Mensch und Kosmos aus der Sicht der Geisteswissenschaft

Vorbemerkung:

Für alle Darstellungen aus der Geisteswissenschaft ist zu bedenken, dass die Art der Begriffsbildung eine andere ist als gewohnt. Während wir im Alltag, vor allem bezogen auf äußere Gegenstände vor allem feststehende, definierende Begriffe, manchmal sogar nur Namen im Sinne „angehefteter Etiketten“ verwenden – so, wie es eben der damit erfassten Werkwelt im Raum entspricht, wo alle Gegenstände nebeneinander, getrennt voneinander erfasst werden müssen – gelten im Geiste ganz andere Gesetze.

Allein schon, wenn wir bestimmte Verhältnisse durch Anwendung von Naturgesetzen beschreiben wollen, tritt dieses „Andere“ ansatzweise auf: es gelten fast in allen Fällen mehrere, unterschiedliche Naturgesetze gleichzeitig, im Zusammenwirken und einander beeinflussend. Im Geistigen durchdringt sich also alles, hat keine definierbaren Grenzen gegenüber allem anderen und wirkt ineinander, gleichzeitig, am gleichen Ort. Wenn ein Einfluss sich ändert, ändern sich alle anderen auch entsprechend. Das Eine kann in das Andere übergehen und umgekehrt.

Um dieses Ineinanderwirken zu beschreiben und zu verstehen, benötigt man daher bewegliche Begriffe, die sich dem Objekt anpassen und wandeln können. Ich nenne diese Art der Begriffsbildung hier einmal „metamorphosierend“, im Sinne der Metamorphose1 als Entwicklungsübergang des Einen in das Andere. Nur solche Begriffe können auch Verhältnisse begreifen, die erst noch entstehen sollen, noch unbekannt sind, also zukünftig. Sie beschreiben dann gleichsam ein Ziel als Entwicklungsprozess, und bilden sich fort, indem die Zeit vorschreitet und die Ausgangspunkte des Begreifens verändert.

Ein solcher Vorgang des Begreifens ist weniger eine Frage der Aufnahme und Verarbeitung von Inhalten als vielmehr ein persönlicher Entwicklungsvorgang des Begreifenden: er muss seine Tätigkeit den Vorgängen anpassen, die im Bereich der begriffenen Inhalte vonstatten gehen; es handelt sich also vorrangig um ein Erüben von Fähigkeiten. Insofern ist auch das Lesen von Texten oder das Anhören von Vorträgen aus der Geisteswissenschaft etwas Anderes als Üblich: im Mitgehen mit dem Gedankengang erübt der Leser oder Zuhörer gleichsam im Ansatz den Weg zur Erkenntnis der Inhalte2

Man sollte das bei allen Darstellungen dieser Art berücksichtigen.

Zustand und Prozess

Unsere heutige Lebensverfassung ist so geworden, dass wir vor allem und oft ganz einseitig nur den jeweils aktuellen Welt-Zustand ins Auge fassen, und dabei aus dem Blick verlieren, was diesem Zustand vorausgegangen ist, und vor allem, auf welchen Wegen sich das Heutige aus dem Vorigen entwickelt hat. Wir sind im Alltag meist so in das gerade Gegenwärtige verstrickt, dass gar nicht dazu kommen, den Werdeprozess der Gegenwart zu berücksichtigen. Ohne diesen Prozess im Bewusstsein zu haben, können wir aber gar nicht beurteilen, welche Rolle die gegenwärtige Situation sozusagen als „Schnappschuss“ im Gesamten spielt.

Dieser uns mindestens teilweise unbewusst bleibende Teil der Gegenwart ist aber immer mit dem aktuell vorhandenen Zustand gegeben – als dessen Unbewusstes, das aber vorhanden ist und wirkt. Wir bewahren es in unserer Erinnerung, wenn auch nicht immer fehlerfrei und unverzerrt.

Bewusstes und Unbewusstes

Insofern kann man auch sagen, dass zu uns, zu unserem Unterbewussten der gesamte Werdeprozess der gegenwärtigen Welt-Situation gehört, sozusagen vom Weltenanfang an; denn wir selber, unsere eigene Existenz, beinhaltet ja auch einen Werdeprozess, einschliesslich des gesamt-menschheitlichen – nur eben gänzlich unbewusst. Was uns hat werden lassen, als wirkende Macht in einem Lebensvorgang, kristallisiert sich gleichsam in eine Situation, die in sich nicht lebt, aber Teil eines Lebensprozesses ist. Indem wir dies bemerken, beginnen wir das zunächst uns unbewusste Leben – unserer selbst, der Welt, der Menschheit – zunächst erahnend in unser Inneres aufzunehmen. Wir selbst als Teil der Gesamt-Situation, jeder einzelne als sein persönliches eigenes Erlebniszentrum, nehmen so im Geiste das erstorbene Werk – die aktuelle Situation – in unser eigenes (geistiges) Wesen auf und beleben es im Innern neu, suchen zumindest Wege, das zu tun. So können wir lernen, die Gesamtsituation besser zu verstehen3.

Werden und Schaffen

Was also bisher einfach aus seinem eigenen Wesensantrieb geschehen und uns als solches geworden ist, erwirken wir im Bewusstsein neu und machen es zu unserem Eigenen. In der Regel nehmen wir ja an, dass dasjenige, was in unserem Eigenwesen – bewusst oder unbewusst – vorhanden ist, etwas von allem anderen Getrenntes sei. Das ist erklärlich, haben wir unsere Begriffe doch fast ausschliesslich an den Gegenständen der Aussenwelt gebildet, in der dort, wo ein Gegenstand ist, kein zweiter sein kann – das ist im Raume so. Aber dieses wache Gegenstandsbewusstsein ist eben nur ein Teil unseres Wesens, wie wir gesehen haben: der gesamte Bereich des Unterbewussten gehört ebenso zu uns, und dort ist keineswegs ausgemacht, dass jedes Einzelne nur neben dem Anderen bestehen kann. Die Dinge können schon bei abstrakten Naturgesetzen ineinandergreifen: in jedem Naturgegenstand gelten unzählige Naturgesetze gleichzeitig, gemeinsam, durchdringen sich und wirken zusammen. Naturgesetze sind geistige Tatsachen. Sobald sie im Geiste erfasst werden in ihrem Ineinanderwirken, strukturiert sich das vorher nur festgestellte, irgendwie vor sich gehende Werden zu einem sinnvollen geistigen Ganzen.

Dabei kann festgestellt werden, dass mein eigenes Bewusstsein, meine Denktätigkeit, mit den wirkenden Naturgesetzen zusammenarbeitet, ebenfalls als geistige Tatsache. Mein Verstehen ist das Ergebnis. Damit ist wiederum darauf gedeutet, dass im Geiste eben nicht eines neben dem anderen ist, damit also auch nicht mein geistiges Inneres (Denken) getrennt vom geistigen Inneren der Welt, der Natur – Ich und Welt wirken ungetrennt ineinander, mein Geist und der Weltengeist sind von einer Art, ich bin gleichsam wie ein Naturgesetz oder ein Lebensweg ein Tropfen aus dem Ozean der gesamten Weltengeistigkeit. Damit ist meine Bewusstseinsarbeit, die die lebendigen Prozesse des Ineinanderwirkens im Geiste erfasst, ein Beitrag zur Neubelebung der gewordenen, gleichsam kristallisierten Situation, in der ich lebe.

Ein erster Blick

So ist das Tor geöffnet zu einem geistigen Blick auf den Zusammenhang von Mensch und Kosmos. Ich, als irdische Person, erkenne mich als Bestandteil des Weltenlebens, aus dessen Verständnis sich aber erst die Grundlage ergibt, meine eigene Bedeutung im Ganzen und damit auch die Bedeutung des mich umgebenden Kosmos für mich zu erkennen und zu beurteilen. Mein denkender Beitrag zum Ganzen belebt das Gewordene; jedes Denken ist auch Tat (wie auch jede Tat Denken beinhaltet) und verändert damit die Situation, bewegt sie, entwickelt sie weiter. Was ich will, aus eigenem Entschluss (also nicht getrieben von diesem oder jenem), ist so als Wille schon dem Ganzen einverleibt. Äußere Tatsache wird aus dem Willen erst, wenn die Kräfte der Welt dazukommen, im Bewusstsein damit verbunden werden.

In der Regel nehmen wir ja an, wir könnten selber in der Welt etwas bewusst ganz alleine bewirken. Das ist aber ein Irrtum. Von einem in unserem Inneren auftauchenden Wollen haben wir bewusst ja nur unsere Vorstellung davon – wie oft irren wir uns in uns selber und bewirken ganz anderes, als wir selber meinten? Die Kräfte, die daraus ein Weltereignis machen sind uns ganz unbewusst. Wir haben darüber nur angelernte Theorien: ist nicht die einfachste Handbewegung – recht betrachtet – ein Mysterium? Es kommt also darauf an, unsere Willenskraft, die sich im Leben zeigen soll, so auszurichten, dass dabei Weltenkräfte bewusst mitwirken können.

Wir müssen an dieser Stelle ein paar einfache Klärungen vornehmen; im Menschen wie im gesamten Kosmos lassen sich ja mehrere unterschiedliche Existenzebenen beschreiben:

a) Das sinnlich Erfahrbare, was uns als gegebene, fertige Aussenwelt in jedem einzelnen Augenblick gegenübertritt im Raum. Ich nenne dies einmal „physische Welt“.

b) Dasjenige geistige Kraftwesen, das die Bewegungen und Veränderungen der sinnlichen Gegenstände bewirkt (im eigenen Leib, der auch etwas Physisch-Sinnliches ist, wie auch in der sonstigen Welt), in mehr oder weniger gesetzmäßiger aber (fast immer) unberechenbarer, eben lebendiger Art und Weise. Ich nenne dies das „Ätherische“, im Einklang mit vielen in unserer Lebenswelt irgendwie bedeutsamen geistigen Lehren. Das wesentliche Element dieses Kraftwesens ist die Zeit.
Ein Sonderfall in diesem Bereich sind Gesetzmäßigkeiten, die in sich unveränderlich und berechenbar sind und so gleichsam ätherisch erscheinen aber eigentlich physisch (feststehend, abgrenzbar) sind: mechanische, physikalische etc. tote Gesetzmäßigkeiten des Maschinellen. Unsere heutige offizielle Wissenschaft ist weitgehend auf diesen physisch-gesetzmäßigen Bereich beschränkt.

c) Dasjenige geistige Wesen, das ein inneres Erleben vom Physischen und Ätherischen hat, und durch Kräfte der Anziehung und Abstoßung in den ineinanderwirklenden Lebensprozessen Richtungen und Wirkungsweisen bestimmt. Ein solcher allgemeiner Begriff ist hier hilfreich, denn er ist sowohl auf den Menschen als auch auf den Kosmos anwendbar. Der Mensch bewegt Gedanken, Gefühle, Willensimpulse in die Welt hinein aufgrund der Antriebe, die sich ihm aus Sympathie und Antipathie ergeben. Ebenso bewegen sich die Gestirne (und auch unsere Erde, wir selber) im Zusammenhang von Anziehungs- und Abstoßungskräften (Magnetismus, sogenannte „Schwerkraft“, dann aber auch die „Leichtekraft“, die Pflanzen und Menschen aufrichtet – wie und warum eigentlich?). Die Gestirne dabei als tote Materie anzusehen, ist dasselbe, wie den Menschen als einen Materieklumpen mit elektrisch verursachter Illusion einer Seele anzusehen – der Mensch selber ist aber Geistwesen4. Auch die Gestirne und ihre Gruppierungen und Bewegungen sind in diesem Sinne wesenhaft! Diese Welt der das Leben aus dem Inneren heraus steuernden Kräfte kann man daher auch die astrale nennen – also die Sternenwelt.

d) Und dann gibt es uns selber als Geistwesen, die eben in einem physischen, einem ätherischen und einem astralen Leib leben. Wir verstehen einander oft ebenso wenig, wie wir die in den Sternen, in den anderen Weltbereichen (Pflanze, Tier, Mineral) lebenden Wesen verstehen.

