Ich hab mein Sach auf Nichts gestellt – Friesentreffen 2022

Im Nachklang eines inspirierenden Friesentreffens

„Ich hab‘ mein Sach‘ auf Nichts gestellt.
Juchhe!
Drum ist’s so wohl mir in der Welt.
Juchhe!
Und wer will mein Kamerade sein
Der stoße mit an, der stimme mit ein
Bei dieser Neige Wein“1

Die erste Zeile dieses Gedichtes von Johann Wolfgang von Goethe kam mir in den Sinn, als ich über das Friesentreffen am 6. Juni 2022 – dem Pfingstdienstag – am Upstalsboom bei Aurich nachsann. Und auch eine Ergänzung dieser ersten Zeile drängte sich mir auf:

Ich hab‘ mein Sach‘ auf Nichts gestellt,
nichts als den freien Menschen.

Auch wenn es in diesem Falle vielleicht nahe gelegen hätte zu sagen „… den freien Friesen“, so klang für mein Empfinden die allgemeine Formulierung mit dem „freien Menschen“ schlüssiger. Aber vielleicht ist der Unterschied zwischen beiden Formulierungen ja auch gar nicht so groß …

Bei dieser Versammlung beeindruckten mich zwei Redner besonders: Oebele Vries, Historiker und emeritierter Dozent der Rijksuniversiteit Groningen, und Christoph Schmidt, Direktor des Nordfriisk Instituut in Bredtstedt/Nordfriesland.

Upstalsboom bei Aurich Friesentreffen 2022

Oebele Vries rezitierte den Prolog und die ersten drei Küren der Friesen eindrucksvoll auf Altfriesisch (mit anschließender deutscher Übersetzung). Dabei kamen vor allem die Aussagen der 2. und 3. Küre und ihr Zusammenhang klar zum Ausdruck: sollte eines der verbündeten „sieben friesischen Seelande“ von einem Außenstehenden angegriffen werden, so würden die anderen sechs ihm beistehen, um seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu wahren, so die zweite Küre. Die dritte Küre sagt: sollte aber eines der Seelande ungerecht rauben oder morden, so sollten die anderen sechs das siebte zwingen, wiederum gerecht zu handeln.

Wer sich diese einfachen Regeln ein wenig besinnend „auf der Zunge zergehen lässt“, wird schnell bemerken, wie hier in einfachen und klaren Worten auch und gerade für unsere Zeit Wege aufgewiesen werden aus den Katastrophen des Umgangs der Staaten und Länder miteinander. Allerdings: es muss dabei sichergestellt werden, dass die Frage „gerechten“ oder „ungerechten“ Handelns Freund und Feind gegenüber aus gleichen Beurteilungsmaßstäben heraus entschieden wird. – Dafür trugen einst die gewählten Richter die Verantwortung.

In seinem Grußwort machte dann Christoph Schmidt darauf aufmerksam, dass es für einen lebensvollen und entwicklungsfähigen Umgang miteinander weniger entscheidend sei festzustellen, was nun das „richtige“ oder „falsche“ Friesentum, oder die „wahre“ beziehungsweise die „unwahre“ friesische Sprache sei; darüber bestehen naturgemäß unterschiedliche Auffassungen und Erfahrungen, und keine davon könne einfach für „ungültig“ erklärt werden zugunsten einer anderen. Vielmehr sei es wichtig, dass jeder Einzelne seine Sache mit Einsatz und Tiefgang verfolge und dem anderen auch dessen Weg gönne und nicht abspreche. Im Ergebnis könne daher eigentlich nur jeder Mensch selber darüber entscheiden, ob er „Friese“ sei oder nicht, und inwieweit seine friesische Sprache eine wahre sei.

Mich erinnerte diese Aussage sofort an ein Wort Rudolf Steiners in seiner „Philosophie der Freiheit“: „Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime der freien Menschen.“2 Damit sei – so Rudolf Steiner – auch ein hinderliches Aufeinanderprallen und Missverstehen bei sittlich freien Menschen ausgeschlossen. Diese Worte Rudolf Steiners kann man – so meine ich – gerade in unserer Zeit nicht oft und tief genug durchdenken. Sie standen auch bei meinen früheren schriftlichen Versuchen zu Fragen des Friesentums3 und der friesischen Kultur4 im Hintergrund. Beide Artikel kann ich dem Interessierten daher hier zur (nochmaligen) Lektüre empfehlen; vielleicht können sie ja Hinweise geben für die noch bessere Fundierung des eigenen (friesischen?) Selbstverständnisses in der Welt.

Das eingangs zitierte Gedicht Goethes gibt im Übrigen Hinweise darauf, welche Folgen es haben kann, wenn man sich frei zu machen versteht von aller Lenkung und Stütze von Außen, wenn man also sozusagen „sein Sach‘ auf Nichts stellt“. Er spricht nämlich vom Willen zur Kameradschaft, der für den Zusammenklang – das „mit einstimmen“ – entscheidend ist. In den weiteren Strophen des Gedichtes schildert er, wie es ihm gegangen ist, als er hier und da in der Welt seine Stütze suchte. Die angedeuteten Folgen sprechen für sich. Auch dies Gedicht in Gänze sei daher zur Lektüre empfohlen.

© Stefan Carl em Huisken 2022

1vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Vanitas! vanitatum vanitas! – In: Goethes Werke. Bd. 1. – Bibliographisches Institut Leipzig, 1926. S. 70f

2Steiner, Rudolf: Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode. – Dornach, 1973, S. 166

3vgl. https://emhuisken.de/wordpress/2017/08/wer-ist-friese/

4vgl. https://emhuisken.de/wordpress/2019/07/friesische-kultur-heute/




Fräislound is moor – zum Friesentreffen am Upstalsboom 2021

Seit vielen Jahren führt das Friesische Forum die inzwischen schon (wieder) traditionellen Treffen der Freien Friesen am Upstalsboom in Aurich am Pfingstdienstag durch. Im Mittelalter war das eine Art „höchster Feiertag der Friesen“, der Tag, an dem man sich traf, um gemeinsame Angelegenheiten aller friesischen Lande zu besprechen und zu beschließen. Als Mitglied des Friesischen Forums fast seit seiner Gründung bin ich bei vielen dieser Treffen dabei gewesen, und durfte auch oft solo oder mit Unterstützung von Freunden bzw. mit meinem Duo „jank frison“ musikalische Beiträge liefern.

Nachdem im letzten Jahr die Veröffentlichung der CD „Fräiske Soang“ – rechtzeitig zum Friesentreffen terminiert – nicht mit Live-Darbietungen am Upstalboom begangen werden konnte, fällt die Musik dort auch dieses Mal aus. Ich habe es mir aber nicht nehmen lassen, doch ein neues Lied zu verfassen.

Es ist eine Art Hymne an Friesland, das ja viel mehr ist als nur ein Landstrich. Es ist der ewige Kern der Freiheit, den jeder Freie Friese im Herzen trägt. Das habe ich in diesem Lied versucht, zum Ausdruck zu bringen. Leider war eine Zusammenarbeit mit Kollegen dafür wiederum nicht möglich, daher alles alleine im Homestudio aufgenommen und produziert.

Hier das Video dazu:

In der Hoffnung, dass im nächsten Jahr wiederum ein Treffen zu Pfingstdienstag am Upstalsboom möglich wird!

Beste Grüße




Fräiske Soang – friesisches Musik-Projekt braucht Unterstützung

Logo Fräiske Soang

Ein außergewöhnliches Projekt hat sich das ostfriesische Musik-Duo „jank frison“ vorgenommen: Ende März soll die CD „Fräiske Soang“ aufgenommen werden. Alle Lieder auf dieser CD haben Tekste auf Seeltersk (Saterfriesisch), Altfriesisch oder Oostfreeske Taal (ostfriesisches Niederdeutsch).

Der
Kopf des Duos, der ostfriesische Musiker und Autor Stefan Carl em
Huisken aus Norden tritt schon seit vielen Jahren für die Friesische
Sache ein.
Als in Ostfriesland vor mehr als 20 Jahren das Friesische Forum e.V.
gegründet wurde als eine Art Bund für friesische Anliegen, war er
schon mit dabei. Die Oostfreeske Taal (ostfriesisches
Niederdeutsch) hat er sich selbständig beigebracht, da
er nicht mit
dieser Sprache
aufgewachsen
ist.
Seit zwei Jahren schreibt er auch Texte auf Saterfriesisch. Bei
seinem ersten Lied hat ihm Gretchen Grosser (†)

eine große Förderin des Saterfriesischen – noch helfen können. Der
Text hat ihr gut gefallen, wie sie ihm schrieb.

