So kann es nicht weitergehen

Ausgangslage

Die Welt ist ohne Zweifel in Aufruhr. Unversöhnliche Standpunkte stehen einander gegenüber und bekämpfen sich praktisch unbegrenzt. Einen wirklichen Ausweg kennt jede Seite immer nur im Rahmen ihrer eigenen Vorstellungen – die andere Seite muss klein beigeben, sagt man. Das sind ja ganz offensichtlich keine Auswege, sondern nur Wege zu immer weiteren Kämpfen und Katastrophen. Und immer neue, immer größere Gegensätze werden beschworen, in denen sich die Parteien über die Erde hin zu vernichten trachten können: in bezug auf den Zustand der Erde als Wohnort für Pflanzen, Tiere und Menschen, in bezug auf das Wirtschaften der Menschen und ihre Lebensmöglichkeiten auf der Erde, in bezug auf dasjenige, was jede Partei als Menschlichkeit ansieht, und so weiter, und so fort. Wo ist da ein Ausweg, oder ein Weg zur Überwindung der Situation zu sehen?

Was am meisten auffallen kann, das ist die Ausschließlichkeit (im wörtlichen Sinne), mit der die unterschiedlichen Gruppen von Akteuren ihre Auffassungen zur Geltung bringen wollen. Immer wird der andere, der Gegner oder Feind, als unmenschlich, unwert, böse, zerstörerisch oder anderweitig nicht zur eigenen Art gehörig gekennzeichnet. So sind aus der in Europa derzeit herrschenden Sicht die Angehörigen östlicher Gesellschaften entweder unmenschliche Apparatschiks, Diktatoren, bornierte Ideologen, menschheitszerstörende Aggressoren oder eben von diesen grässlichen Monstern versklavte arme Individuen; aus der Sicht östlicher Gesellschaften stellt sich dies ganz anders dar, da ist es eine im Westen rücksichtslos herrschende, das Daseinsrecht aller anderen Menschen missachtende egoistische sogenannte „Elite“, die die Menschheit durch ihre Uneinsichtigkeit und Unersättlichkeit an den Rand der Gesamtvernichtung im Atomkrieg treibt. Die „integralen Nationalisten“ der Ukraine – die Verehrer des unter dem nationalsozialistischen Regime brutal mordenden Stepan Bandera – die inzwischen die ukrainische Rasse per Gesetz als über allen anderen stehend erklärt haben und Russen nur „abschießen wollen wie Schweine“ (Originalton eines ukrainischen Funktionärs) – haben Förderer in aller Welt, und werden dort als „Vorkämpfer westlicher freiheitlicher Ideologie“ dargestellt. Ebenso gilt auf der anderen Seite der im Krieg gefallen Soldat der Ukraine nicht als Mensch, sondern als Sache, die man „vernichtet“ hat. Schon mehren sich Stimmen in den Kreisen der Befürworter der russischen Seite, die Ukrainer wegen der von ihnen vollführten Brutalitäten als „Untermenschen“ bezeichnen.

Wer so redet, handelt auch so. Alle Gründe, die von der einen oder anderen Seite geltend gemacht werden, mögen ihre Berechtigung haben; es ist aber einerlei, aus welchem Blickwinkel man immer die andere Seite zu entmenschlichen trachtet. Die Sichtweisen sind insofern gleich, als sie immer die andere Seite ausschließen, für ungültig erklären und nicht als einen für Menschen möglichen Gesichtspunkt akzeptieren wollen.

Um solche Akzeptanz wird man allerdings nicht herumkommen. Erstens zeigt man sich selber durch diese Ausschließerei um nichts besser als die andere Seite, und zweitens wird es nicht angehen, dass nur eine Gruppe Menschen ihre Gesichtspunkte für allgemeingültig allen anderen aufzwingt. Dafür sind wir einfach zu viele auf der Erde. Und meint man denn wirklich, dass man die Hälfte, oder – wie ja manche Transhumanisten meinen oder wünschen (siehe Yuval Harari) – 80 % der Menschheit ausrotten sollte, damit der Rest dann so leben kann wie er will? Was für eine Art „Menschen“ ist dann dieser Rest?

Nein, so wird es nicht gehen. Das haben die Menschen seit Jahrhunderten versucht: immer die „Anderen“ auzurotten, zu drangsalieren, zu versklaven oder anderweitig „unberücksichtigt“ zu lassen. Heute würde dieser Versuch zu irgendeinem Zeitpunkt der Eskalation unweigerlich zum Ende aller Menschen führen. So kann es eben nicht weitergehen.

Warum?

Woran liegt es denn – einmal versucht, gewissermaßen „von oben“ auf die Verhältnisse zu blicken – dass diese Kämpfe so zerstörerisch immer weiter eskalieren, und nirgends ein wirklicher Ausweg sichtbar ist?

Es liegt vielleicht – wie bei fast allem, was wir heute erleben – an den einzelnen Menschen und ihren persönlichen Auffassungen, Wünschen und Absichten. Soll eine solche Feststellung nicht einfach nur abstraktes Gejammer sein, so wird sie konkretisiert werden müssen; das soll nun hier versucht werden.

Einig sind sich doch alle Seiten immer darin, dass sie selber, und nur sie selber die Wahrheit vertreten, wissen, wie ein gutes Leben des Menschen auszusehen hat und so weiter. Dabei geht der Zeitgenosse ganz unwillkürlich von den Gedankenformen aus, die er als unserer Zeit entsprechend eingeprägt bekommen hat. Und diese Gedankenformen laufen eben darauf hinaus, dass der einzelne, im Erdenleben stehende Mensch nur diese eine irdische Existenz hat, und mit deren Ablauf auch seine eigene Individualität erledigt ist.

Solch eine Haltung hat ja ihre Berechtigung, wissen wir doch nur dadurch, dass wir uns einer ohne unser bewusstes Zutun gegebenen Außenwelt gegenüber erleben, überhaupt von unserer eigenen Existenz. Und dieses Wissen ist uns lieb und teuer – wir wollen es auf keinen Fall missen, warum wir uns auch an diese eine Existenz klammern und nicht vor ihr lassen wollen. Und zu dieser Existenz gehören eben auch die eigenen Meinungen, Wünsche und Absichten, die man darum auch in diesem einen Leben realisieren möchte.

Damit ist aber notwendig der Einzelne zu einem gewissen Egoismus verdammt. Denn auch, wenn er sich „philanthropisch“ gebärdet, tut er das in der Regel nicht, weil er andere über sich selber stellt, sondern weil er selber gut und moralisch sein will, also den eigenen Auffassungen von Moral entsprechen. Womit er wieder in den eigenen Meinungen von „Gut“ und „Böse“ gefangen ist.

Man kann ja gar nicht abstreiten, dass die vielen Vorschläge – von welcher Seite auch immer – wenn sie zu einer allgemeinen Auffassung aller Menschen würden, vielleicht hilfreich und gut wären. Aber sie sind eben nicht allgemeine Auffassung aller, und lassen sich auch nicht allen anderen aufzwingen, wie viel man das auch versucht. Damit wird klar, dass all diese Denksysteme Utopien sind, ideal gedachte Systeme, die immer nur für den Teil der Menschheit Gültigkeit haben, der unter ihrem Einfluss steht. Damit sind all diese Systeme Ideologien: Versprachlichungen von Ideensystemen, die irgendwer irgendwann ausgedacht hat und die nun alle anderen beglücken sollen. Damit verkennen alle diese Denksysteme aber notwendig die Tatsache, dass sie eben nicht alleine sind auf der Erde. Das Paradies lässt sich wohl denken, aber nicht auf der Erde realisieren. Jeder Versuch einer solchen Realisierung kann nicht anders als egoistisch sein – für einen Einzelnen, eine Gruppe, einen Teil der Menschheit eben. Ideologien sind also die Grundlage für den Illusionismus und die Brutalitäten, die die Menschheit derzeit zu zerreißen scheinen.

Unsere Welt ist in diesem Sinne durch-ideologisiert.

Geht es anders?

Wie aber kann der Einzelne sich zu einem Gesichtspunkt aufschwingen, der das Ganze der Menschheit einschließt und die einzelne, persönliche, individuelle Handlung von dort aus betrachtet und beurteilt?

Wer nur genügend will, kann das leisten – der Mensch ist in seinen Gedankenbildungen frei. Wer also will, kann den Versuch machen, sich selber als ein Glied in der Gesamtentwicklung der Menschheit zu betrachten, und zwar als dasjenige Glied, in dem die Gesamtmenschheit und ihre Entwicklung ins Bewusstsein treten kann. Ob er sich so betrachtet, ist seine eigene Entscheidung, die jeder Mensch insbesondere bei vorbehaltloser Anschauung des zerstörerischen Charakters aller ideologischen Einzelgesichtspunkte auch treffen kann.

Was uns in der Regel hindert, einen solchen Gesichtspunkt für uns selber einzunehmen, ist die Bindung an die eigene, als einzig angenommene irdische Existenz. Denn die würde dann ja eventuell vom übergeordneten Gesichtspunkt aus sich ganz anders darstellen als ich es gewohnt bin – vielleicht viel weniger bedeutend, als ich mich selber immer gefunden habe, oder – vielleicht noch beängstigender – viel bedeutender (und darum noch viel wichtiger als alle anderen ….).

Vor allem wäre dann ja sozusagen die Grundlage weg, auf der ich immer alle Verantwortung auf die Urheber der mich jeweils tragenden Ideologie abwälzen kann. Und – das mag sehr ketzerisch klingen, gilt bei genauer Betrachtung aber uneingeschränkt – auch die Auffassung, dass der Mensch nur eine Existenz habe und diese sich in seinem materiellen Sein erschöpfe (alles Seelische und Geistige insofern nur ein Ergebnis materieller Prozesse sei und damit sekundär) ist eine Ideologie. Allein die Tatsache, dass man zur Formulierung dieser Auffassung das Denken benötigt – also durch Denken die Determiniertheit des Denkens feststellen will – zeigt, auf welchem Terrain man ist. Da ist ziemlich viel Glatteis. Warum kommt denn das determinierte Denken darauf, sich selber als determiniert anzusehen? Warum soll die Materie sich als allein gültiges Sein zeigen, indem sie im Menschen das Denken erzeugt, durch das sie diese Alleingültigkeit feststellt? Da haben wir manchen Zirkelschluss.

Wenn aber meine bisherige Art zu denken – immer bestimmt durch Auffassungen, die mir durch die Verhältnisse der Welt eintrainiert sind von Geburt an – nicht weiterführt, und wegen ihrer Bindung an den irdischen Einzelmenschen notwendig egoistisch und zerstörerisch werden muss, wo finde ich dann einen sicheren Halt? – Gar nicht. Den muss ich mir selber geben. Das ist eben der Charakter der Freiheit, dass sie sehr anstrengend ist, weil man alle Grundlagen selber immer wieder neu auferbauen muss.

Das ist auch etwas, was es für z.B. mittelalterliche Menschen gar nicht gab. Damals war die Welt nicht in derselben Weise materialistisch durchideologisiert wie heute. Auch viele östliche Gesellschaften leben heute noch in ganz anderen Verhältnissen als wir westlich ge- oder verbildete Menschen. Wenn wir auf dieser Erde zusammen leben wollen, müssen wir einander verstehen, und „Verstehen“ bedeutet eben für verschiedene Menschen auch Verschiedenes. Ist nicht die Auffassung allgemein vorherrschend, wir Heutige allein hätten der Weisheit letzten Schluss gefunden, viel mehr jedenfalls als unsere Vorfahren? Sind wir nicht einfach nur ganz anders als sie, und können sie erst wieder verstehen, wenn wir uns in ihre Art des Verstehens hineindenken können?

Und ein Weiteres ist zu bedenken. Wer sich als Glied einer Entwicklung betrachtet, orientiert sein Urteil an einem Prozess, dessen Gesamtheit sich ihm erst nach und nach aus seinen eigenen Verständnisbemühungen ergibt. Ein solcher Mensch schafft also maßgeblich an seinen eigenen Urteilsgrundlagen mit, kennt sie darum genauer und kann sie von den einzelnen Objekten und den an sie geknüpften Sympathien und Antipathien loslösen. Dadurch kann er sich selber zum Objekt werden und bei ausreichender Bemühung auch wahrheitsgemäßer beurteilen lernen. Manch einer fürchtet sich davor – also vor sich selber, ungeschminkt betrachtet. Die Verlässlichkeit des eigenen Urteils gewinnt aber dadurch.

Freiheit

Die Freiheit, in die der Einzelne gestellt ist in unserer Zeit, existierte für unsere Vorfahren gar nicht in derselben Weise. Darum waren die Gesellschaften der Vergangenheit auch anders konfiguriert. Sie waren darum nicht schlechter oder besser als unsere heutige – für uns Heutige würden sie vielleicht gar nicht mehr passen, das stimmt – sondern einfach nur für andere Menschen. Die Menschen entwickeln sich ja auch durch die Jahrhunderte und Jahrtausende.

Und für uns heutige ist eben die Freiheit, selber für das eigene Denken einzustehen und es zu verantworten, ein Ergebnis der Verhältnisse. Wir können ja sehen, dass keine der Parteien für die ganze Menschheit spricht. Wenn wir diesen Gesichtspunkt geltend machen wollen, den der Gesamtmenschheit, können wir damit nur bei uns selber anfangen, aus freiem Wollen. Diese Freiheit schließt aber zweierlei ein:

  • die Einsicht, dass jeder andere Mensch prinzipiell in derselben Lage ist in Punkto Freiheit
  • die Einsicht, dass jede Ablehnung der eigenen Freiheit und der an sie gebundenen Absichten zu eben jenen Sichtweisen – Ideologien – gehört, die andere Menschen-Meinungen ausschließen müssen, notwendig also gegen die Freiheit aller Andersmeinenden gerichtet sein muss. Es gibt in diesem Zusammenhang auch eine Ideologie der „Meinungsfreiheit“, die darin besteht zu sagen, dass es eben keine Wahrheit gibt, nur Meinungen; eine solche Ansicht rechtfertigt darum die derzeitige Menschheitssituation, in der sich eben die Meinungen durch Macht bekämpfen, und erklärt sie für dauerhaft unvermeidbar. Wenn nun jemand sagt, Machtdemonstration sei in diesem Fall nicht zulässig, stellt er wieder seine persönliche Auffassung von Moral über die des Anderen, der vielleicht meint, Meinungen könnten sich nur durch Machtausübung und Erfolg oder Misserfolg im Leben als wahr oder unwahr herausstellen. Das hilft also auch nicht weiter. Nur die Freiheit gibt einen Ausgangspunkt, der keinen anderen ausschließt.

Es handelt sich also um eine Grundsatzentscheidung, entweder aus freier Entscheidung sich (die aktuelle irdische Person) zum Funktionär der Entwicklung der Gesamtmenschheit zur Freiheit zu machen, oder die eigenen, irdischen Parteiinteressen über andere, widerstrebende Interessen zu stellen.

Freiheit ist anstrengend, wie schon gesagt.

Übersicht schafft Zusammenhang

Denkt man genau, so wird schnell klar, dass mit Einbeziehung der Freiheit jeder Mensch in seiner Gänze nur verstanden werden kann, wenn er nicht auf einen irdischen Lebenslauf (und schon gar nicht auf das dabei stattfindende Innenleben der Seele) begrenzt gedacht wird, sondern seine Voraussetzungen (äußerlich-leiblich, seelisch, geistig) ebenso wie die Wirkensfolgen durch seine Taten (ebenso äußerlich-leiblich, seelisch, geistig) ihm auch zugerechnet werden. Der Gedanke einer – wie immer im Einzelnen auch gedachten – wiederholten Verkörperung der menschlichen Individualität wird damit unabweisbar. Unvollkommenheiten und Misserfolg in diesem einen irdischen Leben können dann in anderem Licht erscheinen.

Eine Tat ist es dann auch, ob sich ein Mensch entscheidet, sich auf die Suche nach seiner wahren Aufgabe im Menschheitsganzen zu machen, indem er sich frei macht von den Vorbetern der verschiedenen kirchlichen, wissenschaftlichen und anderen ideologischen Denksysteme und Schulen. Es kostet diese Entscheidung jeden Tag immer wieder Kraft, die vor allem dafür aufgewendet werden muss, das eigene Denken, Fühlen und Tun daraufhin zu durchleuchten, ob es wirklich eigenes ist, oder doch nur wieder Nachgeplapper welcher Ideologie auch immer.

Jeder Einzelne kann diese Kraft aber aufbringen, sie ist in uns allen angelegt. Wir müssen sie nur gebrauchen, üben, immer weiter entwickeln.

Vollmenschliche Zukunft

Der Weg in eine vollmenschliche Zukunft der Menschheit insgesamt geht damit durch den frei und bewusst sich in den Dienst an dieser Zukunft stellenden individuellen Menschen, der damit einem allgemeinen Gesetz dient, ohne ihm unterworfen zu sein, ohne also seine Freiheit einzubüßen. Der Mensch ist in diesem Sinne die Auflösung des Dilemmas, in das er hinein gestellt ist.

Der einzelne Mensch, der sich darum bemüht, erkennt von dieser Warte aus den auch irdisch-persönlichen Wert seiner individuell erlebten Welt – einschließlich aller darin vorkommenden Menschen* – für die eigene Weiterentwicklung ebenso wie für diejenige aller anderen. Und er kann dabei lernen einzusehen, wie ohne den frei denkenden Menschen – also konkret ohne ihn selber – keine vollmenschliche Entwicklung in die Zukunft hinein möglich ist. Sonst regieren weiter Ideologien über die Menschen, bis hin zur völligen Zerstörung.

So wie bisher kann es eben nicht weitergehen.

© Stefan Carl em Huisken 2022

*In gewissem Sinne kommen ganz grundsätzlich ja mittelbar alle Menschen in jeder individuellen Lebenswelt vor. Der Einzelne ist sich ihrer nur in unterschiedlichem Grad bewusse, je nachdem sie ihm näher oder ferner stehen.



Cover Wahnsinn und Denken Ideologien

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Über die Notwendigkeit des Weltunterganges

Vorbemerkung – über das Umdenken

In unserer Zeit häufen sich die Stimmen, die ein grundsätzliches Umdenken fordern, eine ganz neue Grundlage für die Gestaltung des äußeren Lebens der Menschen. Die alte Art, darüber zu denken, sei abgelebt und zeige ja an ihren Folgen, dass sie den Anforderungen, die mit dem Ziel eines menschenwürdigen Lebens für alle verbunden sind, nicht gerecht werden könne.

Einer solchen Auffassung kann man ja nur zustimmen. Dass das alte Denken und die daraus hervorgegangene Einrichtung des Lebens nicht mehr taugt, ist offensichtlich. Allein die Frage, wie denn so ein grundsätzliches Umdenken möglich wird, findet in all den Beteuerungen seiner Notwendigkeit kaum eine Antwort.

Die alte Art der Weltgestaltung hat abgelebt, also gehen wir daran, eine neue, dem Menschen und seinem Geist gemäße aufzubauen. Einen Beitrag, vielleicht den entscheidenden Beitrag dazu lieferte Rudolf Steiner mit dem Aufbau der anthroposophischen Geisteswissenschaft. Kaum ein Kulturimpuls der neueren Zeit ist so entschieden von den Vertretern des überkommenen Wissenschaftsbetriebes ebenso wie von christlichen und anderen Religionsgemeinschaften abgelehnt und bekämpft worden – und wird es noch. Man sieht daran: nichts ist den Menschen so unbequem, ja unannehmbar, wie die Forderung, sich selbst und seine Art des Umganges mit der Welt radikal in Frage zu stellen und neu zu gestalten; genau darum ging es aber Rudolf Steiner.

Dennoch finden manche Ergebnisse anthroposophischer Geisteswissenschaft immer wieder neue Freunde: in der Medizin, der Pädagogik, der Landwirtschaft, den Künsten und in anderen Bereichen nimmt man die Anregungen gerne auf. Denn da hat man Rezepte, so glaubt man, die man nutzen kann, um nur ein bisschen etwas anders zu machen, damit das Leben angenehmer wird.

Aber so wird natürlich aus dem von Rudolf Steiner angestrebten Umdenken nichts. Wenn umgedacht werden muss, ganz grundlegend, dann ist mit kosmetischen Maßnahmen wie den genannten Rezepten nichts getan. Auch diese Rezepte werden nur so lange ein wenig funktionieren, wie in ihnen der Geist der anthroposophischen Geisteswissenschaft oder zumindest ein Rest seiner Tradition waltet. Die Entkräftung vieler anthroposophischer Initiativen im Leben der Welt wird immer offensichtlicher; von manchen ihrer Vertreter wird sogar aktiv die Anpassung an die Gebräuche der gewordenen Lebenswelt gefordert und gefördert. Man will also der immer mehr krisengeschüttelten Lebenswelt der Menschen einen neuen, aufbauenden Impuls einflößen, indem man sich an sie anpaßt. Das kann nicht funktionieren.

Versucht man dagegen, die Lösung scheinbar vordringlicher äußerer Probleme zurückzustellen, um zunächst an die Wurzel zu gehen und die Methoden solcher Problemlösung in Frage zu stellen zugunsten grundsätzlicher Erwägungen über den Menschen und sein Weltendasein, wird man leicht als weltferner Spintisierer angesehen, der das wirklich praktische Leben nicht achtet. Ein bisschen hat diese Haltung etwas von Bertold Brechts paradigmatischem Ausspruch: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“. Man mache also – egal wie – erst einmal den Menschen das Leben erträglich bis angenehm, dann werden sie schon die Motivation und die Kraft zum Umdenken aufbringen – so übersetze ich mir das.