Ein Bild von Mensch und Kosmos

Damit ist der erste Blick getan auf unser eigenes geistiges Dasein ebenso wie auf das Wesenhafte im Kosmos. Jeder von uns erlebt seinen eigenen, individuellen Kosmos – das ist unvermeidlich, denn jeder hat seinen eigenen, einzigartigen Schauplatz in sich selber als seinem „Weltenzentrum“. Die sinnliche Wahrnehmung kann nicht anders als unterschiedlich sein zwischen den Menschen – niemand hat dieselben Sinneswahrnehmungen wie ich, kann „durch meine Augen schauen“ – das ist das Gesetz des physischen Welt, in der eben dort, wo ein Leib ist, kein zweiter sein kann, damit aber auch die Menschen unweigerlich – in dieser Hinsicht – immer allein und voneinander getrennt sind. Je weiter wir aufsteigen ins Ätherische (Lebensgesetzliche) und Astrale (Antriebsmäßige, im Sinne von Sympathie/Anziehung und Antipathie/Abstoßung), desto mehr haben wir Gemeinsamkeiten, wirken wir ineinander.

Die Grundsituation, ein Ich in einem Leib (physisch, ätherisch, astral) in einer gegebenen Werkwelt zu sein, ist für alle Menschen gleich, universell. Da, wo wir also gänzlich voneinander getrennt sind, im Ich, sind wir daher zugleich in der allergrößten Einheit. Mit solchen Gedanken betreten wir zugleich im Bewusstsein die Welt der Geistwesen, die sich in ihrem Wirken im Leben und in der Materie ausprägen.

Was die Welt uns zukommen lässt, kann so nach und nach wie in einem Bild zu einem Verständnis gebracht werden. Im Mittelalter (und in dessen Traditionen, die bis in die heutige Zeit wirken) hat man so den Begriff des Schicksals (und damit auch der Gottesstrafe) aufgefasst: als wesenhafte Antwort der Weltenwesen auf unsere Taten. Wir können dies nicht mehr gleichermaßen. Uns würde das auch unfrei machen, denn wir erleben zunächst diese Weltenwesen nicht unmittelbar, und müssten dann also den Erklärungen der Gottesgelehrten einfach glauben. Für uns ist es darum nötig, zu verstehen und uns selber ein lebendiges Bild davon zu machen. Das wird aber nur dann ein wahres Bild werden, wenn wir das voll bewusst tun können: in Ansehung unserer Sinneserlebnisse, im beobachtenden Durchleben der darin sich ausprägenden Kräftewirkungen, und im denkenden Verstehen der die Kräfte steuernden Antriebe – also wahr ist es nur dann, wenn es ganz aus dem Ich kommt, aus dem Geiste, und so die Seelen-, Lebens- und physischen Kräfte frei bewusst gestaltend gebraucht.

Lebenswege erfühlen

Dann wird auch unser Gefühl ein anderes: nicht mehr unbewusste Emotion (also durch Welt-, Körper- und erlebte Seelenprozesse „fremd“-gesteuert), sondern bewusst gestaltendes, wie tastendes Hinauswirken in die Welt aus dem Zentrum des Ich heraus. Das Gefühl wird dann zu einem immer objektiver sich entwickelnden Erkenntnisinstrument. Es zeichnet die Lebenswege erkennend nach, die mir aus meinem Kosmos heraus mein Schicksal mitteilen. Solange ich dies Schicksal nicht bewusst miterleben kann, bleibe ich unfrei; erst wo ich es mir objektiv gegenüberstellen kann, verstehen kann – also in inneren Bildern, Zeitgestalten, „Tönen“ gleichsam seine Sprache vernehme – werde ich frei zu einem selbstbewussten Umgang damit. Ich trete dann gleichsam in ein Ringen mit dem Kosmos ein, werde zum Atlas, der den Kosmos auf seinen Schultern trägt.

Einschub: Atlas, der Träger des Himmelsgewölbes
Vereinfachend gesagt, ist Atlas in der griechischen Mythologie ein Nachfahre des Kronos, des Geistes der notwendigen, gleichmäßigen Entwicklung in der Zeit, der im Titanenkampf gegen die neuen, selbständig gewordenen Götter des Zeus auf des Kronos Seite stand. Nach dem Sieg des Zeus und seiner Scharen wurde Atlas für seine Treue zur notwendigen, damit also unfreien Entwicklung (Kronos) damit bestraft, dass er das Himmelsgewölbe zu tragen hatte, um nun für alle Zeiten eine Wiederholung eines solchen Götterkampfes zu verhindern. Der Mensch, der eine solche Aufgabe bewusst ergreift – den Kosmos also mit sich selber eins werden zu lassen, ihn somit in sich selber zu tragen und sich selber damit gleichzeitig dem Kosmos bewusst verstehend hin zu geben – wird gleichsam zu einem „modernen Atlas“. Den Titanenkampf schildern fast alle Mythologien in der einen oder anderen Art; er kommt auch in der germanischen Mythologie vor, dort als Krieg zwischen Wanen und Asen – also den alten und den neuen Göttern.

Freiheit und Liebe

Ich selber fühle dann die Welt und gestalte sie mitwirkend um; sie wirkt aus sich in Notwendigkeiten, wie der ganze Kosmos. Erst durch das Mitwirken des sich selber befreienden Ich kommt etwas Neues in den Kosmos hinein: die Freiheit, und mit ihr die wahre Liebe, die ohne Freiheit nur getriebenes Habenwollen bleibt. Die Liebe ist also die kosmische Aufgabe des Menschen: sie in Freiheit – durch Bewusstsein – zu entwickeln. Je mehr wir uns frei wollend, aus eigenem Antrieb studierend der Welt, dem Kosmos zuwenden, und den Menschen (also uns selber) als sinnvolles und notwendiges (die Not wendendes!) Glied dieses Kosmos begreifen lernen, desto mehr können wir unsere Aufgabe erfüllen.

Alle Angst um unser kleines irdisches Persönchen wird uns nach und nach fader Abglanz von kleingeistigem irdischem Egoismus. Unser wahres Menschenwesen liegt in unserer kosmischen Aufgabe und ist unzerstörbar und ewig – wenn wir uns denn aufschwingen, und es wirklich so wollen.

© Stefan Carl em Huisken 2023

1vgl. zum Beispiel den Wikipedia-Artikel zur Metamorphose in der Mythologie: https://de.wikipedia.org/wiki/Metamorphose_(Mythologie)

2Dass gerade und nur diese beiden Situationen – die persönliche Begegnung in einem Vortrag oder das Lesen eines Textes – die Freiheit wahren können, habe ich an anderer Stelle bereits ausgeführt: vgl. Stefan Carl em Huisken: Menschenbegegnung, geschriebenes Wort, Ton- und Bildaufzeichnungen. – In: DIE LAHNUNG – Mitteilungen für individuelle Entwicklung und Lebenskunde, Nr. 10, S. 26ff oder im Internet Kurzlink https://ogy.de/xdu1.

3Ein ganz simples Beispiel, das wohl jeder kennt: man hat irgendwo einen Gegenstand abgelegt, den man nun nicht mehr wiederfinden kann, weil man sich den Ablageort nicht genau genug eingeprägt hat. Man kann ihn aber wiederfinden, indem man den Weg bis zum Ablegen innerlich zurückverfolgt: was habe ich getan, nachdem (oder bevor) ich den Gegenstand ablegte?

4vgl. Stefan Carl em Huisken: „Geistwesen Mensch“, in: DIE LAHNUNG – Mitteilungen für individuelle Entwicklung und Lebenskunde Nr. 10, S. 4ff, im Internet Kurzlink https://ogy.de/8dz2


Cover Wahnsinn und Denken Kosmos

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Geisteswissenschaft und Hellsichtigkeit

Die Wahrheitsfrage – Dilemma unserer Zeit

Was im Folgenden dargestellt wird, ist ein weiterer Versuch, Denkwege, die unserer Zeit nötig aber ungewohnt sind, so darzubieten, dass für den unvoreingenommenen Leser ein genauer Nachvollzug möglich ist und er dadurch beim Lesen eine kleine Übung im ungewohnten Denken absolvieren kann. Daher scheint es sinnvoll, eingangs auf diese Intention aufmerksam zu machen, aus der dann auch die Bitte hervorgeht, der Darstellung zunächst einfach denkend zu folgen und Einwände – welcher Art auch immer – bis zum Schluss zurückzustellen. Ein solches Vorgehen wird dazu beitragen, dass der Nachvollzug der gemeinten Denkwege ungehindert vonstatten gehen kann, und so ein wahres Bild der geistigen Grundlagen unserer Erkenntnis entstehen kann, in dem Methode und Inhalt sich vollkommen entsprechen, ja Eines werden.

Wie entsteht Erkenntnis?

Wenn wir über einen Gegenstand – sinnlich oder geistig – etwas wissen wollen und nicht nur meinen, dann ist es erforderlich, dass wir uns genaue Rechenschaft geben können über die Methode, die wir anwenden, um zu den Wahrnehmungen, die wir von diesen Gegebenheiten haben, einen angemessenen Begriff hinzu zu fügen.

Dass eventuell auch die vorliegenden Wahrnehmungen falsch oder verfälscht sein können, spielt dabei keine Rolle – denn bei der Beurteilung der Richtigkeit der Wahrnehmungen taucht dasselbe Problem wieder auf: wie können wir zutreffend beurteilen? Einen Maßstab zur Beurteilung unseres eigenen Erkenntnisprozesses können uns nur eigene Beobachtungen verschaffen, die für uns selber unbezweifelbar vorliegende Tatsachen darstellen, und zu deren Beurteilung wir nichts heranziehen müssen, was außerhalb der eigenen Beobachtung liegt. Dann überschauen wir das Ganze der Erkenntnis und können feststellen, ob alles zueinander stimmt.

Genau so müssen wir daher auch mit unseren vornehmsten Erkenntnisinstrument, dem Denken, verfahren.

Kontrolle des Denkens

Eine solche Beschäftigung des Denkens mit sich selbst widerstrebt uns zunächst, vielleicht weil wir unterschwellig ahnen, wie unkontrolliert es im Alltag bei uns verläuft. Da reihen wir nicht bewusst Schritt an Schritt, sondern springen von Eingebung zu Eingebung: „… da fällt mir ein …“ – woher denn eigentlich? Bewusst einen Gedanken an einen anderen anzuschließen, ist uns ungewohnt, und manchmal Schwerstarbeit. Aber ohne diese Arbeit bleibt jedes Urteil, das wir abgeben, letztlich bodenlos, bloße Meinung.

Und so lebt unsere Zeit in der (für unsere Bequemlichkeit förderlichen) Auffassung, dass es Wahrheit eben nicht gibt, sondern nur Meinungen. Und die Welt und das Leben werden dann eben von denen beherrscht, die ihre Meinung zum Beispiel durch Manipulation oder Gewalt am besten geltend machen können. Wie aber, wenn diese Meinung, es gäbe keine Wahrheit, falsch wäre?

Um zur Wahrheit in dieser Sache zu kommen, bleibt also nur der anstrengende Weg des Selber-Denkens, keinen „Einfällen“ („Invasionen“) zu folgen, sondern eines aus dem anderen Schritt für Schritt zu entwickeln, oft gerade gegen meine Vorlieben und Wünsche ( … die Bequemlichkeit zum Beispiel).