Gemeinsam mit Heike Büsing aus Jade, die verschiedene Dudelsäcke spielt, hat em Huisken (er singt und spielt Gitarre, Akkordeon, Oboe und Bombarde) als Duo „jank frison“ schon öfter Musik zu den Friesentreffen am Pfingstdienstag am Upstalsboom in Aurich/Ostfriesland beigesteuert. Dort, am Upstalboom, entstand die Idee, auch neue Lieder in der alten Ostfriesischen Sprache zu schreiben, die in Ostfriesland längst ausgestorben ist. Aber diese Sprache lebt noch heute, als Saterfriesisch.

Dieses besondere Projekt braucht dringend Unterstützung. Vor allem fehlen noch weitere Geldmittel, um das Studio und die Herstellung der CD zu bezahlen. Wer auf die eine oder andere Art helfen will, kann sich melden bei Stefan Carl em Huisken, Tel. +49-4931-972537, E-Mail info@emhuisken.de. Mehr über das Projekt „Fräiske Soang“, das Duo „jank frison“ und Stefan Carl em Huisken kann man unter www.jank-frison.de und www.emhuisken.de finden. Wer über das Projekt auf dem Laufenden bleiben möchte, kann sich für die E-Post auf beiden Websites anmelden.

Diesen Text gibt es auf der Website von „jank frison“ auch auf
Saterfriesisch, Oostfreeske Taal und Niederländisch.




Friesische Kultur heute

Natur und Kultur stehen polar zueinander

Als Kultur wird in der Regel die Gesamtheit der durch den Menschen gestalteten Dinge, Verhältnisse, Abläufe und Zielbestimmungen bezeichnet (mithin also die Gesamtheit der Äußerungen menschlichen Geistes), in Abgrenzung zur nicht vom Menschen beeinflussten Natur. Was aus Natur entsteht, kommt also ohne den Menschen aus; was vom Menschen als Kultur geschaffen wird, muss nicht notwendig die Natur berücksichtigen – wie wir heute ja plastisch erleben. So weit, so klar.

Kompliziert wird die Sache dadurch, dass der Mensch und seine Gestaltungsmöglichkeit zweifelsohne als auf natürlichem Wege entstanden angesehen werden kann, mithin der Kulturträger Mensch auch Angehöriger der Natur ist. Er hat nur eine besondere Eigenschaft – naturgegeben, sozusagen – die ihn von allen anderen „Naturprodukten“ unterscheidet: er kann über die naturgegebenen Verhältnisse hinausgehen, die Grenzen sprengen, kurz: er kann frei handeln.

Und: was für einen konkreten Menschen als Natur erscheint, kann ohne Weiteres längst umgestaltete, also denaturierte Lebenswelt sein, also längst – kultiviert. Die abstrakte, ideelle und damit so angenehm klare Unterscheidung von „Kultur“ und „Natur“ bietet also in der Wirklichkeit allerlei Tücken.

Natur und Kultur sind in
Entwicklung

Kultur hat insofern immer drei Aspekte: einen vergangenen (welche materiellen oder ideellen Kulturgüter sind schon da?), einen gegenwärtigen (handeln die gegenwärtigen Menschen überwiegend gestaltend – also kulturschaffend – oder bewahrend, also aus den gegebenen Natur- und Kulturanlagen heraus?), und einen zukünftigen (was streben die Menschen durch ihre Taten an?). In dieser dreifältigen Erscheinungsweise wird Kultur konkret geschichtlich fassbar. Was zu einer Zeit dem kultivierenden Tun der Menschen unterworfen wurde, erscheint später als – gleichsam – natürliche Anlage, als gegeben. Die freien Gestaltungsimpulse der Menschen werden also peu a peu, im Fortschreiten der Menschheit als Gesamtes den Naturgegebenheiten eingefügt.

Das ist auch der Grund, warum von „reiner Natur“ heutzutageeigentlich gar nicht mehr gesprochen werden kann. DieNaturverhältnisse sind als Ganzes und in sehr vielen Einzelheiten längst von menschlicher Kultur verändert. Die wirklich „unberührte Natur“ existiert insofern nicht mehr. Die sogenannten „Antworten der Natur“ auf die Eingriffe der Menschen dürften ebenso bereits diese Signatur tragen.

Freiheit ist Risiko und
überzeitlich

Das kultivierende Handeln der Menschen ist, insofern es seinem freien Gestalten und nicht instinkthaftem Ausleben gegebener, „natürlicher“ Anlagen entspringt, immer mit hohem Risiko behaftet. Freiheit besteht nämlich gerade darin, über das („natürlich“) Gegebene hinausgehen zu können, dessen Grenzen zu sprengen und damit Neues zu schaffen. Wer dies tut, lädt die Verantwortung für die Folgen auf seine eigenen Schultern. Vielleicht liegt darin ein Grund dafür, dass so viele Menschen sich nach Autoritäten sehnen, die ihnen sagen, was „richtig“ und „falsch“ ist? Wollen die Menschen lieber unfrei sein – also auch die Verantwortung nicht tragen, sozusagen „verantwortungslos“ bleiben? Aber man vergesse nicht: auch die Entscheidung für Autorität und gegen Verantwortung fällt der Mensch selber.

Freiheit fordert immer den Mut zur Verantwortung, den Mut auch, trotz Einsicht in die eigene Unvollkommenheit sich selbst die Leitlinien des Handelns zu geben, und dann auch die Stärke, die Folgen zu tragen. Das kann nur gelingen, wenn die Einsicht in die eigene Unvollkommenheit den Respekt vor den Werken der Altvorderen genauso einschließt wie die Achtung der freien Tat des Mitmenschen.

Verliert der Freie den Respekt vor den Werken seiner Vorfahren, kann sein Handeln zu blinder Willkür führen; fehlt die Achtung vor dem anderen Freien, wird aus dem Ringen um das Beste für alle der Kampf um die Macht. Jede Macht schafft aber auf der anderen, „ohnmächtigen“ Seite Unfreiheit, jede Willkür hier schafft dort neues Getriebensein. Freiheit ist daher immer auch Risiko und in Gefahr, sich selbst zu zerstören.

Eine Kultur der Freiheit muss darum – will sie Bestand haben – alle drei Aspekte einschließen: den vergangenen, den gegenwärtigen und den zukünftigen. Konkret also den Respekt vor der Tradition der Freiheit, die Achtung vor dem anderen Freien im aktuellen Zusammenwirken und schließlich den Mut, die Folgen des so Errungenen auch zu tragen. Eine Kultur der Freiheit ist dann zeitlos, überzeitlich, eben frei – auch frei von der Zeitgebundenheit.

Friesische Freiheit ist
Ausdruck eines Ideals

Die friesische Kultur der Freiheit, die sogenannte „Friesische Freiheit“ bildet einen der herausragendsten Inhalte friesischer Überlieferung (siehe => hier). Sie bestand in einer Organisation des gesellschaftlichen Lebens, die – entsprechend den Möglichkeiten der damaligen Zeit – der Realisierung individueller Freiheit einen förderlichen Rahmen bieten sollte und konnte. Das freie Zusammenwirken selbständiger Landgemeinden, in dem Subsidiarität und freie Zusammenarbeit auf Augenhöhe grundlegend waren, bot ein Gegenbild zum damals (und bis heute?) ansonsten vorherrschenden Kult von gottgleichem Führertum (Expertentum, Priestertum, Politikertum …), Untertanenwesen und hierarchischer Weisung.

Upstalboom - Denkmal für Friesische Kultur

Bis in die Formulierungen der friesischen Rechtssatzungen ist das spürbar: „Dies sind die Überküren aller Friesen. Erstens, dass sie einmal im Jahre am Dienstag in der Pfingstwoche zu Upstalsboom zusammenkämen und dass man dort alle Rechte bespräche, die die Friesen halten sollten. Wenn irgendjemand ein besseres (Recht) wüsste, sollte man das weniger richtige aufgeben und das bessere befolgen.“ (Emsiger Recht)

Es sind dies „Küren“, dem Wortsinne nach also selbstgewähltes (erkorenes) Recht. Und es spricht von Gleichheit im freien Wettstreit um das Bessere („Wenn irgendjemand …“). Solche Formulierungen machen deutlich, warum diese Art friesisches Recht alle Aspekte einer Freiheitskultur beinhaltet:

  • den Respekt vor den Leistungen der Vorfahren, die dieses Recht errichteten;
  • die Achtung vor dem Anderen, der zur Verbesserung für alle beitragen kann;
  • dem Mut, die Folgen der eigenen Setzungen auch zu tragen („… das bessere befolgen“).

Die friesische Kultur, so, wie sie sich in der Vergangenheit realisieren konnte, trug also die Charakteristika überzeitlicher Freiheitskultur in sich.

