiten läßt, getäuscht werden. Die Folge wird dann sein, dass diejenigen, die die Täuschung darin vermeinen zu erkennen, sofort dagegen halten und beginnen, dem jeweils anderen bewußte Täuschung zu unterstellen – aus welchen Gründen denn auch immer. Und schon ist der Konflikt losgetreten.

Was dabei aber vergessen wird: Beide Seiten denken über die ihnen erscheinenden Tatsachen. Sie denken nur unterschiedlich. Aber da sich beide Seiten nicht bewußt machen, dass ihr eigenes Denken es ist, was ihre Welt- und Menschenauffassung bestimmt, und daher der andere in genau derselben Situation ist, streiten sie sich über Inhalte und versuchen nicht, die Denkwege des jeweils anderen soweit mit zu gehen, dass sie einander verstehen lernen können.

Die eigentliche Täuschung liegt darum nicht im Inhaltlichen, da also, wo vielleicht eine Seite sich von irgendwelchen als wissenschaftlich deklarierten Meinungen verleiten und täuschen läßt und die andere ihre Wahrheits-Moral absolut setzt, sondern vielmehr in der Tatsache, dass beide Seiten sich nicht darüber im Klaren sind, dass es hier offenbar einen dritten Akteur gibt, der die Szenerie beherrscht.

Der dritte Akteur

Dieser dritte Akteur ist auch schwierig zu erkennen, und für Menschen, die „Denken“, „Bewußtsein“ und „Wollen“ eigentlich nur in Bezug auf Menschen für relevant halten, eigentlich unerkennbar – das ist seine Stärke, durch die er überall, wo er auftritt, sofort Zwietracht hervorruft und so dafür sorgen kann, dass niemand ihn bemerkt: man ist zu sehr mit sich selber beschäftigt.

Wer aber zumindest einmal versuchsweise die heute ja „herrschende Lehre“ vom Menschen als einer gewissen Menge strukturierter organischer Masse, die aus mehr zufälligen oder abstrakt-naturgesetzlichen Gründen in sich die Illusion einer selbständigen Wesenheit hervorruft, beiseite legen kann, kommt hier entscheidende Schritte weiter. Es liegt ja auch auf der Hand: die gerade charakterisierte Auffassung vom Menschen ist mittels Denken entstanden und setzt dieses voraus. Alles Begreifen setzt das Denken voraus. Das bedeutet aber auch, dass der denkende Mensch zunächst ein Denkwesen ist, und alle weiteren Aussagen auch über sich selbst nur auf dieser Grundlage treffen kann.

Damit ist aber der äußere Leib des Menschen nicht die Voraussetzung seiner Existenz schlechthin, sondern nur die Voraussetzung seiner Existenz in der sinnlich wahrgenommenen Welt und damit selber eine Wahrnehmung, über die man sich nur mittels den Denkens Erkenntnisse verschaffen kann. Der Mensch ist also Denkwesen, oder – um es für den üblichen Sprachgebrauch handlicher zu sagen – ein Geistwesen, das durch einen Leib in der Sinneswelt lebt. Damit werden aber auch Geistwesen denkbar, die keinen äußeren Leib haben, nicht sinnlich faßbar sind, und dem Menschen daher nur in seinem Inneren, im Denken, Fühlen und Wollen begegnen können.

Solche Geistwesen, die nur durch die Seelentätigkeiten des Menschen in die Menschen-Welt hineinwirken können, nannten die Griechen „Dämon“. Man kann die Konfliktzone, die von einem solchen Wesen regiert wird, darum „dämonisierte Zone“ nennen, ein Ausdruck, den der anthroposophische Konfliktforscher und Konfliktberater Friedrich Glasl prägte. Einen treffenderen Ausdrück sehe ich für das aktuell weltbeherrschende Konfliktfeld nicht (vgl. Friedrich Glasl: Konfliktmanagement. Bern; Stuttgart: 2002, darin v.a. Kap. 2.2, 8.4 und 10.5). Der Konflikt ist völlig entgleist, und keine der Konfliktparteien kann ihn noch aus sich selbst beherrschen.

Weltherrscher

Wer bis hierher hat folgen können, wird leicht einsehen, dass dieser dritte Akteur – der im Übrigen nur durch das Denken auffindbar ist – in beiden Parteien der Menschen wirkt, die sich derzeitig „bekriegen“ („Wir sind im Krieg“, sagte Macron zu Beginn der sogenannten Corona-Krise), und dadurch derzeit die Welt beherrscht. Er verleitet die eine Seite, meist repräsentiert durch dei staatlichen Regierungen, sich von Wissenschaftlern leiten zu lassen, die möglicherweise selber gar nicht wissen, inwieweit sie von irgendwelchen anderen Interessen beeinflußt sind, und inwieweit sie in ihrer Art, Wissenschaft zu betreiben, die keine Wahrheit liefert, von den Einflüsterungen des dritten Akteurs geprägt sind.

Wer Wissenschaft als Mittel ansieht, die Welt möglichst weitgehend den eigenen Interessen nutzbar zu machen, wird nichts Anrüchiges daran finden, deren Ergebnisse einfach zu nutzen und nicht weiter zu fragen. Er lebt gewissermaßen instinktiv eine Art Egoismus aus, ohne Verständnis dafür, wie zerstörerisch das wirken kann. Dabei wird er allerdings nicht darauf aufmerksam, wie der „Täuscher“ schon in der ausschließlichen Orientierung auf die Wissenschafts-Inhalte und im Unberücksichtigt-Lassen der Rolle des Denkens wirkt.

Wer andere Inhalte in den Vordergrund stellt, gemäß seiner Auffassung von Wissenschaft, die seinem eher moralgeprägten Welt- und Menschenbild besser entspricht, der wird das Verhalten des anderen als unverzeihlich ansehen, als unmoralisch und schädlich. Aber er stellt damit seine Weltsicht über die des anderen, gebärdet sich ebenso als Egoist.

Glaubt der eine an den Nutzen von Wissenschaft zum Umgang mit der Welt und sieht darin ihren Zweck erschöpft, stellt der andere seinen Glauben an die Notwendigkeit und Gültigkeit bestimmter moralischer Systeme in den Vordergrund, die er für unverzichtbar hält. Beide scheinen in der Welt unversöhnlich. Beide vergessen jedoch die Tatsachen gleichermaßen: beide sind doch vorhanden, also unbestreitbar tatsächlich vorhandene Menschen. Und diese tatsächlich vorhandenen Menschen müssen Wege finden, miteinander auszukommen, ohne den jeweils anderen zum „Unmenschen“ zu erklären. Das kann nur gelingen, wenn die Rolle des Denkens beim Entstehen jeder Weltanschauung berücksichtigt wird. Im Denken liegt das Verbindende (vgl. Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit. – Dornach, 1973, S. 165 f).

Wahrheit wächst nur gemeinsam

Was not tut, wenn man die derzeitige Situation einer Heilung zuführen will, ist also weder besondere Handfertigkeit im Nutzen von wissenschaftlichen Ergebnissen noch die Einigung auf ein irgendwie übergeordnetes Moralsystem. Notwendig ist vielmehr die Abkehr vom Glauben an Weltanschauungen – eigene und fremde – und die gemeinsame Bemühung, die Tatsachen hinzunehmen und zu verstehen. Und diese Tatsachen sind eben

  • die Notwendigkeit des „Denkens über das Denken“, um die Bedeutung des Gedachten beurteilen zu können
  • die Existenz eines nicht sinnlich wahrnehmbaren „dritten Akteurs“,der vor allem durch die Täuschung wirkt, und dem Menschen die Wahrheit verschleiert, auch und vor allem die Wahrheit des Denkens und damit seiner selbst
  • nützlichkeitsorientierter ebenso wie die moralorientierter Hochmut und Egoismus, die beide nur entstehen, weil das Wirken des Täuschers nicht gesehen wird
  • jeder individuelle Mensch, der unabhängig von seiner Weltsicht, Verführtheit oder Selbständigkeit doch immer Mensch ist und bleibt und als solcher Tatsache ist.