Wissenschaft

Genau das ist aber Wissenschaft: beim Beurteilen und Erklären einer Tatsache methodisch so vorzugehen, dass keine unbeobachteten Einflüsse das Urteil unbemerkt beeinflussen können, und dadurch dann auch nicht unbemerkt persönliche Sympathie oder Antipathie oder sonstige, in der Person des Wissenschaftlers liegende Eigenschaften das Ergebnis verfälschen. Das kann man gegenüber der Natur und ihren Gegenständen ebenso anwenden wie im Umgang mit geistigen Beobachtungen, ganz zuerst vor allem dem eigenen denkenden Beurteilen gegenüber. Gegenüber der Natur kommt dies im Aufbau von Experimenten zum Tragen; im Geiste ist der Experimentator sein eigener Versuchsaufbau.

Das Denken ist eine innere, nicht durch äußere Sinne gegebene Tatsache, also geistig, übersinnlich, ebenso wie jedes Gefühl, jeder Willensimpuls oder letztlich auch ich selbst1 so, wie ich mich erlebe2. Gehe ich geistigen Gegenständen gegenüber wissenschaftlich im obigen Sinne vor, so betreibe ich ganz wörtlich Geisteswissenschaft.

Form und Inhalt

Dabei ist es unbedeutend, welchen konkreten geistigen Inhalt ich untersuche; was zählt, ist die Methode, die nichts Unbeobachtetes als Einflussgröße im Prozess duldet. Das wissenschaftliche Vorgehen ist also die Bildung einer Erklärungsform für einen Inhalt, und diese Erklärungsform kann ich dann als gültig ansehen, wenn in ihre Bildung nichts einfließt als der beobachtete Gegenstand und meine vollbewusste Tätigkeit.

So etwas ist nicht einfach: man versuche einmal, zum Beispiel die Entstehung eines Bleistiftes sich innerlich zu erklären so, dass nichts herangezogen wird, was nicht unmittelbar mit dem vorher Vorhandenen so zusammenhängt, dass mir dabei der Zusammenhang völlig klar ist. Abgesehen davon, dass es uns sehr schwer wird, ohne Abschweifung mehr als einige Sekunden bei der Sache zu bleiben, werden wir sofort innerlich von „Einfällen“ überflutet, die sich jetzt aus angelernten, aber meist ins Unbewusste gesunkenen Zusammenhängen ergeben. Wir werden also sofort wieder durch eine Inhaltsfülle von der kontrollierten Erkenntnismethode abgelenkt.

Über die Wahrheit einer geistigen Tatsache ist aber ein Urteil nur auf dem Wege der inneren Kontrolle des Denkens und Beurteilens möglich; den äußeren Weltgegenständen gegenüber kann jeder Irrtum, jeder Methodenverlust durch genaue Beobachtung dieses gegebenen Inhaltes selbst korrigiert werden. Das hat zu unserer Gewohnheit geführt, uns beim Denken von den Inhalten leiten zu lassen, den äußeren (Sinnes-)Inhalten ebenso wie den inneren (Wunsch- und Vorlieben-)Inhalten.

Geistige Wahrnehmung

Üben wir aber kontrollierte Erkenntnismethodik systematisch an nicht-sinnlichen Inhalten (wie zum Beispiel der Beobachtung des Denkens), so erlernen wir dabei die bewusste Gestaltung von zeitlichen inneren (Erkenntnis-)Prozessen, bei denen wir immer sagen können, was wie woraus hervorgeht – also das Gestalten von inneren Tätigkeitsformen, die wir den Inhalten entgegentragen. Diese Tätigkeit ist gewissermaßen eine freie, die aber dann immer sagen kann, wie das zustande kommt, was sie hervorbringt. Solche Übung nennt man auch Meditation; in diesem Falle aber eine, die sich nicht in die reine Wahrnehmung zurückfallen lässt, sondern gerade die eigene Aktivität steigert, konzentriert, um sich eine Erklärung des (selbstgestalteten) Untersuchungsgegenstandes zu schaffen.

Diese Untersuchungsgegenstände sind dann völlig selbstbewusst erarbeitete Inhalte, die nur so lange existieren, wie sie auch hervorgebracht werden. Sie sind keine aneinandergereihten Worte, sondern mühsam erarbeitete innere Bilder des Untersuchten und seiner Zusammenhänge. Es geht also gerade darum, die Sache selbst sich durch unsere Tätigkeit aussprechen zu lassen, nicht aus ihr irgendwelche abstrakten, allgemeinen Regeln aufzustellen, die man dann immer gleich reproduzieren und auf andere vermeintlich gleich geartete Inhalte anwenden kann, oder auch bestimmten Nutzen aus der Sache zu ziehen.

Man beginnt dadurch nach und nach in solchen inneren Bildern zu denken, und nicht mehr in abstrakten Gesetzen oder „aus dem Bauch“ gefühlt durch irgendwie sich assoziativ angliedernde andere Inhalte. So entwickelt man ein neues (geistiges) Sinnesorgan für geistige Wahrnehmungen. Bei einiger Übung fallen einem dann solche Bilder – Imaginationen – auch bei anderen Gegenständen zu, die man noch nicht selber in der geschilderten Weise genau kontrolliert untersucht hat. Der Unterschied zu beliebigen Traumbildern ist aber, dass solche Bilder den Weg zu ihrer Entstehung stets einschließen, und daher ihre Gültigkeit immer durch den Menschenverstand überprüft werden kann.

Gesunder Menschenverstand

Das mir wie jedem gesunden Menschen gegebene, bisher aber noch ungenannte Kriterium der Beurteilung ist der sogenannte „gesunde Menschenverstand“, der nämlich durchaus beurteilen kann, ob ein Schritt wirklich bewusst aus dem vorigen hergeleitet werden kann, jedenfalls dann, wenn er sich nicht auf vorgefasste Urteile, sondern nur auf sich selbst stützt. Er ist es auch, der es ermöglicht, durch einen Anderen vorgebrachte Berichte von Tatsachen zu beurteilen, auch wenn man selber keine Wahrnehmung davon hat, egal, ob es um sinnliche oder übersinnliche Tatsachen handelt.

Der bewusst imaginative Hellseher kann daher von jedem Menschen bezüglich seiner Zuverlässigkeit beurteilt werden. Kann er nämlich nachvollziehbar angeben, wie er zu seinen Erkenntnissen kommt, also zu den erzählten Inhalten auch die lebendigen Bildbegriffe und ihren Bildeprozess liefern, so bleibt er nichts schuldig.

Anders ist es bei Menschen, die über nicht-sinnliche Wahrnehmungen ohne vorhergehenden Aufbau einer wissenschaftlichen Erkenntnismethode für den Geist verfügen. Sie erzählen dann von ihren Wahrnehmungen, verwenden aber Begriffe dafür, die sie am Umgang mit sinnlichen Inhalten erlernt haben. Begriffe sind eben innerliche Formen, die sich mit Inhalten der Wahrnehmung verbinden, ihnen auch entsprechen müssen, damit sie „passen“, nicht einfach Worte, die den Inhalten angeheftet werden. Und die Anwendung unpassender Begriffe gaukelt dem Empfänger solcher Mitteilungen dann vor, er könne das lebendige Wesen der geistigen Wahrnehmungen mit seinen im Alltag erworbenen Begriffen fassen, was dann dazu führen kann, dass Wahrnehmungen durch die Begriffsweise verzerrt, unterdrückt oder auch hinzuhalluziniert werden. Das ist genauso wie bei schlecht oder fehlerhaft ausgebildeten Körpersinnen den Sinnestatsachen gegenüber.

Es gibt sicher auch Menschen mit angeborener Hellsichtigkeit, die sich dann mühsam die richtigen Begriffe zu ihren Wahrnehmungen bilden konnten. Das ist aber ganz sicher eine Minderheit. Es erfordert ja das Losreißen der Erkenntnismethode von den Inhalten; und gerade solche Hellsichtigen werden von inneren Bildinhalten geradezu überflutet. Da kostet es dann noch mehr Kraft als für einen „Normalmenschen“, um Kontrolle über das eigene Denken im Bilden von imaginativen Begriffen zu bekommen; nur sehr wenige können das.

Die heutige Situation

Warum ist das heute so? Wir leben in einer Zeit, in der die Wahrnehmungsinhalte ihre Begriffe nicht mehr unmittelbar „mitliefern“ – wir müssen sie uns selber erarbeiten. Dadurch sind wir aber auch frei geworden vom „geistigen Zwang“ durch diese mitgegebenen Begriffe und Notwendigkeiten. Dies ist die Grundlage für alle Irrtums- und Zerstörungsmöglichkeiten, über die der Mensch heutzutage verfügt. Darum hat er sich auch anhand seiner Sinneswahrnehmungen allerlei Theorien zurechtgedacht, die dann stimmen oder auch nicht, also nur als Meinungen gelten können und damit dem Machtkampf um die „richtige Meinung“ ausgeliefert sind.

Zu früheren Zeiten lebten die Menschen geführt durch gezielt ausgewählte und dafür geschulte Personen, die noch die Fähigkeit hatten, die wahren, lebendigen Bildbegriffe zu den Wahrnehmungen zu empfangen: Mysterienpriester, Gottkönige und ähnliche Persönlichkeiten. An dieses Geführtwerden hat sich die Menschheit gewöhnt; das äußere Führungssystem übernahmen die Kirchen, sich jetzt auf die durch sie gepflegte Tradition der überlieferten Offenbarung berufend, und später der Staat, ein gleichsam „göttliches Gesetz“ repräsentierend, das über den Menschen steht. Heute sind die Inhaber dieses Führungssystems noch ganz andere Gruppen.

Die Geist-Wahrnehmung starb ab, beschränkte sich auf immer kleinere Gruppen, und mangels passender Begriffe wurde sie in unserer Zeit immer chaotischer; die „Inhaber“ der Herrschaftstraditionen wissen das und achten darauf, dass möglichst keine wahre, neue Geisterkenntnis aufkommt.

Sie ist aber da, als Möglichkeit in unserem „gesunden Menschenverstand“ und der daraus folgernden kontrollieren Selbsterziehung zum geistgemäßen Denken, das dann aus der Selbstbeobachtung die Wahrheit oder Unwahrheit einer Aussage beurteilen kann.

In früheren Zeiten unterschied man zwischen der Geist-Wahrnehmung, die lange Zeit noch Allgemeingut war, und der Einweihung, die das angemessene Begreifen dazu lieferte, in langer, kontrollierter Erziehung in den Mysterienschulen errungen. Die Eingeweihten wiederum führten die Gemeinschaft, und die Wahrheit ihres Tuns konnte jeder geistig wahrnehmen; sie stand ihnen sozusagen geistig „an die Stirn geschrieben“. Man wusste einfach: der ist Eingeweihter, dem kannst du trauen.

Heute haben wir dieses unwillkürliche Urteilsvermögen nicht mehr; dafür sind wir frei geworden. Darum aber ist alle Hellsichtigkeit ohne geistgemäße Denkschulung heute hochriskant. Sie kann zu allem Möglichen führen: Psychosen, Massenwahn in allerlei Sekten, Manipulation großer Menschenmassen und so weiter.

Rudolf Steiner sagte sinngemäß: heutzutage darf es Geistwahrnehmung ohne Einweihung (die die richtigen Begriffe liefert!) nicht mehr geben. Sonst ist die Gefahr groß, in die geistigen Fänge unguter Mächte zu geraten, die gerade davon leben, dass sie geheim bleiben, den meisten Menschen unbewusst, und die die Menschen so versklaven, indem sie ihnen insgeheim, im Unbewussten (also auch geistig-übersinnlich!) falsche Begriffe einflüstern3.

Geisteswissenschaft – so wie sie hier vertreten wird – ist also die Methode der Gewinnung wahrer Erkenntnisse aus übersinnlicher Wahrnehmung. Sie stützt sich selber, indem sie ihre Methode als etwas Übersinnlich-Geistiges ansieht, das sie selber untersuchen und verstehen kann. Die Übung der Methode führt zur Entstehung eines geistigen Organes; die Anlage dazu hat jeder Mensch, daher kann sie aus den vorhandenen Anfängen systematisch erübt werden. Solche Übung kann also zu Hellsichtigkeit führen, muss es aber nicht. Unabhängig davon können durch die Beherrschung der Methode aber Mitteilungen von Hellsichtigen auf ihre Wahrheit hin beurteilt werden.