Friesische Kultur tut heute
Not

Wir Heutige blicken – oft erstaunt, ehrfurchtsvoll, manchmal begeistert – zurück auf Dokumente einer Zeit, die äußerlich viel mehr von den unmittelbaren, naturgegebenen Lebensnotwendigkeiten geprägt und damit unfreier erscheinen kann als unsere heutige. Gewiss, wir haben uns von vielen äußeren Naturprägungen sehr weit emanzipiert – aber mit welchen „Nebenwirkungen“?

Haben wir denn Respekt vor den Werken der Altvorderen? Wenn wir das etwas weiter fassen wollen: haben wir Respekt vor der Schöpfung, die unsere Altvorderen und deren Werke aus unserer heutigen Sicht ja einschließen muss? Haben wir Achtung vor dem Anderen, der in freiem Wettstreit um das Beste seinen Beitrag zur Entwicklung von Erde und Menschheit bringen will? Oder, konkreter gefasst: was gilt uns die Sichtweise des Anderen – ist sie uns Anregung bei der Suche nach dem Besten, oder wird sie zum Gegenstand von Marketingmaßnahmen, Desinformation und Lügen, zum Zwecke ihrer Beseitigung, damit die eigene Machtausübung nicht behindert wird? Und schließlich: wie ist das mit Freiheit und Verantwortung – oder Autoritätshörigkeit und Verantwortungslosigkeit?

Friesische Kultur heute, erfasst als überzeitlicher, ideeller Kulturkern, kann daher im ehrenden Rückblick auf die Werke der Ahnen (friesisches Recht und die dazugehörige Gesellschaftsorganisation), in Achtung vor dem anderen Freien (der auch aus seiner Freiheit heraus – Unfreiheit wählen kann!), und im vollen Mut und Vertrauen auf die Stärke des eigenen Kulturimpulses (Stärke – nicht Macht und Gewalt!) stolz und aufrecht einen sehr, sehr notwendigen Beitrag zur Gestaltung der Zukunft liefern. Soll die Zukunft nicht nur aus der Verwahrlosung einstmals großer Leistungen der Menschheit bestehen, braucht sie solche freien und mutvollen Beiträge.

Nur dann kann die Zukunft wirklich Kultur haben, d.h. aus menschlichem Geist
Gestaltetes. Die Alternative wäre, es darauf ankommen zu lassen, ob die Natur nach dem Wüten menschlicher Willkür noch die Kraft hat, die dann verbleibenden Reste menschlicher Kultur nach und nach zu assimilieren, aufzulösen, zu vernichten. Aber da wären die Menschen dann nicht mehr dabei. Eine Entwicklungschance für Mensch und Natur wäre dann vergeben.

Stärken wir darum die friesische Kultur, und vertreten sie mutvoll in die Zukunft hinein.

Eala frya Fresena!

©
Stefan Carl em Huisken 2019




jank frison beim Treffen der Freien Friesen 2019

Treffen der Freien Friesen am Pfingstdienstag am Upstalsboom

Upstalsboom Treffpunkt der freien Friesen
Upstalsboom: Treffpunkt der freien Friesen

Wie nun schon oft (seit 2004) trafen sich am vergangenen Pfingstdienstag, dem 11. Juni 2019 auf Einladung des => Friesischen Forums die Freien Friesen aus den verschiedenen Frieslanden am Upstalsboom in Aurich, um im Gedenken an die Treffen der Friesen vor vielen hunderten von Jahren gemeinsam zu schauen, wie das Friese-Sein und die Friesische Freiheit heutzutage und in der Zukunft immer mehr zur Geltung gebracht werden kann.

Nach Torsten Bruns‘ beeindruckender Rede über den beklagenswerten Verfall der Kulturlandschaft in den Fehnen und über seine Bemühungen, hier eine Wende herbei zu führen, und nachdem uns Herma Peters als Gräfin Theda in die Anfangszeit der ostfriesischen Grafschaft entführt hatte (herzlichen Dank dafür, dass wir sie musikalisch etwas unterstützen durften!), konnten wir unseren Beitrag zum Geschehen liefern. Nach einen einführenden Lied in saterfriesischer Sprache (die kleinste Sprachinsel Europas und ein sprachliches Kleinod!) stellte Stefan Carl em Huisken Konzept und Ziele des musikalischen Projektes „jank frison“ in einer kleinen Ansprache dar (der gesamte Text der Ansprache findet sich => hier). Danach haben wir wohl eindrucksvoll beweisen können: Frisia cantat! Friesisch und Oostfresske Taal!

Schauen Sie selber:

Wir freuen uns schon aufs nächste Jahr! Sie auch?




Das musikalische Projekt „jank frison“ bei den Freien Friesen

Upstalsboom - Treffpunkt der Freien FriesenDas musikalische Projekt „jank frison“

Ansprache von Stefan Carl em Huisken zum Treffen der Freien Friesen am Upstalsboom
Pfingstdienstag, 11. Juni 2019

Liebe Freunde der Friesischen Freiheit!
vielleicht könnte ich einfacher sagen:
Freie Friesen!

Wir sind hier zusammengekommen im Gedenken der Zusammenkünfte der Freien Friesen vor vielen hunderten von Jahren. Was damals lebte unter den Friesen, es scheint auch – oder: gerade? – heute bedenkens- und erstrebenswert.

Kann es vielleicht sein, dass die damalige „Friesische Freiheit“ ihrer Zeit so weit voraus war, dass sie gleichsam aus geschichtlicher Notwendigkeit erst einmal wieder untergehen musste, verschwinden musste aus dem bewussten gesellschaftlichen Leben der Menschheit? Ist vielleicht die dauerhafte und nachhaltige Realisierung des Freiheitsideals, das die Friesen in den damals möglichen Formen zur Geltung brachten, – ist die Realisierung dieses Ideals vielleicht eine sehr zukünftige Sache, für die erst die Voraussetzungen im Bewusstsein der Menschen geschaffen werden mussten?
Die Voraussetzungen scheinen heutzutage mehr als je gegeben. Dass jeder Mensch nach Freiheit strebt, bei allen Risiken, die damit auch gegeben sind: dass Freiheit also eine Bedingung wirklichen Menschseins ist, gilt uns als selbstverständlich. Aber dieses Streben hat im äußeren Leben sein Ziel noch lange nicht erreicht. Der Blick auf die damaligen Treffen am Upstalsboom, in denen sich die damals mögliche Realität friesischer Freiheit aussprach, kann in uns Sehnsucht wecken, Sehnsucht nach einer neuen Realisierung friesischer Freiheit, einer neuen „Friesischen Freiheit“ der Zukunft, die als Möglichkeit allen Menschen gegeben wäre, die es so wollen. Denn im „alten Sinne“ – also durch Geburt und Herkommen – kann man heute, wie ich meine, die Zugehörigkeit zu einem „Volk“ nicht mehr allein definiert werden, nach allem, was geschehen ist und noch immer geschieht. Im Sinne des friesischen Freiheitsideales ist es aber heute sehr wohl, wenn der freie, individuelle Entschluss den Einzelnen zum Friesen machen kann.

Im Sinne einer solchen, hier charakterisierten Sehnsucht, ist das Wort „jank“ – gut friesisch – im Namen unseres musikalischen Projektes zu verstehen, das ich hier mit einigen Worten umreißen darf. Wer zu den dahinter stehenden Gedanken mehr wissen möchte, findet dazu Manches auf meiner Website unter den entsprechenden Stichworten „Friesen“ und „Freiheit„.

Das zweite Wort im Namen unseres Projektes – „frison“ – ist ebenso programmatisch zu verstehen wie das erste. Es zeigt auf, worauf sich die Sehnsucht richtet – das Friesische, den Friesen – aber es tut das in einer französisch geprägten Form. Eigentlich hätte es die bretonische Wortform sein müssen – „frizat“ – aber dieses Wort kannte ich zur Zeit der Namensgebung noch nicht, nun, und so ist es bei „frison“ geblieben.

Mit dieser besonderen Wortform hat es folgende Bewandtnis:

Man kennt ja den Spruch „Frisia non cantat“ – Friesland singt nicht. Hintergrund dieses Spruches ist, die Tatsache, dass es aus der eigentlichen friesischen „Kernzeit“ – also etwa bis 1450 – sehr wenig bis gar keine musikalische Überlieferung gibt. Das hat einen sehr einfachen Grund: wie überall spielten die damaligen Berufsmusiker ausschließlich auswendig, mehrstimmige Sätze wurden improvisiert. Aufzeichnungen von Musik anzufertigen, brauchte daher einen besonderen Grund.