Erkenntnis der Wahrheit kann also nur entstehen, wenn gemeinsam, ausgehend von der für jeden gleichen Situation beim „Denken über das Denken“ daran gearbeitet wird. Da wird vor allem die Wirksamkeit des „dritten Akteurs“, des „Täuschers“ einer ausführlichen Betrachtung unterzogen werden müssen, denn er ist es, der die Menschheit in die Entzweiung treibt, der das Prinzip von „teile und herrsche“ zur Geltung bringt. Er ist sozusagen der „gemeinsame Feind“ der Parteien, der aber selber auch nur überwunden werden kann, indem man ihn nicht zum neuen, vielleicht sogar gemeinsamen „Gegner“ macht, sondern die von ihm beherrschte „dämonisierte Zone“ mit Bewußtsein durchdringt, und ihn nach und nach verstehen lernt.

Eine Art Fazit

Gewiß, man kann sagen, das sei alles bloß erdacht. Ist es ja auch, und gerade deswegen ist es eine Wirklichkeit. Wer fest dabei verharrt, dass es „Akteure“ nur als Wesen aus Fleisch und Blut geben könne, der wird in dem Hinweis auf den „dritten Akteur“ wenig finden können. Selbst wenn man noch zugeben kann, dass so ein Wesen ja von den Menschen subjektiv konstruiert werden kann, um sich die Welt zu erklären und dabei nicht nur tote Naturgesetze aufzustellen, wird man allerdings der Sache nicht gerecht.

Wer Menschen täuschen kann über ihre eigenen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, der Wahrheit nahe zu kommen, wer dies gekonnt nutzt, um die Menschen in Parteien zu zerspalten, so dass sie dabei den Spalter übersehen, und wer den Menschen gerade dadurch die Möglichkeit rauben will, eine Zukunft zu erbauen, die sie selber wollen können, der ist mehr als nur eine Ansammlung toter Gesetzmäßigkeiten.

Und er lenkt den Menschen gerade von dem ab, was ihm am nowendigsten ist: von dem Blick auf die eigene Geistnatur und die damit gegebene Möglichkeit, als Geistwesen unter Geistwesen leben zu lernen. Das ist, was ich all denjenigen zurufen möchte, die weiterhin darauf aus sind, einander zu bekriegen und vor allem die eigene Weltsicht über die des jeweils anderen zu stellen.

Alle Krisen der neueren Zeit lassen sich darauf zurückführen, dass die Menschen nicht bereit sind, aus ihrem unmittelbar-naiven irdischen Erleben bewußt und durch selbst kontrollierte eigene Bemühung im Denken zu einer Erweiterung ihrer Lebens- und Erkenntnismöglichkeiten aufzusteigen. Wer sich nicht bereit macht, für die eigene Zukunft als Geistwesen (das endet ja nicht mit dem Ablegen des Leibes) sich auch einzusetzen, wird diese Zukunft vermutlich nicht haben können; sie entsteht ja nur aus dem bewußten und gewollten Zusammenwirken der tatsächlichen, denkenden Menschen.




Wahrheit, Glaube, Weltanschauung – Wo ist Wirklichkeit?

Die „wahre Wirklichkeit“ kennen wir nicht mehr. Wir können darüber nur spekulieren und Wahrscheinlichkeiten bestimmen. Wie finden wir wieder Wahrheit? Eine Frage, die uns gerade jetzt unter den Nägeln brennen sollte.

Welt-Anschauung

Die Dinge gehen heute ineinander über. Wir nehmen etwas wahr, indem wir es ergreifen mit den uns zur Verfügung stehenden äußeren (sinnlichen) und inneren (seelischen) Mitteln. Was wir wahrnehmen, ist notwendig und unabänderlich für jeden Menschen einzigartig, und immer verschieden vom Wahrnehmungsbereich jedes anderen Menschen. Es kann eben niemand genau die inneren und äußeren Wahrnehmungen eines anderen Menschen haben.

Außerdem hat jeder seine eigene Art, das Wahrgenommene anzuschauen. Die ist ebenso individuell, denn sie ist aufgrund des individuellen Werdeganges anhand der vergangenen, sich ständig ändernden Wahrnehmungen geworden, hat sich daran herangebildet. Da schon der ganze Kreis der aktuellen Wahrnehmungen in jedem Augenblick individuell und mit dem keines anderen Menschen völlig übereinstimmend ist, gilt dies natürlich erst recht für die Folgen der vergangenen Wahrnehmungen, unsere Weltanschauung nämlich, die daran im Laufe der Zeit heranreift. „Weltanschauung“ ist hier ganz wörtlich gemeint als die Art, die Welt anzuschauen, als der Beitrag des Einzelnen also zum Aufbau eines gegliederten Ganzen auf der Grundlage der inneren und äußeren Wahrnehmungen.

Da nun dasjenige selbst, was uns zu den Wahrnehmungen verhilft, sie erst ermöglicht, für uns nicht unmittelbar und vollständig zum Kreise der Wahrnehmungen gehört – wir nehmen ja an einem Vogel zum Beispiel nicht unmittelbar wahr, was dieses Tier auf welche Art und Weise so konfiguriert hat, wie es uns jetzt in der Wahrnehmung entgegentritt, und wie unsere eigene (Sinnes-)Organisation daran mitwirkt – sind wir zur Erklärung darauf angewiesen, von uns selbst aus durch unser Denken den Wahrnehmungen einen Zusammenhang beizulegen. Dies tun wir aus unserer mehr oder weniger entwickelten Welt-Anschauung heraus. Ob dieser Zusammenhang gänzlich neu von uns selbst erdacht ist, oder anders, zum Beispiel durch Nachdenken von mitgeteilten Gedanken anderer in uns vorhanden ist, spielt zunächst keine Rolle. Ich muss immer die die Erklärung selber durch mein Denken mit den Wahrnehmungen verbinden.

Wahrscheinlichkeit

Nun stellt sich hier ein Problem: ob nämlich der von mir den Wahrnehmungen beigelegte Zusammenhang den Tatsachen entspricht, kann ich zu keinem Zeitpunkt zweifelsfrei feststellen. Die Tatsachen (oder sind es Wesen?), die den Wahrnehmungen zugrunde liegen, nehme ich ja nicht unmittelbar vollständig wahr, habe also keinen Maßstab, die Tatsachentreue meiner Erklärungen zweifelsfrei zu überprüfen. So bleibt zunächst alles im Bereich von mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit. Wie das Wort schon sagt: es scheint alles mehr oder weniger wahr. Es ist aber keine Wahrheit.

Wahrhaftige wissenschaftliche Tätigkeit der heutigen Zeit wird immer damit rechnen, dass sie über die eigentlichen Tatsachen der Wahrnehmungswelt in der Regel nur Wahrscheinlichkeiten feststellen kann. Diese Feststellung selbst allerdings – dass wir in der Regel über den Zusammenhang der Welterscheinungen nur Wahrscheinlichkeiten konstatieren können – ist eine Ausnahme-Tatsache. Denn sie kann sich jeder Mensch gleichermaßen selber aufgrund der vorangegangenen Betrachtungen klarmachen. Ihre Wirklichkeit braucht zu ihrer Bestätigung nichts außer sich selbst. Wir werden darauf zurückkommen.