Was aber, wenn die Lösung der lebenspraktischen Probleme nicht gar mehr gelingt ohne ein grundsätzliches Umdenken, vielleicht auch diesen Satz von Brecht betreffend? Wie, wenn unter dem Einfluss der mit Brechts Ausspruch verbundenen Ideologie dieses Umdenken schon lange unterdrückt wurde und nun inzwischen auch darum mehr als überfällig ist? Rudolf Steiner sah jedenfalls die anthroposophische Geisteswissenschaft als Impulsgeber für ein solches, schon lange überfälliges Umdenken.

Wer nun aber versucht, wirklich selbständig denkend die Wege solcher Geisteswissenschaft zu wandeln, sieht sich schnell mit der Aussage konfrontiert, diese Geisteswissenschaft sei unverständlich und daher wenig hilfreich; und man wendet sich wieder ihren „leichter verständlichen und nützlichen“ Ergebnissen zu. Dazu äußerte sich Rudolf Steiner unmissverständlich: „Es muß unsere Wissenschaft so sein, daß sie mehr Verstand notwendig macht, als man bisher anzuwenden gewohnt ist. Wenn man sagt, die Geisteswissenschaft kann man nicht verstehen, so liegt es aber nicht daran, daß man nicht genügend Verstand hat, sondern daß man nicht genügend Verstand anwenden will. Darüber möchte man sich gerne täuschen. Würde man so viel Verstand anwenden, wie der Mensch haute schon aufbringen kann, so würde man die Geisteswissenschaft schon verstehen.“1

Wer dazu neigt, in der anthroposophischen Geisteswissenschaft den unserer Zeit so offensichtlich notwendigen Impuls der Erneuerung des menschlichen Weltenlebens zu sehen, wird also gut beraten sein, wenn er sich in seinen Bemühungen um die Vertiefung der geistigen Grundlagen für eine Umkehr im menschlichen Weltenleben von solchen Einwänden wie den eben angedeuteten nicht von seinem Weg abbringen lässt. Wer die Lösungen für die Probleme, vor die eine immer mehr zerfallende, absterbende Welt den Menschen stellt, nicht in dieser Welt selbst, sondern in dem diese Welt tragenden und in ihr wirkenden Geist suchen will, wird sich unbeirrt zunächst in diesen Geist zu vertiefen haben da, wo er jedem Menschen heute zugänglich ist: im eigenen, individuellen Weltenleben des Ich, einem Leben, das allen Menschen heutzutage gemeinsam ist.

In diesem Sinne ist dieser kleine Aufsatz gedacht. Er soll einen möglichen Weg des grundstürzenden – und grundsätzlichen – Umdenkens aufzeigen, der den immer deutlicher werdenden Anzeichen des Unterganges derjenigen Welt, in der wir gewohnt sind zu leben, entgegengehalten werden kann. Wer sich ernsthaft bemüht, den hier angedeuteten Weg der Vertiefung zu beschreiten, wird beim Aufbringen der notwendigen Aufmerksamkeit bald bemerken, wie viele der getroffenen Aussagen – recht verstanden – unmittelbar lebenspraktische Hinweise geben können. Sie ergeben sich dann allerdings unmittelbar und selbständig aus dem Nachvollzug der geschilderten Denkwege, und erfordern keine vorgegebenen Rezepte, sondern folgen nur aus dem ernsthaften Erkenntnis-Suchen und Erkenntnis-Schaffen des individuellen, sich seiner selbst bewusst werdenden Menschen. Dem Leser sei in diesem Sinne viel Erfolg gewünscht.

Was ist die Welt?

Diese Frage beschäftigt seit Urzeiten die erkenntnissuchenden Menschen. Sie ist bis heute allerdings ungelöst und wird es vorerst wohl auch bleiben. Eine einmalige und dann dauerhaft gültige Lösung ist nämlich gar nicht möglich – die Zeiten ändern sich, und mit ihnen die Welt –, und wird darum hier auch gar nicht angestrebt. Was versucht wird, ist lediglich die Beschreibung einer heutzutage wohl für viele gültigen Situation, vom Gesichtspunkt des denkenden, um Wahrhaftigkeit bemühten Menschen.

Diesem Menschen tritt dasjenige, was er Welt zu nennen gewohnt ist, zunächst als in sich selbständig und vom Menschen unabhängig existierende Zusammenstellung von Gegenständen entgegen, die vom Menschen zwar in ihrer Existenz und in ihrem Zusammenwirken erlebt, aber vorerst nicht letztgültig und vollständig begriffen und erklärt werden können. Wir erleben in der Welt also unmittelbar ihre von uns selber unabhängige Existenz, nicht aber das Walten derjenigen Kräfte und Mächte, die ihren jeweiligen Zustand hervorbringen und bestimmen. Was wir erleben, ist also Werk, fertiges Ergebnis, nicht Wirken und auch nicht unmittelbare Offenbarung des in dieser Welt waltenden Wesens.

Nun hat diese von jedem Menschen individuell erlebte Welt als eines ihrer hervorstechenden Charakteristika die Eigenschaft, dass alles in ihr Vorkommende früher oder später abstirbt, ein Ende findet und vergehen muss, um einem Neuen Raum zu geben2. Dazu gehört letztlich auch unsere eigene erlebende Anwesenheit in dieser Erdenwelt, denn diese Anwesenheit ist daran gebunden, dass wir einen Leib haben, durch den wir erleben und wirken können. Dieser Leib ist aus Stoffen und Kräften der Welt auferbaut und damit wie alles in der Welt vergänglich. Ohne den Leib haben wir aber vorerst keine Möglichkeit des Welterlebens. Insofern geht also die individuelle Welt eines jeden Erdenmenschen mit seinem Tod unter, löst sich auf.

Der Bemühungen, diesen persönlichen Weltuntergang zu verhindern, aufzuschieben, aus dem Bewusstsein zu verdrängen oder in etwas Wünschenwertes umzudeuten, gibt es viele. Dazu gehören die Verkündigungen von einem Eingang ins göttliche Paradies, in Gottes Schoß mit dem Tode ebenso wie die transhumanistischen3 Vorstellungen von der Dauerhaftmachung des persönlichen menschlichen Bewusstseins durch dessen Übertragung auf (als dauerhaft angenommene) Maschinen. Auch manche Rücksichtslosigkeit im ungezügelten Genießen des einzelnen Augenblicks, oftmals gesteuert durch die Hingabe an die Befriedigung von Trieben, die an das Dasein der Welt gebunden sind, hat hier ihren Ursprung. Genauso sind manche einflussreiche, oftmals fanatisierende Ideologien hier zu nennen, die der Sucht des Menschen entspringen, das Lebensregiment dem Tode in der Welt zu entreißen.

Grundsätzlich kann gesagt werden, dass alle derartigen Bemühungen illusionär sind. Denn auch das gewöhnliche Denken der heutigen Menschen ist ein Weltprodukt und trägt damit den Keim des Todes in sich. Wie viele scheinbar gnadenbringende Einrichtungen haben die Menschen aus solchem Denken nicht schon erschaffen, die aber dann allesamt über kurz oder lang entweder den Gang alles Irdischen genommen haben, also abgestorben, vergangen sind, oder den Menschen einem Regiment übermächtiger Weltendauer unterwerfen und damit seine Weiterentwicklung beschädigen oder unmöglich machen.

Die Tatsache, dass alles Weltensein zu seiner Zeit absterben muss, setzt nämlich die andere voraus, dass dieses Weltensein in ständigem Wandel ist, aus sich heraus sich entwickelt, also lebt. Ohne Leben kein Tod, und ohne Tod kein Leben. Wo der Mensch durch seine Taten in der Welt sein eigenes Leben den Regularien der Welt unterwerfen will durch Schaffung bürokratisch-mechanischer oder maschineller Weltprozesse, die ihn dann selber bestimmen, arbeitet er selber mit an seinem eigenen Tod. Alle solche Vorhaben zielen nämlich darauf, den Menschen nach den Regeln seines eigenen gewordenen, von der Welt bestimmten Denkens ewig, dauerhaft zu machen. Diese Regeln sind aber aus dem Erleben der absterbenden Welt gewonnen, und können daher nichts Anderes, als ein totes, ohne Entwicklung sich selber immer gleich reproduzierendes Maschinensein hervorbringen. Auf diese Weise geht aus dem Streben nach dem ewigen Leben des Erdenmenschen sein eigener Weltentod hervor, als dauernde Wiederholung des ewig Gleichen.

Was ist der Mensch?

Nun kann man aus dieser Betrachtung bereits eines lernen: indem das erlebende Ich des Menschen in die Welt tritt, und diesen Prozess nach und nach beobachten und begreifen lernt, erfährt es wohl eine Menge über das Weltendasein, nichts jedoch über sich selbst als derjenige, der in dieses Weltendasein mit der Geburt eintritt und es mit dem Tode wieder verlässt. Wer ist dann dieser individuelle Mensch, der sich selber Ich nennt und durch sein Weltensein hindurchgeht? Woher stammt er? Hat er eine Bestimmung, die in ihm selber liegt, oder erschöpft sich diese Bestimmung in dem Durchgang durch das Welten-Dasein? Solche Fragen können demjenigen aufgehen, der die Welt und sein eigenes Erleben darin unvoreingenommen beobachten und durchdenken will.

Wer mit der Frage nach sich selbst beginnt umzugehen, kann sich zunächst ein Grundsätzliches klarmachen: die Erkenntnis der Welt, wie sie uns gegenübertritt, geht zunächst von etwas Gegebenem aus, von den Inhalten unserer Sinneswahrnehmung vor allem, deren exaktes Zustandekommen wir aber genauso wenig unmittelbar gegeben haben, wie es eben bei allen Weltgegenständen ist. Wir nehmen die Erkenntnisinhalte wahr, ihr Entstehen und ihr Zusammenwirken entzieht sich der Wahrnehmung. Was wir darüber aussagen können zu ihrer Erklärung, tragen wir selber durch unsere Tätigkeit an die Gegenstände heran, fügen es ihnen hinzu.

Das ist bei der Auseinandersetzung mit der Frage nach uns selbst, nach dem Menschen also, grundsätzlich anders. Hier haben wir kein unmittelbar gegebenes Objekt, an dem wir ansetzen können. Als der Wahrnehmende und Denkende im Erkenntnisprozess treten wir als Subjekt auf, als Tätiges, das in Form unserer Gedanken und Vorstellungen sich selber erst Inhalte schaffen muss, bevor etwas erklärt werden kann. Bevor wir etwas über uns selber aussagen können, müssen wir schon etwas getan haben, nämlich den Inhalt der Aussage hervorgebracht haben.

Das ist ja bei allen Erklärungen so – auch gegenüber den Gegenständen der Sinneswelt –, aber deren Objekte sind uns gegeben und wir können unser Gedankenschaffen an ihnen überprüfen. Die Gegenstände der Sinneswelt sind uns aber nur als Ergebnis, als Werk gegeben, nicht jedoch ihr Entstehungsprozess. Das ist beim Denken über uns selbst anders: hier ist das Ergebnis nicht vorgegeben, dafür können wir aber dessen Entstehungsprozess verfolgen, denn wir sind ja selber mit unserem Tun daran beteiligt. Sowohl die Art des Hervorbringens von Vorstellungen und Gedanken als auch die Beurteilung ihres Entstehungsprozesses und ihrer Ergebnisse hängt von unserer eigenen Beteiligung daran ab.

Ist also zwar das Bewusstsein von uns selbst als einer erlebten Welt gegenüberstehendes Wesen eine gegebene Tatsache, die auch von der Sinneswelt zunächst abhängt, so schafft unser Denken über uns selbst Inhalte, die aus uns selber hervorgehen, von uns geschaffen sind und insofern nur noch mittelbar von der Existenz der Sinneswelt abhängig sind, indem sie nämlich das Bewusstsein von uns selbst für ihre Entstehung voraussetzen, nicht aber explizit die Sinneswelt als solche.

Damit schaffen wir in unserem Denken und Erkennen eine innere, geistige Welt mit, deren Entstehung in allen ihren Inhalten ohne unsere Beteiligung nicht möglich wäre. Die Inhalte dieser geistigen Welt bestehen daher gerade durch uns selber und unser Miterleben und Mitgestalten ihres Entstehungsprozesses. Ihre Beurteilung ergibt sich also nicht durch Vergleich des Ergebnisses mit dem zugehörigen gegebenen Objekt wie bei der Erkenntnis der Sinneswelt, sondern unmittelbar aus der Beobachtung ihres Werdens.

Je mehr solcher selbsterschaffener Geist-Inhalte der Mensch hervorbringt, desto mehr kann er sein Bewusstsein von sich selbst auf seine eigene schaffende Tätigkeit stützen und sich aus der Abhängigkeit im Erkennen von den Vorgaben der Sinneswelt lösen, also frei werden. Darin liegen Fluch und Segen zugleich. Der Segen ist das allmähliche Erlangen immer umfassenderer Freiheit im Erkennen. Der Fluch liegt in der Möglichkeit, diese Freiheit so zu nutzen, dass dabei die gegebene Sinneswelt den Motiven des eigenen Tuns untergeordnet wird.

Alle Utopien und Ideologien erliegen dieser Versuchung, den eigenen Zukunftswunsch den gegebenen Tatsachen überzuordnen und damit zu vergessen, woraus das Bewusstsein von uns selber ursprünglich gespeist wurde – nämlich aus dem Erleben der Sinneswelt. Damit stellt sich die Frage nach der Bestimmung des Menschen: ist er da, um seine eigenen, aus dem ja auch noch weitgehend unerkannten Inneren aufsteigenden Wünsche zu realisieren, indem er die gegebene Welt nur als Mittel seiner eigenen Macht betrachtet, oder ist er selber sozusagen das Mittel, das die Welt aus sich herausgesetzt hat, sich selber gegenüber gestellt hat, um sich selber durch den Menschen weiter zu entwickeln?

Notwendigkeit und Freiheit

Die umgebende Welt konfrontiert uns mit der Tatsache ihrer Vergänglichkeit und damit auch der Vergänglichkeit unseres eigenen, von der Existenz der Welt abhängigen Bewusstseins. Dieser Tatsache des Todes gegenüber kann also von Freiheit keine Rede sein. Wir sind hier der ehernen Notwendigkeit unterworfen, der gegenüber jede Auflehnung zwecklos ist.

In unserem Denken über uns selbst und in der Beobachtung der von uns selber ausgehenden Entstehungsprozesse unserer Gedanken und Vorstellungen bewegen wir uns demgegenüber in der Region der Freiheit, und dies umso mehr, als wir nach und nach lernen können, uns in unserem Selbstbewusstsein immer mehr auf diese selbsterschaffenen Prozesse zu stützen und uns so unabhängig zu machen von der Stütze, die uns die Sinneswelt sonst gibt.

Beide Reiche – die eherne Todesforderung der Sinneswelt, die letztlich nichts als erstorbene, fest gewordene Ergebnisse uns unmittelbar nicht gegebenen Werdens enthält, und das Reich des Lebens im Geiste, das aber in sich die Tendenz birgt, das eigene Schaffen der gegebenen Welt vorzuziehen und damit den eigenen Entstehungsgrund im Gegebenen zu leugnen – beide Reiche stehen sich so zuerst als Gegensätze gegenüber. Notwendigkeit des Todes in der Sinneswelt und Freiheit des Lebens im Geiste scheinen unvereinbar.

Wenn wir so denken, vergessen wir dabei unseren eigenen Beitrag: die Gegenüberstellung dieser beiden Seinsbereiche – Weltentod und Geistesleben – ist unser eigenes Werk im erkennenden Umgang mit den Tatsachen unseres Lebens. Die Unvereinbarkeit beider stellen wir fest aufgrund eigener, im Geiste von uns mitgestalteter Denkprozesse. Wenn wir dies bemerken, verhalten wir uns einer von uns selber geschaffenen Geisttatsache (Gedanke der Unvereinbarkeit von Notwendigkeit und Freiheit) gegenüber so, wie wir dies der Sinneswelt gegenüber gewohnt sind: wir vergleichen Denkprozess und Ergebnis und bemühen uns, beide in Übereinstimmung zu bringen. Dabei können wir feststellen, dass wir ein wichtiges Glied in der Kette noch übersehen haben.

Die Notwendigkeit des Weltenwerdens hat aus sich heraus ein Werk vollbracht – den seiner selbst sich bewusst werdenden Menschen –, das den Keim der Freiheit in sich birgt, in der Möglichkeit der Abkehr vom ersterbenden Werk und der Zuwendung zum lebendigen Schaffen. Was liegt aber dann dem Weltenwerden zugrunde als Garant des Selbstbewusst-Werdens des Menschen zu seiner Freiheit? Ist das nicht dieselbe geistige Welt des Schaffens und Hervorbringens, die wir Menschen im Gedankenschaffen in uns tragen und deren selbstbewusstes Glied wir werden können, je mehr wir uns auf diese lebendige Welt selber zu stützen lernen und damit von der gegebenen Sinneswelt uns unabhängig machen?

Der Versuch einer vorläufigen Antwort auf solche Fragen führt uns in den Bereich der tiefsten Urgründe des Menschenwesens. Was liegt der Welt der Sinneserlebnisse ebenso zugrunde wie der geistigen Welt unseres eigenen Erkenntnisschaffens? Es ist dies dasjenige Wesen, das als Urgrund unseres selbstbewussten Schaffens erst den Gegensatz von Weltobjekt und erkennendem Subjekt hervorbrachte, aus dem der freiheitssuchende Mensch hervorgeht. Dieser Mensch braucht daher zu seinem Dasein beide Seiten, um diese nach und nach in seine Freiheit aufzunehmen und in eine neue, ihrer selbst bewusste Einheit zu überführen, die sich dann aus ihrer Mitte heraus selber tragen kann.

Der Vater-Gott, der Welten-Urgrund also stellte sich im toten Werk seinem eigenen lebendigen, schaffenden Geist gegenüber und schuf sich so den Menschen-Sohn, der erst durch sich den unerbittlich waltenden Vater-Gott der Welt mit dem alles zu neuem Leben führenden Geist in sich zu einen vermag. So führt er im Sohn die Welt in den Geist, indem er den Geist der Welt in sich belebt, und den Geist in die Welt, indem er ihr sein Schaffen als Werk einfügt.

Dies kann mit Recht der Christus genannt werden, der erst durch das Auftreten des schaffenden Gottes in der Werkwelt sich mit dieser einte im Tode, und damit Ausgangspunkt zu einer Auferstehung der untergehenden Werkwelt zu neuem Leben im Geiste werden konnte. Dieser Geist des MENSCHEN-GOTTES, des Gottes-Menschen gibt in seinem Auftreten in der Werkwelt der Welt und dem aus ihr hervorgegangenen Menschen ihren Entwicklungs-Sinn.

Durch ihn ist der Vater-Gott, der Welt-Erschaffer von seinem Wirken durch die Welt zum Wirken durch jeden einzelnen Menschen, mithin durch die Menschheit als Ganzes übergegangen; er selbst, der Menschen-Gott wird im Menschen-Sohn zum Repräsentanten der Menschheit schlechthin. In jedem Einzelnen von uns lebt seitdem eine Variante dieses Menschheits-Repräsentierens, bewusst oder unbewusst.

Und weil so der innerste Kern aller individuellen Menschen ein einheitlicher, universeller ist, schließt er auch die Existenz der Welt und ihr Hervorbringen mit ein, ja, ist geradezu diese Welt, hat sich mit ihr geeint und wirkt daher durch sie. Jeder einzelne Mensch, der seinen innersten Kern sucht, kann sich sagen: das Einzigartige, Unverwechselbare, in dem meine Individualität besteht, liegt in meiner Welt! Indem ich mich meiner Welt hingebe, so wie der Christus sich der Erdenwelt als Ganzer einte, werde ich erst wirklich frei. Dann erst, im Einswerden mit der Welt nehme ich auch die Grundbedingung meiner Existenz, meiner Entwicklung zur Bewusstwerdung in mich auf, nämlich den Tod in der Welt, und schaffe damit einen Ausgangspunkt für ein zukünftiges, wahrhaft freies, geistiges Welten-Leben.

Worin liegt die Zukunft?

Meine Zukunft liegt daher in einem geistigen Leben, das seinen Gegensatz zur Welt nicht als Erleben eines dunklen Weltenzwanges ansieht, sondern darin gerade die Bedingung seines bewussten Menschenseins erkennt. Damit einher geht eine Veränderung im Leben, die radikaler nicht sein könnte: sahen wir zunächst unsere Individualität als eine welt-entsprungene an, die daher nur insofern frei sein kann, als dieser Ursprung es zuläßt, werden wir nun im Laufe der Entwicklung mehr und mehr zu Geistwesen, die ihren eigenen Weltenursprung einschließen und damit die wahre Freiheit nach und nach entstehen lassen können.

Die Führung des Lebens der Welt geht daher von der fremden, unerkannten Welt auf uns selber über, in vollem Bewusstsein. Vergessen wir aber nicht, was nötig dafür war, immer noch ist, und noch lange bleiben wird: der mehr oder weniger allmähliche, von Zeit zu Zeit aber auch sprunghaft voranschreitende Untergang der uns gegebenen, fremden Außenwelt, ihr Tod also, ihr Vergehen.