Den gab es einerseits innerhalb des geistlichen Gesanges der christlichen Kirche, vor allem zum Zwecke der Vereinheitlichung der Liturgie. Zu einem solchen zentralistischen Anliegen hatten die damaligen Friesen – auch als sie zum Christentum übergegangen waren – häufig ein ziemlich distanziertes Verhältnis. Schließlich war das alles „von oben“ vorgegeben, außerdem auf Lateinisch, also so, dass die meisten Menschen es nicht verstehen konnten. Solches „Herrschaftswissen“ passte noch lange nicht wirklich zum friesischen Unabhängigkeitssinn, und was dort aufgezeichnet wurde, war ja dann auch kein friesisches Volksgut..

Ein ganz anderer Grund, Musik aufzuzeichnen, war vielerorts in den interessierten Laien adliger Schichten gegeben, die sich die Zeit eben auch einmal mit Musik vertreiben wollten. Eine solche – ich nenne es einmal so – Parasitenschichte gab es in Friesland sehr, sehr lange kaum, also auch keinen Anlass, für sie Musik aufzuschreiben.

Und als dann die friesische Sprache unter Druck geriet, bis hin zum Verschwinden in manchen friesischen Landen, gab es auch kein kulturelles Milieu mehr, durch das die alten Bardengesänge und rituellen Tänze durch Überlieferung durch die Jahrhunderte hin hätten bewahrt werden können. Nur ganz geringe Reste sind aufzufinden – der „Buhske di Remmer“ oder die Ballade „A Bai a Redher“ sind hier zu nennen.

Aus so einer Tatsache nun abzuleiten, dass die Friesen damals keine Musik gehabt hätten, nicht gesungen hätten, ist mir gelinde gesagt nicht plausibel. Singen, Musizieren, Tanzen ist allgemein menschlich. Die friesische Sprache mit ihrem ausgeprägten Vokalismus ist hervorragend sangbar (Anmerkung: was wir heute als Oostfreeske Taal – die ostfriesische Variante des Niederdeutschen, ich nenne sie ungern „Plattdeutsch“, denn sie ist weder platt noch deutsch – haben, hebt sich eben unter anderem durch seinen sehr eigenen Umgang mit Vokalen von anderen niederdeutschen Dialekten ab – vielleicht auch ein Erbe des Friesischen?). Der Gang der Geschichte hat es eben so gewollt, dass es praktisch keine wirkliche musikalische Überlieferung in Friesland aus der Zeit vor ca. 1800 gibt. So ist der heutige freie Friese auf sich selbst verwiesen.

Nun haben geistesverwandte Kulturen immer voneinander „abgekupfert“, sich gegenseitig befruchtet – warum also nicht auch heute?

Diejenige Gegend der kontinentaleuropäischen Küsten, in der die ursprüngliche Einheit von mythischen Erzählgesängen, geistlicher Musik und gemeinsamer Feier, die man für die alte heidnische Zeit annehmen darf, sich mit Wahrung vieler ihrer Eigenheiten in eine heute äußerst lebendige Volkskultur umgewandelt hat, ist die Bretagne (Anmerkung: auch wenn zumeist mit einiger Berechtigung davon ausgegangen wird, dass die ganz alten Friesen zum germanischen Völkerzusammenhang gehörten, ist dies keineswegs vollkommen klar; es könnten da auch Kelten eine Rolle gespielt haben). So kann man die Rolle der bretonischen Musik in der Volkskultur als eine Art Vorlage ansehen für die herausragende, ja magische Bedeutung, die Musik wohl auch bei den Friesen gehabt haben wird.

Was wir heute als aus dem 19. Jahrhundert überkommene Unterscheidung von „E-Musik“ und „U-Musik“ haben, gab es damals einfach nicht (und gibt es in dieser Schärfe auch heute in der Bretagne nicht). Musik war einfach immer ernst gemeint, egal ob im religiösen Ritual oder bei der ausgelassenen Feier. Man meinte religiöses Ritual und ausgelassene Feier gleichermaßen vollkommen ernst.

Daraus ergibt sich das „frison“ in unserem Namen. „Jank frison“ – das ist musikalisch-friesische Sehnsucht, die sich an der außerordentlich lebendigen bretonischen Volkskultur Orientierung holt, um Neues zu schaffen. Insofern ist der Name auch Programm.

Durch unsere Musik, und vor allem auch die damit verbundenen Texte, möchten wir einen Beitrag leisten – inwieweit das gelingt, mögen andere beurteilen – zur Entwicklung einer friesischen Freiheitskultur der Zukunft. Eine solche Kultur braucht wieder die Einheit von Ritual, Mythos, Gesang und historischer Erzählung. Für uns kann es darum weder um die virtuose Pflege alter Überlieferungen („E-Musik“) noch um das Nachmachen zeitgebundener Moden („Heavy Metal up Platt“) gehen, so berechtigt beide Strömungen sind und bleiben.

Darum verarbeiten wir einen altfriesischen Text zur Erschaffung Adams – ein sehr besonderes Dokument der ganz eigenen friesisch-christlichen Sichtweise – ebenso wie manchmal in Witzen versteckte Hinweise auf Aspekte des friesischen Freiheitsimpulses. Melodien aus kirchlichen frühen Orgeltabulaturen geben ebenso das Material ab für unsere Musik wie die Musik zu den meditativ anmutenden Gemeinschaftstänzen der Bretagne.

Die Sprache unserer Texte spiegelt der Lebenswelt der friesischen Landschaften, in denen wir leben. Da ist dann einmal die in der kleinsten europäischen Sprachinsel, dem Saterland, durch Jahrhunderte erhaltene und weiterentwickelte Variante der alten ostfriesischen Sprache zu nennen – ein riesiger Dank an die Menschen des Saterlandes, die dieses Kleinod in unsere Zeit gerettet haben – und die Oostfreeske Taal, die besondere ostfriesische Variante des Niederdeutschen. Beide Sprachen sind hervorragend geeignet für die Art von Musik, die wir machen wollen und geben die rechte Stimmung, die dazu gehört.

In diesem Sinne sehen wir uns als Teil der friesischen Freiheitsbewegung, die ja durch die dankenswerte Initiative des Friesischen Forums nun schon wieder durch viele Jahre einen Orientierungspunkt in den Treffen der Freien Friesen hier am Upstalsboom gefunden hat. Und in diesem Sinne möchten wir unseren Beitrag dazu leisten, dass diese friesische Freiheitsbewegung immer mehr um sich greifen möge, und immer mehr Menschen sich finden mögen, die durch ihre Mitwirkung diese Bewegung immer fester im Leben der friesischen Lande – und als eine Facette im Leben der Menschheit überhaupt – verankern helfen.

Eala frya Fresena!

Nachbemerkung

Nachdem ich diese Ansprache halten durfte, haben wir gemeinsam friesische Gesänge praktiziert. Das wurde auch festgehalten und ist => hier zu finden.




jank frison – Friesische Leidenschaft, auch 2019

Treffen der Freien Friesen am Pfingstdienstag

jank frison friesische Musik

Unsere Leidenschaft für das Friesische wird auch dieses Jahr wieder zum Zuge kommen – beim Friesentreffen am Pfingstdienstag am Upstalsboom in Aurich. Dieses Mal dürfen wir uns besonders freuen: wir werden dort in Kürze unser Konzept vorstellen und erstmals auch einige unserer Texte in gedruckter Form unter die Friesen bringen können.

„Frisia non catat“? – Stimmt nicht

Dafür bitten wir dann auch um Mitwirkung. „Frisia non cantat“ – „Friesland singt nicht“ – ist nämlich aus unserer Sicht nicht wahr. Wer derartig sangbare Sprachen hat wie die Friesen, der kann das Singen doch gar nicht sein lassen! Dazu wollen wir beim diesjährigen Friesentreffen am Upstalsboom auch Anlass geben.

Allerdings wahr ist die Feststellung, dass es aus der Zeit der der Friesischen Freiheit praktisch keine musikalische Überlieferung gibt. Wer ein bisschen nachforscht, kann leicht finden, woran das liegt. Die damaligen Musiker spielten nämlich ausnahmslos auswendig, Begleitstimmen wurden spontan improvisiert. Nur zur von oben erwünschten Vereinheitlichung des Kirchengesanges (das lag den damaligen Friesen aus verschiedenen Gründen wenig …) und als Hilfe für adlige Laien, die auch mal etwas Musik machen wollten, gab es Aufzeichnungen. Und da es das gesamte Adelswesen, das vor allem mit dem Aussaugen der Untertanen beschäftigt war, in dieser Form bei den Friesen lange, lange nicht gab, gab es eben auch keine musikalischen Aufzeichnungen. Unterm Strich also: sie machten wahrscheinlich Musik, hatten wie viele andere Völker ausführliche mythische Gesänge und reisende Barden, nur ist davon eben nichts dokumentiert, weil dafür kein Bedarf bestand.