Bei allen anderen Dingen haben wir zunächst nur Wahrscheinlichkeiten. Da wir aber im Alltag mit den Dingen der Welt umgehen wollen und müssen, glauben wir einfach daran, dass die aus unserer Welt-Anschauung entstandene Erklärung der wirklichen Wahrheit schon genügend nahekommt. Für den Alltag reicht dies in den meisten auch Fällen aus. Die eigentlich den Wahrnehmungen zugrundeliegenden (uns ja noch unbekannten) Tatsachen und Wesen geraten dabei in Vergessenheit, und der Glaube, in dem von uns Erlebten und Angeschauten die ganze Wirklichkeit zu haben, wird immer mächtiger. Es bleibt aber ja dabei: diese Wirklichkeit ist eine geglaubte, keine tatsächliche. Mit solchem Glauben leben wir also in etwas, was nicht wahr ist, in einer Lüge also, einer Lebenslüge.

Darin liegt aber der Grund für unsere Angreifbarkeit, für Verunsicherung, Streit und Machtstreben. Wer nicht sicher weiß, gerät sofort in Gefahr, aus seiner Bahn geworfen zu werden, wenn ihm etwas begegnet, was seiner geglaubten Welt-Anschauung widerspricht. Darauf kann man nun unterschiedlich reagieren. Wer ernsthaft nach der ganzen Wahrheit sucht, wird in jeder Infragestellung seines eigenen Weltbildes (des jeweils aktuellen Ergebnisses seiner gewordenen Welt-Anschauung) eine Gelegenheit sehen, sich weiter zu entwickeln und der wirklichen Wahrheit näher zu kommen. Nicht jeder hat allerdings die innere Kraft dazu, seine eigene Weltanschauung dauernd in Frage zu stellen, mit allen Konsequenzen, die sich daran knüpfen. Sind doch in die Bildung der eigenen Weltanschauung auch die eigenen Taten – einschließlich eventueller Irrtümer – mit eingeflossen. Die möglichen Alternativen zu einer solchen unvoreingenommenen Auseinandersetzung mit dem verunsichernden Neuen sind aber wenige: im Wesentlichen sind es Unterordnung unter das Neue, Fremde oder der Kampf dagegen.

Das Neue – „Corona“

Und genau das erleben wir zur Zeit: uns begegnet ein Neues, Unerwartetes unter dem Namen der „Corona“ (hier sind alle Aspekte gemeint, einschließlich der davon angeregten Handlungen der Menschen). Die Handhabung der Sache durch die öffentlichen Stellen einschließlich der Medien ist so, dass eine offene Auseinandersetzung unmöglich gemacht wird. Von der offiziell favorisierten abweichende wissenschaftliche Auffassungen („Welt-Anschauungen“) bleiben weitestgehend unberücksichtigt, so dass – auf dieser Ebene betrachtet – wirklich nur Gehorchen oder Kampf bleibt. Die Verweigerung jeder offenen Auseinandersetzung zwingt förmlich dazu und öffnet einen Raum für alle möglichen Dämonisierungen.

Und schon hat uns die Wahrnehmungswelt ein weiteres Mal getäuscht. Nicht nur, dass wir eine solche Situation, wie wir sie erleben, nicht erwartet hätten, sie uns also gleichsam „überrollt“ hat und wir Mühe haben, sie unserer Weltanschauung einzuverleiben; was uns hier erscheint will uns auch dazu bringen so oder so Stellung zu beziehen, zur Partei zu werden also. Denn alle Seiten berufen sich in ihren Darlegungen auf die Autorität der „Wissenschaft“ – aber immer bestimmte Ergebnisse oder Verfahrensweisen, die man entsprechend der eigenen Auffassung von dieser „Wissenschaft“ und ihren Aufgaben geltend macht. Die einzige Aussage, die im hier dargelegten Gedankengang eine sichere genannt werden kann – dass nämlich alle aus dem heutigen gewöhnlichen Bewußtsein hervorgehenden Welt-Anschauungen nur Wahrscheinlichkeiten geben – wird dabei unberücksichtigt gelassen.

Lässt man sich auf diese letzte Aussage wirklich ein, so erscheinen die Fraktionen, die sich der Sache gegenüber – der „Corona“ also – bilden, nur als Ergebnisse einer einzigen Tendenz: die Menschen zu spalten, in möglichst viele verschiedene Parteien. Das lenkt davon ab, was als Tatsache eigentlich offensichtlich ist, dass nämlich alle Parteien gleichermaßen die Wahrheit nicht kennen, nur Wahrscheinlichkeiten, und in der Folge ganz generell die Bereitschaft gering ist, in systematischer und ernsthafter Zusammenarbeit die Quelle für die „wahre Wirklichkeit“ zu suchen.

Das wäre ja die Frage nach dem Ausgangspunkt jener ersten, für alle Menschen gültigen Feststellung über die Endlichkeit und Unvollständigkeit jeder individuellen Welt-Anschauung. Wie kommt man eigentlich darauf? Wenn diese Einsicht für jeden Menschen gleichermaßen möglich ist, liegt doch gerade darin ein universelles Element, in dem der Keim gesucht werden könnte zu einer neuen, für jeden Menschen gleichermaßen zugänglichen Wahrheit jenseits der ansonsten unvermeidlichen Unterschiede in den Welt-Anschauungen und Welt-Bildern.

Jedes im Alltag vielleicht unvermeidliche Partei-Ergreifen lenkt ab von der Konzentration auf diesen, das Ganze in den Blick nehmenden Gesichtspunkt, von dem aus alle Menschen einerseits als (im Alltag) unfreie, gezwungene Darsteller im Rahmen einer weltweiten Inszenierung von Vereinzelung und Spaltung erscheinen können, andererseits jeder Einzelne zugleich zum Träger eines universellen Versöhnungsimpulses werden kann. Dafür braucht es aber ein Erwachen.

Erwachen

Dieses Erwachen bezieht sich auf den Kern jeder individuellen Weltanschauung, das menschliche Individuum selbst, das ICH. Durch dieses ICH und seine Tätigkeit erst wird aus den ungeordneten Wahrnehmungen eine Welt-Anschauung. Gewiss, wir machen uns allerlei Vorstellungen davon, was dieses unser ICH sei, allerdings: jede Vorstellung davon, wenn sie mir ins Bewußtsein dringt, ist bereits eine (innere) Wahrnehmung, ein „Etwas“, und trägt ihren Entwicklungsgrund nicht als wahrnehmbaren Anteil in sich. Den Aufbau einer solchen Vorstellung durchleben wir zwar, wissen also um unsere Beteiligung. Das ist aber unsere Betätigung, das eigene Tun, von dem wir erst das Ergebnis – die ICH-Vorstellung – als innere Wahrnehmung ins Bewußtsein bekommen. Derjenige, der dann diese Vorstellung denkend ergreift, ist bereits ein anderer als ihr Hervorbringer. Denn er ist Betrachter eines Gewordenen, nicht dessen schaffender Hervorbringer..

Insofern müssen wir also einsehen, dass wir als Denker, als Wahrnehmer für uns selber nicht wahrnehmbar sind. Für unsere Wahrnehmung sind wir sozusagen ein NICHTS. Was wir als Vorstellung hervorbringen, können wir erst im Nachhinein anhand des Ergebnisses erkennen, das Hervorbringen selbst erleben wir, durchleben wir im eigenen Tun, ohne es zunächst wahrnehmen zu können.