Dies kann man einerseits ganz individuell auf sich selbst beziehen. Indem ich die Welt verlasse, geht sie mir unter. Mein Dahinscheiden ist also identisch mit dem Untergang meiner individuellen Sinnes- und Erlebniswelt. Soweit diese Welt mir fremd geblieben ist, wird auch mein Geist-Erleben das Bewusstsein verlieren. Soweit ich diese Welt aber in liebender Hingabe mit mir vereint habe, also auch ihren geistigen Urgrund anstelle ihres äußeren Werk-Seins als Bedingung meines Selbst-Bewusstseins erkannt habe, habe ich mich unabhängig vom Gewordenen gemacht und kann mein individuelles Bewusstsein im Untergang der Welt aufrecht erhalten. Soweit ich also mich bewusst zum Ausdruck des Christus, des Menschheits-Repräsentanten gemacht habe, werde ich auch im Bewusstsein Anteil haben an der Auferstehung des Geistes aus dem Weltentode.

Ohne den Untergang derjenigen Welt, in der Leben und Tod sich bedingen, werde ich also des Ewigen nicht teilhaftig werden. In der Sinneswelt regieren die Lebenszyklen der Entwicklung zwischen dem sprießenden Keim und dem Vergehen; nur im Geiste können wir erleben lernen, wie aus Leben und Tod erst Entwicklung – also neues Leben – hervorgeht, können uns mit diesem Gang vereinen und so als Mitschöpfer in die ewige Entwicklung eintreten.

So wie dieser Vorgang im einzelnen irdischen Menschenleben sich ereignet, geschieht es auch in der ganzen Menschheit. Soweit, wie es Menschen gibt, die die Bedingungen der Weiterentwicklung der Menschheit und ihrer Welt in sich selber aus dem Geiste heraus erschaffen können, wird das dunkle Walten der fremd gewordenen Welt durch ein helleres, menschliches ersetzt. Das heißt aber im Umkehrschluß auch, dass die Bedrohung unserer Existenz durch den Weltuntergang, das Zerfallen, Vergehen derjenigen Welt also, die uns aus sich hervorgehen ließ und heute noch trägt, solange immer stärker und bedrängender werden wird, wie es diese geist- und weltentragenden Menschen-Söhne nicht gibt. Nicht der Weltentod, der Welt- Untergang ist also das eigentliche Problem, der Stein des Anstoßes, sondern die damit verbundene Bedrohung unserer Existenz. Diese hängt aber von unserem Umgang mit der aufgeworfenen Frage ab: sterben wir mit der Welt ab, oder erheben wir sie durch uns in den Geist?

Rudolf Steiner formulierte es einmal so: Es ist ein geheimnisvoller Zusammenhang zwischen dem, was menschliches Bewußtsein ist, und den zerstörerischen Kräften des Weltenalls, gerade den Untergangskräften des Weltenalls. (…) er besteht so, daß das eine als Ersatz für das andere auf der einen Seite dienen kann oder auf der anderen Seite dienen muß …“4. Der Weltuntergang kann also etwas Notwendiges sein, die Not, die mit ihm einhergeht, wenden, indem seine andere Seite auftritt: der Mensch als Welten-tragen-Wollender.

Irrtümer

Der im Vorstehenden umrissene Gedankengang kann nun vielfältige Irrtümer in das Bewusstsein treten lassen, die dazu führen können, dass das Erreichen des Ewigkeitszieles der bewussten Durchgeistigung von Erde und Mensch behindert und geschädigt wird. Einige davon sollen hier abschließend kurz angedeutet werden.

So kann der einzelne Mensch dazu neigen, seinen eigenen Beitrag als so unwesentlich anzusehen – aus der Erfahrung der dauernden Übermacht der Sinneswelt mit ihren Gesetzen –, dass er die mit seinem eigenen Beitrag verbundene Mühe nicht aufbringt. Wer sich so verhält, hat noch nicht genügend Verständnis erlangt für den grundsätzlich anderen Charakter der geistigen Welt, die sich in der Selbstbeobachtung des Menschen auftut, im Vergleich zur äußeren Sinneswelt, die uns gegeben ist. Auf die in der Vorbemerkung angeführte Aussage Rudolf Steiners über das Verstehen-Können und Verstehen-Wollen sei hier nochmals hingewiesen.

In der gegebenen Sinneswelt liegen die Dinge getrennt von einander vor uns, und das Gesetz der Menge regiert. Was mehr ist, wird diese Welt stärker prägen als das Wenige. Ganz anders im Geiste: hier lebt alles ineinander, geht auseinander hervor und eint sich aufs Neue. Bringt ein Einzelner Bewusstsein in bestimmte Verhältnisse hinein, so tut er dies zugleich für die ganze Menschheit – auch, wenn diese vielleicht zunächst nichts davon bemerkt. Was einer erkannt hat, ist damit für immer ein Erkanntes. Darum lebt ja auch jeder sein individuelles Leben, das ihm seine individuellen, konkreten Aufgaben stellt. Was also der eine nicht zu Bewusstsein bringt, bleibt als Erkenntnisaufgabe ungelöst, bis entweder er selber oder ein anderer die Lösung bringt. Es gibt darum ganz prinzipiell gar keinen unwesentlichen Beitrag zum Ganzen; jeder, auch der kleinste Beitrag ist wesentlich. Und alles, was der Einzelne aus sich heraus, frei gewollt leistet, kann ein solcher Beitrag sein.

Des Weiteren könnte man die Einsicht in die Notwendigkeit des Welt-Unterganges zum Anlass nehmen, nun gleich ganz vorsätzlich einmal „tabula rasa“ machen und selber den Schalter auf „Aus“ stellen zu wollen. Das ist aber genauso wie der vorher angesprochene Irrtum nur ein Ausfluss des Unwillens, die Arbeit, für die der Mensch im Weltenganzen einmal vorgesehen ist, auch auf sich zu nehmen. Den Schalter auf „Aus“ zu drehen, ist scheinbar leicht und schnell getan; die Welt in Hingabe an jedes kleine Weltenwerk nach und nach in den Geist zu führen, ist eine Aufgabe für lange Zeit, die dem Menschen daher schwer erscheint.

Den Schalter auf „Aus“ zu stellen, ist aber unwiderruflich; und der Mensch kann irren, wenn erglaubt, seine Entwicklungsaufgaben würden ihm schon von anderen abgenommen. Sind wir denn tatsächlich schon so weit entwickelt, dass wir auf den ständigen Zyklus von Leben und Tod in der Sinneswelt verzichten können? Warum erscheint uns dann immer noch der uns bedrohende Weltuntergang? Der Schalter auf „Aus“ – wäre das denn nicht derzeit auch der endgültige Menschheitstod?

Nein, die Vernichtung der Welt ist ja kein Sinn in sich; sie ist nur im Rahmen der Vergeistigung durch den Menschen not-wendig, und dies fordert eben jeden Einzelnen, der sich zum Repräsentanten reiner Menschlichkeit entwickeln will. Es geht nicht um den Tod an sich, sondern darum, den Welten-Tod in sich aufzunehmen, um ihn dadurch zum Geist hin zu überwinden.

Die Welt zu leugnen, sich von ihr loszusagen oder sie sogar mutwillig zerstören zu wollen um selber im Geiste von ihrem Walten frei zu werden, kann wohl persönlicher Wunsch sein. Aber in der Welt muss ein Gleichgewicht sein von Leben und Sterben. Wer sein inneres Leben nur für sich behalten will, entzieht es dem Welt- und Menschheitsganzen, und wirkt darum mit an dem Ungleichgewicht, das dort entsteht. Da nimmt man die eigene selbstbewusste Existenz als ein Geschenk des Weltenwerdens hin und gibt nichts zurück. Die ganze Welt als Werkzeug meiner Wünsche, indem ich sie mir aus dem Bewusstsein hinausschaffe, um (vermeintlich) von ihr frei zu werden?

Aber das Leben, das Er-leben ist in mir. Gebe ich es nicht der Welt, so erstarrt sie umso mehr im maschinellen Tode, in der automatischen Lebensimitiation. Ohne mein hingegebenes Miterleben der Welt stirbt sie ab – ohne dass darin die Not gewendet wird zum Geist, ohne Notwendigkeit also, nur aus reiner Willkür des sterblichen Erdenmenschen. Diese Willkür ist auch ein Irrtum. Denn der Mensch, der ihm erliegt, ist noch nicht frei geworden von dieser Welt, für diese Welt, und wird mit ihr im selbstgeschaffenen Strudel untergehen.

Man muss sich der Idee erlebend gegenüberstellen können, sonst gerät man unter ihre Knechtschaft.“5

Leben in der Liebe zum Handeln, und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime der freien Menschen.“6


Aphoristische Ergänzungen zum Thema

I

Der Tod ist not-wendig. Wird er nicht im Leben selbst vollzogen, so zwingt er von außen. Er muss erkannt werden als der Schlüssel zum Leben. Wer sich selbst erstirbt, zum Sterben bringt, wird sich auferstehen sehen. – Die Rede ist nicht vom „Selbstmord“ –

Was ist mein Wille? Welches Wesen spricht da in mir? Wer lebt in all den Ideen, Willensimpulsen, Gefühlen, die mich durchziehen?

Wer ist dann Volk, Familie, Menschheit, Ich? Sie alle leben in mir, durch meine Welt offenbart. Aber ich erkenne sie nur, wenn ich ihre Sprache erlausche.

Jeder Gedanke ist Wesen. Jeder Weltgegenstand spiegelt Wesen. Jeder Stoff ist Geist – in Stoffesform. Treten wir ein in den Chor der Wesen.

Hören wir, was sie sprechen. Hören wir ihr Urteil, in den Ereignissen der Zeit. Lassen wir unser Wünschen fahren – treten wir machtlos, wie wir sind, aber voller Mut und Lebensliebe alldem entgegen, was uns in den Strudel der Zerstörung ziehen will. Christus in uns – der Welt der Teilung gegenüber. Werden wir zum Quell der Heilung.

II

Deutschland kann nichts. Wer sich zum Deutschen macht, kann viel. Wer Michaels Ruf hört, geht ihm entgegen, ohne Furcht, in Liebe zum Menschen.

Dies Hören, dies Schreiten, diese Liebe sind seine Kraft, die er der Zukunft schenken wird.

Zögern wir nicht: wir alle sind Siegfried, wir alle können ihm die Erlösung schenken. Erlösung von schwerer Schuld, von Irrtum und Versagen.

So wird er uns vorangehen auf unserem Weg, zwischen Skylla und Charybdis, aber frei, den Sirenen trotzend, dem Gesang widerstehen. Beide Wege zugleich sind uns gegeben.

––––––––––––––––––––––

Die Welt zeigt außen, was wir innen leben. Nehmen wir die Führung in unsere Hände, jeden Augenblick, den wir leben.

III

Was uns umgibt, ist Wesen, ebenso wie alles, was in uns – in MIR – lebt. Wir sind Geist unter Geistern, und erleben uns doch in einem toten Schattenspiel.

Ja, meine Welt ist meine. Ich bin Wesen. Aus mir geht sie hervor. Aus ihr ging ich hervor – ihrem Wesen. So ist es, und so wird es erst einmal bleiben. Gehe ich mit meiner Welt um – innen und außen – so gehe ich mit mir um. Doch ich verstehe mich nicht, kenne meine Sprache nicht, mit der ich mich anrufe.

So soll ich etwas und kann es nicht. Nein, ich muss es tun und kann es nicht. Ich muss erst wachsen, doch wachse ich erst, wenn ich mir das Wachstum schenke, das ich nicht kenne, von dem ich nicht weiß.

Das ist unmöglich. Und doch: tagtäglich geschieht es. Lerne ich es hinnehmen. Lasse ich mich führen von mir. Nehme ich den Irrtum auf mich, den unvermeidlichen. Durch ihn lasse ich mich wachsen.

Wo der Irrtum stirbt, ersteht die Wahrheit zum Leben. Ich bin der Irrtum.
Sterbe ich, so steigt die Wahrheit auf – aber ohne mich, mein Tun, mein Wollen. Wo ich mir sterbe, lebe ich in der Wahrheit der Welt. Sterbe ich der Welt – die Welt mir – so lebe ich in mir in Wahrheit – aber ich suche die Welt, durch die ich zu mir sprechen kann.

Dass nicht ich, sondern andere die Welt in mir sprechen lassen, ist Lüge. In mir lebt der Gott, der Tropfen göttlichen Seins, der Herr ist allen Schicksals, der Sprache des Karma mächtig. Ich bin es selbst. Immer. Bis ans Ende aller Tage.

Das Fremdsein ist Lüge, geboren aus meiner Furcht vor mir selber. Ich bin unteilbar, „Individuum“. Und doch mir selber fremd geworden.

Stefan Carl em Huisken


1Rudolf Steiner: Die okkulte Bewegung im neunzehnten Jahrhundert und ihre Beziehung zur Weltkultur. GA 254. – Dornach, 1986, S. 187

2selbst für die ganze Erde geht die Geologie spätestens seit Eduard Süß (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Eduard_Suess) davon aus, dass die Erde sich in einem allmählichen Ab­sterbeprozess befindet. Vgl. dazu von Rudolf Steiner z.B. der Vortrag vom 7. Mai 1923 in Rudolf Steiner: Die menschliche Seele in ihrem Zusammenhang mit göttlich-geistigen Individualitäten. Die Verinnerlichung der Jahresfeste. GA 224. – Dornach, 1992, S. 144ff

3vgl. dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Transhumanismus und https://emhuisken.de/den-menschen-ueberwinden-transhumanismus-und-geist-erkenntnis/

4Rudolf Steiner: Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis. GA 177. – dornach, 1999, S. 17

5Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit. GA 4. Dornach, 1973, S. 271)

6ebd., S. 166


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Cover Wahnsinn und Denken Umdenken Weltuntergang

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Pandemie der Realitätsverleugnung

Ausgangslage

Die Vorstellung, dass es zwischen Menschen keine grundsätzlichen Unterschiede gibt oder geben sollte, beruht auf einem unbewussten, berechtigten Zukunftsimpuls. Dieser Impuls zielt auf den eigentlichen Kern des Menschen, den wir „Ich“ zu nennen pflegen, der aber ein durchaus problematischer ist. Dieser Kern kann nämlich nicht unmittelbar wahrgenommen werden, da er ja gerade dasjenige Wesen ist, das alles andere wahrnimmt und erlebt. Zwar kann der Mensch sich im Verlauf der Erlebnisse Vorstellungen von sich selber machen; allein ist dieser Vorgestellte dann niemals unmittelbar derselbe, der jetzt diese Vorstellung hat und damit umgeht. Der heutige Mensch ist insofern ein Selbstvergessener1.

Dies steht im Zusammenhang mit der Tatsache, dass wir Heutige die ja nur geistig fassbaren Verhältnisse und Urgründe der uns umgebenden Welt nicht unmittelbar erleben können – objektive Wahrheit also für uns nicht etwas Gegebenes ist – sondern wir anhand der Wahrnehmungen, die wir machen, uns zunächst Hypothesen, Annahmen über den Weltzusammenhang bilden müssen, die wir dann mehr oder weniger systematisch experimentell an der Wahrnehmungswelt zu überprüfen versuchen. Was uns dann am wahrscheinlichsten erscheint, weil es in der Überprüfung am wenigsten Widersprüche produzierte, glauben wir solange, bis es einen „schlagenden Gegenbeweis“ gibt. Das ist – in einfache Worte gebracht – das Verfahren der heutigen Wissenschaft, sofern sie ihren eigenen Impulsen folgt.

Welterklärung

Nun ist aber der Grundtrieb, der den ungeheuren Anstrengungen zugrundeliegt, die Wissenschaftler überall auf der Welt auf sich nehmen, der Drang des Menschen nach einer in sich stimmigen Welterklärung. Darin sucht er die Sicherheit, die er in sich selbst nicht finden kann, weil er sich selber eben nicht wahrnimmt, sondern nur durchlebt. Nun ist es zumindest weiter denkenden Menschen ja klar, dass es solche Sicherheit auf dem Wege von Theorie und Experiment niemals geben kann. Das reale Leben schafft immer wieder Abwechslungen, die dann das bisherige Weltmodell erschüttern können.

Um in dieser Situation zu bestehen, gibt es unterschiedliche Wege:

  1. Man akzeptiert die Unvollkommenheit der eigenen Erkenntnismöglichkeiten der Wahrheit gegenüber, und sucht sich für die Stabilisierung der eigenen Persönlichkeit ein Feld aus, das man für grundsätzlich unerkennbar erklärt – die Wahrheit eben –, auf dem dann die persönliche Glaubensentscheidung gilt. Wo man nicht erkennen kann, glaubt man eben. Das ist der Quell aller Konfessionen.
  2. Man glaubt – ohne es zu bemerken, dass man glaubt – an die Objektivität äußerlich-technologisch vermittelter Modelle von Wirklichkeit und erklärt diese dann zur Realität. Beispiele davon gibt es zu Hauf.

Nur ein besonders aktuelles Beispiel sei herausgegriffen: die Frage der Existenz von Viren (und mancher anderer, mit unseren „normalen“ Sinnen unwahrnehmbarer Kleinstlebewesen). Hier gibt es zwei unterschiedliche Herangehensweisen.

Die eine Richtung will sich darauf verlegen, diese Wesen durch technische Mittel (z.B. Elektronenmikroskop) eben doch „wahrnehmbar“ zu machen. Diese Richtung vergisst dabei aber, dass die technischen Mittel auf bestimmten Theorien beruhen, die glaubhaft machen wollen, dass das, was man im Elektronenmikroskop sieht, eine „Realität“ und in der Welt so, wie man es da sieht, vorhanden sei. Das Bild aber, was man da sieht, ist aus elektrischen Impulsen zusammenkonstruiert, und diese Impulse und ihre Bedeutung sind für sich genommen unwahrnehmbar, nur Gegenstand einer bestimmten Theorie über den Zusammenhang solcher Impulse mit den Tatsachen, einer Theorie im Übrigen, die auch der Konstruktion des Hilfsmittels zugrunde liegt. Hier wirkt also der Glaube an eine bestimmte Möglichkeit der Abbildung von Realität, gespeist durch die zugehörige Theorie. Im Kleide der „realen Wahrnehmung“ begegnet uns also Glaube.

Die andere Richtung basiert auf einer anderen Theorie: derjenigen der statistisch fassbaren Übereinstimmung von errechneten Werten als Kennzeichen der Realität. Man hat dabei eine bestimmte Gesamtheit von Messwerten, die man in Bezug auf eine wahrnehmbare Tatsache gemacht hat, und wenn man bei anderer Gelegenheit Messwerte generiert, die sich als in einem als aussagekräftig angenommenen Rahmen (wer bestimmt diesen Rahmen?) als übereinstimmend mit der ersten Messreihe erweisen, so stellt man dadurch das Vorhandensein derselben Realität in beiden Fällen fest. Nur bleibt dabei außer Acht, welche Messwerte warum für aussagekräftig angesehen werden (warum gerade diese, unter Außerachtlassung anderer möglicher Messwerte?), und die Tatsache, dass jedes Rechenmodell begrenzt ist, die Realität aber – wie wir wissen – prinzipiell unbegrenzte Möglichkeiten hat. Die „anderen möglichen Messwerte“ können sich eben unvorhersehbar geltend machen, und die erfolgte „Berechnung der Realität“ widerlegen. Beispiele dafür haben die diversen Modellberechnungen epidemiologischer Art und ihre regelmäßige Widerlegung durch die Realität im Rahmen der sogenannten „Corona-Pandemie“ geliefert, ebenso der PCR-Test, der nach einem ähnlichen Grundprinzip funktioniert.

Beiden Herangehensweisen ist gemeinsam, dass sie – ebenso wie der konfessionelle Glaube – nicht auf einer unmittelbar gegebenen Tatsachenwahrnehmung fußen, sondern auf (im Geiste!) erdachten Methoden der Wahrnehmungserzeugung, an deren Ergebnisse man dann das Etikett „Realität“ heftet.

Dass eine überstarke Theorie- oder Glaubensverliebtheit dazu verleitet, Widersprechendes einfach zur „ungültigen Wahrnehmung“, zum „Messfehler“ zu erklären, dafür gibt es viele Beispiele. Was mit den eigenen Mitteln unerklärbar ist, gilt eben als nicht existent. Eine ganze Reihe solcher Fälle von „unterdrückten Realitäten“ führt Andreas Delor in seinen umfangreichen Atlantis-Studien auf2. Der Satz von Christian Morgenstern: „Es kann nicht sein, was nicht sein darf.“3 scheint vielfältiger zu gelten, als man zunächst annimmt. Was also zu den gängigen Theorien oder dem eigenen Glauben nicht passt, wird einfach für nicht existent erklärt. Man ist eher geneigt, Wahrnehmungen zu unterdrücken oder zu verdrängen, als die Grundlagen der eigenen Weltanschauung in Frage zu stellen. Wie sollte man sich auch sonst seiner selbst versichern?

Wahre Wirklichkeit oder „Virtuelle“ Realität?

Durch Wahrnehmungen tut sich aber die Realität kund. Wo ich Wahrnehmungen „aussortiere“, verdränge ich immer auch einen Teil der Wirklichkeit. Dadurch entsteht nach und nach eine neue, eine „virtuelle“ Realität4, in deren Rahmen man sich bewegt. Wer also die Wirklichkeit als eine solche ansieht, die nach den (Teile der Wahrnehmungen ausschließenden) fassbaren Gesetzen im Rahmen der eigenen Theorie (des eigenen Glaubens also) „funktioniert“, kann gar nicht anders, als zunehmend die tatsächliche Wirklichkeit unbeachtet zu lassen, aus den Augen zu verlieren – jedenfalls dann, wenn er nicht seine Theorie grundsätzlich in Frage stellen will.