Hellsichtigkeit ohne Geisteswissenschaft birgt viele Risiken in sich: seelische Erkrankungen, Halluzinationen, Fehlbeurteilungen der Wahrnehmungen (manchmal sogar der sinnlichen!) bis hin zum völligen Wahnsinn. Diese Risiken können durch systematische geisteswissenschaftliche Schulung überwunden, mindestens aber beherrscht werden. Trotzdem können natürlich einzelne Aussagen von nicht geschulten Hellsichtigen immer auch Wahres enthalten, ebenso wie sich auch der geisteswissenschaftlich Geschulte irren kann – wie jeder Mensch.

© Stefan Carl em Huisken 2023

1Vgl. dazu auch em Huisken, Stefan Carl: Geistwesen Mensch. – In: DIE LAHNUNG 10, S. 4ff, oder im Netz =>hier.

2Das Ich ist eine geistige Tatsache, die nur ich erlebe. Da sie für jeden anderen auf seine Weise aber auch gültig ist, ist die Tatsache des Ich individuell und allgemein zugleich.

3Jeder Guru, der verlangt, man solle sich erst ihm anvertrauen, bevor man dann später erst lernt zu verstehen, was mit einem selber geschehen ist, gehört in diese Kategorie – er missachtet nämlich die Freiheit des Individuums, die es gerade erfordert, erst zu verstehen, und sich dann bewusst und frei für das Erleben zu entscheiden.


Cover Wahnsinn und Denken Hellsichtigkeit

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Wozu braucht man den Darwinismus?

Charles Darwin Darwinismus
Charles Darwin

Die Vorstellung, dass jedes höher entwickelte Wesen im Gang der Entwicklung durch eine Art „Naturzüchtung“ im sogenannten „Kampf ums Dasein“ erst entstanden ist, weil es dabei eben sich stärker zeigte als seine Konkurrenten, ist so recht nach dem Geschmack bestimmter parasitär gestimmter Menschengruppen, die ihre vorrangige Aufgabe darin sehen, andere Menschen zu beherrschen zum Zwecke der Ausbeutung. Ein solches Bild der Entwicklung, in dem immer der Stärkere den Schwächeren besiegt und verdrängt, hat – wenn es als gültig angesehen werden soll – allerdings gewisse Voraussetzungen, die kaum jemand wirklich in Rechnung zieht oder gar öffentlich benennt.

Bereits Ende des 19. Jahrhunderts, als ein solches Menschenbild, das ja auf der Grundlage von Charles Darwins Buch „Über die Entstehung der Arten“ aufgekommen ist, immer größere Bedeutung gewann, wussten klar denkende Menschen von diesen Voraussetzungen und den damit verbundenen Folgen. So zitiert Rudolf Steiner 1904 in seinem Aufsatz „Über moderne naturwissenschaftliche Anschauungen“1 den Forscher W.H. Rolph, der bereits 1884 schrieb:

„Erst durch die Einführung dieser Unersättlichkeit wird das Darwinistische Prinzip der Vervollkommnung im Lebenskampfe annehmbar. Denn nun erst haben wir eine Erklärung für die Tatsache, dass das Geschöpf, wo immer es kann, mehr erwirbt, als es zur Erhaltung seines Status quo bedarf: dass es im Übermaß wächst, wo die Gelegenheit dazu gegeben ist. … Während es also für den Darwinisten überall da keinen Daseinskampf gibt, wo die Existenz des Geschöpfes nicht bedroht ist, ist für mich der Lebenskampf ein allgegenwärtiger. Er ist eben primär ein Lebenskampf, ein Kampf um Lebensmehrung, aber kein Kampf ums Dasein.“2

Damit wird gleichzeitig klar: wer unersättlich ist, braucht den Lebenskampf, um seine Unersättlichkeit auszuleben und sie dabei auch noch als eine für den Menschen unausweichliche Naturnotwendigkeit hinzustellen. Und auch „rein menschlich“, moralisch sozusagen, steht er fein da: er ist ja nicht schuld an den Folgen, das ist eben alternativlose Naturnotwendigkeit.

Solche ausweglosen Situationen, in denen „höhere Gewalt“ dieses oder jenes alternativlos erzwingt – so wird es uns jedenfalls von gewissen tonangebenden Kreisen immer wieder eingehämmert – kennen wir aus der Gegenwart und unmittelbaren Vergangenheit ja zur Genüge. Dass die Sache vielfach nicht recht schlüssig scheint, bemerken allerdings auch immer mehr Menschen. Und dann sucht man die Schuldigen, die „bösen Menschen“ (die „bösen Darwinisten“?), denn wenn man die mit der moralischen Keule auf dem Umwege der Mobilisierung der Massen dann aus ihren Positionen vertrieben hat, so meint man, wird alles besser. Ist das wirklichkeitsnäher als das „Darwinistische Prinzip der Vervollkommnung im Lebenskampfe“?

Was man dabei übersieht, ist dies: man versucht im „Kampf ums Dasein“, im „Lebenskampfe“ nun eben auch mitzuspielen, nur von vermeintlich „höherer moralischer Warte“ aus. Die zugrundeliegende Ideologie – den „Darwinismus“ als solchen, mehr oder weniger simplifiziert – zieht man nicht in Zweifel. Man macht einfach im„Lebenskampf“ mit und bestätigt so durch die Tat dessen daseinsbeherrschende Macht, die – wie ja schon Rolph erkannte – letztlich untrennbar mit der menschlichen Unersättlichkeit verbunden scheint. Aber ist das überhaupt so?

Gewiss: die Exzesse kolonialistischer Kriege, die menschenverachtenden Wirtschaftssysteme sind ja ebenso vorhanden wie die sexuellen und drogenstimulierten Ausschweifungen mancher derzeit die Weltenlenkung darstellenden Figuren. Und dass die Unersättlichkeit parasitierender Triebtäter vor allem aus Übersee nahe daran ist, die menschliche Zivilisation insgesamt zu vernichten, kann ohne gezieltes Wegsehen und Weghören kaum noch jemand ernsthaft ableugnen. Allerdings: die Situation ist nicht ausweglos.

Abgesehen davon, dass sich das gesamte darwinistische Denkmodell ziemlich problemlos anhand von Tatsachen widerlegen lässt3, kann man solch eine Sachlage auch so lakonisch kommentieren wie Rudolf Steiner das obige Zitat von W.H. Rolph schon 1904: „Nur natürlich ist es, daß sich bei solcher Lage der Tatsachen die Einsichtigen gestehen: Die materialistische Gedankenwelt taugt nicht zum Aufbau einer Weltanschauung. Wir dürfen, von ihr ausgehend, nichts über die seelischen und geistigen Erscheinungen aussagen.“4

Die Unersättlichkeit des Menschen (eine „seelische Erscheinung“ also) ist ja nur für denjenigen eine Art unausweichlicher Zwang, der sie in seinem Denken zu einem solchen macht. Das ist dann ein Denken, das hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt und leugnet, dass es sich selber zu steuern in der Lage ist. Das wäre ja ein unbequemer Weg, auf dem man selber Verantwortung für die eigene Weltanschauung übernehmen müsste, frei und ohne Scheuklappen, selber denkend. Was daraus als Taten erflösse, müsste der Einzelne dann auch selber verantworten. Das will er allerdings vielfach nicht, und so bastelt man sich lieber ein Welt- und Menschenbild, in dem die Freiheit des Menschen zugunsten reiner Triebtäterschaft (seien es sogenannten „höhere moralische“ oder „niedere“ Triebe) zurücktritt und die Schuld daran dann weiterhin anderen – Gott, irgendeinem „Gegner“ oder eben der „unausweichlichen Weltgesetzlichkeit“ – zugeschoben werden kann.

Wer diese Situation nachhaltig durchdenkt, und daraus auch Konsequenzen ziehen will, kann gar nicht anders, als sich selber – und damit den Menschen schlechthin – als Geistwesen anzusehen, das sich selbst verloren hat und nun vor der Aufgabe steht, sich selber wiederum – dann allerdings bewusst und frei – unter Kontrolle zu bekommen.

Darum ist es in der derzeitigen Weltlage gar nicht die erste Frage, was konkret zu tun sei, sondern vielmehr, wie jeder Einzelne (und nach und nach immer mehr davon) erst einmal zur Einsicht kommen könne in die Grundlagen seines Handelns. Handeln wir wirklich selber oder überlassen wir die Steuerung unseres Willens dunklen Trieben, zu deren freier Verwendung? Oder, anders gesagt: Wer bestimmt unser Handeln – das eigene ICH oder ein dunkles Triebwesen?

Der „man“, der sich nicht einmal selber benennen mag, nicht einmal den eigenen Namen kennt, der ICH heißt, braucht den Darwinismus zur Rechtfertigung seiner Freiheits-Unwilligkeit, also seiner Bequemlichkeit. Der freie Mensch lehnt ein solches Denken in „Unausweichlichkeiten“ ab, denn es hindert ihn an der eigenen Höherentwicklung im Dienste der (eigenen) Menschlichkeit.

© Stefan Carl em Huisken 2023

1Steiner, Rudolf: Lucifer – Gnosis. Grundlegende Aufsätze zur Anthroposophie 1903-1908. GA 34. – Dornach, 1987, S. 457ff

2Zitiert nach Steiner ebd., S. 464

3Vgl. zum Beispiel Delor, Andreas: Atlantis aus aktueller hellsichtiger und naturwissenschaftlicher Sicht. Band 5a. – Borchen, 2018. S. 6ff

4Steiner, Rudolf: ebd.


Cover Wahnsinn und Denken Menschen-Werden

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Wie wird der Mensch?

„O Mensch, erkenne dich selbst!“ – so tönte es dem Sucher aus den alten Mysterien entgegen. Da der Mensch als Werdender aber niemals gleich bleibt, sondern immer in Entwicklung ist, kann er sich selber nur verstehen, indem er sein eigenes Werden geistig umfasst.

Das innere Erkenntnislicht entsteht aus dem Selbst-Bewusst-Werden des Menschen als einem aus dem Weltganzen gleichsam „Hinausgeworfenen“, der die Welt verloren hat und den die Welt verloren hat, und der aus alldem, was er in seinem (seelischen) Innenwesen finden kann, diesen Verlust als seinen eigenen Anfang erleben lernt, indem er seine Situation in seiner Seele anschauen lernt, bedenken lernt, mit seinem inneren Denk-Seelenlicht bescheint. Er bemerkt: Ich bin anders als die Welt, „mein Reich ist nicht von dieser Welt“.

Indem der Mensch so in innerer Besinnung auf diesen „Hinauswurf“ sein eigenes Werden nachvollziehen lernt, wendet sich der Geist, der Mensch und Welt als polar sich tragende Einheit umfasst, aus dem Menschen zur Welt, fügt dieser Welt damit etwas Neues, aus ihm selber Stammendes hinzu, und muss doch gleichzeitig bemerken, dass, was er gerade hervorbrachte, ihm im selben Augenblick wieder entgleitet. Seinen eigenen geistigen Erkenntnisprozess kann der Mensch nicht festhalten, so wie es auch der Gottesgeist mit dem seinigen nicht konnte, da dieser Prozess in ständiger Wandlung ist und nur im Tun vorhanden und anschaubar.