Da müssen wir uns eben aufschwingen und selber aktiv werden, sprich: neue friesische Musik kreieren. Was wir – das Duo jank frison – uns darunter vorstellen (und was nicht), werden wir in diesem Jahr am Upstalsboom erläutern und praktisch vorstellen.

Dank an das Friesische Forum

Wir freuen uns schon drauf. Und vielen Dank an das Friesische Forum, das in jedem Jahr zu diesem Treffen einlädt, auch uns, und so dazu beiträgt, dass der friesische Impuls seinen ganz zukünftigen Beitrag zum gesellschaftlichen Leben vielleicht immer mehr realisieren kann.

Weitere Informationen zur Veranstaltung =>hier.




Volk – was soll das denn sein?

Volk – was soll das denn sein?

Ein unbrauchbares Wort?

Wer heutzutage – zumindest in Deutschland – das Wort „Volk“ in den Mund nimmt, muss sich warm anziehen. Das Wort ist schließlich derartig missbraucht worden, dass man gar keinen Begriff mehr davon hat, was mit dem Wort eigentlich gemeint sein könnte. Darum gebraucht man es besser nicht mehr, oder?

Aber – wie soll man dann nennen, was mit dem Wort eigentlich bezeichnet wird? Gibt es das nicht mehr? Wir kennen das ja: wird ein Wort erst oft genug missbraucht, kann man den dazugehörigen Gegenstand bald gar nicht mehr benennen. Schließlich kann jedes Wort auch diskriminierend oder anderweitig moralisch inakzeptabel verwendet werden.

Rasse

Nehmen wir – um gleich in die Vollen zu gehen – das Wort „Rasse“. Seit dem unsäglichen Missbrauch, der mit dem Wort getrieben wurde, als bestimmte Menschengruppen meinten, in ihnen allein sei das Heil der Welt zu finden, warum alle anderen Menschen eben weg könnten, seit diesem Missbrauch also kann man das Wort nicht mehr benutzen. Jetzt tritt bloß ein Problem auf: wie nennt man jetzt die ganz unzweifelhaft körperlich, teilweise auch seelisch unterschiedlich konfigurierten Gruppen von Menschen, die über die verschiedenen Landstriche verteilt die Erde bewohnen?

Welches Wort man auch nimmt, es kann einem unter diesem Gesichtspunkt immer aus dem Mund gerissen, umgedreht und wieder hineingesteckt werden. Der real und unzweifelhaft existierende Unterschied der Menschengruppen wird dadurch sozial bedingt unbenennbar, und entsprechend verschwindet ein Teil der Realität, nämlich die genannten Unterschiede, sozial bedingt aus dem Bewusstsein der Menschen – und bleibt doch in der Realität vorhanden. Nur der Begriff wird auf diese Weise nach und nach beseitigt.

Na, wunderbar, mag mancher nun sagen, endlich ist dieser Quell grober Ungleichheit mal weg! Es gibt eben einfach keine Rassen mehr. Nur – ist das nicht etwas realitätsfremd? Die Unterschiede sind doch faktisch da!??

Damit ist das Grundproblem bezeichnet, das heutzutage die öffentliche Meinung bestimmt. Die Realität hat sich gefälligst den Moralurteilen unter zu ordnen, die sich aus der herrschenden weltanschaulichen Lehre ergeben. Die Menschen haben eben gleich zu sein, und deswegen gibt es möglichst keine (ich übertreibe etwas) Männer, keine Frauen, keine Kinder, keine Alten, keine braunen, weißen, schwarzen, gelben, rotbraunen etc. Menschen mehr. Das hat für bestimmte Zwecke einen unbestreitbaren Vorteil: was normiert ist, lässt sich leichter und profitabler industriell verwerten. Entschuldigung, das war ein bisschen polemisch.

Volk

Schlimmer noch als mit der „Rasse“ ist es mit dem „Volk“. Kann man bei der „Rasse“ ja noch immer ganz augenscheinliche Unterschiede feststellen und damit wenigstens unter Zuhilfenahme von allerlei Entschuldigungsfloskeln fordern, dass Unterschiede zumindest in bestimmten Kontexten nicht gänzlich geleugnet werden sollen, – beim „Volk“ geht das sehr viel schwerer. Die Unterschiede sind nicht so auf der Hand liegend, teilweise sehr viel subtiler. Darum ist das Wort „Volk“ auch noch viel schwieriger zu verwenden. Das Wort „Volk“ fordert nämlich viel mehr noch als „Rasse“ einen Begriff, um es überhaupt verwenden zu können. Und – einmal ganz dumpf gefragt – haben wir einen solchen Begriff denn wirklich?

Ja doch, kann man sagen, ein Volk ist eben die Gesamtheit der Menschen, die in einer Gegend der Erde gemeinsam lebt, dort geboren ist und außerdem eine bestimmtes Maß gleicher Gene hat – einmal vorsichtig ausgedrückt. Man könnte auch sagen: Blut und Boden entscheiden, wer zu einem Volk gehört oder nicht. Und genau das geht eben nicht mehr in unserer Zeit. Diese Denkweise ist brutal zerstörerisch wirksam gewesen und noch wirksam. Wer heute noch aus der Vergangenheit, also aus dem Geburtsort und den Vorfahren festlegen will, wer zu einer besonderen Gruppe von Menschen gehört, gerät allerschnellstens in gefährliche Fahrwasser.

Denn es ist dann nicht mehr weit, der einen oder anderen Gruppe vom Menschen besondere Eigenschaften oder Fähigkeiten zu zu erkennen, die andere eben nicht haben, und dann entscheidet sehr schnell die Weltanschauung (welche Eigenschaften sind wünschenswert, welche weniger oder nicht?) über die „Rangordnung der Völker“. Nein, danke, das brauchen wir nicht mehr.

Das Wort ist also, in dieser äußerlich-körperlich definierten Inhaltsbestimmung, nicht mehr brauchbar. Aber ist das die einzig mögliche Inhaltsbestimmung? Wird jedes Wort, das von irgendeiner Menschengruppe missbraucht wird, dadurch unbrauchbar? Gilt dann nur noch Neusprech? Alles, was ja Gegenstand des Missbrauchs war, gerät dann ja auch aus der Benennbarkeit und damit nach und nach – aus dem Bewußtsein. Wem nützt das? Genau: demjenigen, der die Unterschiede immer noch kennt und sie für seine Zwecke nutzt. Die andern merken es dann nicht, wissen ja nichts davon …. So ein Mist. Was nun?

Ein anderer Begriff von „Volk“

Aber nun einmal anders hingeschaut. Was wäre, wenn ich das Wort nur gebrauchte, um unterschiedliche Gruppen von Menschen zu bezeichnen, die bestimmte körperlich-seelisch-mentalitätsmäßige Eigenschaften besonders ausgeprägt haben, ganz unabhängig davon, wo und wann und von wem sie geboren wurden? Manchmal kann ja auch das Seelisch-Mentalitätsmäßige viel stärker sein als das Körperliche, und dafür sorgen, dass Menschen sich an einen Ort auf der Erde gezogen fühlen, wo eben ihnen Ähnliche leben. Es kann ja auch sein – was im Übrigen jeder normal denkende Mensch heute weiß – dass bestimmte Landschaften bestimmte Grundstimmungen der Menschen fördern oder behindern, also auch zur seelisch-mentalitätsmäßigen Konfiguration beitragen. Und dann finden sich eben in einer bestimmten Gegend besonders viele von denen ein, die dort eine ihnen entsprechende Umgebung finden. Wie, wenn man solche Menschen jetzt „Volk“ nennen würde? Das würde ja auch ermöglichen, dass jemand selber sich zum Angehörigen eines bestimmten „Volkes“ erklären könnte – ganz im Sinne der freiheitlichen Grundauffassungen, von denen ja heute so viel gesprochen wird. Wäre das was?

Ich finde, ja. Und ich finde es außerdem völlig blödsinnig, jetzt dafür irgendein verschwurbeltes Kunstwort auszudenken, bloß damit man das naheliegende „Volk“ nicht benutzen muss.

Die Menschen sind in Entwicklung

Diese Haltung hat noch einen weiteren Grund. Alle Menschen – das ist wohl kaum bezweifelbar – befinden sich in einem Entwicklungsprozess. Sie verändern sich also fortwährend – der Einzelne, und damit auch die Gesamtheit der Menschen.