Die vielfältigen Fehlprognosen und Fehlentscheidungen der letzten zwei Jahre geben ein sprechendes Beispiel für diese Art der Abkoppelung des eigenen Handelns von der Realität, hier vor allem in den Bereichen der Virologie und Epidemiologie. Gegenüber anderen Weltverhältnissen setzt sich dies derzeit fort – mit äußerst gefährlichen Auswirkungen für die Menschheit insgesamt. Das sind aber nur die nun sichtbar werdenden „Spitzen der Eisberge“, zwischen denen unsere Zivilisation laviert. Das Handeln so, „als ob“ die vorliegenden technischen Werkzeuge Wahrheit zutage fördern könnten, prägt alle Erkenntnis- und Gestaltungsbereiche des menschlichen Umganges mit sich und der Welt.

Diese Situation ist offensichtlich nicht gesund, eine Art weltweiter gesellschaftlicher Grunderkrankung, und kann darum als „Pandemie der Realitätsverleugnung“ bezeichnet werden.

© Stefan Carl em Huisken 2022

1Mehr und ausführlicher dazu vgl. em Huisken, Stefan Carl: Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen. – Borchen: Ch. Möllmann, 2021, vor allem Kapitel I-III

2Delor, Andreas: Atlantis aus aktueller hellsichtiger und naturwissenschaftlicher Sicht. Bd. 1-8. – Borchen: Ch. Möllmann, 2011 ff. Näheres dazu => hier. Beim Thema „Atlantis“ liegt es nahe, dass z.B. archäologische Funde, die weithin als gültig angesehene Theorien in Frage stellen, in dieser Weise „aussortiert“ werden. Sie sind aber vorhanden.

3Vgl. das Gedicht „Die unmögliche Tatsache“ in: Morgenstern, Christian: Alle Galgenlieder. – Frankfurt a.M.: Insel Verlag, 1975, S. 165 f

4Das Wort „virtuell“ bedeutet dem Sinne nach „möglich, als Mögliches wirkend“. Eine virtuelle Realität ist also eine mögliche, die aber so wirken kann, als sei sie eine tatsächliche, jedenfalls dann, wenn an sie geglaubt wird.




Freie Geistgemeinschaft oder äußere Institution?

Ergänzende Anmerkung zu meiner Stellungnahme

In ENB1 14/2022, S. 14f wurde eine Stellungnahme von mir zur Frage der Mitgliedschaft in der anthroposophischen Gesellschaft veröffentlicht2. Der abschließende Absatz führte zu Nachfragen. Ich schrieb damals:

„Nur der Vollständigkeit halber sei zum Abschluss darauf hingewiesen, dass Rudolf Steiner vielfältig und immer wieder darauf aufmerksam machte, dass geistige Initiativen, wenn sie zu irdischen Institutionen werden, verkannt werden und sich in ihr Gegenteil verkehren müssen. Beides gut voneinander zu unterscheiden, und die äußere Institution, wenn sie ihrem Zweck nicht mehr angemessen dient, aufzugeben oder wenn möglich gänzlich neu zu fassen scheint für manche Menschen schwer oder gar nicht denkbar. Notwendig könnte es trotzdem sein.“

Insbesondere wurde nach einer Quelle für die entsprechenden Hinweise Rudolf Steiners gefragt. Dazu möchte ich feststellen, dass ich meine, sicher zu wissen, dass es eine Aussage Rudolf Steiners gibt, die den im ersten Satz des Abschnitts umrissenen Sachverhalt klar zum Ausdruck bringt, ich diese nach meiner Erinnerung fast wörtlich so formulierte Aussage aber derzeit nicht belegen kann3.

Das ändert meiner Ansicht nach aber nichts an der Aussage selbst, und auch nicht daran, dass sie ganz offensichtlich mit den geistigen Tatsachen zusammenstimmt, von denen Rudolf Steiner bei diesem Thema immer wieder sprach. In diesem Sinne stehe ich zu meiner Aussage; sollte ich das Zitat wiederfinden, werde ich es unmittelbar zur Verfügung stellen. Die Aussage selbst möchte ich aber im Folgenden ein wenig illustrieren. Möglicherweise wirft das auch ein zusätzliches Licht auf die in ENB 15/2022 mitgeteilte4 und in ENB 16/2022 anfänglich diskutierte5 Aussage Rudolf Steiners zur Dreigliederung.

Geistesleben

„In dem einen der drei Glieder des sozialen Organismus strebt diese Idee [von der Dreigliederung des sozialen Organismus]6ein Zusammenwirken von Menschen an, das ganz auf den freien Verkehr und die freie Vergesellschaftung von Individualität zu Individualität begründet ist. In keine vorbestimmte Einrichtung werden da die Individualitäten hineingezwängt.“7

Nimmt man diese Aussage ernst, so kann es keine äußerlichen Institutionen geben, die diesen freien Verkehr erst ermöglichen, denn sie würden durch ihre äußeren (rechtlichen und/oder wirtschaftlichen) Setzungen gerade etwas „vorbestimmen“. Eine Befreiung des Geisteslebens kann daher niemals irgendwie von außen erfolgen, sondern ist nur als eine Selbstbefreiung aus dem Geiste heraus denkbar. Die sinnvolle Regulierung aller anderen Bereiche geht ja gerade vom Geistesleben aus. Äußere Institutionen, die dem Geistesleben dienen sollen, können also allenfalls verwalten, was vom Geistesleben ausgeht, und dies auch nur in Sinne einer Selbstverwaltung.

Eine solche Auffassung geht von der Tatsache aus, dass es sich bei der Dreigliederung um eine Idee handelt, die existierende Verhältnisse beschreibt (analog der Dreigliederung des menschlichen Organismus), aber nur gesund wirken kann, wenn sie im menschlichen Bewusstsein erfasst und geltend gemacht wird. Dann ist sie geistige Tatsache und keine Utopie8.

Institutionen

„Was hinzukommen muß, ist die lebendige Anschauung, die für dieses Erdenleben auch mit dem Tod rechnet, die sich bewußt wird: Wir machen in der Gegenwart Institutionen, die notwendigerweise auch untergehen müssen, weil sie schon das Todesprinzip in sich tragen, die gar nicht wollen einen ewigen Bestand haben, die gar nicht daran denken, etwas Bleibendes zu sein. Wodurch kann denn aber so etwas realisiert werden ? (…) wenn man erkennen wird: Wir leben im Reich der Phrase, unter dem das bloße Wirtschaftsleben, der bloße wirtschaftliche Imperialismus glimmt –, dann wird man rufen nach dem Geiste, der unsichtbar, aber in der Wirklichkeit waltet.“9

„Die «soziale Frage» (…) wird für jeden Augenblick der weltgeschichtlichen Entwickelung neu gelöst werden müssen. Denn das Menschenleben ist mit der neuesten Zeit in einen Zustand eingetreten, der aus dem sozial Eingerichteten immer wieder das Antisoziale hervorgehen läßt. Dieses muß stets neu bewältigt werden. Wie ein Organismus einige Zeit nach der Sättigung immer wieder in den Zustand des Hungers eintritt, so der soziale Organismus aus einer Ordnung der Verhältnisse in die Unordnung. Eine Universal­arznei zur Ordnung der sozialen Verhältnisse gibt es so wenig wie ein Nahrungsmittel, das für alle Zeiten sättigt. Aber die Menschen können in solche Gemeinschaften eintreten, daß durch ihr lebendiges Zusammenwirken dem Dasein immer wieder die Richtung zum Sozialen gegeben wird.10

Ich lese daraus: die (ja unbezweifelbar äußere) Institution AAG hat möglicherweise das Ende ihres Lebenszyklus erreicht, weil sie verkannt wird, für mehr gehalten wird als für ein vorübergehendes Verwaltungsinstrument, sich darum vom Sozialen ins Antisoziale verkehrt und damit den ursprünglichen Geistimpuls der Anthroposophie dem Reiche Ahrimans (der äußeren Welt also) öffnet.

Die Rache der Geister

„Der irrigste Glaube, den jemals die Menschheit hat hegen können, das ist der – wenn ich mich trivial ausdrücken darf –, daß die Geister es sich gefallen lassen, ignoriert zu werden. Fassen Sie es meinetwillen auf als einen Egoismus, als eine Selbstsucht der Geister, aber in der geistigen Welt gilt eine andere Terminologie als hier in der sinnlich-physischen Welt. Also fassen Sie es meinetwillen auf als einen Egoismus der Geister, aber die Geister rächen sich, wenn sie ignoriert werden hier. Es ist ein Gesetz, es ist eine eherne Notwendigkeit: Die Geister rächen sich. Und unter den mancherlei Charakteristiken, die man geben kann für die Gegenwart, ist auch diese richtig, daß man sagen kann: Die Rache der Geister dafür, daß man sie so lange ignoriert hat, das ist das gegenwärtige Menschheitschaos. (…) Es ist ein geheimnisvoller Zusammenhang zwischen dem, was menschliches Bewußtsein ist, und den zerstörerischen Kräften des Weltenalls, gerade den Untergangskräften des Weltenalls. (…) er besteht so, daß das eine als Ersatz für das andere auf der einen Seite dienen kann oder auf der andern Seite dienen muß …“11

Sollte eine solche Aussage nicht auch für die Anthroposophie und die anthroposophische Gesellschaft gelten? Von verschiedenen Seiten ist dargelegt worden, wie vielleicht eine Notwendigkeit sich darin ausspricht, dass die äußere Institution AAG vielfach nicht (mehr) dem eigentlichen Geist der anthroposophischen Gesellschaft (der Gesellschaft von freien Individuen, die sich geistig einander zugesellen) zu entsprechen scheint12. Wenn etwas diskutiert werden muss, ist es ja keine unmittelbar erfahrene Wahrheit mehr. Solche Wahrheit aus dem individuellen Wollen der beteiligten Geist- und Menschenwesen neu zu fassen, wäre dann eine aktuelle Aufgabe der anthroposophischen Gesellschaft, wiederum verstanden als freier Zusammenschluss von mit der Anthroposophie arbeitenden Individualitäten13.


1Ein Nachrichtenblatt, Näheres unter https://einnachrichtenblatt.org

2Auf dieser Website hier zu finden: Wer ist Mitglied der anthroposophischen Gesellschaft?

3trotzdem ich über Wochen immer wieder intensiv nach dem Zitat gesucht habe

4vgl. ENB 15/2022, S. 10: „Die Dreigliederung war an eine kurze Zeit gebunden“

5vgl. ENB 16/2022, S. 1-9

6sinngemäß ergänzt SCeH

7Steiner, Rudolf: Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915-1921. GA 24. – Dornach, 1961, S. 70

8vgl. dazu die Vorrede und Einleitung zum 41. bis 80. Tausend dieser Schrift in Steiner, Rudolf: Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft. – Stuttgart, 1920, S. 5 ff

9Steiner, Rudolf: Geistige und soziale Wandlungen in der Menschheitsentwickelung. Dornach, 1992, S.285

10Steiner, Rudolf, wie Anm. 8, S. 10, Hervorhebung SceH

11Steiner, Rudolf: Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis. – Dornach, 1999, S. 16f

12vgl. z.B. Barkhoff, Martin: Kulmination, Grab und goldene Zeit der Anthroposophie. Voraussagen Rudolf Steiners werden Wirklichkeit. Manuskriptdruck Kooperative Dürnau, 2019; Delor, Andreas: Das Ereignis Rudolf Steiner im Lebenswerk von Sigurd Böhm und Judith von Halle – Borchen, 2018, v.a. Kapitel 6 „Rudolf Steiners Wiederkehr“

13Ergänzend kann in diesem Zusammenhang hingewiesen werden auf Rudolf Steiners Darstellungen zu dem notwendigen Zerstörungsherd, den der Mensch in sich trägt, und seinem Verhältnis zur Außenwelt in GA 207, sowie von mir: „Individuelle Entwicklung: von der Drei zur Vier“, in: DIE LAHNUNG – Mitteilungen für individuelle Entwicklung und Lebenskunde, Nr. 8 – Juni 2022, S. 3ff


Cover Wahnsinn und Denken anthroposophische Gesellschaft

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Wer ist Mitglied der allgemeinen anthroposophischen Gesellschaft? – Eine Stellungnahme

Vorbemerkung: Für manchen Leser, der mit Fragen der anthroposophischen Gesellschaftsbildung nicht oder wenig vertraut ist, mögen die folgenden Ausführungen seltsam, überflüssig oder unverständlich klingen. In diesem Fall ist es das Einfachste, nicht weiter zu lesen. Falls aber doch Fragen entstehen, kann man sich gerne an mich wenden.

Das Nachdenken über die Existenz oder Nichtexistenz der allgemeinen anthroposophischen Gesellschaft, die zu Weihnachten 1923/24 in Dornach unter der Leitung von Rudolf Steiner begründet wurde, zieht sich ja durch die Jahrzehnte seit diesem Gründungsakt. Daran knüpft sich auch die Frage nach der Mitgliedschaft in dieser Gesellschaft. Der Versuch, diese Fragen nach der heutzutage üblichen Methode der Interpretation vergangener Prozesse anhand von Zeugenaussagen und vorhandenen Dokumenten zu entscheiden, hat vor allem zu Einem geführt: einer Vielzahl möglicher Standpunkte, die mehr oder weniger – meist weniger bis überhaupt nicht – vereinbar erscheinen und sich teilweise heftig bekämpfen.

Meine eigenen Überlegungen und Erfahrungen dazu mögen ja vielleicht für den Einen oder Anderen von Interesse sein, weswegen ich hier eine Art Essenz davon referiere. Dabei muss ich auch einiges Persönliche mitteilen; ich tue dies nur, um daran aufzuzeigen, wie sich die zugrunde liegenden geistigen Verhältnisse gleichsam symptomatisch im Leben aussprechen können.

Mitte der 1970er Jahre mit der Anthroposophie in Berührung gekommen, war ich sofort unheilbar infiziert; die Anthroposophie ist seitdem untrennbares, prägendes Glied meines Lebens. Durch Andreas Delor zur Anthroposophie gebracht, begegnete ich bald eindrucksvollen Persönlichkeiten wie Gerhard Kienle, Heinz und Christel Frankfurt, Christof Lindenau, und dann auch – wiederum durch Andreas Delor vermittelt – Sigurd Böhm, dessen kompromissloses Denken mich zu den eigenen Wurzeln rief, was dann letztlich auch dazu führte, dass ich wieder aus seinem Umkreis entfernt wurde.

Sobald ich von der Weihnachtstagung 1923/24 erfahren hatte, betrachtete ich mich wie selbstverständlich mit denjenigen Menschen geistig verbunden, die daran teilnehmend damals den „Grundstock“ der anthroposophischen Gesellschaft gebildet hatten. In den Schicksalsfügungen, die mich immer tiefer in die Anthroposophie leiteten, sah ich einen Ausdruck des „Willkommensgrußes“ in ihrem Kreis. Dieser „Grundstock“ und die freie Zuordnung des Individuums zu ihm ist für mich eine geistige Tatsache, die unauslöschlich Bestand hat.

Der äußeren Institution – den entsprechenden Vereinen in der Schweiz und in Deutschland – stehe ich sehr distanziert gegenüber. Ich sehe sie als vergängliche Zeiterscheinungen, die mit der geistigen Realität zu einem großen Teil nicht übereinstimmen.

Die Begegnung mit Bernd Lampe führte zu dem Wunsch, an den von ihm geleiteten Hochschulstunden teilzunehmen. Dies war aus den Verhältnissen der Zeit heraus (1990er Jahre) nur möglich durch eine Beitrittserklärung zur Anthroposophischen Gesellschaft und in der Nachfolge durch Aufnahme in die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft auf entsprechenden Antrag.

Weder auf der rosa noch auf der blauen Karte steht irgendein Hinweis auf den Charakter der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft oder der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland als Verein, d.h. einer äußeren Institution, die der jeweils am Ort gültigen Rechtsordnung unterworfen ist. Auch die damals verwendeten Beitrittsformulare enthielten solche Hinweise nicht. Inwiefern stillschweigendes Einvernehmen zum Beitritt in solche Vereine von irgendwem vorausgesetzt wurde, vermag ich nicht zu sagen. Mein Einverständnis zu einem entsprechenden Vereinsbeitritt habe ich jedenfalls niemals gegeben.

In der Folge habe ich nach meinen Möglichkeiten Beiträge an den für mich relevanten Zweig Friesland geleistet; diese Beiträge waren von mir so gewollt und bedurften keiner Mitglieds- oder Finanzordnung irgendeines Vereines.

Das gesamte Szenario von Fragen um die Mitgliedschaft begann zu brodeln, als Anfang der 2000er Jahre finanzielle Unregelmäßigkeiten im Verein der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland auftauchten. In der Folge suchte und fand ich Möglichkeiten, Beiträge auch wirtschaftlicher Art zu demjenigen zu leisten, was mir als der geistige Sinn der anthroposophischen Arbeit in der Gesellschaft vorschwebte.

In einem Briefwechsel mit verschiedenen Personen im Arbeitszentrum Nord, in der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland und im Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft in Dornach wurden dann einige Feststellungen getätigt, die von niemandem ausdrücklich bestritten wurden:

  • Ich bin Mitglied der am 28. Dezember 1923 begründeten Anthroposophischen Gesellschaft und auf dieser Grundlage Mitglied der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft.
  • Ich bin niemals Mitglied eines anthroposophischen Vereines – weder im ehemaligen Bauverein (heute AAG e.V. in der Schweiz) noch im Großverein AGiD e.V. in Stuttgart geworden. Insofern konnte ich auch dort nicht austreten, und satzungsgemäße Rechte und Pflichten dieser Vereine betrafen und betreffen mich nicht.

Bemerkenswert ist, dass in vielen der Schreiben immer wieder die Frage der finanziellen Mitgliedsbeiträge in den Vordergrund gerückt wurde. Ist die Mitgliedschaft in der Anthroposophischen Gesellschaft für die Verfasser solcher Schreiben vorrangig eine Frage finanzieller Art? Dieser Eindruck konnte dabei entstehen.

Die Mitgliedschaft in der anthroposophischen Gesellschaft, die ja nach Rudolf Steiners Worten nichts mit Vereinsmäßigem zu tun habe, entsteht also durch den freien Zusammenschluss von Individuen, dessen Vollzug äußerlich durch eine Mitgliedskarte dokumentiert ist. Ein Ausscheiden kann daher ebenso nur im Einvernehmen erfolgen, weswegen die ursprünglichen Statuten auch keinen Ausschlußparagrafen enthielten. Bei einem äußeren Verein, dessen Interessen als irdisches Rechtsinstitut ja über den Interessen des einzelnen Mitgliedes rangieren können, ist ein solcher Ausschluss möglich.

Bezüglich eines Ausschlusses aus der Freien Hochschule muss die Frage aufgeworfen werden, welche der jeweils am Goetheanum tätigen Personen sich als fähig und berechtigt ansehen konnte bzw. kann, einen solchen Schritt als Massnahme der Leitung der Hochschule wirksam zu vollziehen. Soweit ich weiß, hat Rudolf Steiner vor seinem Hingang keinen Nachfolger benannt. Wer kann also hier in seinem Sinne handeln?

Die Begründung der anthroposophischen Gesellschaft durch den „Grundstock“ zu Weihnachten 1923/24 ist also eine geistige Tatsache, die nicht ausgelöscht werden kann. Die nachträgliche Zuordnung eines individuellen Menschen zu diesem „Grundstock“ (einschließlich derjenigen, die ihm nachträglich angewachsen sind) ist eine Frage des freien Individuums an diesen „Grundstock“; eine lebenswirksame Antwort kann der heutigen Situation entsprechend (viele der ursprünglichen Mitglieder des „Grundstockes“ haben ihr irdisches Leben bereits beendet) nur auf dem Wege von Schicksalsfügungen im Leben des fragenden Menschen gegeben werden. Einzelne oder mehrere Vertreter irgendeines Vereines können wohl Mitwirkende in solchen Schicksalsfügungen sein (z.B. Unterschriften auf Mitgliedskarten leisten), niemals aber ohne das Einverständnis des Betroffenen, allein aus ihren Gesichtspunkten heraus, die Ergebnisse solcher Fügungen für ungültig erklären.

Kurzum, mir scheint in der gesamten Diskussion um diese Fragen oftmals die Unterscheidung zwischen geistigen Tatsachen, die aufgrund wirksam vollzogener Handlungen entstanden sind, und äußeren Verwaltungsakten, die doch – wenn sie als voll berechtigt gelten wollen – immer nur Ausdruck geistiger Realitäten sein können, nicht klar genug zu Bewusstsein gebracht zu werden.

Nur der Vollständigkeit halber sei zum Abschluss darauf hingewiesen, dass Rudolf Steiner vielfältig und immer wieder darauf aufmerksam machte, dass geistige Initiativen, wenn sie zu irdischen Institutionen werden, verkannt werden und sich in ihr Gegenteil verkehren müssen. Beides gut voneinander zu unterscheiden, und die äußere Institution, wenn sie ihrem Zweck nicht mehr angemessen dient, aufzugeben oder wenn möglich gänzlich neu zu fassen scheint für manche Menschen schwer oder gar nicht denkbar. Notwendig könnte es trotzdem sein.