So kann uns das Erwachen für die eigene Unfähigkeit, die wirkliche Wahrheit als Ganze zu erkennen, zu einem Erwachen für ein Zweites führen: dass es nämlich außer der uns gegebenen Welt äußerer (sinnlicher) und innerer (seelischer) Wahrnehmungen eine zweite Welt fortwährenden lebendigen Hervorbringens gibt, deren ständig mitwirkendes Glied wir selber in unserem ICH sind. In dieser zweiten, zunächst nur wie im Negativ aufscheinenden Welt der schaffenden Ursachen sind wir vereint mit allen ebenfalls schaffenden Ur-Sachen und -Wesen der gegebenen Wahrnehmungswelt.

Schaffende Ur-Sachen

Diese Welt der schaffenden Ursachen ist nicht darauf angewiesen, dass jedes dort vorkommende Wesen auch einen eigenen, abgrenzbaren (sinnlichen oder seelischen!) „Leib“ in der Wahrnehmungswelt hat, durch den es wirken kann. Was in der Wahrnehmung auftaucht als abgrenzbarer „Erscheinungs-Leib“, kann durch Zusammenfließen verschiedener Ur-Sachen entstehen, die ansonsten, für sich genommen, unwahrnehmbar wären.

Ein Beispiel: Damit für einen Betrachter die Wahrnehmung eines Regenbogens entsteht, müssen vielerlei Einflüsse zusammenwirken: das scheinende Sonnenlicht (das für uns ja immer nur dann wahrnehmbar wird, wenn es auf etwas auftrifft, von dem es reflektiert wird), das Vorhandensein von Wassertropfen in der Luft, und vor allem ein besonderes räumliches Verhältnis von Lichtquelle, Wassertropfen und Betrachter zueinander – um nur einige wichtige Einflüsse zu nennen. Welche Ursachen, welche schaffenden Wesen haben all diese Verhältnisse so zusammengeführt dass im Betrachter die Wahrnehmung des Regenbogens entsteht? Selbst schwer ergründbare Fragen des individuellen Schicksalsverlaufes des Betrachters können hier eine Rolle spielen, seine eigenen, wirkenden Willensimpulse und ihre Quellen ebenso wie prinzipiell naturgesetzlich erklärbare Tatsachen der Sinnenwelt. Ein ganzes Kompendium zunächst unwahrnehmbarer Einflüsse bringt also im konkreten Leben die zusammenhängende, abgrenzbare Erscheinung – den „Leib“ – eines Regenbogens für einen Betrachter zustande.

Der Versuch, dies alles durch Berechnungen und Überlegungen im Sinne der Bestimmung von Wahrscheinlichkeiten zu einem glaubwürdigen Welt-Bild zusammen zu fügen, wäre heillos zum Scheitern verurteilt.

Das Wissen aber davon, dass die einzelne Wahrnehmung aus einer Welt der schaffenden Ursachen hervorgeht, deren erlebender Teil jeder Mensch durch sein ICH ist, kann uns den Weg weisen zu der Frage, wie uns diese Welt schaffender Ur-Sachen selbst ins Bewußtsein treten kann. Dann wären wir nicht mehr auf Spekulationen und Wahrscheinlichkeiten angewiesen, sondern könnten erkennend in der Wahrheit leben. Derjenigen Wahrheit im Übrigen, die durch ihren allen Menschen eigenen universellen Quell prinzipiell jedem Menschen offensteht, und aus der darum heilender Einfluss auf die ansonsten leicht in Widerstreit geratenden Welt-Anschauungen hervorgehen kann.

Auf diese „wahre Wirklichkeit“ oder „wirkliche Wahrheit“ weist Rudolf Steiner hin, wenn er vom „Denken“, der „Intuition“ oder der „geistigen Welt“ spricht.

Geistige Welt

In der geistigen Welt leben wir alle also ununterbrochen, durch unser Denken, unser Wollen, aber wir sind uns dessen nur in Ausnahmefällen bewußt. Sie erkennend zu betreten ist, was der heutigen Menschheit fehlt, um die immer schärfer aufflammenden Gegensätze zwischen den Menschen mit ihren je eigenen Welt-Anschauungen kontrollieren und heilen zu lernen.

Dieses Betreten der geistigen Welt kann – wenn es wirklich heilsam wirken soll – in der heutigen Zeit nur so vonstatten gehen, dass alle damit verbundenen Tatsachen und Vorgänge offen zutage treten und für jeden Menschen im Grundsatz nachvollziehbar sind. Es kann also nur auf dem Wege einer wirklichen Geisteswissenschaft geschehen. Diese Wissenschaft gibt es seit dem Wirken Rudolf Steiners, sie ist veröffentlicht und damit für jeden Menschen zugänglich, der dies will.

Begegnung mit dem Teufel

Wir tun gut daran, nicht zu vergessen, dass wir zum Erwachen für die geistige Welt geführt werden durch das beherrschende Auftreten des Zerstörerischen, Spaltenden, Zersplitternden. Insofern ist unser Erwachen auch „von des Teufels Gnaden“*. Dafür ist er uns gesandt. Ihn nur zu „beseitigen“ – kann man überhaupt zerstören, wessen Wesen die Zerstörung selbst ist, kann die Zerstörung also durch uns sich selbst vernichten, oder wäre dies nur ein „Vergessen“, ein Aus-dem-Bewusstsein-schaffen? – ihn also wegschaffen zu wollen, wäre keine Heilung. Dieser „Teufel“ muß überwunden werden, erlöst von dem Zwang zur Vernichtung. Dazu müssen wir ihn kennenlernen, ihm furchtlos entgegentreten, mit ihm umgehen lernen.

Dieser „Teufel“ kann so zu dem ersten rein geistigen Wesen werden, das in unserem Bewußtsein Gestalt annimmt. Die Wirkungen, die er durch die Menschen in die Welt setzt, können uns dadurch nach und nach erklärlich und handhabbar werden.

Das Erwachen führt uns daher zu ernsten Aufgaben. Wie wir darin bestehen, wird entscheidend sein dafür, ob aus der aktuellen Zersplitterung der Menschheit ein neuer, heilender Impuls hervorgehen kann.


Fürchte einzig des Dämons Lächeln,
Des Verfälschers tröstliche Glätte,
Des Lügners einleuchtende Wahrheiten,
Des Mörders Lebensklugheit,
Des Verräters daseinsbezwingende List,
Des Verleumders exakte Wissenschaft.

Fürchte nur des Dämons
Uralt unerkannte Gottähnlichkeit,
Die strahlende Maske,
Vielen tödlich.

Und fürchte ihn nicht!
Blick ihm ruhig ins trauernde Antlitz:
Von kalten Blitzen entzündet,
Gefurcht von Verachtung der Feigen,
Von Haß zerstört gegen
Einen ihm schweigenden Gott –
Blick ihm ruhig ins versteinerte Aug,
Immer steht er neben Dir.

Nicht schenkte ein Gott Dir sein Blut,
Daß in Furcht du erstarrst,
Leuchte dem Dämon zu späterer Erlösung,
Da er trug auch Dich,
Als Du ihm ähnlich warst.
Nun hilf ihm.

(Helmut Siegfried Unbehoven)


* Das Wort „Teufel“ hat den gleichen Ursprung wie der „Zweifel“, der alles in (mindestens) zwei zerfallen läßt.

© (außer abschließendes Gedicht) Stefan Carl em Huisken 2020




Was Not tut – Wohin führt die „Krise“?