Durch das Zusammenleben der Menschen, die immer unterschiedlichen Beiträge, die die individuellen Menschen dazu leisten (förderliche und hemmende), zeigt sich ein Entwicklungsgang der Gesamtmenschheit, in dem sich eine Richtung ausmachen lässt, mindestens in Bezug auf das Sozialverhalten. Und diese Richtung geht eben von den größeren Zusammenhängen zu immer kleineren, bis hin zum Einzelnen. Wo Menschen bis vor wenigen Jahrhunderten noch durch ihr Herkommen (lokal, sozial) weitestgehend definierte Möglichkeiten und Bedingungen hatten, ist heute alles offen. Ja, alle Versuche, althergebrachte „Sortierkriterien“ für die Menschen wiederum ungeschmälert anzuwenden, können heutzutage eigentlich nur noch Belustigung oder – leider – Gruseln hervorrufen.

Schauen wir doch mal auf die Staaten, in denen eine besondere Auffassung des Islam für alle Menschen verbindlich gelten soll. Zu Recht sagen wir: das ist archaisch, das gehört nicht mehr in unsere Zeit. Oder schauen wir auf eine bestimmte Art biedermeierlicher Bürgerlichkeit: ja, das hatte seine Berechtigung, aber heute? Oder auch die Einteilung der Menschen nach „Klassen“ – das war einmal, das ist nicht mehr! Die Menschen sind anders geworden, viel individueller, jeder für sich. Ihr Zusammenleben hat sich entsprechend auch geändert. Kurzum: der Mensch definiert sich immer weniger über irgendwelche Gruppenbegriffe und zunehmend durch sich selbst, seine eigene Individualität. Das ist für viele gesellschaftliche Prozesse kompliziert zu handhaben, besonders für diejenigen, die eben standardsierbare Objekte benötigen, aber es ist nicht zu ändern. Wer will sich denn schon von außen, durch irgendwelche Maßstäbe vorschreiben lassen, wie er zu sein hat und was er darf, kann, soll oder nicht?

Und eben deswegen funktioniert ein Begriff von „Volk“ nicht mehr, der die Menschen allein aus ihrem irdischen Herkommen definiert. Menschen von ähnlicher Geistes- oder Seelenart gibt es darum immer noch. Und die ist eben durch den Menschen selber veränderbar. Wer sich eben als „Bauer“ fühlt, ist „Bauer“. Wer sich als „Friese“ erlebt, ist „Friese“, durch eigene Entscheidung. Über die genauen Eigenschaften des Leibes können wir scheinbar noch nicht wirklich selber bestimmten, aber hoppla: nehmen wir einmal an, der geistig-seelische Mensch würde schon existieren, bevor der körperliche Mensch auftaucht. Dann wäre es doch denkbar, dass der einzelne Mensch schon auch mindestens mitbestimmt, wie sein Körper sein wird, oder? Manchmal klappt das dann nicht wie gewünscht, aber sei’s drum.

Begriffsverbote sind Denkverbote

Und da haben wir des Pudels Kern. Macht man ein Wort (moralisch-weltanschaulich bestimmt) unbenutzbar, so kann man nach und nach das damit Bezeichnete aus dem allgemeinen Bewusstsein hinausbefördern. (Anmerkung: das ist eine Zeitkrankheit, die vor allem in der Politik und den zugehörigen „freien Presseorganen“ grassiert. Was auch immer, es wird erst moralisch beurteilt, und danach legt man fest, welche sogenannten Fakten man der Öffentlichkeit mitteilt. Muss ja alles passen, oder?) Und mit dem eingeschränkten Bewusstsein der so behandelten Menschen wird es dann erheblich schwerer, auf so seltsame Gedanken zu kommen, der Mensch könne irgendetwas selber (mit-)bestimmen, er hätte einen irgendwie freien Geist oder so. Es ist alles durch die Vergangenheit bestimmt. Nur darf man das nicht mehr denken, denn dann käme man vielleicht auf die „natürlich völlig abstruse Idee“, dass diejenigen, die davon profitieren, über derartige Begriffsverbote das allgemeine Bewusstsein zu ihren Gunsten dumpf halten.

Ist der Mensch ausschließlich durch sein körperlich-materielles Sein bestimmt, so ist das Reden von einem freien Willen ja sowieso nur eine Einbildung – so redet man den Menschen ein, die man gerne zu den eigenen Zwecken benutzen möchte. Zur Realisierung des eigenen Willens benutzen möchte, genauer gesagt. Die Ideologie – welche denn auch – wird so zum Herrschaftsinstrument. Nur sei die Frage erlaubt: wenn derjenige, der herrscht, genau so ein Mensch ist wie der andere, Beherrschte, wie kann er das denn dann, das Herrschen, nach dem eigenen Willen? Wir kommen an die Grenze des heute Erlaubten. Selber denken, wo kommen wir denn da hin? Propagiert wird: unser Denken ist doch immer nur Funktion einer Ideologie, die ist Funktion von körperlichen Prozessen etc. pp. Bloß: wer denkt und sagt sowas? Wieso kommt der darauf, sowas zu sagen und zu denken? Er ist doch nur Funktion von … lassen wir das.

Schwierige Fragen

Mit dem Vorstehenden sind Fragen aufgeworfen, die mancher als schwierig ansehen könnte. Sie sind aber meiner Ansicht nach unausweichlich. Die Entwicklung der heutigen Gesellschaft weist überall darauf hin, dass alte, aus Vorzeiten stammende Denk- und Lebensgewohnheiten aufeinander prallen, miteinander kämpfen und unendliches Leid auslösen. Muss das denn sein?

Genau da, wo das Problem zu finden ist, liegt oftmals auch die Lösung. Jeder hat heutzutage seine Art zu denken, zu fühlen und zu wollen. Und natürlich sieht sich jeder in dem Recht, diese Art auch zu leben. Aber woher hat er diese Art? In welchem Verhältnis steht sie zu anderen Arten der Lebensauffassung? Kann nicht jede Art zu leben auch eine Bereicherung aller anderen werden, wenn wir nur einmal davon absehen, immer das Gewordene als ausschließlich Bestimmendes, und in weiten Teilen Unveränderliches anzusehen?

Ja, genau, sagen dann manche, eben doch: alle Menschen sind gleich. Jeder ist eine Bereicherung, nur die nicht, die das nicht glauben wollen, die wollen alle anderen zwingen. Ehm – geht’s noch? Gemerkt?

Wie gesagt, die auftauchenden Fragen sind schwierig.

Wie denn nun: Gibt es „Völker“?

Entkleidet man einmal alle Begriffe von ihrer ausschließlichen Vorbestimmung durch die Vergangenheit (ausschließlichen, sage ich!), dann zeigt sich schnell, dass das ganz Individuelle jedes Menschen sich auch darin ausspricht, zu welchen sozialen oder Mentalitätsgruppen er tendiert. Oder zu welchen Landschaften er sich hingezogen fühlt. Und dann kann man auch zu der Auffassung kommen, dass solche sozialen, lokalen und Mentalitätsgruppen eben auch etwas sind, was eine Bereicherung sein kann. Nur dann eben nicht festgelegt, aus der Vergangenheit vorbestimmt, sondern immer in Entwicklung, gemeinsam mit allen anderen Gruppen, und dann zeigt sich auf die Dauer, wo ein kultureller Kern unter den Menschen lebt, der andere anzieht ohne Zwang, der Freiheit schenkt durch sich selbst. Da braucht man dann keine Kriege, keine Meinungsmanipulation, kein Marketing und dergleichen.

Wie wäre das denn: aus freier Entscheidung der einzelnen entstandene Volks-, Sprach-, Landes- und auch Geistes-Gemeinschaften übertreffen einander im Wettstreit um die konstruktivsten Beiträge zur Entwicklung Aller? Die dann auch damit leben können, dass die Erde überall andere Lebensbedingungen bietet, überall darum auch Menschen mit unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten beherbergt?

Sicherlich doch ein wünschenswertes Bild, oder? Nur funktioniert es nicht, wenn nicht zuerst Einzelne damit anfangen, so zu leben, und die anderen eben so leben lassen, wie sie das können und wollen. Und wer dann eben so leben will, dass er sich und sein aus der Vergangenheit definiertes „Volk“ für die Herrenklasse hält – wir werden ihn nicht ändern können, denn er lehnt wie wir selber jeden Zwang ab. Und wer den anderen zwingen will, hat selber eben noch nicht die Freiheit. Siehe oben: alle Menschen sind gleich!?

Ein Beispiel aus der Vergangenheit

Dafür ist sie gut, die Vergangenheit: Beispiele zu finden, die uns hinweisen können auf Wege zur Lösung ganz praktischer Probleme.

Die Friesen hatten unter sich eine Regel aufgestellt (und sich verbindlich bestätigen lassen), dass kein Friese zum Kriegsdienst ausserhalb der eigenen Landesgrenzen gezwungen werden dürfe. Entsprechend – ein bisschen wie die Bretonen bei „Asterix und Obelix“ – schlugen sie sich am liebsten untereinander, solange niemand von außen ihnen etwas wollte. Versuchte es aber doch der eine oder andere, konnte er sich leicht die Zähne ausbeißen, denn ihre Freiheit war den Friesen heilig, und wer daran rütteln wollte, hatte sie plötzlich alle vereint gegen sich.