© Stefan Carl em Huisken 2022


Wahnsinn und Denken MItglied der anthroposophischen Gesellschaft

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart habe ich dargestellt in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Ich hab mein Sach auf Nichts gestellt – Friesentreffen 2022

Im Nachklang eines inspirierenden Friesentreffens

„Ich hab‘ mein Sach‘ auf Nichts gestellt.
Juchhe!
Drum ist’s so wohl mir in der Welt.
Juchhe!
Und wer will mein Kamerade sein
Der stoße mit an, der stimme mit ein
Bei dieser Neige Wein“1

Die erste Zeile dieses Gedichtes von Johann Wolfgang von Goethe kam mir in den Sinn, als ich über das Friesentreffen am 6. Juni 2022 – dem Pfingstdienstag – am Upstalsboom bei Aurich nachsann. Und auch eine Ergänzung dieser ersten Zeile drängte sich mir auf:

Ich hab‘ mein Sach‘ auf Nichts gestellt,
nichts als den freien Menschen.

Auch wenn es in diesem Falle vielleicht nahe gelegen hätte zu sagen „… den freien Friesen“, so klang für mein Empfinden die allgemeine Formulierung mit dem „freien Menschen“ schlüssiger. Aber vielleicht ist der Unterschied zwischen beiden Formulierungen ja auch gar nicht so groß …

Bei dieser Versammlung beeindruckten mich zwei Redner besonders: Oebele Vries, Historiker und emeritierter Dozent der Rijksuniversiteit Groningen, und Christoph Schmidt, Direktor des Nordfriisk Instituut in Bredtstedt/Nordfriesland.

Upstalsboom bei Aurich Friesentreffen 2022

Oebele Vries rezitierte den Prolog und die ersten drei Küren der Friesen eindrucksvoll auf Altfriesisch (mit anschließender deutscher Übersetzung). Dabei kamen vor allem die Aussagen der 2. und 3. Küre und ihr Zusammenhang klar zum Ausdruck: sollte eines der verbündeten „sieben friesischen Seelande“ von einem Außenstehenden angegriffen werden, so würden die anderen sechs ihm beistehen, um seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu wahren, so die zweite Küre. Die dritte Küre sagt: sollte aber eines der Seelande ungerecht rauben oder morden, so sollten die anderen sechs das siebte zwingen, wiederum gerecht zu handeln.

Wer sich diese einfachen Regeln ein wenig besinnend „auf der Zunge zergehen lässt“, wird schnell bemerken, wie hier in einfachen und klaren Worten auch und gerade für unsere Zeit Wege aufgewiesen werden aus den Katastrophen des Umgangs der Staaten und Länder miteinander. Allerdings: es muss dabei sichergestellt werden, dass die Frage „gerechten“ oder „ungerechten“ Handelns Freund und Feind gegenüber aus gleichen Beurteilungsmaßstäben heraus entschieden wird. – Dafür trugen einst die gewählten Richter die Verantwortung.

In seinem Grußwort machte dann Christoph Schmidt darauf aufmerksam, dass es für einen lebensvollen und entwicklungsfähigen Umgang miteinander weniger entscheidend sei festzustellen, was nun das „richtige“ oder „falsche“ Friesentum, oder die „wahre“ beziehungsweise die „unwahre“ friesische Sprache sei; darüber bestehen naturgemäß unterschiedliche Auffassungen und Erfahrungen, und keine davon könne einfach für „ungültig“ erklärt werden zugunsten einer anderen. Vielmehr sei es wichtig, dass jeder Einzelne seine Sache mit Einsatz und Tiefgang verfolge und dem anderen auch dessen Weg gönne und nicht abspreche. Im Ergebnis könne daher eigentlich nur jeder Mensch selber darüber entscheiden, ob er „Friese“ sei oder nicht, und inwieweit seine friesische Sprache eine wahre sei.

Mich erinnerte diese Aussage sofort an ein Wort Rudolf Steiners in seiner „Philosophie der Freiheit“: „Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime der freien Menschen.“2 Damit sei – so Rudolf Steiner – auch ein hinderliches Aufeinanderprallen und Missverstehen bei sittlich freien Menschen ausgeschlossen. Diese Worte Rudolf Steiners kann man – so meine ich – gerade in unserer Zeit nicht oft und tief genug durchdenken. Sie standen auch bei meinen früheren schriftlichen Versuchen zu Fragen des Friesentums3 und der friesischen Kultur4 im Hintergrund. Beide Artikel kann ich dem Interessierten daher hier zur (nochmaligen) Lektüre empfehlen; vielleicht können sie ja Hinweise geben für die noch bessere Fundierung des eigenen (friesischen?) Selbstverständnisses in der Welt.

Das eingangs zitierte Gedicht Goethes gibt im Übrigen Hinweise darauf, welche Folgen es haben kann, wenn man sich frei zu machen versteht von aller Lenkung und Stütze von Außen, wenn man also sozusagen „sein Sach‘ auf Nichts stellt“. Er spricht nämlich vom Willen zur Kameradschaft, der für den Zusammenklang – das „mit einstimmen“ – entscheidend ist. In den weiteren Strophen des Gedichtes schildert er, wie es ihm gegangen ist, als er hier und da in der Welt seine Stütze suchte. Die angedeuteten Folgen sprechen für sich. Auch dies Gedicht in Gänze sei daher zur Lektüre empfohlen.

© Stefan Carl em Huisken 2022

1vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Vanitas! vanitatum vanitas! – In: Goethes Werke. Bd. 1. – Bibliographisches Institut Leipzig, 1926. S. 70f

2Steiner, Rudolf: Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode. – Dornach, 1973, S. 166

3vgl. https://emhuisken.de/wordpress/2017/08/wer-ist-friese/

4vgl. https://emhuisken.de/wordpress/2019/07/friesische-kultur-heute/




Moralpredigten helfen nicht – was kann Mitteleuropa beitragen?

Eine ungeheure Welle moralischer Empörung rollt durch die Welt, insbesondere durch diejenigen Länder, die sich als dem sogenannten „Wertewesten“ zugehörig betrachten. In immer höheren Tönen verdammt man den russischen Aggressor, verbunden mit ebenso vielen Beteuerungen der eigenen moralischen Integrität.

Man täte vielleicht aber gut daran, ganz nüchtern zu erwägen, worüber man hier eigentlich spricht. In lapidarer Weise fasst das ein Wort von Egon Bahr zusammen: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“1 Und da der Krieg ja bekanntlich als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln angesehen wird, muss man diesen Satz wohl auch auf Kriege anwenden; hier liegt seine Gültigkeit ja sogar unmittelbar auf der Hand.

Seit Jahrzehnten wird die internationale Politik geprägt von wenigen großen und mächtigen Staaten: vor allem die USA mit ihrem Anspruch, die „einzige Weltmacht“ zu sein2, dann aber Russland, das sich nach seiner zeitweiligen Übernahme durch vom Westen gesteuerte Politiker wieder auf seine eigenen Grundsätze stellen will, und schließlich China. Europa, insbesondere Mitteleuropa spielt keine besondere Rolle, da es durch die von den USA dominierte NATO und durch Einbindung in von den USA gesteuerte Personal- und Organisationsstrukturen praktisch wenig oder kaum eigene, souveräne Entscheidungen treffen kann (bzw. durch die entscheidenden Personen überhaupt treffen will). Rein geografisch, aber auch im Hinblick auf die Geschichte ist für Europa das Verhältnis zwischen den USA und Russland prägend.

Da lohnt sich ein Blick auf die Interessen dieser beiden. Sie sind ja klar genug öffentlich formuliert und nachvollziehbar, ihre Hintergründe leicht ersichtlich.

Die USA sind – zumindest in ihrem Selbstverständnis – dasjenige Land, das die größten Erfolge in der Bemeisterung der äußeren Welt, zum Zwecke eines möglichst großartigen Lebens in dieser Welt errungen hat. Rein äußerlich ist dies auch stimmig, wenngleich in Rechnung gestellt werden sollte, welche Rolle dabei aus Europa „importierte“ hochkarätige Wissenschaftler besonders nach 1945 gespielt haben. Daraus ergab sich ein Lebensstil, der auch in Sachen Ressourcenverbrauch und Umweltzerstörung führend in der Welt ist. Dieser Lebensstil definiert aber das Selbstverständnis von „Great America“ maßgeblich mit, und ist deswegen etwas, worauf man nicht verzichten will – jedenfalls, was die wesentlichen, entscheidenden Kreise betrifft. Da die eigenen natürlichen, technologischen und menschlichen Ressourcen Nordamerikas dafür schon lange nicht mehr ausreichen, ist man dazu übergegangen, die Ressourcen eben auf dem Wege der heißen oder kalten Eroberung den Menschen anderer Weltgegenden wegzunehmen.

Das wird zwar immer schwieriger, da sich immer öfter die zu Erobernden wehren, mit der Folge höheren Aufwandes für die Eroberung, was wieder zusätzliche Ressourcen fordert; aber bisher hat es noch immer geklappt, insbesondere durch die Einbeziehung von Staaten (wie vielen der europäischen), die man hat veranlassen können, ihre eigenen Interessen denjenigen der USA unterzuordnen. Hierbei spielt das Moralisieren als psychologisches Massensteuerungsmittel eine große Rolle.

Kurz gesagt, liegt das Interesse der USA auf der Fortsetzung ihres zerstörerischen Lebensstiles (den sie möglicherweise in großen Teilen gar nicht als solchen erkennen!), wofür die Ressourcen (nicht die Menschen) anderer Länder benötigt werden. Menschen braucht man dafür nur insofern, als sie einem möglichst die Kastanien aus dem Feuer holen sollen; das ist ansonsten nämlich anstrengend und risikobehaftet, und man hält es daher mehr für andere Menschen geeignet als für Amerikaner, die ja auf ihrem eigenen Kontinent, weitab von den europäischen Konfliktfeldern leben.

Dieser Lebensstil als der eigentlich „beste“, die zugehörige Denkweise und die Akzeptanz für das Dominieren der USA wurde nach dem 2. Weltkrieg im 20. Jahrhundert gezielt in der Kultur West- und Mitteleuropas verankert3 und wirkt bis heute tiefgreifend fort4.

Dem steht im wiedererstarkten Russland ein ganz anderes Welt- und Menschenbild gegenüber. Der russische Präsident Putin und weitere Angehörige der russischen Regierung formulierten es aus, im Dezember 2021 zunächst in einem umfassenden Vorschlag zur vertragsmäßigen Friedenssicherung in Europa und der Welt. Näher am persönlichen Empfinden und gerade im Zusammenhang mit den Vorgängen und Auseinandersetzungen in der Ukraine sprach Wladimir Putin davon. Ich zitiere hier eine Meldung der russischen Agentur Sputnik vom 10. März 2022:

Russland kann nicht in „gedemütigtem Zustand“ existieren – Putin

Nach Ansicht des russischen Präsidenten nehmen viele Länder einen untergeordneten Platz ein und treffen alle Entscheidungen unter Berücksichtigung der Meinung „ihres Souveräns“. Russland könne sich eine solche Position allerdings nicht leisten.

»Wir alle wissen gut, dass sich viele Länder bereits daran angepasst haben, mit gebeugten Rücken und alle Entscheidungen ihres Souveräns 20 Mal treffend zu leben. Russland kann in einem solchen Zustand, einem erbärmlichen, gedemütigten Zustand nicht existieren.«“5

Man sieht deutlich: hier geht es um ganz andere Interessen als Ressourcenbeschaffung und Ähnliches. Wladimir Putin spricht das Gefühl der eigenen Würde an, des Geachtet-Werdens, das durch das Verhalten der USA, die die in den russischen Vertragsvorschlägen formulierten Sicherheits-Interessen schlicht unberücksichtigt gelassen haben, verletzt wurde. So musste man in Russland annehmen, was ja auch vielfältig im Westen angedeutet und formuliert wurde, dass man eben im Westen kein Interesse an den Bewohnern Russlands und ihrer Souveränität im eigenen Land hat, sondern nur an ihren Bodenschätzen, an denen Russland ja reich ist. Das Verhalten der USA in den letzten Jahrzehnten (siehe Syrien, Irak, Iran, Libyen, Jugoslawien, Afghanistan) legt eine solche Annahme nahe; in der Denkweise des Westens erobert sich der Mensch seine Würde ja gerade durch seine Freiheit, nach Gutdünken schalten und walten zu können.

Nun soll an dieser Stelle eben deutlich werden, dass moralische Argumentationen hier gar keinen Sinn haben. Jede Seite hat ihre eigene Auffassung von Moral, und diese Auffassungen sind unvereinbar: der Nützlichkeitsmoral des Westens, der vor allem fragt, wie ihm der andere für seine Interessen dienen kann, steht die Auffassung vom souveränen Menschen gegenüber, dem einfach durch seine Existenz die Würde eignet.

Insbesondere der Nützlichkeitsgedanke hat erst einmal gar keinen Bezug zu irgendetwas Moralischem, ist durch sich selber a-moralisch. Aber die Art, wie Russland seine Sichtweise vertritt, will ja die eigene, immanente Moralität (das, was man unter Menschenwürde versteht) niemandem aufzwingen; sie wird als eigenes Interesse gleichsam neutral dem anderen Interesse gegenüber gestellt. Diese beinahe religiös anmutende Vorstellung von Würde hat etwas Ehrwürdiges, Konservatives: die Idee der individuellen Freiheit, wie sie im Westen im Vordergrund steht, ist damit nicht leicht vereinbar, rangiert doch die Lebensmöglichkeit des Volkes, der Nation, die Würde der Gesamtheit „Russland“ über dem einzelnen Individuum. Möglichkeiten für Missverständnisse sind hier viele.

Was wir in den Weltvorgängen derzeit erleben, ist das Aufeinanderprallen beider geistig so verschiedenen Interessenssphären. Im Osten versteht man aufgrund des eigenen Menschenbildes sehr gut, wie der westliche Mensch in seiner Nützlichkeitsorientierung denkt. Das nimmt man ihm nicht grundsätzlich übel, besteht aber auf einem Interessensausgleich. Der westliche Mensch hat es schwerer. „Menschenwürde“ ist ihm etwas, was mit materiell fassbarer Nützlichkeit für das irdische (Wohl-)Leben erst einmal nichts zu tun hat; man erringt sie doch erst durch Erfolg im materiellen Leben. Daher liegt es nahe, solche Begriffe wie „Würde“ vor allem psychologisch als Werkzeuge zur Durchsetzung eigener Interessen anzusehen (mit Moral kann man viele Menschen lenken) – und auf diese Art die andere Seite völlig misszuverstehen.

Wie schon gesagt, es geht hier nicht darum, die eine oder andere Denkweise zur „Richtigen“, „Besseren“ oder „Höheren “ zu erklären. Beide Denkansätze haben auf ihrem Felde ihre Berechtigung. Darum wird auch jeder Versuch, nur dem Einen oder dem Anderen zu folgen, auf die Dauer notwendig fruchtlos sein. Nein, es geht darum, in voller Achtung des Anderen aus den natürlichen, technologischen und menschlichen Ressourcen, über die jeder verfügt, für ALLE das Beste zu machen. Das geht nur in verlässlicher, vertrauensvoller Zusammenarbeit. Lügen und Missachtung des Anderen haben da keinen Platz und müssen durch das ständige Bemühen um Verstehen des Anderen ersetzt werden.

Vielleicht wäre es den europäischen Menschen, insbesondere ihren Entscheidungsträgern einmal nahe zu legen, sich auf die eigenen Möglichkeiten zu besinnen, die doch in der Vergangenheit aus vielfältigen Bindungen in beide Richtungen entstanden sind und den besonderen mitteleuropäischen Geist ausmachen; einen Geist, der beiden Seiten zu fehlen scheint.

Nur von hier aus kann das Eine mit dem Anderen zusammengeschaut werden, und so im Gespräch nach beiden Seiten die jeweils andere Seite verständlich gemacht werden. Dafür wäre es allerdings nötig, insbesondere das Nützlichkeitsdenken des Westens vorurteilslos anzusehen, und dabei die Verwendung moralischer Kategorien als psychologische Kampfmittel zu durchschauen; die Infiltration westlichen Denkens in die mitteleuropäische Kultur hat den Mitteleuropäern, besonders den Deutschen hier Hürden aufgerichtet. Vielen westlichen Menschen ist es eben nicht gegeben, Moralität als unverzichtbare Eigenschaft ihrer selbst zu sehen; und wenn, dann nur begrenzt auf den gänzlich privaten, religiösen Bereich.

Beide Seiten wirklich verstehen, ganz innerlich, kann wohl vor allem der mitteleuropäische Mensch. Er sollte diese Qualität, die ihn vom westlichen Nützlichkeitsdenken ebenso wie vom östlich-relgiös getönten Feiern der Menschenwürde unterscheidet, ja, die sich ihm vielleicht auch einfach durch seinen Lebensraum als Prellbock zwischen Ost und West ganz naturgemäß ergibt, stärker als seinen eigenen, mitteleuropäischen Beitrag zum Zusammenleben in der Welt einbringen, nüchtern, klar und ohne Moralpredigten ebenso wie ohne Machtgelüste. Beides hat in Mitteleuropa genügend Schaden angerichtet.

© Stefan Carl em Huisken 2022

1Sehr schön im Kontext dargestellt hier: https://schicketanz.eu/2016-08-egon-bahr-es-geht-um-interessen/

2Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft. – Rottenburg, Kopp Verlag, 2015

3ausführlich dazu Frances Stonor Saunders: Wer die Zeche zahlt … Der CIA und die Kultur im Kalten Krieg. – Berlin: Siedler Verlag, 2001

4wie Thomas Röper zum Thema „Corona“ ausführlich deutlich machen konnte: Thomas Röper: Inside Corona. Die Pandemie, das Netzwerk & die Hintermänner. – Gelnhausen: J-K-Fischer, 2022

5vgl. https://t.me/snanews_de vom 10. März 2022


Hier finden Sie geisteswissenschaftliche Beträge, die das hier besprochene Thema ergänzen und erweitern können:
https://emhuisken.de/wordpress/2022/02/furcht-und-angst-schluessel-zur-gegenwart-des-menschen/
(auch als Broschüre bestellbar: https://emhuisken.de/wordpress/produkt/die-lahnung-sonderheft-1-furcht-und-angst-schluessel-zur-gegenwart-des-menschen/)
ebenso mein Buch von 2021: https://emhuisken.de/wordpress/produkt/wahnsinn-und-denken-der-kampf-um-den-menschen/




Konfessionen, Wissenschaft, Neue Offenbarung – und das Verstehen

Woher Unfreiheit stammt

Wer glaubt, ist unfrei. Denn in seinem Glauben sucht er Anleitungen für sein Handeln. Und wie diese Anleitungen zustande kommen, weiß er nicht – sonst könnte er ja alles überprüfen, und dann wäre es kein Glaube mehr. Einige Beispiele.

Traditionelle Religion – die Konfessionen

Der traditionelle Glaube an einen Gott entsteht aus dem Entschluss, durch bestimmte Urkunden und/oder Priester verkündete, nicht sinnlich wahrnehmbare und mit dem normalen Alltagsverstand nicht ergründbare Offenbarungen für wahr zu halten. Dazu treibt uns zumeist ein Gefühl, das im alltäglichen Leben etwas vermisst, uns dieses alltägliche Leben an entscheidender Stelle unvollkommen erscheinen lässt. Und da wir in den alltäglichen Wahrnehmungen und auch in unseren Möglichkeiten selbständigen Denkens zunächst nichts finden, was uns diesen Mangel beheben kann, greifen wir zu den Offenbarungen, die unseren Altvorderen scheinbar noch zuflossen und die sie für uns – ihre Nachwelt – einst aufgeschrieben haben. Immerhin: diese Dinge sind alt und bewährt, das macht uns das Glauben leichter.

Aber: gelten denn die alten Offenbarungen ungeschmälert auch heute? Müssten sie nicht ganz andere Inhalte und vor allem Formen bekommen, damit sie uns und unseren Lebensumständen ganz entsprechen könnten?

Wissenschaft

Überprüfen – so sagt die derzeit weltbeherrschende Lehre der Wissenschaftlichkeit – kann man alles, was über die unmittelbar wahrgenommene Sinneswelt hinausgeht, nur durch exakte Wissenschaft. Das versucht diese Wissenschaft dann auch, aber sie legt dabei bestimmte Annahmen zugrunde, die sie meint, nicht überprüfen zu müssen. Eine dieser Annahmen besteht darin, nur das für wissenschaftlich begründet zu halten, was durch wiederholbare, kontrollierte Experimente immer wieder die gleichen Wahrnehmungen in der Sinneswelt hervorbringt. Darin versteckt sich die zweite Annahme: dass nämlich alles nicht sinnlich Wahrnehmbare nicht wirklich sei.

Eine solche Auffassung kommt zu dem Ergebnis – jedenfalls wenn sie ehrlich bleibt – dass es eine direkte Erkenntnis der Wirklichkeit nicht geben kann, nur mehr oder weniger wahrscheinliche Annäherungen daran. Und dann muss man eben, solange sich nichts Anderes als wahrscheinlicher herausstellt, an die bisher besten Wahrscheinlichkeiten glauben, und damit im Leben hantieren.