Schärfer noch als bei allen vorangegangenen spaltet die derzeitige „Krise“ die Menschheit in Fraktionen auf, die sich immer erbitterter bekämpfen. Jede Seite will siegen – das Antisoziale überwiegt. Wie aber Wege zur Verständigung, zu einem gemeinsamen, freien sozialen Wollen finden? Ein Denkansatz.

Gespaltene Menschheit

Die Menschheit ist heutzutage gespalten: in Parteien, Fraktionen, Meinungen – bis hin zu den einzelnen Individuen. Jede „Krise“, jedes gemeinsame Problem bringt dies neu und immer stärker ins Bewußtsein. Das kann nicht anders sein, denn jeder Mensch will frei sein, frei denken und meinen. Es ist das ein gewisser antisozialer Zug in der heutigen Menschheit. Aber wie dann – so zerspalten – zusammenleben auf dieser einen Erde, die doch endlich ist, wo jeder mit jedem und alles mit allem zusammenhängt, wo alles, was der eine tut, den anderen auch betrifft?

Jede Meinung hat ihre Gründe, gute, weniger gute, schreckliche, wunderbare – ganz gleich, sie hat Gründe. Wer kann sich da aufschwingen und behaupten, er wisse alles besser als alle anderen, die eigenen Gründe seien die besten? Natürlich, es gibt Menschen, die das wollen. Aber was sie da wollen, trifft die Wahrheit nicht. Die anderen Meinungen bleiben ja vorhanden. Und das ist auch gut so. Denn Leben ergibt sich nur aus Verschiedenheit. Verschiedenheit erwirkt Widerstände, und aus Widerständen folgt Entwicklung, also Leben. Wären alle gleich, so gäbe es keine Entwicklung. Die Spaltung hat also auch einen Sinn

Kann man vielleicht tiefer fragen, um einer Antwort näher zu kommen?

Wissenschaft und/oder Wahrheit

Angenommen, es handele sich heute wirklich um eine extrem gefährliche Krankheit, die Millionen Menschen droht auszulöschen. Warum kommt sie dann gerade jetzt über die Menschheit? Wer bringt gerade jetzt zum Beispiel Regierende auf den Gedanken, sie müssten die Menschheit mit Angst überziehen, alternativlos? Warum dies gerade jetzt, und in dieser Form? Schließlich gab es auch vorher schon Krankheiten, Epidemien, Pandemien. Es wäre doch auch möglich, dass eine Mehrheit der Regierenden in einer solchen Situation andere Konzepte ersinnt? Oder, wenn man meint, die Sache wäre zentral geplant und gesteuert: warum wollen dann die mehr oder weniger unerkannten „Weltenlenker“ diese Sache gerade jetzt, in dieser Form? Wer gibt diesen Menschen gerade jetzt die Motive ein, die sie zu ihrem derzeitigen Handeln veranlassen? Welche Motive das sind, können wir ja nicht wissen, nur vermuten.

Das bringt uns auf des Pudels Kern, finde ich. Wir wissen einfach zu wenig von der Welt und dem Menschen. Wir haben nur Theorien, das heißt, wir unterstellen der Wirklichkeit, dass sie so wäre, wie wir uns das denken. Genauso unterstellen wir auch anderen Menschen, dass sie so seien, wie wir uns das denken. Was sollen wir auch tun, wenn wir doch nichts anderes zu Hand haben, um die Wahrheit zu finden?

Hier ist wohl eine Klarstellung nötig. Natürlich behaupten Wissenschaftler der verschiedensten Richtungen, dass sie die Wahrheit wüssten. Wenn es ihnen aber nicht möglich ist, mir das erlebbar zu machen, bin ich immer auf blinden Glauben angewiesen. Und der kann täuschen. Vielleicht täuschen diese Wissenschaftler sogar sich selber, glauben ihren eigenen Theorien, einfach, weil sie die Unsicherheit nicht ertragen, nicht zu wissen, nur Hypothesen und Wahrscheinlichkeiten zu haben und damit niemals die Wahrheit.

Die Spitzenkönner der heutigen Wissenschaft allerdings haben dies immer zugegeben: wir wissen nicht, wir können nur vermuten, und letztlich das für uns Plausibelste dann eben glauben. Man lese als ein hervorragendes Beispiel einmal Stephen Hawkings „Eine kurze Geschichte der Zeit“ (1). Die Wahrheit weiß eben keiner dieser Wissenschaftler, und – natürlich – wir kleine Dilettanten dann auch nicht. Was gibt uns also das Recht, unseren Glauben über den der anderen zu stellen? Und wenn wir das nicht finden können, ein solches Recht, wie soll dann jemals sinnvolles Zusammenleben der Menschen möglich werden, bei den Gegensätzen, die sich immer tiefer und immer öfter auftun?

Fazit: was heutzutage als „Wissenschaft“ auftritt, hilft nicht weiter. Es hat genauso wenig Boden, wie ansonsten dieser oder jener Glaube. Das ist vielleicht auch der Grund dafür, dass immer öfter „Wissenschaftler“ nach der Maxime handeln: wes Brot ich eß, des Lied ich sing.

Der „richtige“ Weg

Aufgrund der Vorlieben der Menschen bilden sich diese oder jene Gruppen um diese oder jene Meinung, und so entsteht der Krieg des Menschen gegen den Menschen, je mehr in der Gruppe, in der „Filterblase“, desto schlimmer. Es wird wohl kaum möglich sein, hier den „richtigen“ Weg aus der Kalamität zu finden. Denn jeder mögliche Weg widerlegt über kurz oder lang sich selbst, indem er die „Anderen“, die „Gegner“ ausschließt und sich selbst zur alleingültigen Richtschnur erklärt. Also – um es klar zu sagen – indem er alle anderen versucht zu beherrschen. Aber weil es ja die „Anderen“ gibt, die er beherrschen muss, ist er eben nicht „alleingültig“.

Auf dieser Erde leben wir alle gemeinsam, und daher hat das, was der eine tut gegenüber dem anderen, über kurz oder lang auch seine Rückwirkungen auf den Täter selbst. Jede Ideologie, die sich selbst zur Herrschenden machen will, geht über Leichen und Blutvergießen: Hitler, Stalin, Mao, Mussolini, Elitegruppen aus Industrie und „Wissenschaft“, die sogenannten „Neoliberalen“ und wer sonst noch alles. Alle kennen sie nur diesen Weg: Macht auszuüben und den „Gegner“ zu vernichten oder mindestens so zu unterdrücken, dass er nicht mehr stört. Ein kurzer Blick auf die Geschichte kann uns lehren, dass das zu nichts führt. Irgendwann ist dann die andere Seite dran. Dann geht das Blutvergießen weiter.

Gibt es vielleicht einen ganz prinzipiellen Grund, warum das besonders in unserer Zeit so unentrinnbar scheint?

Wir denken vom Einzelnen aus

Der Grund liegt in unserer Art zu denken, über Welt und Mensch, über uns selber und den Anderen. Die Frage, die uns die „Krise“ derzeit vorlegt, weist uns darauf hin. Da gibt es – mit ausgetüftelten Methoden gefunden – ein winziges, im alltäglichen Leben unsichtbares Etwas, über dessen Existenz und Eigenschaften nur Spezialisten etwas wissen. Esoterik pur also – im ursprünglichen Sinne des Wortes: „Esoterik (von altgriechisch ἐσωτερικός esōterikós ‚innerlich‘, dem inneren Bereich zugehörig‘) ist in der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs eine philosophische Lehre, die nur für einen begrenzten „inneren“ Personenkreis zugänglich ist, im Gegensatz zu Exoterik als allgemein zugänglichem Wissen.“ (2). Virologie ist ja offenbar in diesem Sinne „esoterisch“. Und wenn sich schon die Virologen nicht über dieses winzige Etwas einig sind – sind die einzelnen virologischen „Schulen“ einander „esoterisch“ geworden? – wer von uns „Dilettanten“ soll dann beurteilen, wer nun das „Richtige“ sagt?