Der aufrechte, wahrhaftige Kampf zum Schutz des Eigenen im irdischen Leben kann wohl niemandem verwehrt werden. Und wenn der dann so geführt wird, dass er die Würde, die Freiheit und den Besitz des anderen achtet, das Anderssein nicht verurteilt, sondern wirklich nur den Übergriff abwehrt, dann spricht darin nur die Unvollkommenheit der irdischen Daseins, nicht aber irgendeine Überhebung, irgendein Weltherrschaftsdrang oder dergleichen.

Auch wer dabei vielleicht unterliegen muss, hat dennoch seinen Beitrag zum Fortschritt der Menschheit geleistet – hin zur Freiheit, gemeinsam Mensch zu werden.

© Stefan Carl em Huisken 2019




Wer ist Friese?

Friesische Identität heute

UPSTALSBOOM

Upstalsboom in Aurich-Rahe

Wer heute in welcher Weise auch immer Untergruppen der Gesamt-Menschheit beschreiben und von anderen Untergruppen abgrenzen will, begibt sich auf ein unsicheres Pflaster. Werden doch nur allzu leicht derartige Beschreibungen herangezogen, um irgendwelche „Qualitätsunterschiede“, „Rangordnungen“ oder dergleichen Stufungen unter Menschen zu konstatieren, die dann ebenso leicht genutzt werden können, um Herrschaftsverhältnisse unter Menschen zu installieren, zu begründen und aufrecht zu erhalten. Und dagegen hat heutzutage ein gesund empfindender Mensch eine ebenso gesunde Abneigung. Wer also irgendwelche Menschengruppen zu differenzieren versucht, kann schnell zur Zielscheibe derjenigen werden, die für ihre Art zu leben – als eine Art Gegenbild ihrer selbst, des „modernen Zeitgenossen“ – immer die Ewiggestrigen brauchen, die eigentlich nur da sind um zu zeigen, wie fortschrittlich und auf der Höhe der Zeit man selber ist.
Aber dennoch: es gibt ja die Unterschiede, und die lassen sich nicht wegleugnen: Geschlecht, Herkunft, Ethnie, religiöse und sonstige Grundhaltungen und vieles andere sind unter den Menschen verschieden. Wer das leugnen wollte, bewegte sich außerhalb der Tatsachen.
Allerdings: irgendwelche Rangordnungen definieren solche Unterschiede nicht, das tun erst die Menschen, die solche Unterschiede nutzen, um sich selbst über andere zu setzen. Das tun im Übrigen die eben charakterisierten „modernen Zeitgenossen“ auch, in besonders perfider Art und Weise sogar.
Nur so – ohne irgendwelche Herrschaftsverhältnisse oder Rangordnungen unter Menschen damit begründen zu wollen – soll hier also versucht werden zu umreißen, wie „friesische Identität“ heute vielleicht aufgefasst werden kann. Dass gerade diese Art der Charakterisierung dem beschriebenen Inhalt – der „friesischen Identität“ – in besonderer Weise entspricht, wird sich dabei zeigen.

„Identität“ kann heute nur kulturell gefasst werden

Wer heute die „Identität“ eines Menschen oder einer Menschengemeinschaft charakterisieren will, kann dies meiner Ansicht nach nur, indem er sie als Ausdruck von Kultur versteht. „Kultur“ hier allerdings nicht verstanden im Sinne eines „schöngeistigen Sahnehäubchens“ zur Verzierung der eigentlich wichtigen harten Realitäten (Herrschaftsverhältnisse, wirtschaftliche Verhältnisse etc.), sondern Kultur verstanden als Gesamtheit der Äußerungen des menschlichen Geistes. Dann sind nämlich alle anderen Verhältnisse – wirtschaftliche und rechtliche insbesondere – ebenso Ausfluß dieser Kultur wie Kunst, Wissenschaft und Religion. Denn der menschliche Geist wirkt in all diesen Lebensbereichen.
Wer also heute von einer gemeinsamen „Identität“ innerhalb einer Menschengemeinschaft sprechen will, muss dann versuchen, die Leitlinien derjenigen Kultur zu umschreiben, deren Ausdruck diese besondere „Identität“ ist. Damit betritt man ein Feld gleichsam überzeitlicher Werte, deren Ausdruck – die „Identität“ – jeweils zeitgebundene Formen annehmen kann, die aber allesamt dennoch immer auf die selben ewigen Werte zurückverweisen.

Der Kern friesischer Kultur ist die Freiheit

Auf dieser Grundlage scheint es mir statthaft zu sagen, dass der Kern friesischer Kultur, ihr leitendes Ideal sozusagen, in der Freiheit jedes einzelnen Menschen liegt. Diese Freiheit des Menschen ist ja etwas, nach dem heute mehr oder weniger bewußt jeder Mensch strebt.
Manche mittelalterliche Lebensweisen der Friesen, ihre Rechtssatzungen, ihre gesellschaftlichen Handhabungen – soweit wir heute davon wissen – scheinen für uns Heutige Verheißungen einer fernen, besseren Zukunft zu sein. Ganz sicher sind die realen Verhältnisse damals so ideal nicht gewesen, wie sie uns aufgrund von Überlieferungen heute erscheinen mögen. Dennoch – und das wird gerade durch die teilweise idealisierende Überlieferung deutlich – sind sie der damals mögliche Ausdruck des idealen Freiheitskernes friesischer Kultur gewesen. Als solche können sie auch uns Heutigen leuchten und Wege zeigen. Und in diesem Sinne ist auch ehrendes Gedenken hilfreich und wünschenswert: nicht als Überhöhung eines Früheren über das Heute, sondern als freies Anerkennen friesischer Identität in ihrer damals möglichen Form.
Wer das Alt-Hergebrachte über das Heute (und damit auch über sich selbst) setzt, ist nicht frei; er unterwirft sich ohne Not. Das wäre dem angesprochenen Freiheitsideal nicht angemessen. Der freie Friese ehrt und achtet die freien Friesen damals wie heute – frei.