Ja, die Wissenschaft fordert in diesem Sinne Glauben. Sie fußt ja auch auf Glauben: dem Glauben, alles nicht sinnlich wahrnehmbar Aufzeigbare sei nicht wirklich. Aber sind denn die Menschen, die so an „die Wissenschaft“ glauben, ganz unwirklich? Man kann sie ja nicht experimentell „beweisen“, warum es auch Auffassungen gibt, die Dinge wie „Geist“ und „Seele“ – also den konkret sich und die Welt erlebenden Menschenkern – für Illusionen halten.

Ein Vorzug dieses „Wissenschaftsglaubens“ ist es, dass die Priester dieser neuen „Kirche“ die anderen Menschen leicht glauben machen können, bei ihnen – den Wissenschaftlern – müsse man nichts glauben. Es ist ja alles „exakt überprüft“! Dazu muss man nur die oben genannten Grundannahmen als „Selbstverständlichkeiten“, die nicht weiter hinterfragt werden müssen, effektiv genug in den Menschen und ihrer Seelenverfassung verankern. Dies geschieht, seit Jahrzehnten, ja Jahrhunderten durch die aus alter Priesterzeit tradierten, auf Autorität gebauten Bildungseinrichtungen. Wir selber sind Produkte davon.

Neue Offenbarung

Wenn also traditioneller religiöser Glaube und Wissenschaftsglaube uns in der Unfähigkeit zum Auffinden der „wahren Wirklichkeit“ halten, uns ja teilweise glauben machen, die gäbe es gar nicht, wie kommen wir dann aus der Notwendigkeit zu glauben heraus? Wir müssten dafür ja eine neue Offenbarung erhalten, die wir unmittelbar in ihrer Wahrheit erleben können und die darum keinen Glauben an die Überlieferung und keinen Glauben an wissenschaftlich festgestellte Wahrscheinlichkeiten fordert. Eine solche Offenbarung haben wir aber in der Regel nicht.

Aber es gibt da Ausnahmen: Menschen, die von sich sagen (oder von denen Andere sagen), sie seien „hellsichtig“, könnten also für den Normalmenschen Unwahrnehmbares anschauen, und die sich gegenseitig bestätigen oder manchmal auch streiten. Ich nenne nur ein paar Namen aus der fast unbegrenzten, in den letzten Jahren rapide zunehmenden Zahl solcher Menschen: Christina von Dreien, Iris Paxino, Jose Martinéz, Thomas Mayer, Dirk Kruse, Chamuel, Judith von Halle, Daskalos, Verena Staël von Holstein – viele andere könnten noch genannt werden. Bei allen ist von unmittelbaren Geisterfahrungen die Rede.

In der Regel sammelt sich um solche Menschen schnell eine Art „Gemeinde“, die eben – glaubt, was diese Menschen sagen. Ich möchte hier betonen, dass damit nichts gesagt ist ist über Wahrheit oder Unwahrheit der jeweiligen Aussagen. Das Grundproblem bleibt aber bestehen: für den „Normalmenschen“ gibt es zunächst kein untrügliches Kriterium, an dem sich der Wahrheitsgehalt der Aussagen solcher „Hellsichtigen“ überprüfen ließe.

Wahre Erkenntnis

Allen dargestellten Wegen, der Wirklichkeit näher zu kommen, so weit sie über das robuste, naive Alltagserleben hinausgeht, ist gleich die Tendenz zur Unfreiheit des Einzelnen, der sich von so oder so gearteten und bestimmten „Autoritäten“ führen lassen muss, heißen sie nun Priester, Wissenschaftler oder Hellsichtige.

Die Grundlage

Wie also kann es dann möglich werden für den Menschen, Anleitung für sein Handeln zu finden, die er nicht auf geglaubte Aussagen Anderer bauen muss? Gibt es so etwas überhaupt, oder muss eben jeder Mensch glauben, was er kann und will, und allen gemeinsames Wissen von einer Wahrheit ist unmöglich? Dann wäre die Lenkung des menschlichen Zusammenlebens immer nur der Kampf darum, wem eben am meisten geglaubt wird; ein Abgrund, in dem der überzeugendste Lügner schnell auch der mächtigste Menschheitslenker werden könnte.

Stehen wir nicht weltweit gerade im Augenblick vor dieser Frage: gibt es Wahrheit für den Menschen, oder gibt es nur Macht, die dann eben auch bestimmen kann, was als Wahrheit zu gelten hat?

Fänden wir einen Weg zu einem für jeden Menschen zugänglichen Wahrheitskriterium, so läge darin auch eine Chance, das allgemeine Verharren im Glauben dieser oder jener Art und damit die Abhängigkeit von äußeren Autoritäten zu beenden. Wenn jeder beurteilen kann, wer wahr spricht und wer nicht, haben Lügner keine Chance mehr.

Dieses Kriterium gibt es. Es lässt sich finden, wenn wir ansetzen bei den unhinterfragten Vorurteilen, denen das allgemeine Denken der meisten Menschen unbemerkt aufsitzt. Das wichtigste dieser Vorurteile liegt in dem Versuch, die Welt, wie sie wahrgenommen wird, nur aus dieser Welt selber erklären zu wollen. Dies ist aber gar nicht möglich, denn der Erklärende, der dieser Welt gegenübersteht und sie zu erklären sucht, ist zwingend notwendig für das Entstehen einer solchen Erklärung. Die Auffassung, dieser Erklärende selber sei nur ein Teil der zu erklärenden Welt, ist bereits ein Ergebnis einer bestimmten Richtung der Deutung der vorliegenden Tatsachen und damit ein Vorurteil und nicht eine tatsächlich vorhandene Voraussetzung zur Deutung. Voraussetzung für das Entstehen einer Welterklärung ist grundsätzlich nur die Existenz der zu erklärenden Welt (das Objekt) und zugleich das Vorhandensein des erklärenden Subjektes.

Was hier gegeben wird, ist noch keine Deutung der Situation, sondern nur das beschreibende Konstatieren von Tatsachen, das jeder unvoreingenommene Betrachter unmittelbar nachvollziehen kann. Unmittelbar einsichtig ist auch die Tatsache, dass die von einem Menschen erlebte Welt (also das, was in seinem Erleben als ihm gegenüberstehende Welt auftritt) und dieser bestimmte erlebende Mensch niemals voneinander unabhängig vorhanden sein können. Genau dieser eine Gesamt-Weltinhalt kann nur von genau diesem einen Subjekt erlebt werden. Wäre das Subjekt ein anderes, wäre auch die Erlebenswelt eine andere, und umgekehrt.

Das „Dreigestirn“

Zu jeder solcher Erkenntnissituation gehören also genau drei Glieder: das Erkenntnissubjekt („Ich“), das Erkenntnisobjekt („die von mir erlebte Welt“) und die übergeordnete Einheit beider, die im Alltag gewöhnlich unbewusst bleibt und nur in die innere Betrachtung tritt im Rahmen eines Erkenntnis- und Denkweges, wie er hier geschildert wird.

Dieses „Dreigestirn“ ist daher etwas, was

  • in der äußeren, gegebenen Weltwahrnehmung als Ganzes nicht vorkommt;
  • erst vom denkenden Subjekt hervorgebracht werden muss;
  • für welches Hervorbringen nichts als das Denken selbst vorausgesetzt ist;
  • welches nur in der inneren denkenden Betrachtung anschaubar wird;
  • dann aber ICH-Subjekt, Welt-Objekt und die Ganzheit beider einschließt;
  • und daher auch seinen Entstehungsgrund – das im Subjekt realisierte Denken – einschließt.

Das in der denkenden Selbstbeobachtung so auftauchende „Dreigestirn“ braucht also zu seiner Entstehung und Aufrechterhaltung nichts weiter als den in ihm selber auftauchenden Willen zu sich selbst. Es ist damit durch sich selber wahr, das heißt, es benötigt zu seiner Existenz und Beschreibung nichts als sich selbst. Es ist also durch seine Existenz selber wahr, und kann darum in der Art seiner Entstehung und Konfiguration als Maßstab für die Wahrheit gelten. Was in gleicher Weise aus sich selbst existiert und erklärbar ist, ist wahr.

Die Menschheitsaufgaben verstehen

Das ist zunächst einmal abstrakt-philosophisch beschrieben der Ausgangspunkt für eine wahre Welt- und Menschenerkenntnis. Mit solchen scheinbar abstrakten Schilderungen haben es aber heutzutage viele Menschen schwer. Denn so zu denken, fordert die Loslösung des Denkens von jahrtausendealten Denkgewohnheiten, die eben besagen, dass nichts aus sich selber existieren kann außer „Gott“ (oder wie immer man den Uranfang allen Seins nennen will), der aber grundsätzlich etwas Anderes sei als der Mensch und der darum vom Menschen als einem „Geschöpf Gottes“ niemals gänzlich verstanden werden kann.

Wie nun, wenn diese Denkgewohnheiten in alten Zeiten vielleicht ihren guten Sinn hatten, ihre Gültigkeit aber heutzutage verloren haben? Haben wir nicht gerade eben beschrieben, wie ein solches aus sich selbst existierendes „Dreigestirn“ in jedem Menschen entstehen kann? Können vielleicht die Menschen längst schon anders denken, tun es aber nicht, weil sie den Weg dazu nicht finden können, oder sich dazu nicht aufzuschwingen vermögen? Kann vielleicht der Mensch inzwischen in „Gottes Fußstapfen“ treten, tut es aber nicht genug?

Wäre es so, dann lebten die aus den alten Denkgewohnheiten hervorgehenden Glaubensverhältnisse weiter, obwohl sie dem derzeitigen Menschen und seiner Welt nicht mehr angemessen sind. Dann fänden sich das nach Freiheit strebende Subjekt und die aus Autorität und Glaube hervorgehende soziale Welt in einer ständigen Differenz wieder; der oben schon bezeichnete Abgrund der Herrschaft der besten Lügner könnte eintreten.

Daraus ist schnell ersichtlich, dass ohne die Einsicht, dass ich nichts bin ohne meine Welt, und die Welt ohne mich einen sie tragenden Pfeiler vermissen müsste, dass also ohne ein grundlegendes Bewusstsein des „Dreigestirns“ kein Ausweg aus der gegenwärtigen Menschheitskrise auszumachen ist, allenfalls ein zeitweises Aussetzen und Vor-sich-Herschieben des ansonsten unvermeidbaren Falles in die grenzenlose Barbarei.

Will man die gegenwärtige Lage von Welt und Menschheit grundständig verstehen, wird man einen solchen Gesichtspunkt nötig haben, um nach und nach den aus der Vergangenheit überkommenen Autoritäten die Kontrolle zu entwinden und dem freien Menschen zu übertragen. Alles andere wäre eine neue Glaubens-Partei, die zum Erlangen von Macht Mehrheiten hinter sich bringen müsste. Der oben bereits angedeutete „Abgrund“ könnte eintreten.

Darum ist es entscheidend wichtig, dass immer mehr Menschen Einsicht in das sich selber tragende „Dreigestirn“ von Welt, Ich und dem Ganzen beider bekommen, so dass die Menschen erkennen können nicht nur, woher die aktuelle Misere kommt, sondern mehr noch wie ein Weg in eine lebenswerte Zukunft von einem lebendigen Verstehen von Welt, Mensch und deren untrennbarer Ganzheit („Individuum“=„das Unteilbare“) abhängt.

Dieses Verstehen ist unmöglich, solange wir glauben: den traditionellen Konfessionen, der Wissenschaft, den „neuen Offenbarungen“. Alle diese Richtungen sagen auch Wahres. Das aber kann ich nur als wahr erkennen und von unberechtigter Dogmatik, Spekulation und Fantasterei (also Unwahrheit) unterscheiden durch dauernde Übung des „wahren Verstehens“. Vor dem Kriterium des Dreigestirns in seiner Ganzheit von Mensch und Welt – dem sich langsam enthüllenden zukünftigen Geistes-Menschen – muss nämlich auf Dauer jede Unwahrheit ihren wirklichen Charakter zeigen.

Dieser kleine Artikel mag zeigen, wie so etwas möglich ist; wurde doch von Anfang an vom Gesichtspunkt des Endergebnisses aus argumentiert, dieses verständlich gemacht, und so die Haltlosigkeit und Unfreiheit und damit auch auf die zerstörende Wirkung gegenwärtiger Lebenshaltungen in Religion, Wissenschaft und Neuer Offenbarung hingewiesen.

Dieses kann der menschliche Geist heute schon. Er muss es nur zur Wirkung bringen.

© Stefan Carl em Huisken 2021


Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Der Mensch im sozialen Organismus

Was ist der Mensch im Verhältnis zur ihn umgebenden Welt, insbesondere im Hinblick auf das Zusammenwirken mit anderen Menschen, also dasjenige, was man das „Soziale“ zu nennen gewohnt ist, und das in der Gesamtheit seiner Glieder einen Organismus bildet? Der einzelne Mensch wirkt in diesen sozialen Organismus hinein, und zugleich prägt dieser die Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen. Welche Bedeutung hat der Einzelne im Ganzen? Solche Fragen mögen heute Manchem „unter den Nägeln brennen“. Ein Versuch, mit solchen Fragen umzugehen.

Der Mensch

Der Mensch ist ja ein vielfältiges Wesen: man kann einen nur geistig fassbaren inneren Teil, einen leiblich-äußerlichen und einen mittleren, seelischen Teil unterscheiden, in welchem letzteren die beiden anderen vorkommen, und der insofern das Menschen-Ganze zusammenhält und erfahrbar macht.

Geist

Den nur geistig fassbaren inneren Teil nennen wir gewöhnlich ICH; eine merkwürdige Benennung, die jeder Mensch gleichermaßen für sich selber verwendet, so dass dasjenige, worauf mit diesem Wort gewiesen ist, in jedem Menschen anders erscheint. Alle verwenden denselben Namen, aber jeder für ein Anderes, und darin sind die Menschen doch alle wiederum gleich. Wie kann das sein, dass alle Menschen sich gleich benennen1, aber doch jeder etwas Verschiedenes damit meint?

Was wir in dieser Weise alle in uns tragen, kann niemals in einer abschließenden „Definition“ festgezurrt werden, denn es ist in ständiger Veränderung von Augenblick zu Augenblick, von Mensch zu Mensch, und doch in dieser Veränderlichkeit seiner Grundform nach ewig gleich. Es zu fassen, kann nur jeder bei sich selber, ganz im Innern beginnen. Dennoch prägt es sich in der Welt aus in jedem für sich einzigartigen, individuellen menschlichen Lebenslauf.

Seele

Der Ort, wo dieses allen Menschen eigene, aber doch als Ganzes unbekannte, unwahrnehmbare Wesen ICH erscheint, ist die Seele. Nehmen wir an dieser Stelle – unter Hintanstellung philologischer Gebräuche – das Wort einmal nach seinem Laut: dann ist die Seele dasjenige Feld, wo „das Sehen lebt“, wo ein wahrnehmendes Tun sich in das Leben stellt. In dieser Seele tritt also das ICH auf, indem es sich einer „Welt“ genannten Gesamtheit von Wahrnehmungen gegenüber erlebt.

Von sich selber weiß das ICH eigentlich nur, dass es existiert, der Welt gegenüber. Einen wirklichen Wahrnehmungsinhalt von sich hat es nicht, denn es ist ja gerade das durch die Seele wahrnehmende Wesen.

Die Seele lebt also zwischen dem ICH und der Welt, fühlt Missklänge oder Harmonie zwischen beiden, Antipathie und Sympathie. Sie wirkt hinein in alles, was zu ihr gehört, indem sie ein Wollen zur Geltung bringt. Sie kommt zu einem Bewusstsein von Ich, Welt und sich selber durch das Denken. Diese Drei – Denken, Fühlen und Wollen – sind also die Grundtätigkeiten der Seele.

Keine dieser Grundtätigkeiten steht jedoch für sich, gleichsam „autark“ und unabhängig von den anderen. Jedem Tatimpuls, dem ein Mensch folgt, sind in ihm gewordene Erkenntnisse und Erfahrungen ebenso zu eigen wie persönliche Zu- und Abneigungen. Dennoch kann man feststellen, dass jeweils im Denken, Fühlen und Wollen unterschiedliche Prinzipien im Vordergrund stehen:

  • Im Denken stehen Schlüssigkeit, Logik, Angemessenheit, ja eigentlich Fragen von Wahrheit oder Unwahrheit im Umgang mit dem vorliegenden Gewordenen der Welt – der individuellen Welt-Anschauung also – im Vordergrund. Soll der Wahrheit einer Sache nahe gekommen werden, dürfen Fragen des Fühlens wie Sympathie oder Antipathie ebensowenig bestimmend werden wie persönliche Willensimpulse des Einzelnen.
  • Das Fühlen zeigt nur dann das Verhältnis zwischen dem Inneren und Äußeren des Menschen ungehindert an, wenn es gleichsam frei schwingend zwischen den Polen von Zu- oder Abneigung in rhythmischer Bewegung bleiben kann. Nüchternes, „kaltes“ Vorstellen der Welt, wie es zur Gewinnung von Wahrheit nötig ist, hat immer ganz notwendig und berechtigt etwas Antipathisches; wollende, gestaltende Zuwendung ist dagegen unweigerlich sympathisch durchtönt. Soll der Mensch im Fühlen also seine Mitte – das „Herz“ – nicht verlieren, darf es weder von Denken noch vom Wollen einseitig vereinnahmt werden. Nur frei schwingend kann es den Werdeprozeß des Menschen sinnvoll regulieren.
  • Das Wollen richtet sich ganz auf das Ziel, den zu erreichenden Zweck. Dieser ist nun etwas, von dem man wohl Vorstellungen hat, wenn man sich einem Willensimpuls hingibt. Inwieweit dieser aber wie vorgestellt Realität haben wird, ist im Tun noch nicht bekannt; nicht einmal die Art, wie der Übergang von der Vorstellung des Gewollten in die konkrete Tat genau zustande kommt, kennt der tätige Mensch im Einzelnen.
    Bindet man nun seine Taten an die eigene Gefühlswelt mit ihren Sympathien und Antipathien, so wird das Wollen egoistisch, denn es wird dann durch das ganz persönliche, fühlende Verhältnis zur Welt gelenkt, und der ursprüngliche Zweck gerät aus dem Blick (es sei denn, der angestrebte Zweck ist von vornherein ein egoistischer).
    Bindet man seine Taten an die eigenen, gewordenen Erkenntnisse, die eigene Anschauung von der Welt, so entsteht nichts wirklich Neues, denn es wird letztlich nur reproduziert, was aus dem schon Gewordenen hervorgeht. Wer zu viel zweifelt an seinem eigenen zukunftsgerichteten Streben, wird immer den Erfolg am schon Erreichten messen; die größten Fortschritte und neuen Einschläge im Fortkommen der Menschheit sind aber meist erreicht worden, wo das heiße Streben, die Liebe zur Tat, auch in aussichtslosester Lage, ganz unabhängig vom Gefallen oder Nichtgefallen der Situation, das Ziel weiterverfolgt hat und so oftmals das scheinbar Unmögliche doch erreichen konnte.
    Das Wollen, wenn es wirklich der Sache wegen ins Leben tritt, ist daher eigentlich die Liebe zur selbstgewollten Tat.

Leib

Von der Außenwelt Kenntnis erlangt die Seele – und durch sie das Ich – vermittels des Leibes, den sie an sich trägt. Er ist das äußerlichste Glied des Menschen, über das ja die heutigen Menschen glauben, schon recht gut Bescheid zu wissen. Was die äußerlich wahrnehmbaren Tatsachen (Anatomie, Chemie, Mechanik etc.) angeht, trifft dieser Glaube auch zu. Aber bis heute weiß noch kaum jemand wirklich genau, worin und wodurch das diesem Leib eigene Leben besteht, warum er genau so ist, wie er ist bei jedem individuellen Menschen, und vor allem, wie dieser Leib mit dem Seelischen und dem Geistigen des Menschen zusammenwirkt. Darüber gibt es allenfalls Theorien, die aber von ehrlichen Wissenschaftlern immer als begrenzt gültig und sehr vorläufig angesehen werden.

Was beobachtet werden kann, ist, dass der Leib das Mittel des Menschen ist, durch das er der Außenwelt gegenübertreten kann; der Leib ist Teil dieser Außenwelt und ebenso Teil seines menschlichen Besitzers. Durch die leibliche Existenz des Menschen wird vermittels der Seele aus der allgemeinen Form des ICH-Seinsdie lebendige Anwesenheit eines individuellen erlebenden Menschen in der Welt.

So angeschaut, erscheint der Mensch als ein dreigliedriges Wesen aus Geist, Seele und Leib. Jedes dieser Glieder ist weiter in sich differenziert; für die hier durchgeführte Betrachtung ist zunächst vor allem die Gliederung der Seelentätigkeiten in Denken, Fühlen und Wollen von Bedeutung, warum auch auf diese näher hingewiesen wurde, und Weiteres über Gliederungen von Leib und Geist weggelassen wurde.

Organismus

Im Sinne des griechischen Wortes organon =„Mittel, Hilfsmittel, Werkzeug“ liegt es, einen lebendigen Zusammenhang sinnvoll ineinander wirkender Organe, die zusammen wiederum ein in sich abgeschlossenes Ganzes bilden, als „Organismus“ zu bezeichnen. Jedes Organ dient diesem Ganzen gleichsam als spezialisiertes „Werkzeug“ für einen besonderen Zweck.