Unsere Zeit verlangt völlige Öffentlichkeit aller Dinge von allgemeiner Bedeutung. Andernfalls wäre alles Reden von Freiheit und Gleichheit eine Farce. Auch die Ansicht, dass die Welt eben so kompliziert sei, dass nur „Eingeweihte“ darüber etwas Relevantes sagen können, ist nur Meinung. Die Parteien und ihr Streit bleiben.

Könnte das Problem darin liegen, dass wir immer nur vom Einzelnen ausgehen, immer meinen, aus dem Einzelnen habe sich erst das Ganze geformt – durch Zufall, göttlichen oder teuflischen Plan, Dummheit der Menschen, Kampf ums Dasein, oder, oder, oder ….? Die derzeitige Auseinandersetzung ist ein Beispiel. Nur, wer über dieses kleine Etwas, das unsichtbare „Gespenst“ genau Bescheid weiß, weiß das „Richtige“. Denn das ist der Maßstab, sagt man, das Einzelne, das Virus. Ist es ein äußerst gefährliches Gespenst, dann kann es auch nötig sein, drakonische Maßnahmen zu ergreifen. Die ergriffenen Maßnahmen sind symptomatisch: sie vereinzeln die Menschen, etwas anderes fällt offenbar niemandem ein.

Auch der Streit, auf welchem Wege man diesem Gespenst und dem „Richtigen“ beikommt: durch Virologie, Statistik, mit dem Mikroskop, durch Gentechnik, oder wie sonst hilft nicht weiter. Jeder ist dabei, Einzelheiten zu sammeln und dann zu streiten – jeder nach Maßgabe seines Gesichtspunktes. Vom Einzelnen auszugehen, hilft also nicht.

Was aber hilft dann? Was ist das „Ganze“? Wo ist es zu finden?

Wo ist das „Ganze“?

Wir sind nicht der „Weltenschöpfer“ – sei er nun Gott, ein Urknall oder noch etwas ganz anderes – in dem das Ganze veranlagt gewesen sein mag. Wir sind heutige Menschen, die sich um wahrheitsgemäßes Erkennen bemühen können. Da ist es unausweichlich, den Geist des Menschen, sein individuelles Seins-Zentrum, aus dem alles Denken über die Wirklichkeit, alle Wissenschaft, aller Glauben letztlich hervorgeht, zum Ausgangspunkt zu nehmen. In ihm spielt sich alles Erklären der Wirklichkeit ab, sei es materialistisch, spiritualistisch, religiös, einfach dumpf oder was sonst noch alles. Und wenn wir von diesem realen, erlebten und erlebenden Menschen ausgehen, der sich in unzähligen Varianten in der Welt austobt, haben wir vielleicht eine Chance, etwas Gemeinsames zu entdecken.

Dann müssten wir eine Wissenschaft entwickeln von dem Denken, mit dem der Mensch die Wirklichkeit zu erklären trachtet, eine Wissenschaft, die jeder, der nur denken will, in sich selber nachvollziehen könnte, und die uns so auch zu einer Wissenschaft vom Menschen, dem Anderen führen könnte. Zu einer Wissenschaft dann also, die mir mein eigenes Denken ebenso wie das des Anderen verständlich macht. Sie wäre nicht „esoterisch“.

Wissenschaft vom Denken

Wohlgemerkt: ich rede von einer Wissenschaft vom Denken, nicht vom Gedachten! Denn das Gedachte bleibt individuell, da es alles dasjenige einbeziehen muss, was das einzelne Individuum von seinem Gesichtspunkt aus in der Welt erlebt. Das Denken selbst aber, der Weg, auf dem alles Wissen entsteht, ist universell, im Grundsatz allen Menschen gleich zu Eigen, und in Bezug auf diesen Weg ist alles, was mir durch einen Anderen zukommt, für mich nachvollziehbar.

Wir können als individuelle Menschen nichts wirklich Gleiches in der Welt finden, das uns mit allen anderen verbindet. Keiner kann durch die Augen des Anderen blicken, mit seinen Ohren hören, mit seinen Sinnen riechen, schmecken, tasten und so weiter. Meine Sinneswelt bleibt insofern nowendig „esoterisch“ im engsten Sinne, nämlich auf mich selbst beschränkt. Das ist und bleibt so. Das Denken als Weg kann aber immer für jeden anderen, der nur will, nachvollziehbar gemacht werden. Das erfordert „nur“ ernsthaftes Wollen, Mitteilung, Zuhören, Nach-Denken, also: selbstgewolltes soziales Tun. Es ist daher das eigentlich Universelle im Menschen, durch das die Menschen auch zu einander finden können.

Es ist eine Frage der Redlichkeit, auch die Quellen zu nennen, an denen sich das eigene Denken bildet. Die Tatsache, dass in unserer neuzeitlichen Geistesverfassung das Denken das universelle Element ist, hat als erster vollständig und philosophisch genau Rudolf Steiner beschrieben. Er wird meiner Ansicht nach oft vollständig verkannt, auch und gerade von vielen Menschen, die sich als seine „offiziellen“ Statthalter auf Erden betrachten. Was er in seinen grundlegenden Werken: „Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“, „Wahrheit und Wissenschaft“ und vor allem „Philosophie der Freiheit“ dargelegt hat, ist bis heute nicht genügend verstanden und gewürdigt worden. Die Diskussion über die Gründe dafür würde hier den Rahmen sprengen, und ist letztlich auch müßig.

Gesagt kann aber werden, dass alle Kritik an seinen späteren Taten ohne eine verstehende Grundlegung im Nach-Denken der genannten Werke – im Sinne des oben genannten selbstgewollten sozialen (Nach-)Tuns bodenlos bleiben muss. Solche Kritik verdeckt nur die geistigen Leistungen, die Rudolf Steiner darin vollbracht hat. Was in seinem Leben später kam, kann von einem gewissen Gesichtspunkt aus eher als eine pädagogische Tätigkeit angesehen werden, in der er versucht hat, seine Einsichten denjenigen Menschen nahezubringen, die davon hören wollten, aber nicht die Möglichkeit und den Willen hatten, mit diesen Einsichten sich selber denkend zu befassen. Er hat eben für die Menschen gesprochen, die da waren. Andere gab es offenbar nicht.

Finden sich – durch die „Krise“ aufgeweckt – heute genügend selber Denkende? Dann könnte eine Wissenschaft vom Denken den Weg weisen in eine selbst-gewollte, soziale Zukunft.

Weitere Artikel zum Thema gibt es => hier

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(1) Hawking, Stephen W.: Eine kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des Universums. – Reinbek: Rowohlt Verlag GmbH, 1988. Kapitel „Unsere Vorstellung vom Universum“
(2) Wikipedia, Artikel „Esoterik“, 18.05.2020, https://de.wikipedia.org/wiki/Esoterik




Die Maske der Corona

Corona

Das Wort „Corona“ („Kranz“) ist im Deutschen mehrdeutig und vielfältig zu verwenden: es bezeichnet sowohl die Krone als Merkmal eines Herrschers als auch einen Kreis von Menschen, die sich um eine leitende Gestalt scharen – neben möglichen anderen Nebenbedeutungen.