Zwischen Welt und Geist weben also Kräfte, welche aus beiden in unterschiedlicher Weise hervorgehen, die Einheit des jeweils individuellen Menschen. Indem der Mensch als irdisches Einzelwesen in diese gleichsam kosmische Polarität und damit als Mittelpunktswesen seines eigenen, umfassenden Seins in den Raum der Welt gestellt ist, wird er zum Träger des Ausgleichs zwischen Außenwelt und Seelengründen. Vom kosmischen Schicksal ergriffen und in diesen Mittelpunkt gestellt, findet er sich auf der Suche nach dem rechten Greifen des Ausgleichs, nach demjenigen, worin sich nach Schillers Worten Anmut und Würde ausdrücken können: der Kunst und dem Spiel.1

Der einzelne individuelle Erdenmensch, so, wie er aus dem kosmischen Schicksal heraus geworden ist als ein Mittelpunktswesen des Universums, erwacht für sein eigenes Sein, und wird dadurch zugleich diesem Mittelpunkts-Sein gerecht, indem er in seinem eigenen Erwachen die eigene, in ihrem ganzen Umfang ihm noch unbewusste Göttlichkeit bemerkt. So kann er ahnen und schauen, wie aus dem Kosmos heraus dieses ganz dem Kosmos entfremdete Wesen seiner selbst, aus sich selbst heraus, zunächst in strenger innerer Denk- oder Meditations-Arbeit den Gedanken des kosmischen Wesens und Werdens hervorzubringen beginnt, der ihm selber immer mehr zur Stütze seines eigenen Seins wird. Dadurch wird er unabhängig vom kosmischen Werden, kann aus sich selbst heraus den Weg der Freiheit betreten.

Aber er muss ertragen, dass alles, was er sich und dem Weltenprozess aus sich selber hingibt, im Augenblick der ersten Wahrnehmung des gerade Gegebenen ihm entfällt, das Leben verliert, aus einem Ergebnis seiner eigenen Entwicklung zu einem Hindernis für das Weiterschreiten wird; der Mensch schafft sich also selber Widerstände, an deren Überwindung er dann zu wachsen hat2. So wird er von einem Geschöpf des Lebens zum Mit-Schöpfer, zu einem fortlaufend sich höher entwickelnden Quell des Lebens. Der Mensch selber wird dadurch zum Quell der Lebenskraft, einem Quell, der aus dem eigenen fortwährenden Schaffen heraus nach und nach zum verlässlichen Bestandteil des lebendigen Weltganzen werden kann, da er seine Kraft eben aus sich selbst, aus dem Beobachten des eigenen Tuns immer neu zu schöpfen lernt.

Was der Mensch in der Welt schafft, unterliegt deren Gesetzen in dem Augenblick, wo es der Welt übereignet wird. Macht sich der Mensch als schaffender Kräftequell aber selbst zum Gegenstand, der ihm schließlich im Weltganzen gegenübertritt, so schenkt er sein Leben gleichsam weg, geht selber durch den Tod, verändert dieses Weltganze damit aber so, dass er ihm neues Leben einhaucht. Sein eigener Zeitenstrom des Lebens gliedert sich dem kosmischen Entwicklungsstrom ein, verrinnt in diesem. Damit werden beide – Erdenmenschenwerden und kosmisches Werden – nach und nach eines. Indem der Mensch sein eigenes Selbst-Werden der Welt schenkt, soweit er dies sich selber gegenüberstellen kann, ist er dem Weltenwerden einverwoben3.

Damit tritt er ein in den geistigen „Raum“, dem das Werden entstammt. Was der Mensch im Bewusstwerden des eigenen Wesens erschafft, wird Bestandteil des Ewigen im Weltganzen. Sein eigenes Menschsein wird damit Ausdruck und untrennbarer Bestandteil des geistigen Seins und Werdens im Ganzen der göttlichen Schöpfung; seiner Aufgabe als Mittelpunkt und Schau-Platz des Weltenwerdens kann der Mensch so gerecht werden. Dass er selber die Welt und die Welt ihn verlor, ist damit Voraussetzung für beider neue Belebung und Auferstehung in die Zukunft hinein.

Kein Mensch ohne die Welt, aber auch keine Welt ohne den Menschen.


Im Erdendasein des Christus Jesus wurde daher gleichsam exemplarisch das Wesen Gottes als Urheber aller Werdekraft, aller Weltenziele und aller Weltobjekte im Rahmen des Weltenwerdens durch den Menschen Jesus und den ihm einverleibten Christus all den „Hinausgeworfenen“, den „verlorenen Seelen“ ganz handfest als Auftrag und Verheißung gezeigt: werde wie er, indem du ihn in dir wirken lässt (also: in Form deines eigenen, freien Lebens-Werdens). Nur im Rahmen der Gesamtbewegung der Menschenentwicklung bekommt dieses Ereignis einen Sinn. Indem wir lernen, im „Buch des Lebens“ zu lesen, also in den in unserem Denken erfassten Bewegungen der Lebensvorgänge, bekommen einzelne Tatsachen so ihren guten Sinn.


Auch mit den Worten, die aus dem lebendigen Schaffen des Dichters heraus bis zu toten Buchstaben auf Papier geronnen sind, ist es so. Ihren wirklichen Sinn bekommen sie nur, wenn wir Zugang finden zu den sie hervorbringenden lebendigen Denk- und Lautbewegungen – niemals aus dem einzelnen Wort heraus oder gar aus dem, was wir gewohnheitsmäßig mit ihm verbinden.

Und auch die Sprache des Schicksals folgt diesem Gesetz: nicht die „Worte“, hier also die einzelnen Ereignisse im Gang des Lebens lassen uns diese Sprache verstehen; es sind erst die Bewegungen, welche die Abfolge der Ereignisse in unserem Leben veranlassen, durch die wir die Bedeutung der Ereignisse ermessen lernen. Wie im ewigen Gesetz von Leben und Tod, aus dem wiederum neues Leben aufsteigen soll, der Menschengeist sich selbst erschafft und sein Leben der Welt übergibt, so gibt die Sprache des Schicksals zwischen Sterben und Auferstehung dem Menschen erst den Sinn seiner selbst.

© Stefan Carl em Huisken 2023

1vgl. Schiller, Friedrich: Über Anmut und Würde. In: Schiller, Friedrich: Schriften. Schillers Werke. Band 4. – Frankfurt a.M. 1966, S. 141ff, besonders S. 170ff

2Tat dies der Gott nicht in ähnlicher Weise? Vgl. den Aufsatz „Wer ist Gott?“, https://emhuisken.de/wer-ist-gott/

3An einer eher praktischen Frage habe ich dieses Sich-Einverweben in den Weltenstrom ein wenig erörtert in meinem Artikel „Was hilft die Aufregung? – Die Kräfte wirksam nutzen“, hier: https://emhuisken.de/das-boese-was-hilft-die-aufregung-die-kraefte-wirksam-nutzen/


Cover Wahnsinn und Denken Menschen-Werden

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Wer ist Gott?

Ein mir sehr nahestehender Mensch, der durchaus genialische Züge hatte, sehr viel weiter dachte als viele andere und aus diesen Eigenschaften heraus künstlerisch tätig war – er malte, schrieb, erzählte Geschichten, verfasste Lieder und war im „Brotjob“ journalistisch tätig – pflegte auf die Frage nach Gott das Folgende zu antworten, sinngemäß:

„Mit Gott habe ich nichts zu tun. Entweder er ist allwissend, allweise, allmächtig – dann ist er für mein begrenztes Auffassungsvermögen zu groß, unfassbar, so dass ich mit ihm nichts anfangen kann. Oder er ist bloß mein Gedanke, dann ist er aber mir untertan und daher irrelevant, der Mühe nicht wert. Also habe ich mit ihm nichts zu tun.“

Dieser Mensch, der so dachte, ist an dem zugrunde liegenden Problem letztlich so nachhaltig gescheitert, dass er nur noch aus dem Leben scheiden konnte. Das hat ihn aber natürlich keinen Schritt weiter gebracht im Sinne einer Lösung.

Denn: wie, wenn er nun wirklich den allweisen, allmächtigen Gott gar nicht fassen konnte? Dann könnte er doch gar nicht beurteilen, ob er ihn fassen könnte in seinem Denken? Dann fehlte ihm doch der Urteilsmaßstab? Oder hat er da – unbemerkt – doch schon gleich sein eigenes Urteil über die eigene Begrenztheit Gott untergeschoben?

Und: wie, wenn er nun diesen Gott eben nur so denken könnte, wie er sich selber erkennt, nämlich begrenzt? Dann wäre Gott ihm ja „zu klein“ – ist er sich selber zu klein gewesen? War denn daran gar nichts zu ändern?

Man sieht schon an diesen relativ überschaubaren Fragen, wie sehr auch ein sonst klarer und scharfer Denker Wesentliches übersehen kann.

Die Sache hat ihren Ursprung darin, dass eben sowohl „Gott“ als auch „Ich“ als ein Statisches, also gleichsam „Fertiges“ gedacht werden – also ein Begrenztes. Das sind aber beide nicht; zumindest bei mir selber kann ich ja beobachten, dass ich mich entwickle, anders werde, vielleicht von Zeit zu Zeit sogar ein bisschen weiser – gottähnlicher? Da ich aber zunächst mich als Geschöpf ansehen muss von Mächten, die zu einem relevanten Teil außerhalb meines Bewusstseins liegen, von Mächten also, die ich einmal summarisch auch als „Gott, der Unbegriffene“ oder einfach als „Götter“ bezeichnen könnte, gleichzeitig aber die Entwicklungsfähigkeit grundsätzlich in mir angelegt ist, kann diese Fähigkeit – jedenfalls, soweit ich sie mir nicht eindeutig selber angeeignet habe – nur von eben diesen Mächten in mich gelegt worden sein. Sie müssen sie also besitzen, oder zumindest besessen haben, als sie diese Fähigkeit in mir anlegten. Damit sind aber sowohl „Gott“ bzw. die „Götter“ als auch ich im Grundsatz unbegrenzt, denn Entwicklung aus sich selbst heraus kennt erst einmal keine prinzipiellen Grenzen.

Warum also sollte nicht Gott mich als begrenztes Wesen in seine Allmacht aufgenommen haben? Denn wie entstehen Allmacht und Allweisheit? Nur aus begrenzter Macht und Weisheit, die sich selber aus sich selbst entwickeln. Woher sollte Gott seine Allweisheit und Allmacht haben als aus sich selbst? Es kann kein Wesen über ihm geben, sonst wäre er ja eben nicht – Gott, der Allweise und Allmächtige.

Also schuf er den Menschen zu seinem Bilde. Und das Bild musste alles in sich tragen, was Gott ausmacht, aber so, dass das Bild zugleich all dies erst noch aus sich selber entwickeln musste: die Allweisheit und Allmacht zum Beispiel. Denn sonst wäre es ja nicht das Bild Gottes.

Gott ist frei – Allweisheit und Allmacht sind bloß Attribute dieser Freiheit. Und zugleich ist er der Träger der Allliebe, denn er schenkt seine Freiheit, mit der Allweisheit und Allmacht, seinem Bilde, gibt sein Bestes hin. Aber er schenkt es so, dass sein Bild von alledem nichts kennt, nichts weiß, sich die Erkenntnis und das Wissen erst erarbeiten muss – als eben etwas Begrenztes, aber Entwicklungsfähiges. Den Menschen also, uns selber hat er dann erschaffen. Und der trägt in sich, in jedem Exemplar, den Gott, als Gedanken, als Bild, als Antrieb, als Wille also, als Ziel seines Wollens.

Ist der Mensch bereit, den Gott in sich, in seiner Welt, in jedem anderen Menschen so zu lieben, dass er bereit ist, seine eigene Entwicklung dem Gotte, dem anderen Menschen als Bild des Gottes, ja, auch sich selbst als Gottes Bild zu opfern, so wird er seinem göttlichen Kern und Ursprung gerecht, realisiert durch sich, was er erst werden soll.

Lehnt der Mensch sich aber bequem zurück, dann muss er damit rechnen, dass Gott es ihm gleich tut. Indem der Mensch also seine eigene Entwicklung nicht selber erringen will, sondern sie sich vom Gotte schenken lassen, so wird er erleben, wie der Gott ihn, den Menschen, gleichgültig verschmähen wird, ebenso wie der Mensch es verschmäht, sich dem Gotte hinzugeben.