Jedes Organ kann aber eine relative Selbständigkeit bewahren, indem seine Wirkens- und Lebensprinzipien sich von denjenigen der anderen Organe unterscheiden. Diese Organe wirken ineinander im Rahmen des Gesamtorganismus, durchdringen sich in ihrer Wirkung, eben so, wie es in allen lebendigen, aus sich heraus sich entwickelnden Prozessen geschieht. Die Gesetzmäßigkeiten, die zum Beispiel der Verdauung im menschlichen Organismus zugrundeliegen, haben einen gänzlich anderen Charakter als diejenigen, nach denen die seelischen Prozesse im Denken, Fühlen und Wollen vonstatten gehen. Dennoch wirken beide Bereiche im ganzen Menschen zusammen.

Dagegen folgt in einem Mechanismus, einer Maschine jeder Teil denselben zugrundeliegenden, physisch-mechanischen Naturgesetzen. Entsprechend wirken die einzelnen Teile auch wie äußerlich getrennte Gegenstände aufeinander, nur zusammengefügt durch das Konstruktionsprinzip des Gesamtmechanismus.

Nun kann ein lebendiger Organismus durch seine aus sich heraus erfolgende Entwicklung in Gegensatz zu den Tatsachen, Ereignissen und Wesen seiner Umgebung kommen; er trägt sein Bildeprinzip in sich, ebenso wie jeder ihm begegnende fremde Organismus. Sind beide zu unterschiedlich konfiguriert, passen sie also nicht zueinander, so werden sie einander zu „Störenfrieden“. Da wirkt dann das Leben, das Polaritäten immer wieder in Prozesse überführt – die Organismen werden in einen Klärungsprozess eintreten müssen, jeder nach seinen Prinzipien (siehe besonders den letzten Abschnitt dieses Artikels).

Mechanismen sind aber immer von Außen her gestaltet; für alle Mechanismen gelten die gleichen physikalisch-mechanischen Bildegesetze. Bei ihnen kann also lediglich von einem Konstruktionsmangel gesprochen werden, wenn sie einander stören; bei der Konstruktion wurde das Zusammenwirken nicht genügend berücksichtigt. So etwas ist dann immer nach den einheitlichen zugrundeliegenden Gesetzen „reparierbar“.

Dieser Unterschied zwischen Maschinen, die grundsätzlich nach den einheitlichen Naturgesetzen des Maschinenwesens funktionieren, und Organismen, die jeweils ihr eigenes Bildprinzip in sich tragen und bis in die Bildung der einzelnen Organe hinein sehr unterschiedlich sein können, ist im heutigen Bewusstsein vielfach verwischt. Man betrachtet auch Menschen, Tiere, Pflanzen, die ganze Natur nach dem Modell von Maschinen, und meint, dass man eben gewisse Einzelheiten lebendiger Wesen bloß noch nicht physikalisch-mechanistisch erklären kann, wie zum Beispiel dasjenige, was alle diese Wesen zu selbständiger Entwicklung aus sich heraus veranlasst: das Leben selbst. Wenn man nicht weiß, was das Leben ist, wie will man dann wissen, dass es sich überhaupt physikalisch-mechanistisch erklären lässt?

Die wesentlichste, grundlegende Eigenschaft von Organismen – im Unterschied zu Maschinen oder Mechanismen – ist eben die Tatsache, dass sie selbständiges Leben in sich tragen.

Sozialer Organismus

In diesem Sinne wird hier von einem „sozialen Organismus“ und nicht einem „Mechanismus“ oder einem „System“ gesprochen, wiewohl man zugeben muss, dass manche Organe im Sozialen (z.B. der Verwaltungsbürokratie) eher nach mechanisch-maschinellen als nach lebendig-organischen Gesichtspunkten gestaltet sind2. Das soziale Feld wird insofern als ein in sich selbständiges betrachtet, das seine eigenen Bildgesetze in sich trägt und dadurch auch ein eigenes, selbständiges Leben entwickelt.

Dass dies so sein muss, ergibt sich aus dem Wort sozius = „Teilhaber, Gefährte, Genosse“, was bedeutet, dass die „Genossen“ alle Teil haben an einem gemeinsamen Besitz. Wohlgemerkt: nicht jeder hat seinen Teil für sich ganz allein, sondern alle haben das Ganze gemeinsam. Dem entspricht die Eigenschaft von Organismen, dass ihre Glieder ineinander und nicht bloß äußerlich aufeinander wirken (s.o.)

Eine solche Umschreibung des sozialen Organismus trifft ohne Zweifel auf die Gesamtheit der auf der Erde lebenden Menschen der Erde gegenüber zu, kann in diesem Rahmen eingeschränkt aber auch für Teile des Ganzen, also zum Beispiel eine regionale Bevölkerung im Hinblick auf die Naturverhältnisse der von ihnen bewohnten Region geltend gemacht werden. Solche regionalen Glieder3 können dann als für die örtlichen Bedingungen angepasste Organe des großen sozialen Organismus der Gesamtmenschheit und ihrer Welt aufgefasst werden.

Dieser soziale Organismus insgesamt wird von denjenigen gebildet, die in ihm „Genossen“ sind; dies sind – mit der Möglichkeit des Bewusstwerdens der eigenen Situation im Ganzen ausgestattet – zunächst die beteiligten Menschen4. Es liegt nun auf der Hand, dass in einem von Menschen gebildeten und in seinen Organen gestalteten Organismus immer dann die größtmögliche Übereinstimmung des Einzelnen mit dem Ganzen gegeben ist, wenn die Bildung der Organe, ja des ganzen Organismus die grundlegenden Charakteristika der beteiligten Menschen abbildet, und darum jeder Einzelne im Ganzen den ihm entsprechenden Mitwirkungsort finden kann.

Wir haben oben auf drei wesentliche Tätigkeitsformen der menschlichen Seele geschaut: Denken, Fühlen und Wollen. So mag hier die Frage weiterführen, wie diese drei Tätigkeiten jedes einzelnen, seelisch erlebenden Menschen im sozialen Organismus ineinander wirkend tätig sind.

Geistesleben

Alles dasjenige, was im Einzelnen mit dem Denken und der individuellen Weltauffassung zu tun hat und insofern alles Erkennen der Tatsachen und ihrer Wahrheit betrifft, wird auf das Gesamt-Menschheitliche orientiert dadurch, dass jede einzelne, individuelle Weltsicht einschließlich ihres Ausdrucks im gemeinsamen Leben, die ja immer nur dieser eine Mensch haben kann so wie er sie hat, sich mit allen anderen Welt-Anschauungen zu einem menschheitlichen Geistesleben zusammenschließt, das dann erst dasjenige hervorbringen kann, was man „Wahrheit“ zu nennen pflegt.

Jeder Ausschluss auch nur einer einzigen individuellen Weltsicht in Bezug auf das jeweils in Frage Stehende, zum Beispiel aus rechtlichen oder wirtschaftlichen Gründen, führt zu einer Abweichung von der einheitlichen Gesamt-Wahrheit, also zu Illusion, oder anders gesagt Unwahrheit und Lüge. Für das gesunde Entwickeln dieser Gesamt-Wahrheit im geistigen Leben der Menschheit besteht daher die Bedingung der Freiheit jeder geistigen Betätigung und gleichzeitig der Anerkennung jeder, auch der gegensätzlichsten Sichtweise als im Rahmen des Ganzen zunächst gültig. Erst die freie Konkurrenz der Ansichten kann entscheiden, was der gesamtheitlichen Wahrheit förderlich ist und sich darum durchsetzen kann. Nur durch verstehende Wahrnehmung des Fremden und seine Zusammenfügung mit dem Eigenen in jedem Menschen kann nach und nach die Gesamt-Wahrheit im Menschen entwickelt werden.

Wirtschaftsleben

Im Wirtschaftsleben lassen die Menschen ihre Willensimpulse in der Nutzung der vorhandenen Weltgegenstände zum Zwecke Erhalts und der Pflege der irdisch-leiblichen Existenzgrundlage zusammenfließen. Dies ergibt sich schon allein daraus, dass die Menschen einander eben alle „Genossen“ sind, Teilhaber am Ganzen der Welt im Sinne eines gemeinsamen Besitzes. So lapidar der Satz klingt, so vertrackt sind allerdings die praktischen Probleme, die dadurch aufgeworfen werden.

Der für uns Heutige zumindest abstrakt selbstverständliche Blick auf die Begrenztheit der global vorhandenen Ressourcen ist nämlich eine durchaus neue Sache; in der Vergangenheit galt Besitz und Eigentum als etwas, was dem Einzelnen zukommt gemäß seinem Schicksal, seiner Herkunft aus einer bestimmten sozialen Gruppe, seiner Macht über Andere (d.h. auch der Macht, andere zu berauben). Persönliche Tüchtigkeit spielte dabei eine geringere Rolle, es sei denn, sie lebte sich in Eroberungen oder anderen Formen der Besitzergreifung aus. Dies war so lange möglich, wie die Größe der Ressourcen die Möglichkeiten der danach greifenden Menschen deutlich überwog. Diese Zeit hat aber nun schon länger geendet. Die dessen ungeachtet immer noch vorhandene, gewohnheitsmäßige Fortsetzung der gewordenen Verhältnisse der Vergangenheit entspricht nicht den Notwendigkeiten; dies führt zu Konflikten.

Aus begrenzten Ressourcen das für Alle mögliche Beste zu erzielen, kann nur im vertrauensvollen Zusammenwirken der Beteiligten gelingen; ohne Vertrauen entsteht unnötiger Verbrauch, unnötige Tätigkeit, also letztlich Verschwendung. Das Wirtschaftsleben braucht daher freieAssoziation im vertrauensvollen Zusammenschluss der Kräfte für alle Aktivitäten. Jeder Beteiligte bringt dabei dasjenige ein, was ihm zu eigen ist: das sind auf der einen Seite Fähigkeiten, Talente, persönliche Eignung und Tüchtigkeit für eine bestimmte Tätigkeit, auf der anderen Seite die Lebensbedürfnisse, die sich für ihn und die mit ihm verbundenen Menschen ergeben. Beides sind Vorgaben für sinnvolles gemeinsames Wirtschaften. Die assoziative Tätigkeit der zusammenarbeitenden Menschen besteht dann darinnen, die vorhandenen Tätigkeitsmöglichkeiten und natürlichen Ressourcen mit den gegebenen Bedürfnissen im praktischen Wirtschaften in einen Ausgleich zu bringen. Dieser Ausgleich geht aus dem Wollen der Beteiligten hervor.

Rechtsleben

Aus dem Vorstehenden ergibt sich einerseits die Notwendigkeit für die zusammenlebenden Menschen, die Freiheit des Geisteslebens sicherzustellen, damit die Erkenntnis-Entwicklung hin zu einer menschheitlichen Wahrheit ungehindert stattfinden kann. Denn aus diesem Erkenntnisbemühen können sich erst die Gesichtspunkte ergeben, die bei der Gestaltung auch der anderen Glieder des sozialen Organismus leitend sein können, zum Beispiel konkret die Bestimmung der Eignung von Menschen für diese oder jene Tätigkeit im Wirtschaftsleben, einschließlich der Zuteilung der Verfügungsmacht über Produktionsmittel, oder als Richter im Rechtsleben. Die praktische Regelung der Übertragung dieser Verfügungsgewalt an den oder die dafür am besten geeigneten Menschen ist dann wieder eine Rechtsangelegenheit.

Auf diesem mittleren, dem Rechtsgebiet, findet also der Ausgleich zwischen der denkenden Welt-Anschauung und dem wollenden Hineinwirtschaften in die Zukunft statt. Dieser Ausgleich ist ein fühlender, denn er muss in jedem Einzelnen zugleich mit seinem Darinnenstehen im Ganzen als Erleben seiner Menschenwürde erreicht werden. Im Zusammenfließen des Fühlens des Einzelnen mit demjenigen aller beteiligten Anderen ergibt sich dasjenige, was das „Recht“ in einer solchen Gemeinschaft bestimmen kann.

Viel mehr als in der Pflege eines umfangreichen Satzes bestehender Gesetze, Regeln und erfolgter Urteile in konkreten Fällen – einer Pflege, die zu einem ständig wachsenden, für den Einzelnen immer unüberschaubareren, automatenhaften Bürokratismus des Rechts führen muss – bildet also die Orientierung am lebendigen Rechtsgefühl die Leitschnur. Solche Handhabung des Rechtes in jeweils der Zeit entsprechender Form gab es in manchen mittelalterlichen Gesellschaften; besonders im Hinblick auf die individuelle Freiheit verfasst zum Beispiel bei den Friesen5 zur Zeit der sogenannten „Friesischen Freiheit“6.

Diese mittelalterlichen Rechtsverfassungen waren getragen von der Ablehnung zentralistischer, gleichsam „von oben herab“ geformter Systeme, die vor allem den sie formulierenden und lenkenden Mächten den Erhalt ihrer überkommenen Vorrechte sichern sollten; sie sind insofern historische Vorbilder lebendiger, reale Demokratie (im Rahmen der Zeitverhältnisse) fördernder Handhabung des Rechtes. Aus ihnen erwuchsen zugleich Blütezeiten der Wirtschaft und der Kultur.

Abirrungen

Die heutige gesellschaftliche Handhabung missachtet, ja ignoriert in weiten Teilen die Notwendigkeiten des sozialen Organismus. Das bedeutet nicht, dass diese Notwendigkeiten nicht bestehen. Es kann aber als Krankheitssymptom des sozialen Organismus aufgefasst werden.

Exkurs: „gesund“ und „krank“

Nun kommt man mit der Verwendung eines solchen Begriffes wie „Krankheit“ sofort in eine Kalamität: es existiert nämlich bis heute keine einhellig akzeptierte Definition davon7. Insofern ist es notwendig klarzustellen, was hier darunter verstanden werden soll und warum.

Das Fehlen einer allseits anerkannten Beschreibung von dem, was man „Krankheit“ nennen will, mag einerseits die Sache verkomplizieren; andererseits nötigt sie dazu, sich selber einen lebendigen Begriff davon zu entwickeln, der in sich beweglich genug ist, um überall mit den Tatsachen in Übereinstimmung gebracht zu werden.

Gemäß einem fast scherzhaft gemeinten Aphorismus kann man das einzelne menschliche Leben als eine Krankheit auffassen, die immer zum Tode führt. Ihre Ursache liegt dann in der Tatsache des Geborenseins. Und ihr Verlauf ist davon geprägt, wie aufbauende Kräfte aus der Geburt ins Verhältnis treten zu den abbauenden Kräften des Todes.

So betrachtet, kann wohl auch jede gesonderte Krankheitserscheinung als Ergebnis des Verhältnisses von auf- und abbauenden Kräften betrachtet werden; die eigentliche Ursache für das Auftreten dieser besonderen Krankheit ist dann in sehr vielen, fast allen Fällen vor dem Beginn des Auftretens von Krankheitserscheinungen zu suchen – ebenso wie die Geburt vor dem irdischen Leben steht.

Im „normalen“ Leben werden Aufbau und Abbau im Rahmen der Lebensführung in einem ausgeglichenen Verhältnis gehalten. Wir „verbrauchen“ sozusagen unseren Leibesorganismus – der uns das Leben im Irdischen ermöglicht – während unserer aktiven Tageszeit; zu einem Teil wird das im zeitweisen „Aussetzen“ des „Verbrauchers“ im Schlaf durch die natürlichen Lebensprozesse ausgeglichen. Was aus der Geburt an Lebenskraft mitgebracht wurde, endet aber zu irgendeinem Zeitpunkt, und der „Verbrauch“ beginnt zu überwiegen. Schließlich tritt der Tod ein.

Das Überwiegen der Aufbaukräfte in Kindheit und Jugend führt unter anderem zu leidvollen und schmerzhaften Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit den gewordenen, fest in sich gefügten Verhältnissen der Außenwelt8; an dieser Auseinandersetzung wächst der Mensch und lernt, in sich immer neue Kräfte für das Leben im Irdischen zu entwickeln. Das Überwiegen des leiblichen Abbaus im Alter fordert die Entwicklung geistiger Kräfte, die für den Gang in den Tod gebraucht werden; auch dies kann sehr schmerzhaft und belastend werden. Dabei fordert der immer unbeweglicher werdende Leib eine neue, unabhängige Beweglichkeit im Geistigen.

Überall, wo im Gesamtorganismus das angemessene Gleichgewicht von Auf- und Abbau gestört ist, tritt dies ins Bewusstsein als leid- und schmerzvolle Erfahrung. Als eine besondere, für sich stehende Krankheit gilt es, wenn nur in einem Teil des Gesamtorganismus das für diesen Teil – das jeweilige Organ – optimale Gleichgewicht nicht gegeben ist. Ein Prozess, der an einem Ort im Organismus seine Berechtigung hat, gleichsam als „gesund“ gilt, kann daher an einem anderen Ort hinderlich, also als „krank“ auftreten9.

Die einzelnen Prozesse im Organismus sind also für sich genommen niemals „krank“ oder „gesund“, vielmehr bestimmen Ort und Zeit ihres Auftretens, ob von einer „Krankheit“ gesprochen werden kann. „Gesundheit“ liegt in der Regel vor, wenn alle Organe ihre Aufgaben in lebendigem Schwingen um eine Gleichgewichtslage erfüllen; dann bemerkt der Mensch in der Regel nichts davon und fühlt sich „gesund“. „Krankheit“ dagegen drängt sich zu irgendeinem Zeitpunkt ins Bewusstsein durch die Beschwerden, die mit der eingeschränkten Funktion der Organe verbunden sind.

Was geht nun aus einer solchen Betrachtungsweise von „Gesundheit“ und „Krankheit“ für den sozialen Organismus hervor? Sie liefert zusammen mit der Unterscheidung der grundsätzlichen drei Glieder dieses Organismus einen Maßstab, durch den seine gestörte oder ungestörte Funktion, also seine „Krankheit“ oder „Gesundheit“ bestimmt werden kann.

Eine Vielzahl von Prozessen fallen ins Auge, die sich am falschen Ort etabliert haben oder als überfällige Vermächtnisse der Vergangenheit die gesunde Funktion beeinträchtigen. Ein paar Beispiele:

  • Die geistige Fortentwicklung der Menschheit steht und fällt mit dem Hereinkommen neuer Talente, Fähigkeiten und Entwicklungsimpulse durch die in diese Menschheit eintretenden Kinder. Wie für eine wirkliche Erkenntnissuche Unvoreingenommenheit notwendig ist, brauchen die Kinder vor allem Entwicklungshilfe für ihre eigene Individualität, also Unvoreingenommenheit in der Erziehung, und nicht Einpassung in bestehende Verhältnisse. Das Bildungswesen als Glied des Geisteslebens hat die Aufgabe, den Kindern diese Entwicklungshilfe zukommen zu lassen. Das kann nur gelingen, indem ihnen Lehrer und Erzieher gegenüber gestellt werden, die ihre erkennende und gestaltende Individualität im Dienst an den konkret vorhandenen Kindern selber frei entfalten können, gemäß der Forderung der Freiheit der geistigen Betätigung (s.o.). Die heutigen Schulsysteme sind dagegen als Untergliederungen des Staates Institute, die treue Staatsbürger oder – wo das Wirtschaftsleben den Staat zu beeinflussen versteht – brauchbare Arbeitskräfte für die bestehende Wirtschaft produzieren soll. Entsprechend stehen den Kindern nicht freie Individualitäten, sondern weisungsgebundene Staatsbeamte gegenüber, denen in vielen Fällen die für sie selbst möglichst bequeme Handhabung der Erziehung wichtiger ist als die individuelle Entwicklung der jungen Menschen. Hier spielen Rechtsregelungen, persönliche Zu- und Abneigungen sowie Anforderungen des Wirtschaftslebens in einen Bereich hinein, der zugunsten der Zukunft ausschließlich der Erkenntnis und Förderung der werdenden Menschen gewidmet sein soll.
  • Will das staatliche Leben wirklich einen Ausgleich zwischen den Erfordernissen sachgerechten Wirtschaftens und der Freiheit im Geistigen leisten, so muss es einerseits diese Freiheit schützen und auf der anderen Seite dafür sorgen, dass im Wirtschaften wirkliches Vertrauen ineinander wirken kann. Es kann daher nicht angehen, dass auf rechtlichem Wege Anforderungen und Einflüsse des Wirtschaftslebens zu einer Regulierung im Geistesleben führen (z.B. Finanzierung interessengeleiteter Forschung, Vorgaben für die Ausbildung von Kindern), eine Situation, die heute das Normale ist. Das staatliche Leben hat lediglich das Recht auf freie Entfaltung des Menschen zu schützen, seine inhaltliche Ausgestaltung ist Sache des Geisteslebens. Für das Wirtschaftsleben hingegen sind rechtliche Vorgaben erforderlich zur Bestimmung der konkreten Wirtschaftsaufgaben aufgrund freier Erforschung der vorhandenen Bedürfnisse (Geistesleben) sowie einer Zuteilung der Verfügungsgewalt über Produktionsmittel (auch Land) nach persönlicher Eignung und Tüchtigkeit für eine bestimmte Aufgabe im Sinne eines begrenzten Mandats, und schließlich einer vorab erfolgten rechtlichen Regelung von Art und Zeit der von jedem Menschen für das Ganze zu erbringenden Arbeit. Auf dieser Grundlage kann sinnvoll gearbeitet werden. Den derzeitigen, verschwenderischen und menschenunwürdigen Verhältnissen einer produktionsorientierten Wirtschaft („Freiheit im Wirtschaften“) mit ihrem Marketingaufwand für unnötige Produkte und der immer weiter wuchernden Anhäufung des Vermögens an Produktionsmitteln bei einigen wenigen, oftmals in der Sache nicht kompetenten Menschen, verbunden mit dem sklavereiähnlichen System der Lohnarbeit (wer nur seine Arbeit verkaufen kann, muss sich selber gleich mit verkaufen) kann so der Boden entzogen werden.
  • Innerhalb der Grenzen, die durch das Recht auf der einen Seite und die natürlichen Ressourcen auf der anderen Seite bestimmt werden, muss die freie Assoziation der Kräfte in vertrauensvoller Zusammenarbeit das bestmögliche Wirtschaften ermöglichen. Dafür muss der Einzelne frei wählen können, was und in welchem Zusammenhang er zum Ganzen beitragen will. Hier geht es um den Willen zur Tat für die Gemeinschaft, den jeder in seiner eigenen Weise fasst und realisiert. Brüderlichkeit, das heißt arbeiten für den Anderen ist das Kennzeichen allen Wirtschaftens. Wie oben geschildert, ist dies in der heutigen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung praktisch nicht veranlagt. Der Mensch ist aber, wenn es unter menschenwürdigen Bedingungen geschieht, von sich aus darauf orientiert, tätig in der Welt zu stehen und seinen Beitrag zu leisten. Wer arbeitet, weil er es will, wird bessere Ergebnisse erzielen als derjenigen, der es nur muss, um zu existieren10. Dann kann sich auch das nötige Vertrauen entwickeln.