Es scheint symptomatisch zu sein, dass das Gespenst, das derzeit um die Erde geht (das unsichtbare Virus, das tödliche) gerade „Corona“ heißt. Es beherrscht die Welt, verändert sie derzeit stark, stärker als viele andere sogenannte „Krisen“ der davorliegenden Zeit die Welt verändert haben. „Danach wird nichts mehr sein wie vorher.“ stellte der österreichische Bundeskanzler Kurz schon lange vor den drastischen Massnahmen fest, die das Gesellschaftsgefüge derzeit erschüttern. Woher wusste er das so genau? War er ein “Eingeweihter“? Gehört(e) er zur „Corona“?

Undurchschaubar

Auch das ein Charakteristikum dieses Geschehens: die wirklichen Ursachen sind nicht bekannt (jedenfalls nicht der allgemeinen oder auch besonders kritischen Öffentlichkeit). Es kann nur darüber spekuliert werden. Auch die Virologen, Epidemiologen und anderen Gesundheitsexperten „wissen einfach zu wenig über dieses Virus“, wie man allenthalben hört. Corona, die Unbekannte, dunkle, und darum gefährliche. Auf verschiedenste, unsägliche Art versuchen allerlei einflussreiche Größen der Welt für sich Kapital aus der Sache zu schlagen: Bill Gates mit „seinen“ Pharmafirmen, Karrieristen, die sich bei guter Führung (also gelungenen Marketingmaßnahmen für ihr Verhalten in der „Krise“) die Chance auf höhere Weihen ausrechnen, auch die verschiedensten Arten kundiger und leider auch unkundiger Untersucher, die darin die Realisation der Weltbeherrschungspläne bestimmter Gruppen dieser oder jener Provenienz erblicken.

Sie mögen alle ein bisschen oder manchmal auch ein bisschen mehr recht haben. Aber das hilft nichts in der Situation, in der wir sind. Was bleibt ist, dass die Mehrheit der Menschen, die sehr große Mehrheit der Menschen nur spekulieren kann, was dahinter steckt und wohin die Szenerie uns führen wird. Gedanken sind – oder mindestens werden – aber Realitäten. Was in Orwells Roman erdacht wurde – wir erleben es jetzt. Was Jules Verne vor langer Zeit erdachte – wir kennen es doch. Das sind nur Beispiele, die sich wegen ihrer großen Öffentlichkeit nachvollziehen lassen. Was noch alles erst gedacht wurde, bevor es in der irdischen Welt wahrnehmbar wurde, können wir gar nicht genügend ermessen. Ermessen können wir es eben erst, wenn es messbar wird: in der irdischen Welt. Denken wir an Herrn Kurz, der ja schon vorab offenbar Bescheid wusste.

Immer wieder erscheinen die Herrscher der Welt – mögen sie Präsidenten, Staatschefs, Könige, Kanzler oder anders heißen – immer erscheinen sie uns derzeit mit ihrer „Corona“, den immer gleichen Beratern von ihren Gnaden: „Experten“, von ihren herrschenden Auftraggebern abhängig, weil von ihnen finanziert, oder umgekehrt erscheinen die Experten, umgeben von den von ihrem Rat abhängigen Ausführenden, Finanziers und Abnehmern ihrer „unabhängigen Erkenntnisse“. Aber: wir wissen doch so wenig von diesem Virus? Ist es ein „Killervirus“ oder nicht? Ist es wirklich der einzige Weg, die Menschen ihrer individuellen Entfaltungsmöglichkeiten zu berauben, um sie und damit das Virus kontrollierbar zu machen? Man sagt, ja, man müsse die Menschen zu ihrem Schutz so gängeln, denn nur von übergeordneter (Herrscher- oder Experten-) Warte können man wissen, was für die Menschen gut ist. Ist das denn wahr?

Die Diskussion ist müßig. Alle Seiten haben in dem von ihnen jeweils gewählten Feld von Bezügen relativ „recht“ wahrscheinlich. Die überwältigende Rolle, die diese „Krise“ derzeit für die Menschheit spielt, wird dadurch nicht erklärt. Gewiss, es gab schon früher Pandemien. Die fanden aber in einem anderen weltweiten gesellschaftlichen Umfeld statt. Heute ist es ja so, dass immer eine – meist noch größere – Krise die vorherige ersetzt. Und diese ist jetzt eben eine ganz besonders undurchschaubare, und besonders umfassende.

Die Maske verrät sich

Oder doch nicht? Gehe ich doch einmal anders an die Sache heran. Die Symptome sind aufgezählt: das Gespensterhafte der „Corona“, auf allen Seiten, denn niemand weiß letztendlich wirklich, was da über die Menschheit warum und wie und warum gerade jetzt hereingebrochen ist: das eigentliche „Wesen der Corona“ bleibt zunächst unsichtbar. Und genau dieses Nicht-Wissen löst unendliches Leid aus, sich steigernde Brutalitäten der Herrschenden (und leider zunehmend ihrer Untertanen) wo auch immer, verbal, psychisch, körperlich, geistig, und vor allem im Sozialen. Denn jeder probiert herum, mangels anderer Leitlinien zumeist auf die eigenen Wünsche fixiert. Wer ist das, das „Wesen der Corona“?

Nun, ein in der äußeren Welt unsichtbares Wesen auf jeden Fall. Es kann nur durch Charakterisierung seiner auftretenden Symptome nach und nach umschrieben werden, so, dass die Menschen innerlich ein Bild dieses Wesens aufbauen können. Denn für jede „Definition“, die diese oder jene Seite für die Sache versucht zu geben (ich zähle nur einige wenige auf: „Killervirus“, „Weltbeherrschungsplan dunkler (Finanz-)Mächte“, „Gottesurteil über die sündige Menschheit“, „bloß eine Grippe“) gibt es genügend ernstzunehmende Einwände, die sie wieder entkräften. Die derzeitige Kombination von harten, messbaren Fakten und rücksichtslosen Lügnern, Trittbrettfahrern, Anstiftern und Profiteuren hat es so noch nicht gegeben. Die Menschheit wird dadurch getroffen in einer Situation, in der sie genügend Anlass hätte, sehr grundsätzlich darüber nachzudenken, ob der bis hierher eingeschlagene gesellschaftliche Weg so Zukunft haben kann. All die vorangegangenen Krisen und auch die bereits länger vorausgesagten scheinen zu kumulieren, und dann kommt „Corona“, die Krone, und beherrscht alle. Aber die nächste Krise wartet schon: die heftige Dürre nach zwei vorangegangenen Jahren trockenen Jahren kündigt sich schon an. Lernen wir rechtzeitig aus der gegenwärtigen Situation?

Wie es eben bei allen derartigen Erscheinungen ist: irgendwo verraten sie sich. So kumuliert die Auseinandersetzung von sogenannten „Panikmachern“ und „Verharmlosern“ derzeit in der Frage, ob unsere Gesellschaft weiterhin „Gesicht zeigen“ will oder zu einer Herde von entindividualisierten Arbeits- und Konsumameisen mutiert. Ich meine die (scheinbar nebensächliche) Frage der Gesichtsvermummung, beschönigend „Mundschutz“ genannt. Natürlich bin ich in dieser Sache auch ein bisschen Partei, wie wohl jeder, der mit dieser Frage in der gegenwärtigen Härte konfrontiert wird. Das spielt aber hier keine Rolle. Denn auch diese Frage ist – wie alles, worüber sich Parteien bilden und Streit entstehen kann – nur ein Symptom.