Wenn der Gott sich durch den Menschen selber neu erschaffen will, so muss er seine Freiheit und damit Allweisheit und Allmacht dem Menschen schenken, in Allliebe. Und dann ist es am Menschen, ob er diese Allliebe erwidern will, in der Hingabe an sein Schicksal, das ihm den Gott vorstellt. Tut er das nicht, dann vernichtet er zugleich sich selber, denn wo kein Mensch, der den Gott erschaffen will, in fortwährender Selbstentwickelung, da ist auch kein Gott, der sich zum Menschen machen will.

So ist das eben mit der Freiheit. Sie kann sich nur in Liebe zum Fremden selbst erschaffen, oder sie zerstört sich selbst.

Der Mensch, den ich eingangs schilderte, hat diesen grundlegenden Gedanken der Entwicklung nicht denken können. Sonst hätte er im Leben – also in seiner Entwicklung in der Welt – bleiben können. Was in ihm noch lag an möglichen Liebestaten in der Welt – und ich bin sicher, das war noch viel –, ist nun für dieses sein Leben und das seiner Zeitgenossen zunächst verloren. Aber es ist ja nicht weg, einfach weg. Es ist jetzt dort, wo eben sein Unbewusstes lag, das Unbewusstsein der grenzenlosen Entwicklung – in uns allen also, die wir doch Tag für Tag im Alltag uns ähnlich benehmen wie dieser Mensch, indem wir überall Grenzen sehen, die wir nicht übersteigen zu können vermeinen.

Eine dieser Grenzen ist der Tod – aber woher wollen wir eigentlich wissen, dass der Tod eine absolute Grenze ist, nicht nur eine Schwelle, die wir im Entwicklungsgang von Zeit zu Zeit zu überschreiten haben, ebenso wie die Geburt? Wenn unsere Entwicklungsmöglichkeit vorhanden ist, wir also prinzipiell grenzenlos, dann können wir uns auch in unser und des Gottes Ewigkeit hinein entwickeln, also: Gott werden, allweise und allmächtig. Und Gott erschuf den Tod. Also steht er über ihm. Auch wenn der Tod – das eigene Geschöpf – ihm erst die Möglichkeit des ewigen Lebens in der Auferstehung verschafft. Und daran sind wir Menschen nicht ganz unbeteiligt.

Ein Beweis, dass Menschen auch im Tode noch ihre Entwicklungsimpulse fassen können, ist diese kleine Erzählung und Erörterung. Weil der Mensch, von dem ich ausging, so war, wie er war, und danach handelte, entstand dieser kleine Aufsatz. Ohne diesen Menschen wäre das wohl nicht in der gleichen Weise geschehen. Da hat der „Tote“ wohl durch mich seinen Ausdruck gesucht; einen eigenen Leib in der Welt hat er ja gerade nicht zur Verfügung, um das hier Dargestellte zu erleben, zu denken, zu schreiben. – Sind die Toten eigentlich wirklich tot, also „aus der Welt“?

Und ja. ist Gott tot? Haben wir etwas damit zu tun?

© Stefan Carl em Huisken 2023


Cover Wahnsinn und Denken Gott

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Geistwesen Mensch

Ein etwas ungehöriger Aufruf

Es ist sinnlos, es leugnen zu wollen: der Mensch ist ein Wesen, dessen Urkern Geist ist, nur Geist und nichts anderes. Macht er sich Gedanken über seine Substantialität, so sind diese Gedanken eben – Geist. Oder woraus bestehen Gedanken sonst? Wenn wir glauben, Gedanken seien nur eine Illusion und eigentlich elektrische Ströme im Gehirn, so ist eben dieser Glaube – ja, was denn, nichts als Geist! Denn erst müssen die Gedanken über elektrische Ströme, Gehirn usw. gebildet werden, durch den Menschen, ehe wir daran glauben können. Und sie sind unsichtbar, nicht-sinnlich, un-sinnlich. Im Übrigen genauso wie der (gedachte!) Strom, den auch niemand sehen kann, betasten, sinnlich erkunden; man kann nur messen (oder spüren), was man für seine Wirkung hält aufgrund dieser oder jener Theorie, die eben jemand – gedacht hat. Es hilft also nichts: wenn wir versuchen, des Menschen innerstes Wesen zu ergründen, eben das, was gerade im Ergründen-Wollen tätig wird, finden wir nur Geist.

Sicher, der Mensch hat allerlei andere Dinge, die er sein Eigen nennt – Leib, Welt, Seele, Gefühle, Gedanken, Ideale, Vorlieben, Abneigungen etc. pp. –, und davon sind einige sehr handfest und materiell. Aber lange nicht alle. Oder haben Sie schon mal eine Wut gestreichelt? Na also, auch beim Haben ist lange nicht alles geist-los, manches sogar reiner Geist, wie z.B. die Wut – oder die Gedanken, siehe oben.

Warum aber diese Auseinandersetzung überhaupt? Nun, ganz einfach. Der Mensch will doch wissen, wer er ist, wo er herkommt und wohin er geht. Darüber ist uns allen eingetrichtert worden, dass wir z.B. aus organischer Materie entstanden sind, mehr oder weniger zufällig, und beim Tode würde diese wieder zerfallen, und dann sind wir eben einfach weg. In der Kirche gibt es vor allem über das Letztere noch andere Geschichten, aber bei denen wird dann gleich dazu gesagt, dass man das alles nicht wissen könne und daher eben glauben müsse. Aber woher wissen das dann die, die uns das erzählen? Können die uns nicht viel erzählen, was dann vielleicht – o Schreck – am Ende gar nicht wahr ist? Im Ergebnis wird uns also eingetrichtert, dass wir eine zufällige, also sinnlose Zusammenballung organischer Materie sind, die eben kommt und geht, egal. Und wer das nicht glauben will, glaubt eben den Priestern und lässt sich von denen gängeln, einfach weil das vielleicht besser gefällt. Einen Sinn im eigenen Leben kann man so jedenfalls nicht wirklich finden.

Bemerkt der Mensch aber, dass er ein Geistwesen ist (und – konsequent gedacht – dann alle anderen Menschen ebenso wie Tiere, Pflanzen, Steine, Engel, Teufel, Seelenregungen, Gedanken, Ideen, Irrtümer, Wahrheiten, Lügen und so weiter auch), dann hat er sofort andere Möglichkeiten, sich über das eigene Woher und Wohin aufzuklären. Denn er weiß jetzt eines: alles, was er da finden kann bei seiner Suche, ist ebenso wie er selber Geist. Alle Teufel, alle Götter, alle Schöpfungstaten usw. sind Glieder derselben geistigen Welt, in der der Mensch jeden Tag und jede Nacht lebt, und der er nicht entfliehen kann, weil es grundsätzlich gar keine andere Welt gibt. Alles, was ist, entstammt für uns heutige Menschen in dem Augenblick, wo wir es erkennen, uns selber, unserer Welt, also: der geistigen Welt. Es gibt kein Entrinnen.

Dafür aber grandiose Erkenntnismöglichkeiten. Denn wenn ich die Situation, die ich so feststelle, weiter durchdenke, finde ich nach und nach die Elemente, die dazu geführt haben, dass ich mir jetzt über mich als Geistwesen klar werde. Ich finde also durch mich, selber, ohne Gängelpriester, Wege zur allmählichen Erkenntnis meines realen Ursprunges. Der reale Ursprung meiner Selbst ist nämlich da, wo ich beginne, über mich, den Menschen, nachzudenken, und dieses Nachdenken auch bemerke. Die Erzählungen von Zusammenballungen organischer Materie als von meinem Ursprung sind Geschichten von Gängelpriestern der materialistischen Welttheorien des 19. Jahrhunderts, die man mir bloss eingebläut hat. Vielleicht wusste man es einfach nicht besser. Warum solche Theorien vielleicht daneben auch eine Zeitlang notwendig waren, darüber vielleicht ein anderes Mal.

Für jetzt reicht erst einmal die Feststellung: der Mensch – also ich – ist/bin ein Geistwesen unter vielen anderen Geistwesen. Mein Ursprung ist nur im Geiste fassbar, daher also geistig. Dann wird es meine Zukunft wohl auch sein. Also auf, lasst uns die Zukunft ergründen – im Geiste!

© Stefan Carl em Huisken 2023


Cover Wahnsinn und Denken Geistwesen

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




So kann es nicht weitergehen

Ausgangslage

Die Welt ist ohne Zweifel in Aufruhr. Unversöhnliche Standpunkte stehen einander gegenüber und bekämpfen sich praktisch unbegrenzt. Einen wirklichen Ausweg kennt jede Seite immer nur im Rahmen ihrer eigenen Vorstellungen – die andere Seite muss klein beigeben, sagt man. Das sind ja ganz offensichtlich keine Auswege, sondern nur Wege zu immer weiteren Kämpfen und Katastrophen. Und immer neue, immer größere Gegensätze werden beschworen, in denen sich die Parteien über die Erde hin zu vernichten trachten können: in bezug auf den Zustand der Erde als Wohnort für Pflanzen, Tiere und Menschen, in bezug auf das Wirtschaften der Menschen und ihre Lebensmöglichkeiten auf der Erde, in bezug auf dasjenige, was jede Partei als Menschlichkeit ansieht, und so weiter, und so fort. Wo ist da ein Ausweg, oder ein Weg zur Überwindung der Situation zu sehen?

Was am meisten auffallen kann, das ist die Ausschließlichkeit (im wörtlichen Sinne), mit der die unterschiedlichen Gruppen von Akteuren ihre Auffassungen zur Geltung bringen wollen. Immer wird der andere, der Gegner oder Feind, als unmenschlich, unwert, böse, zerstörerisch oder anderweitig nicht zur eigenen Art gehörig gekennzeichnet. So sind aus der in Europa derzeit herrschenden Sicht die Angehörigen östlicher Gesellschaften entweder unmenschliche Apparatschiks, Diktatoren, bornierte Ideologen, menschheitszerstörende Aggressoren oder eben von diesen grässlichen Monstern versklavte arme Individuen; aus der Sicht östlicher Gesellschaften stellt sich dies ganz anders dar, da ist es eine im Westen rücksichtslos herrschende, das Daseinsrecht aller anderen Menschen missachtende egoistische sogenannte „Elite“, die die Menschheit durch ihre Uneinsichtigkeit und Unersättlichkeit an den Rand der Gesamtvernichtung im Atomkrieg treibt. Die „integralen Nationalisten“ der Ukraine – die Verehrer des unter dem nationalsozialistischen Regime brutal mordenden Stepan Bandera – die inzwischen die ukrainische Rasse per Gesetz als über allen anderen stehend erklärt haben und Russen nur „abschießen wollen wie Schweine“ (Originalton eines ukrainischen Funktionärs) – haben Förderer in aller Welt, und werden dort als „Vorkämpfer westlicher freiheitlicher Ideologie“ dargestellt. Ebenso gilt auf der anderen Seite der im Krieg gefallen Soldat der Ukraine nicht als Mensch, sondern als Sache, die man „vernichtet“ hat. Schon mehren sich Stimmen in den Kreisen der Befürworter der russischen Seite, die Ukrainer wegen der von ihnen vollführten Brutalitäten als „Untermenschen“ bezeichnen.

Wer so redet, handelt auch so. Alle Gründe, die von der einen oder anderen Seite geltend gemacht werden, mögen ihre Berechtigung haben; es ist aber einerlei, aus welchem Blickwinkel man immer die andere Seite zu entmenschlichen trachtet. Die Sichtweisen sind insofern gleich, als sie immer die andere Seite ausschließen, für ungültig erklären und nicht als einen für Menschen möglichen Gesichtspunkt akzeptieren wollen.