Dies können nur Andeutungen sein, müssen es auch. Andernfalls ergäbe sich aus solchen Darlegungen eine Art „Utopie“, wie sie eben mit dem Gedanken der „Dreigliederung des sozialen Organismus“11, wie er hier dargestellt ist, niemals gemeint war und ist12.

Die Dreigliederung des sozialen Organismus ist vorhanden. Nur leider beachten die Menschen sie nicht, und verursachen dadurch vielfache Krankheitserscheinungen dieses Organismus und damit auch unendliches Leid in Mensch und Natur. Was aber können wir da tun?

Heilkräfte im Sozialen

Fassen wir zusammen, was nun als Grundsätze für die Glieder des sozialen Organismus gelten kann, entsprechend dem seelischen Erleben der einzelnen Angehörigen dieses Organismus:

  • Ebenso wie für eine wahre denkende Erkenntnis Unvoreingenommenheit notwendig ist (persönliche Vorlieben und Abneigungen ebenso wie Willensimpulse dürfen für die Wahrheitsfindung keine Rolle spielen), ist im Sozialen Freiheit des Geisteslebens (von Einflüssen aus dem Rechts- und Wirtschaftsleben) erforderlich, denn nur dann kann sich im Entwicklungsprozess des Sozialen nach und nach die notwendige Orientierung an der wachsenden gemeinsamen Wahrheit einfinden.
  • Wie das Fühlen zwischen de Polen von Antipathie und Sympathie frei schwingen können muss, wenn der Mensch seine Mitte, das Herz nicht verlieren will, so muss das Rechtsleben das richtige Verhältnis zwischen Geistes- und Wirtschaftsleben im sozialen Organismus gewährleisten. Das Geistesleben braucht den Schutz seiner Freiheit, das Wirtschaftsleben die richtige Formung seiner Aktivitäten, damit es nicht alle anderen Bereiche überwuchert.
  • Im Wollen richtet sich die menschliche Tätigkeit sympathisch auf das zu erreichende Ziel. Wie Abhängigkeit des Wollens von persönlichen Zu- und Abneigungen Egoismus hervorbringt, ein Überwuchern der eigenen Wünsche, so ist in unserer arbeitsteiligen Gesellschaft nur die Orientierung auf den Anderen, also Brüderlichkeit im Wirtschaften förderlich, und nicht die heute herrschende Profit- und Produktionsorientierung. Wirtschaft als Waffe im Kampf der Weltanschauungen überträgt die im Geistesleben notwendige freie Konkurrenz – ein durch und durch antipathisches Element, das im Geiste entwicklungsfördernd ist – auf den Kampf gegen die Existenzgrundlagen der Natur und des Mitmenschen. Die zerstörerischen Wirkungen liegen auf der Hand.

Wie können also Heilkräfte erwachen in der Gegenwart, in der der soziale Organismus infolge mangelnden Bewusstseins von den in ihm wirkenden Kräften vielfältige Missgestaltungen aufweist, die ihn von innen heraus zerstören, also als „Krankheiten“ betrachtet werden können? Es ist ja offensichtlich, dass am Anfang aller Bemühungen die Verstärkung des Bewusstseins für die Krankheiten im Verhältnis zu den gesunden Notwendigkeiten des sozialen Organismus stehen muss.

Dies kann aber nicht geschehen durch Aufstellung eines Plans zur Einführung des „Richtigen“ und nachfolgend dessen Durchsetzung auf der Grundlage von Macht. Jeder Versuch einer entsprechenden Wirksamkeit im Rahmen des bestehenden Parteien- und Machtsystems könnte ja nur auf so etwas abzielen, oder es müsste eine Art „Revolution“ angestrebt werden, die dieses bestehende System hinwegfegt. Dann käme dieses vorab geplante „Richtige“ schnell in die Lage Entwicklung behindernder Tradition. Was aber dann?

Auch eine Art ideologischer Propaganda für die „Idee der Dreigliederung“ setzt nur das Festgefahrensein in intellektuellen Phrasen fort. Wie gezeigt wurde, ist die „Idee der Dreigliederung“ kein theoretisches Konzept, sondern etwas, das sich bei unvoreingenommener Betrachtung von den Lebensrealitäten eines jeden Menschen und der Menschheit aktuell und immer neu ablesen lässt.

Es kann daher nur darum gehen, eine an den Tatsachen des gegenwärtigen menschlichen Erlebens orientierte Denkweise zur Geltung zu bringen, deren gemeinsame Anwendung durch die Menschen dann im lebendigen Austausch zu immer neuen, sich mit dem Leben entwickelnden Regelungen im Geistigen, Rechtlichen und Wirtschaftlichen führen müsste. Solche Regelungen können sich sehr unterscheiden von denjenigen, die Einzelne oder Gruppen aus ihrer Anschauung heraus vorab als die „richtigen“ angesehen haben. So entsteht lebendige Entwicklung.

Je mehr Menschen daher ihr eigenes Verhalten im Einklang mit den Grundprinzipien des dreigegliederten Sozialen Organismus bringen, desto mehr können sich daraus auch im Kleinen gesunde Untergliederungen bilden, die in das Ganze hineinwirken. Jeder Einzelne kann dann dort beginnen, wo er ist: sein eigenes erkennendes und übendes Sich-Hineinarbeiten in eine tatsachengerechte Denkweise im Sozialen kann auf diesem Wege zur Gesundung beitragen. Es braucht keine Revolution, keinen Umsturz, es kann sofort begonnen werden. Wer auf derartige Ereignisse warten will, bevor er selber beginnt umzudenken, mag das tun; allein, diese Ereignisse werden keine durchgreifende Veränderung bringen, wenn sie nicht mit der alten Denkweise brechen, nach der alle gesellschaftlichen Bereiche durch einen einheitlichen Staat auf der Grundlage jahrhunderte- ja jahrtausendealter Traditionen gleichsam zentral geregelt werden sollen.

Die Zuständigkeit des Staates beschränkt sich eben auf dasjenige Gebiet der rechtmäßig zwischen den Menschen zu regelnden Angelegenheiten, in denen von einer Gleichheit der Menschen überhaupt gesprochen werden kann. In diesem Sinne hat er Vorgaben zu machen, die die Freiheit im Geistesleben und das assoziativ-vertrauensvolle Zusammenarbeiten im Wirtschaftlichen sichern und pflegen.

Der Weg dorthin kann nur aus den einzelnen Menschen kommen, die sich ihre geistige Freiheit im unvoreingenommenen Nachdenken über das Soziale zurückerobern, da heraus handeln und so nach und nach gesunde Keime an die Stelle abgelebter, gewohnheitsmäßig fortgesetzter Handhabungen der Vergangenheit setzen. Die Umwandlung kann nur in der Befreiung des Geisteslebens beginnen, und damit in der Selbstbefreiung jedes Einzelnen13.

© Stefan Carl em Huisken 2021

1Natürlich unterscheiden sich die Benennungen in der verschiedenen Sprachen der Erde. Hier geht es jedoch um das Grundsätzliche, das unabhängig von der Sprache besteht.

2Vielleicht hat mit diesem Gegensatz auch die Tatsache zu tun, dass bürokratische Gebilde sehr schnell lebensfern erscheinen, bis hin zur Bildung einer illusionären, „virtuellen“ Bürokratiewirklichkeit, die mit dem tatsächlichen Leben kaum oder gar nicht übereinstimmt. Maschinen leben eben nicht.

3Ich nehme die Worte in ihrer ursprünglichen Bedeutung: Glied, von germanisch *li-, indogermanisch *lei-: „beweglich sein, biegen“, also auch: sich anpassen.

4In gewissem Sinne können auch alle anderen in der Welt vorkommenden Wesen als „Genossen“ betrachtet werden. Ihnen ist jedoch die Möglichkeit der Bewusstwerdung nicht eigen. Die genaue Differenzierung auszuführen, würde hier den Rahmen sprengen und bleibt daher, da für den Gedankengang nicht unbedingt erforderlich, hier unberücksichtigt.

5vgl. dazu https://emhuisken.de/wordpress/2019/07/friesische-kultur-heute/

6siehe z.B. https://de.wikipedia.org/wiki/Friesische_Freiheit

7siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Krankheit

8Man denke zum Beispiel an so etwas „Einfaches“ wie das Gehen lernen: hinfallen, aufstehen, hinfallen, aufstehen …

9Organische Abbauprozesse haben beispielsweise im Bereich der Verdauung ihre Aufgabe und Berechtigung, unter einer Zahnwurzel können sie aber schmerzhaft zerstörerisch wirken.

10Hier gibt es immer die gleichen Einwände: das sei illusorisch, da würde jeder nur noch faulenzen und nichts würde mehr funktionieren. Ich verweise immer gerne auf ein Lied von Bodo Wartke: https://youtu.be/T1IDSzs1Ai8

11Dieser Ausdruck ist inzwischen eine Art schlagwortartige Phrase geworden, indem immer wieder davon gesprochen wird, man müsse diese Dreigliederung „einführen“. Der hier vorliegende Artikel will demgegenüber deutlich machen, dass und warum eine solche Vorstellung ganz unsinnig ist, weil die Dreigliederung des sozialen Organismus eine vorliegende Tatsache ist, die im zeitgenössischen Bewusstsein leider nicht genügend bekannt und beachtet ist, wodurch krankheitsartige gesellschaftliche Probleme entstehen.

12Man lese dazu die Darstellungen von Rudolf Steiner, der als erster ausführlich von dieser „Dreigliederung“ sprach, z.B. Steiner, Rudolf: Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft. GA 23. Dornach, 1976

13Es ist bemerkenswert, wie sich aus ganz anderen erkenntnismäßigen Grundlagen ein ähnlicher Gedanke ergeben kann. So spricht die von einer russischen Gruppierung vertretene „Hinreichend Allgemeine Theorie der Steuerung von Supersystemen“ davon, dass jeder Einzelne durch sein Studium dieser Theorie und ihrer Ergebnisse in die Lage kommen kann, sich und seine Familie besser zu schützen, einfach weil er dann besser verstehen kann, was in der Welt vorgeht. In fast jedem Beitrag auf seiner Website weist der „Fonds konzeptueller Technologien“ auf diesen Gedanken hin (vgl. dazu zum Beispiel https://fktdeutsch.files.wordpress.com/2021/04/fuenf-arten-der-sozialen-idiotie1.pdf)


Wahnsinn und denken – Mensch im Sozialen

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart habe ich dargestellt in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Was hilft die Aufregung? – Die Kräfte wirksam nutzen

Die vielfältig belastenden Ereignisse, die einem täglich begegnen, lösen immer wieder Zorn, Angst, Empörung und Resignation aus, und die Aufregung über solche Neuigkeiten beherrscht vielerorts die Gespräche und Aktionen. Ist das hilfreich? Gibt es andere Verhaltensmöglichkeiten, die unsere Kräfte wirksamer nutzen für den erwünschten Fortschritt?

Den Tatsachen ins Auge schauen

Was auch immer an Neuigkeiten auf uns einstürmt, es scheint überwiegend eines zu bestätigen: der Kampf gegen das Böse (was auch immer das sei) muss weitergehen, und immer noch ist es nicht gelungen, dieses Böse auszurotten, damit wir endlich wieder unseren Frieden haben. Unsere offensichtliche Ohnmacht, das Böse zu beseitigen, verbunden mit immer neuen Meldungen über neues Böses in der Welt zermürbt die Kräfte, die sich nur darauf verlegen können, in Klagechören die Situation zu beweinen und ansonsten zuzusehen, wie die Welt untergeht.

Da waren die Manichäer1 in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung offenbar weiter. Ihnen war klar, dass das Böse in der Welt bis zum Erdenende Bestand haben wird, und dass daher die Hoffnung auf die völlige Befreiung vom Bösen keine realistische Grundlage hat. Vom heutigen Gesichtspunkt aus muss ja auch gesagt werden, dass wir um unserer Freiheit willen auf die Existenz des Bösen angewiesen sind: ohne das Böse gäbe es kein Bewusstsein des Guten (wie auch immer man das im Einzelnen beschreiben will), und damit keine freie Wahl. Wo es keine Wahl gibt, herrscht Unfreiheit – und die ist für Viele ja heute gerade der Inbegriff des Bösen.

Also sollten wir uns entschließen, die Existenz des Bösen erst einmal als gegeben zu akzeptieren. Neue Winkelzüge aus der Höllenküche können wir dann mit einer gewissen Gelassenheit zur Kenntnis nehmen. Das schont die eigenen Kräfte, die dann für Anderes frei werden.

Was ist eigentlich wirklich gut?

Diese Kräfte können wir dann wirksamer nutzen, um unsere eigenen Zeile zu verfolgen – und die sind doch natürlich gut, oder? Aber halt: ist nicht schon diese Unterscheidung eigentlich böse? Lebt nicht auf diese Weise das Gute, die Freiheit, die Harmonie und Einigkeit gerade von des Bösen Gnaden? Die Verwirrung kann immer mehr Platz greifen: was ist eigentlich wirklich gut?

Man sollte die Sache realistisch anschauen: die aus der einen Sicht „bösen Freiheitsfeinde“, die diejenigen mit der anderen Sicht auf die Dinge drangsalieren: was sollte denn mit ihnen geschehen? Alle einsperren, ihnen die Freiheit nehmen, alle „beseitigen“? Tun wir, die Guten also, denn dann etwas Anderes als gerade sie, die Freiheitsverhinderer? Es ist und bleibt doch so, bei aller Gegensätzlichkeit: wir Menschen sitzen alle in einem Boot, und müssen insofern lernen, gemeinsam auf der Erde zu existieren.

Das schafft ja gerade immer neue Probleme, dass im Wechsel der „herrschenden Weltanschauungen“ immer sehr schnell schlecht wird, was einst gut und richtig war. Die „gute Endlösung“ gibt es also nicht – wie schon die Manichäer wussten: das Böse hat seinen berechtigten Platz im Weltganzen, bis ans Erdenende.

Jeder Versuch, etwas Berechtigtes aus der Entwicklung gänzlich auszutilgen, wird scheitern. Und noch mehr: er wird schnell selber der Vernichtung, der Zerstörung anheimfallen, die er der „anderen Seite“ angedeihen lassen will.

Man kann also festhalten: ein absolut Gutes, das allein die Welt beherrscht, kann es nicht geben (nur mit Auslöschung aller Freiheit, was aber wieder „böse“ wäre). Was aber dann?

Liebet das Böse – gut

Für dieses Dilemma hatten die Manichäer einen Vorschlag, den wir Heutige uns vielleicht genauer ansehen sollten: sie wollten nämlich in ihrem Handeln das Gute in das Böse hineinmischen und so nach und nach für eine Umwandlung des Bösen in ein neues Gutes sorgen.

Damit könnte ja sozusagen jeder an seinem Ort jederzeit beginnen.

Gewiss, ein Paradies auf Erden (also einen Zustand von „oben“ gelenkter Unfreiheit auf der Basis der Unkenntnis des Unterschiedes von Gute und Böse – das ist ja das biblische Paradies) wird man so niemals erreichen können, und schon gar nicht in absehbarer Zeit. Aber vielleicht kann man Schritt für Schritt, bis hin zum Erdenende, einen Zustand des bewusst errungenen und daher freien Guten erreichen.

Was wäre dafür nötig? Dass man als freie Liebestat sich selber das Böse „einverseelt“ (in freier Nachbildung des Wortes „einverleibt“), um es dort aus den eigenen, die Gegensätze heilenden Intentionen heraus umzuarbeiten in ein neues, frei gewolltes Gutes. Ganz konkret würde das bedeuten, den Menschen, der Böses tut, nicht als Unmensch zu betrachten, als Sache also, die auf den Müll gehört (das wäre dann hier: aufs Schafott), sondern als verirrten Menschen, der seine eigene Verirrung nicht begreift, und deshalb einen Anderen braucht, der sie für ihn versteht und ihm darum helfen kann, ebenfalls zu verstehen. Der Hilfswillige wird dann allerdings die Geduld aufbringen müssen zu warten, bis der „Böse“ anfängt, seinen Irrweg einzusehen und dadurch für Hilfe überhaupt empfänglich wird.

Alles schön und gut – aber was hilft das jetzt?

Dass solche Überlegungen gar nicht unbedingt abgehoben sind, zeigt ein kurzes Gespräch, das ich neulich hatte, und das für mich auch zum Anlass für diesen Artikel geworden ist. Dabei tut es nichts zur Sache, welche Position die Beteiligten zu den aktuellen gesellschaftlichen Verwerfungen einnehmen; ich schildere sie nur zur Illustration, um die Sache anschaulich zu machen.

Ich befand mich also in einem Gespräch mit jemandem, der die derzeit so nachhaltig empfohlenen Injektionen experimenteller gentherapeutischer Produkte ablehnt, weil sie aus seiner Sicht, aufgrund der ihm vorliegenden Informationen vielfältige negative Wirkungen haben – man kann sie von diesem Gesichtspunkt aus ohne Weiteres als „Giftspritzen“ ansehen – und daher vorhersehbar zu unermesslichem menschlichem Leid führen müssen. Insofern sind diese Injektionen aus seiner Sicht eine „böse“ Sache, und der gesellschaftliche, moralische, politische und wirtschaftliche Druck, mit dem die Menschen derzeit diesen Injektionen zugeführt werden sollen ebenfalls.

Als wir die Sache so weit erörtert hatten, entstand die Frage, was denn nun zu tun sei. Einmal abgesehen von der äußeren Ohnmacht des Einzelnen dieser geballten „bösen Macht“ gegenüber, kamen wir auf die Frage, was denn überhaupt ein Ziel des eigenen Handelns sein könne. Anzustreben, die Propagandisten dieser Injektionen, die ja überdies mit zahlreichen Täuschungsmanövern, also unwahrhaftig zu arbeiten scheinen, und zudem all die nichtsahnenden Mitläufer, die den Druck der Propaganda ja durch ihr Mittun erst wirksam machen, aus dem gesellschaftlichen Leben zu entfernen – also einzusperren, umzubringen oder anders unfreiwillig unwirksam zu machen –; ein solches Streben wäre letztlich dasselbe, was man gerade den „Anderen“ vorwirft, was sie derzeit mit den „Verweigerern“ tun. Das Böse hätte dann gesiegt, die Spaltung zwischen den Menschen zementiert, und das mit unserer, also der „Guten“ Hilfe. Das kann es also nicht sein. Was aber dann?

Dann fiel der befreiende Satz, sinngemäß: „Wenn die Folgen dieser Injektionen und der daran geknüpften Maßnahmen dann sichtbar werden, das Leiden daran dann um sich greift, dann können wir, die wir die Spritze aus guten Gründen nicht genommen haben, die anderen doch nicht hängen lassen!“ Ganz gleich, wie die Sache ausgeht, ob dieses große Leiden kommt oder nicht – jeder kann sich ja geirrt haben –: hier zählt die Menschlichkeit und die ist in diesem Fall eben auch ein bisschen manichäisch.

P.S.: Auch diejenigen, die jetzt ganz rücksichtslos ihre Sicht der Dinge durch Manipulation und strukturelle Gewalt anderen aufzuzwingen suchen, kann man vielleicht in diese menschliche Regung aufnehmen: was ist denn, wenn sie die unermessliche Schuld beginnen einzusehen, die sie auf sich geladen haben? Das kann bald sein, oder später, vielleicht auch erst in einem nächsten Leben. Dann werden sie Hilfe brauchen, um ihre verlorene Menschlichkeit wiederzufinden.

© Stefan Carl em Huisken 2021

1Es gibt mancherlei Darstellungen über Manichäismus, die in vielen Fällen vor lauter Einzelheiten das Grundprinzip fast unsichtbar machen oder sehr einseitig ideologisch geprägt sind. Über das Grundprizip des Manichäismus vgl. vor allem Rudolf Steiner: Der Manichäismus. In: Die Tempellegende und die Goldene Legende, GA93, Dornach, 1991. S. 68 ff sowie die zugehörigen Quellenhinweise und -zitate in demselben Band.


Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart habe ich dargestellt in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.