Die Maske stellt uns vor die Frage nach der Wahrheit, jeden von uns. Bin ich wahr? kann ich die Wahrheit des Anderen erkennen? Was ist überhaupt „wahr“ in dieser Zeit? Ich meine mit dem Wort „wahr“ nicht dasselbe, was man auch mit dem Wort „richtig“ bezeichnet; heutzutage ist man ja nicht mehr gewohnt, die Dinge genau genau zu unterscheiden. Der Streit um das „Richtige“ und „Falsche“, das dann eben von allen Menschen eingesehen werden müsste, kann gar nicht mehr entschieden werden. Was „wahr“ ist, kann sich für jeden einzelnen Menschen anders darstellen. Und was wir gerade erleben, stellt jeden Einzelnen von uns vor die Frage, was wir für den Anderen und der Andere für uns in Wahrheit bedeuten kann – die Frage nach dem MENSCHEN also.

Die Maske zeigt aber genau das Gegenteil: das Verbergen, Geheimhalten, die Unwahrheit (jede Maske ist unwahr, also eine Lüge, denn sie verbirgt die dahinterliegende Wahrheit). Und damit demaskiert sich die „Corona“, indem sie uns zwingt, UNS zu maskieren, unwahr zu werden, unwahr, wie sie selber ist. Sie trägt die Maske des Bösen (heiße es Killervirus oder Totalitarismus – gleichviel, beides ist Maske). Aber sie stellt uns die Frage nach uns selber, nach dem MENSCHEN, nach seinem – unserem, jedes Einzelnen – Willen, eine Zukunft der Menschheit zu ermöglichen. Eine Zukunft, in der auch die Aussicht auf den Tod (physisch durch das „Killervirus“ oder sozial durch den Totalitarismus; viele weitere Varianten sind denkbar) nicht zum verbissenen Kampf um noch ein paar Augenblicke „Weiter so“ führen muss. Eine Zukunft also, in der wir bereit werden, aus freien Stücken (und nicht erzwungen durch Panikmache, Killerviren oder totalitäre Regimes) unseren Teil beizutragen zum Gedeihen der Menschheit.

Was spricht durch die Maske?

Durch die Maske der Corona spricht also auch ein gütiger Zeitgeist, der uns aufwecken will aus unserem rastlosen Streben nach dieser oder jener Bequemlichkeit, diesem oder jenem kleinen Glück auf Kosten anderer, und uns fragt nach eigenen, freien, selbstgewollten Beiträgen. Natürlich, ein bisschen „Erlkönig“ ist auch dabei, wie immer, wenn es um Dinge geht, die man nur geistig fassen und charakterisieren kann: „Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt“. Ja, unsere derzeitige Zivilisation ist nicht mehr zu retten. Sie hat verspielt, ist todgeweiht. Bereits vor mehr als hundert Jahren gab es das Buch von Oswald Spengler: „Der Untergang des Abendlandes“. Vielleicht verläuft der ein wenig anders als damals dargestellt, aber wer nur ehrlich sein will muss einsehen: so wie bisher kommen wir nicht weiter; das Ende dieser Gesellschaftsverfassung ist besiegelt, so oder so. Darin liegt die „Gewalt“, aus meiner Sicht unentrinnbar. Es ist aber die Frage, ob wir es schaffen, im Untergang des Alten die Keime für das Neue zu legen.

Um weiter zu kommen, brauchen wir einen ganz neuen Einschlag. Nicht einen ganz neuen Dreh meine ich, um alles beim Alten zu lassen, sondern etwas wirklich Neues. Zum Beispiel, dass wir es endlich aufgeben, das ein für allemal „Richtige“ finden zu wollen, mit dem dann endgültig alle Menschen zu – Beherrschten werden können. Dass wir das wesentliche Charakteristikum unseres irdischen Lebens, dass es nämlich endlich ist, ohne Furcht einbeziehen in unser irdisches Leben statt immer neue Wettläufe um noch ein bisschen mehr davon zu starten. Vielleicht können wir dabei auch Wege finden, endlich anzuerkennen, dass jeder Mensch aus dem Unsichtbaren, das er auch für sich selber ist und bleibt (wir sprechen durchaus unterscheidend von „Ich“ und „mein Leib“), dass jeder Mensch also aus diesem Unsichtbaren, aus dem er in sein Erdendasein tritt, eine Art Plan mitbringt für dieses Leben, und dass es eine lohnende Aufgabe sein kann, diese Pläne kennenzulernen und fördernd ihre Realisierung zu begleiten. Dann kann vielleicht auch die Einsicht wachsen, dass das Reich, in das die Toten gehen, vielleicht nicht nur Strafe oder Lohn für dieses irdische Leben ist oder einfach ein schwarzes Nichts, sondern eine Gelegenheit, sich andernorts umzubilden und in einem folgenden Leben mitzuwirken am Ausgleich dessen, was man getan oder gelassen hat. Schon Lessing sprach davon, Rudolf Steiner und viele andere.

Denn eines ist deutlich: das „dunkle Loch“, als das uns „Corona“ erscheint, wenn sie ihre Maske zeigt, hat seine Entsprechung in uns selber. Kennen wir denn uns und unsere wahren Absichten? Unseren Plan für dieses Leben? Leben wir nicht viel öfter, als wir zugeben wollen, einfach aus, was uns treibt, unwissend, oft ohne Besinnung? Ist nicht gerade die Situation der Welt, und gerade die jetzige, mit „Corona“, ein Bild für die Besinnungslosigkeit, in der die Menschheit selber an dem Ast sägt, auf dem sie sitzt? Und zeigt ihre Maske nicht gerade, was dadurch entsteht, an Leid und Zerstörung, wenn wir die Maske nicht durchschauen?

Nachbemerkung

Natürlich bin ich aufgrund solcher Erwägungen – auch – Partei. Ich lehne das erzwungene Tragen von Gesichtsvermummung an Orten, die jedermann zur Sicherung seines Lebensunterhaltes frei aufsuchen können muss (also Geschäfte, Wochenmärkte, Apotheken etc.) ab. Viele weitere Argumente gegen einen solchen Zwang finden sich =>hier und =>hier und =>hier. Wer, weil er selber evtl. krank ist und seine Umwelt schützen möchte, aus freien Stücken so etwas trägt, kann das ja tun. Dann ist das aber eine sehr begrenzte Personenzahl und eine begrenzte Zeit. Dass der derzeitige Maskenzwang auf länger angelegt ist, lässt sich aus der Aussage des Bundesministers Altmaier entnehmen, dass „in der Corona-Krise jährlich bis zu zwölf Milliarden Atemschutzmasken benötigt werden“ (Quelle: =>hier). Jährlich, sagt er. Also ab 2020 jedes Jahr wieder. über die Corona-Krise „Alles läuft wie nach Drehbuch“, sagte der Krisenforscher Frank Roselieb im Interview der Tagesschau (Quelle: =>hier). Die Maske verrät sich eben doch auch immer wieder.

Es wird nicht sinnvoll sein, solchen „Verrätern“ (im doppelten Sinne) gegenüber jetzt die moralische Keule zu schwingen. Wissen wir, in welchen Zwängen solche Menschen stehen? Können wir uns zum Richter über sie aufschwingen? Ich will nicht in diesem Sinne „Partei ergreifen“ für eine Seite, und die andere verurteilen. Nur wo es aus dem Willen hervorgeht, endlich der Wahrheit zu dienen und sie dafür jederzeit offen zu legen, kann ich begründet das eine oder andere im Alltag vorziehen oder vermeiden wollen. Die physische Welt ist ja nun einmal so, dass wir in ihr oftmals zu Entscheidungen genötigt sind. Eine solche Entscheidung ist dann aber nicht wahr, sondern allenfalls der Wahrheit verpflichtet.

Was mir zu diesem Thema noch zu sagen bleibt, findet sich =>hier.