Um solche Akzeptanz wird man allerdings nicht herumkommen. Erstens zeigt man sich selber durch diese Ausschließerei um nichts besser als die andere Seite, und zweitens wird es nicht angehen, dass nur eine Gruppe Menschen ihre Gesichtspunkte für allgemeingültig allen anderen aufzwingt. Dafür sind wir einfach zu viele auf der Erde. Und meint man denn wirklich, dass man die Hälfte, oder – wie ja manche Transhumanisten meinen oder wünschen (siehe Yuval Harari) – 80 % der Menschheit ausrotten sollte, damit der Rest dann so leben kann wie er will? Was für eine Art „Menschen“ ist dann dieser Rest?

Nein, so wird es nicht gehen. Das haben die Menschen seit Jahrhunderten versucht: immer die „Anderen“ auzurotten, zu drangsalieren, zu versklaven oder anderweitig „unberücksichtigt“ zu lassen. Heute würde dieser Versuch zu irgendeinem Zeitpunkt der Eskalation unweigerlich zum Ende aller Menschen führen. So kann es eben nicht weitergehen.

Warum?

Woran liegt es denn – einmal versucht, gewissermaßen „von oben“ auf die Verhältnisse zu blicken – dass diese Kämpfe so zerstörerisch immer weiter eskalieren, und nirgends ein wirklicher Ausweg sichtbar ist?

Es liegt vielleicht – wie bei fast allem, was wir heute erleben – an den einzelnen Menschen und ihren persönlichen Auffassungen, Wünschen und Absichten. Soll eine solche Feststellung nicht einfach nur abstraktes Gejammer sein, so wird sie konkretisiert werden müssen; das soll nun hier versucht werden.

Einig sind sich doch alle Seiten immer darin, dass sie selber, und nur sie selber die Wahrheit vertreten, wissen, wie ein gutes Leben des Menschen auszusehen hat und so weiter. Dabei geht der Zeitgenosse ganz unwillkürlich von den Gedankenformen aus, die er als unserer Zeit entsprechend eingeprägt bekommen hat. Und diese Gedankenformen laufen eben darauf hinaus, dass der einzelne, im Erdenleben stehende Mensch nur diese eine irdische Existenz hat, und mit deren Ablauf auch seine eigene Individualität erledigt ist.

Solch eine Haltung hat ja ihre Berechtigung, wissen wir doch nur dadurch, dass wir uns einer ohne unser bewusstes Zutun gegebenen Außenwelt gegenüber erleben, überhaupt von unserer eigenen Existenz. Und dieses Wissen ist uns lieb und teuer – wir wollen es auf keinen Fall missen, warum wir uns auch an diese eine Existenz klammern und nicht vor ihr lassen wollen. Und zu dieser Existenz gehören eben auch die eigenen Meinungen, Wünsche und Absichten, die man darum auch in diesem einen Leben realisieren möchte.

Damit ist aber notwendig der Einzelne zu einem gewissen Egoismus verdammt. Denn auch, wenn er sich „philanthropisch“ gebärdet, tut er das in der Regel nicht, weil er andere über sich selber stellt, sondern weil er selber gut und moralisch sein will, also den eigenen Auffassungen von Moral entsprechen. Womit er wieder in den eigenen Meinungen von „Gut“ und „Böse“ gefangen ist.

Man kann ja gar nicht abstreiten, dass die vielen Vorschläge – von welcher Seite auch immer – wenn sie zu einer allgemeinen Auffassung aller Menschen würden, vielleicht hilfreich und gut wären. Aber sie sind eben nicht allgemeine Auffassung aller, und lassen sich auch nicht allen anderen aufzwingen, wie viel man das auch versucht. Damit wird klar, dass all diese Denksysteme Utopien sind, ideal gedachte Systeme, die immer nur für den Teil der Menschheit Gültigkeit haben, der unter ihrem Einfluss steht. Damit sind all diese Systeme Ideologien: Versprachlichungen von Ideensystemen, die irgendwer irgendwann ausgedacht hat und die nun alle anderen beglücken sollen. Damit verkennen alle diese Denksysteme aber notwendig die Tatsache, dass sie eben nicht alleine sind auf der Erde. Das Paradies lässt sich wohl denken, aber nicht auf der Erde realisieren. Jeder Versuch einer solchen Realisierung kann nicht anders als egoistisch sein – für einen Einzelnen, eine Gruppe, einen Teil der Menschheit eben. Ideologien sind also die Grundlage für den Illusionismus und die Brutalitäten, die die Menschheit derzeit zu zerreißen scheinen.

Unsere Welt ist in diesem Sinne durch-ideologisiert.

Geht es anders?

Wie aber kann der Einzelne sich zu einem Gesichtspunkt aufschwingen, der das Ganze der Menschheit einschließt und die einzelne, persönliche, individuelle Handlung von dort aus betrachtet und beurteilt?

Wer nur genügend will, kann das leisten – der Mensch ist in seinen Gedankenbildungen frei. Wer also will, kann den Versuch machen, sich selber als ein Glied in der Gesamtentwicklung der Menschheit zu betrachten, und zwar als dasjenige Glied, in dem die Gesamtmenschheit und ihre Entwicklung ins Bewusstsein treten kann. Ob er sich so betrachtet, ist seine eigene Entscheidung, die jeder Mensch insbesondere bei vorbehaltloser Anschauung des zerstörerischen Charakters aller ideologischen Einzelgesichtspunkte auch treffen kann.

Was uns in der Regel hindert, einen solchen Gesichtspunkt für uns selber einzunehmen, ist die Bindung an die eigene, als einzig angenommene irdische Existenz. Denn die würde dann ja eventuell vom übergeordneten Gesichtspunkt aus sich ganz anders darstellen als ich es gewohnt bin – vielleicht viel weniger bedeutend, als ich mich selber immer gefunden habe, oder – vielleicht noch beängstigender – viel bedeutender (und darum noch viel wichtiger als alle anderen ….).

Vor allem wäre dann ja sozusagen die Grundlage weg, auf der ich immer alle Verantwortung auf die Urheber der mich jeweils tragenden Ideologie abwälzen kann. Und – das mag sehr ketzerisch klingen, gilt bei genauer Betrachtung aber uneingeschränkt – auch die Auffassung, dass der Mensch nur eine Existenz habe und diese sich in seinem materiellen Sein erschöpfe (alles Seelische und Geistige insofern nur ein Ergebnis materieller Prozesse sei und damit sekundär) ist eine Ideologie. Allein die Tatsache, dass man zur Formulierung dieser Auffassung das Denken benötigt – also durch Denken die Determiniertheit des Denkens feststellen will – zeigt, auf welchem Terrain man ist. Da ist ziemlich viel Glatteis. Warum kommt denn das determinierte Denken darauf, sich selber als determiniert anzusehen? Warum soll die Materie sich als allein gültiges Sein zeigen, indem sie im Menschen das Denken erzeugt, durch das sie diese Alleingültigkeit feststellt? Da haben wir manchen Zirkelschluss.

Wenn aber meine bisherige Art zu denken – immer bestimmt durch Auffassungen, die mir durch die Verhältnisse der Welt eintrainiert sind von Geburt an – nicht weiterführt, und wegen ihrer Bindung an den irdischen Einzelmenschen notwendig egoistisch und zerstörerisch werden muss, wo finde ich dann einen sicheren Halt? – Gar nicht. Den muss ich mir selber geben. Das ist eben der Charakter der Freiheit, dass sie sehr anstrengend ist, weil man alle Grundlagen selber immer wieder neu auferbauen muss.

Das ist auch etwas, was es für z.B. mittelalterliche Menschen gar nicht gab. Damals war die Welt nicht in derselben Weise materialistisch durchideologisiert wie heute. Auch viele östliche Gesellschaften leben heute noch in ganz anderen Verhältnissen als wir westlich ge- oder verbildete Menschen. Wenn wir auf dieser Erde zusammen leben wollen, müssen wir einander verstehen, und „Verstehen“ bedeutet eben für verschiedene Menschen auch Verschiedenes. Ist nicht die Auffassung allgemein vorherrschend, wir Heutige allein hätten der Weisheit letzten Schluss gefunden, viel mehr jedenfalls als unsere Vorfahren? Sind wir nicht einfach nur ganz anders als sie, und können sie erst wieder verstehen, wenn wir uns in ihre Art des Verstehens hineindenken können?

Und ein Weiteres ist zu bedenken. Wer sich als Glied einer Entwicklung betrachtet, orientiert sein Urteil an einem Prozess, dessen Gesamtheit sich ihm erst nach und nach aus seinen eigenen Verständnisbemühungen ergibt. Ein solcher Mensch schafft also maßgeblich an seinen eigenen Urteilsgrundlagen mit, kennt sie darum genauer und kann sie von den einzelnen Objekten und den an sie geknüpften Sympathien und Antipathien loslösen. Dadurch kann er sich selber zum Objekt werden und bei ausreichender Bemühung auch wahrheitsgemäßer beurteilen lernen. Manch einer fürchtet sich davor – also vor sich selber, ungeschminkt betrachtet. Die Verlässlichkeit des eigenen Urteils gewinnt aber dadurch.

Freiheit

Die Freiheit, in die der Einzelne gestellt ist in unserer Zeit, existierte für unsere Vorfahren gar nicht in derselben Weise. Darum waren die Gesellschaften der Vergangenheit auch anders konfiguriert. Sie waren darum nicht schlechter oder besser als unsere heutige – für uns Heutige würden sie vielleicht gar nicht mehr passen, das stimmt – sondern einfach nur für andere Menschen. Die Menschen entwickeln sich ja auch durch die Jahrhunderte und Jahrtausende.

Und für uns heutige ist eben die Freiheit, selber für das eigene Denken einzustehen und es zu verantworten, ein Ergebnis der Verhältnisse. Wir können ja sehen, dass keine der Parteien für die ganze Menschheit spricht. Wenn wir diesen Gesichtspunkt geltend machen wollen, den der Gesamtmenschheit, können wir damit nur bei uns selber anfangen, aus freiem Wollen. Diese Freiheit schließt aber zweierlei ein:

  • die Einsicht, dass jeder andere Mensch prinzipiell in derselben Lage ist in Punkto Freiheit
  • die Einsicht, dass jede Ablehnung der eigenen Freiheit und der an sie gebundenen Absichten zu eben jenen Sichtweisen – Ideologien – gehört, die andere Menschen-Meinungen ausschließen müssen, notwendig also gegen die Freiheit aller Andersmeinenden gerichtet sein muss. Es gibt in diesem Zusammenhang auch eine Ideologie der „Meinungsfreiheit“, die darin besteht zu sagen, dass es eben keine Wahrheit gibt, nur Meinungen; eine solche Ansicht rechtfertigt darum die derzeitige Menschheitssituation, in der sich eben die Meinungen durch Macht bekämpfen, und erklärt sie für dauerhaft unvermeidbar. Wenn nun jemand sagt, Machtdemonstration sei in diesem Fall nicht zulässig, stellt er wieder seine persönliche Auffassung von Moral über die des Anderen, der vielleicht meint, Meinungen könnten sich nur durch Machtausübung und Erfolg oder Misserfolg im Leben als wahr oder unwahr herausstellen. Das hilft also auch nicht weiter. Nur die Freiheit gibt einen Ausgangspunkt, der keinen anderen ausschließt.

Es handelt sich also um eine Grundsatzentscheidung, entweder aus freier Entscheidung sich (die aktuelle irdische Person) zum Funktionär der Entwicklung der Gesamtmenschheit zur Freiheit zu machen, oder die eigenen, irdischen Parteiinteressen über andere, widerstrebende Interessen zu stellen.

Freiheit ist anstrengend, wie schon gesagt.