Jede besondere Kultur braucht ihre besonderen Ausdrucksformen

Ihren Ausdruck gefunden hat die friesische Identität in der Vergangenheit ganz wesentlich durch ihre Sprache, und sie tut es – zum Teil – noch heute, oder heute wieder. Dabei ist allerdings im Vergleich zu anderen Kulturströmungen Europas ein gravierender Unterschied auszumachen: die schriftlich überlieferten Dokumente der alten friesischen Sprache umfassen kaum künstlerische oder religiös-mythische Texte, sondern ganz überwiegend Rechtssatzungen. Wer daraus schließen wollte, dass es Sprach- und Gesangskunst, Kultus und Mythos bei den damaligen Friesen nicht gegeben habe, schließt meiner Ansicht nach zu kurz. Die Dinge sind möglicherweise nur nicht schriftlich festgehalten worden, weil die Schriftkultur als solche als eine der Rechtssatzungen angesehen wurde.
Die vielfach überlieferte Sage von der Entstehung der „Friesischen Freiheit“ mit gleichsam göttlicher Hilfe gibt davon ein sprechendes Bild.
Darin werden die zwölf gewählten Richter (Asegen) von König Karl (später dem Großen) nach den Gesetzen gefragt, nach denen sie Urteile sprechen. Diese konnten sie ihm nicht sagen, so heißt es in der Sage, sie bitten um Aufschub, machen echte Not geltend, doch nichts hilft – es fällt ihnen nichts bei, was sie dem König sagen könnten.
Eine solche Situation läßt sich ausgehend von Ideal des freien Menschen erklären. Wer nämlich als freier Mensch im Vertrauen einen anderen Menschen zu seinem Richter wählt, diesem anderen damit Entscheidungsbefugnis über sich selbst in Streitfällen einräumt, bleibt ungeschmälert frei. Denn er hat diesen Richter gewählt, das ist und bleibt die eigene Tat. Das Verhältnis zwischen den Menschen bleibt auf Augenhöhe – frei.
Sind aber beide – der Wählende ebenso wie der Gewählte – ein und demselben von vornherein feststehenden Gesetz unterworfen, so sind beide unfrei, denn es gibt etwas, dem sie ohne es frei gewählt zu haben Folge zu leisten haben.
Das kodifizierte, abstrakte, dem Menschen übergeordnete Recht als solches ist kulturgeschichtlich gesehen ja ein Kind des Römertums. Und die Sage ist insofern sprechend: das gab es offenbar vor dieser Begegnung mit dem Römertum in Karl dem Großen bei den Friesen nicht. Möglicherweise urteilten die gewählten Richter aufgrund ihrer besonderen Eignung aus ihrem Rechtsgefühl unter Einbeziehung von ihnen bekannten Fällen der Vergangenheit – aber ohne schriftlich festgelegte Rechtssatzungen.
In unserer Zeit scheint so etwas schwer vorstellbar. Allerdings: Rechtssatzungen werden gerade in unserer Zeit mehr und mehr zum mal mehr, mal weniger von Wirtschaftsakteuren beeinflußten Herrschaftswerkzeug. Nur zu oft wehrt sich verletztes Rechtsgefühl heute gegen die Rechtssatzungen, die Bestehendes so festzurren wollen, dass Neues kaum noch eine Chance hat, in die gesellschaftliche Realaität einzudringen. Alles liegt fest, und statt mutiger, freier Schritte voraus erleben wir einen untauglichen Reparaturversuch am Bestehenden nach dem anderen. Jede Rechtssatzung kann nur so gut sein wie die Menschen, die sie zu realisieren haben. Das gilt auch bei der freien Wahl seines Richters.
Gewiss, der Rechtsstaat ist eine Errungenschaft, die wir nicht missen können. Dennoch – sind seine Formen zeitgemäß? Passen sie noch zum doch ohne Zweifel zeitgemäßen Freiheitsideal?
Um hier einmal andere Möglichkeiten zu durchdenken, ohne sich im Geiste von vornherein unverrückbare Grenzen aufzurichten – dafür kann ein Blick auf diese alte Sage von der friesischen Freiheit Anlaß sein.
Im weiteren Verlauf der Geschichte erscheint eine gleichsam göttliche Gestalt, die die zwölf Asegen vor dem Tode bewahrt und ihnen das Rüstzeug vermittelt, König Karl zu sagen, was er hören will. Und der (der ja Vertreter ist des damals gerade aufsteigenden Impulses des „Heiligen Römischen Reiches“, und der mit Feuer und Schwert Germanien christianisiert!), ja, dieser König Karl läßt aufschreiben, was die zwölf Asegen ihm sagen.
Aus meiner Sicht ist diese Sage ein Wahrbild für diesen gewaltigen Umschwung von der alten friesischen Gesellschaft, in der mündliche Überlieferung offenbar tragend war, zur römisch geprägten und in Schriftdokumenten gefaßten Gesellschaft des späteren „Heiligen Römischen Reiches“.
Und das Dokument, das dabei entstanden ist, ist dann gleichzeitig eines, das von der eigentlichen Kunst der Friesen spricht: von der Kunst eines vom Freitheitsimpuls getragenen Zusammenlebens in der mittelalterlichen friesischen Gesellschaft. Das war wohl die damalige Form des Ausdrucks friesischer Kultur. Sie sprach sich offenbar nicht aus in langen mythisierenden Epen und Gedichten, sondern im Gestalten des realen Zusammenlebens. Jedenfalls wäre so erklärlich, warum es (fast) keine Schriftüberlieferungen in friesischer Sprache aus dieser Zeit gibt außer Rechtssatzungen.

Die Sprache ist Ausdruck der Kultur

Jede Sprache in ihren differenzierten Formen ist Ausdruck einer besonderen Sicht auf die Welt. Etymologisch teilweise faßbare Wortzusammenhänge, Gefühlswerte, die sich mit Lauten und ihren Abfolgen verbinden, Melodie und Betonung geben jeder Beschreibung der Welt je nach verwendeter Sprache eine eigene Färbung und heben mal diesen, mal jenen Aspekt einer Sache in den Vordergrund. Ein Beispiel möge das verdeutlichen: das deutsche Wort „Kopf“ für den obersten Körperteil des Menschen hebt in bestimmter lautmalerischer Weise die äußere Form des gemeinten Gegenstandes hervor; deswegen kann dasselbe Wort auch für andere Gegenstände ähnlicher Form und Anordnung verwendet werden (z.B. „Kohlkopf“). Das französische „tête“ hebt etwas ganz anderes in den Vordergrund: die urteilende Funktion beim Menschen (Zusammenhang des Wortes mit lateinisch „testare“ – „urteilen“). Ein und derselbe Körperteil des Menschen ist angesprochen, und doch wird ganz Unterschiedliches betont.
In diesen Unterschieden liegt auch der Grund, warum in einer Sprache Dinge ganz einfach gesagt werden können, die in einer anderen vielleicht nur umständlich zu umschreiben sind. Die Bevorzugung des Englischen in der Popmusik zum Beispiel hat ganz sicher damit zu tun, dass das Englische sich besonders gut für den Ausdruck bestimmter Emotionen eignet.
Auf diesem Hintergrund ergbit das unterschiedliche Schicksal der ursprünglich drei verschiedenen friesischen Dialektgruppen wiederum ein sprechendes Bild. Sowohl im Westen (der heutigen niederländischen Provinz Fryslân) als auch im Norden (Nordfriesland) wurde die friesische Volkssprache von übergeordneten Standardsprachen bedrängt, die strukturell viele Ähnlichkeiten mit dem Friesischen aufwiesen, nämlich vom Niederländischen und vom Dänischen. Ostfriesland hatte als letztlich entscheidende übergeordnete Standardsprache mit dem Hochdeutschen zu tun, das strukturell einen wesentlich größeren Abstand zu den friesischen Volksdialekten aufwies. Mit dem zunächst das Friesische verdrängenden Niederdeutschen hätte sich noch eine vergleichbare Koexistenz wie im heutigen Fryslân ergeben können. Dort, in den Niederlanden konnte sich das Friesische immerhin so lange halten, dass dann im 19. Jahrhundert nach und nach ein Wiederaufleben möglich wurde (Vergleichbares gilt in Nordfriesland). Dazu blieb aber in Ostfriesland keine Gelegenheit. Das Niederdeutsche selbst kam unter denselben Druck wie das Friesische zuvor; das Hochdeutsche der Lutherbibel drängte heran, so dass von dieser ursprünglich zentralfriesischen Dialektgruppe heute nur noch die durch ihre lange sehr isolierte Lage erhaltene Sprachinsel des Saterfriesischen erhalten ist.
Und doch: das ostfriesische Niederdeutsch hat seine Besonderheiten, vor allem durch das friesische Substrat. Und die Geschichte Ostfrieslands zeigt bei aller Überformung durch von außen aufgedrückte Kultureinflüsse ihre Eigenständigkeit und immer wiederkehrende Bezugnahme auf das ursprüngliche friesische Freiheitsideal. Vielleicht kommt ja auch noch die Zeit, in der diese heute mehr gefühlte Identität sich auch wieder in friesischen Sprachformen auszudrücken lernt.

Friesische Kultur ist zukünftig

Dazu können Wege gefunden werden, wenn erst einmal der Blick auf friesische Kultur nicht mehr reflexartig in die Vergangenheit gewandt wird, sondern das friesische Freiheitsideal als etwas für alle Menschen Wertvolles, erst in der Zukunft wieder zu Verwirklichendes aufgefaßt wird. Nicht als etwas, was anderen Menschen aufzudrängen ist – das wäre ja Mißachtung der Freiheit im Anderen – sondern als ein im Zusammenleben innerhalb friesischer Menschengemeinschaften selbstverständlich Dargelebtes, das jeder für sich ergreifen kann, der dies will. Noch immer ist es ja so, dass vielfach Geburt und Herkunft (ja, leider, anders gesagt: Blut und Boden) als mehr ausschlaggebend für eine „friesische Identität“ angesehen werden als die freie individuelle Entscheidung des Einzelnen. Genau besehen, zerstören diejenigen, die ausgehend von solchem Vergangenheitsbezug die „friesische Freiheit“ gerade fördern wollen, dieses ihr Ziel selber. Unserer Zeit angemessen kann es nur sein, wenn der Einzelne, der sich dem geschichtlich in jeweils zeitgemäßer Form immer wieder aufscheinenden friesischen Freiheitsideal verbindet, eben durch diesen freien individuellen Entscheidungsakt sich selbst zum Friesen macht.
Und dann wird seine jeweilige individuelle Form, seiner „friesischen Identität“ Ausdruck zu verleihen, ein freier Beitrag zur friesischen Kultur sein – einer neuen, lebendigen, sich in eine noch ungekannte Zukunft hinein entwickelnden Kultur, nicht einer an hergebrachten Formen klebenden, die im Museum gleichwohl ihre Berechtigung hat, als Gegenstand ehrenden Gedenkens an den durch die Zeiten gehenden friesischen Freiheitsimpuls.
Der freie Friese sagt: ich bin Friese, weil ich es so will. Und das wird der andere Freie achten und respektieren.
Eala frya Fresena!

© Stefan Carl em Huisken 2017