Übersicht schafft Zusammenhang

Denkt man genau, so wird schnell klar, dass mit Einbeziehung der Freiheit jeder Mensch in seiner Gänze nur verstanden werden kann, wenn er nicht auf einen irdischen Lebenslauf (und schon gar nicht auf das dabei stattfindende Innenleben der Seele) begrenzt gedacht wird, sondern seine Voraussetzungen (äußerlich-leiblich, seelisch, geistig) ebenso wie die Wirkensfolgen durch seine Taten (ebenso äußerlich-leiblich, seelisch, geistig) ihm auch zugerechnet werden. Der Gedanke einer – wie immer im Einzelnen auch gedachten – wiederholten Verkörperung der menschlichen Individualität wird damit unabweisbar. Unvollkommenheiten und Misserfolg in diesem einen irdischen Leben können dann in anderem Licht erscheinen.

Eine Tat ist es dann auch, ob sich ein Mensch entscheidet, sich auf die Suche nach seiner wahren Aufgabe im Menschheitsganzen zu machen, indem er sich frei macht von den Vorbetern der verschiedenen kirchlichen, wissenschaftlichen und anderen ideologischen Denksysteme und Schulen. Es kostet diese Entscheidung jeden Tag immer wieder Kraft, die vor allem dafür aufgewendet werden muss, das eigene Denken, Fühlen und Tun daraufhin zu durchleuchten, ob es wirklich eigenes ist, oder doch nur wieder Nachgeplapper welcher Ideologie auch immer.

Jeder Einzelne kann diese Kraft aber aufbringen, sie ist in uns allen angelegt. Wir müssen sie nur gebrauchen, üben, immer weiter entwickeln.

Vollmenschliche Zukunft

Der Weg in eine vollmenschliche Zukunft der Menschheit insgesamt geht damit durch den frei und bewusst sich in den Dienst an dieser Zukunft stellenden individuellen Menschen, der damit einem allgemeinen Gesetz dient, ohne ihm unterworfen zu sein, ohne also seine Freiheit einzubüßen. Der Mensch ist in diesem Sinne die Auflösung des Dilemmas, in das er hinein gestellt ist.

Der einzelne Mensch, der sich darum bemüht, erkennt von dieser Warte aus den auch irdisch-persönlichen Wert seiner individuell erlebten Welt – einschließlich aller darin vorkommenden Menschen* – für die eigene Weiterentwicklung ebenso wie für diejenige aller anderen. Und er kann dabei lernen einzusehen, wie ohne den frei denkenden Menschen – also konkret ohne ihn selber – keine vollmenschliche Entwicklung in die Zukunft hinein möglich ist. Sonst regieren weiter Ideologien über die Menschen, bis hin zur völligen Zerstörung.

So wie bisher kann es eben nicht weitergehen.

© Stefan Carl em Huisken 2022

*In gewissem Sinne kommen ganz grundsätzlich ja mittelbar alle Menschen in jeder individuellen Lebenswelt vor. Der Einzelne ist sich ihrer nur in unterschiedlichem Grad bewusse, je nachdem sie ihm näher oder ferner stehen.



Cover Wahnsinn und Denken Ideologien

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Über die Notwendigkeit des Weltunterganges

Vorbemerkung – über das Umdenken

In unserer Zeit häufen sich die Stimmen, die ein grundsätzliches Umdenken fordern, eine ganz neue Grundlage für die Gestaltung des äußeren Lebens der Menschen. Die alte Art, darüber zu denken, sei abgelebt und zeige ja an ihren Folgen, dass sie den Anforderungen, die mit dem Ziel eines menschenwürdigen Lebens für alle verbunden sind, nicht gerecht werden könne.

Einer solchen Auffassung kann man ja nur zustimmen. Dass das alte Denken und die daraus hervorgegangene Einrichtung des Lebens nicht mehr taugt, ist offensichtlich. Allein die Frage, wie denn so ein grundsätzliches Umdenken möglich wird, findet in all den Beteuerungen seiner Notwendigkeit kaum eine Antwort.

Die alte Art der Weltgestaltung hat abgelebt, also gehen wir daran, eine neue, dem Menschen und seinem Geist gemäße aufzubauen. Einen Beitrag, vielleicht den entscheidenden Beitrag dazu lieferte Rudolf Steiner mit dem Aufbau der anthroposophischen Geisteswissenschaft. Kaum ein Kulturimpuls der neueren Zeit ist so entschieden von den Vertretern des überkommenen Wissenschaftsbetriebes ebenso wie von christlichen und anderen Religionsgemeinschaften abgelehnt und bekämpft worden – und wird es noch. Man sieht daran: nichts ist den Menschen so unbequem, ja unannehmbar, wie die Forderung, sich selbst und seine Art des Umganges mit der Welt radikal in Frage zu stellen und neu zu gestalten; genau darum ging es aber Rudolf Steiner.

Dennoch finden manche Ergebnisse anthroposophischer Geisteswissenschaft immer wieder neue Freunde: in der Medizin, der Pädagogik, der Landwirtschaft, den Künsten und in anderen Bereichen nimmt man die Anregungen gerne auf. Denn da hat man Rezepte, so glaubt man, die man nutzen kann, um nur ein bisschen etwas anders zu machen, damit das Leben angenehmer wird.

Aber so wird natürlich aus dem von Rudolf Steiner angestrebten Umdenken nichts. Wenn umgedacht werden muss, ganz grundlegend, dann ist mit kosmetischen Maßnahmen wie den genannten Rezepten nichts getan. Auch diese Rezepte werden nur so lange ein wenig funktionieren, wie in ihnen der Geist der anthroposophischen Geisteswissenschaft oder zumindest ein Rest seiner Tradition waltet. Die Entkräftung vieler anthroposophischer Initiativen im Leben der Welt wird immer offensichtlicher; von manchen ihrer Vertreter wird sogar aktiv die Anpassung an die Gebräuche der gewordenen Lebenswelt gefordert und gefördert. Man will also der immer mehr krisengeschüttelten Lebenswelt der Menschen einen neuen, aufbauenden Impuls einflößen, indem man sich an sie anpaßt. Das kann nicht funktionieren.

Versucht man dagegen, die Lösung scheinbar vordringlicher äußerer Probleme zurückzustellen, um zunächst an die Wurzel zu gehen und die Methoden solcher Problemlösung in Frage zu stellen zugunsten grundsätzlicher Erwägungen über den Menschen und sein Weltendasein, wird man leicht als weltferner Spintisierer angesehen, der das wirklich praktische Leben nicht achtet. Ein bisschen hat diese Haltung etwas von Bertold Brechts paradigmatischem Ausspruch: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“. Man mache also – egal wie – erst einmal den Menschen das Leben erträglich bis angenehm, dann werden sie schon die Motivation und die Kraft zum Umdenken aufbringen – so übersetze ich mir das.

Was aber, wenn die Lösung der lebenspraktischen Probleme nicht gar mehr gelingt ohne ein grundsätzliches Umdenken, vielleicht auch diesen Satz von Brecht betreffend? Wie, wenn unter dem Einfluss der mit Brechts Ausspruch verbundenen Ideologie dieses Umdenken schon lange unterdrückt wurde und nun inzwischen auch darum mehr als überfällig ist? Rudolf Steiner sah jedenfalls die anthroposophische Geisteswissenschaft als Impulsgeber für ein solches, schon lange überfälliges Umdenken.

Wer nun aber versucht, wirklich selbständig denkend die Wege solcher Geisteswissenschaft zu wandeln, sieht sich schnell mit der Aussage konfrontiert, diese Geisteswissenschaft sei unverständlich und daher wenig hilfreich; und man wendet sich wieder ihren „leichter verständlichen und nützlichen“ Ergebnissen zu. Dazu äußerte sich Rudolf Steiner unmissverständlich: „Es muß unsere Wissenschaft so sein, daß sie mehr Verstand notwendig macht, als man bisher anzuwenden gewohnt ist. Wenn man sagt, die Geisteswissenschaft kann man nicht verstehen, so liegt es aber nicht daran, daß man nicht genügend Verstand hat, sondern daß man nicht genügend Verstand anwenden will. Darüber möchte man sich gerne täuschen. Würde man so viel Verstand anwenden, wie der Mensch haute schon aufbringen kann, so würde man die Geisteswissenschaft schon verstehen.“1

Wer dazu neigt, in der anthroposophischen Geisteswissenschaft den unserer Zeit so offensichtlich notwendigen Impuls der Erneuerung des menschlichen Weltenlebens zu sehen, wird also gut beraten sein, wenn er sich in seinen Bemühungen um die Vertiefung der geistigen Grundlagen für eine Umkehr im menschlichen Weltenleben von solchen Einwänden wie den eben angedeuteten nicht von seinem Weg abbringen lässt. Wer die Lösungen für die Probleme, vor die eine immer mehr zerfallende, absterbende Welt den Menschen stellt, nicht in dieser Welt selbst, sondern in dem diese Welt tragenden und in ihr wirkenden Geist suchen will, wird sich unbeirrt zunächst in diesen Geist zu vertiefen haben da, wo er jedem Menschen heute zugänglich ist: im eigenen, individuellen Weltenleben des Ich, einem Leben, das allen Menschen heutzutage gemeinsam ist.

In diesem Sinne ist dieser kleine Aufsatz gedacht. Er soll einen möglichen Weg des grundstürzenden – und grundsätzlichen – Umdenkens aufzeigen, der den immer deutlicher werdenden Anzeichen des Unterganges derjenigen Welt, in der wir gewohnt sind zu leben, entgegengehalten werden kann. Wer sich ernsthaft bemüht, den hier angedeuteten Weg der Vertiefung zu beschreiten, wird beim Aufbringen der notwendigen Aufmerksamkeit bald bemerken, wie viele der getroffenen Aussagen – recht verstanden – unmittelbar lebenspraktische Hinweise geben können. Sie ergeben sich dann allerdings unmittelbar und selbständig aus dem Nachvollzug der geschilderten Denkwege, und erfordern keine vorgegebenen Rezepte, sondern folgen nur aus dem ernsthaften Erkenntnis-Suchen und Erkenntnis-Schaffen des individuellen, sich seiner selbst bewusst werdenden Menschen. Dem Leser sei in diesem Sinne viel Erfolg gewünscht.

Was ist die Welt?

Diese Frage beschäftigt seit Urzeiten die erkenntnissuchenden Menschen. Sie ist bis heute allerdings ungelöst und wird es vorerst wohl auch bleiben. Eine einmalige und dann dauerhaft gültige Lösung ist nämlich gar nicht möglich – die Zeiten ändern sich, und mit ihnen die Welt –, und wird darum hier auch gar nicht angestrebt. Was versucht wird, ist lediglich die Beschreibung einer heutzutage wohl für viele gültigen Situation, vom Gesichtspunkt des denkenden, um Wahrhaftigkeit bemühten Menschen.

Diesem Menschen tritt dasjenige, was er Welt zu nennen gewohnt ist, zunächst als in sich selbständig und vom Menschen unabhängig existierende Zusammenstellung von Gegenständen entgegen, die vom Menschen zwar in ihrer Existenz und in ihrem Zusammenwirken erlebt, aber vorerst nicht letztgültig und vollständig begriffen und erklärt werden können. Wir erleben in der Welt also unmittelbar ihre von uns selber unabhängige Existenz, nicht aber das Walten derjenigen Kräfte und Mächte, die ihren jeweiligen Zustand hervorbringen und bestimmen. Was wir erleben, ist also Werk, fertiges Ergebnis, nicht Wirken und auch nicht unmittelbare Offenbarung des in dieser Welt waltenden Wesens.

Nun hat diese von jedem Menschen individuell erlebte Welt als eines ihrer hervorstechenden Charakteristika die Eigenschaft, dass alles in ihr Vorkommende früher oder später abstirbt, ein Ende findet und vergehen muss, um einem Neuen Raum zu geben2. Dazu gehört letztlich auch unsere eigene erlebende Anwesenheit in dieser Erdenwelt, denn diese Anwesenheit ist daran gebunden, dass wir einen Leib haben, durch den wir erleben und wirken können. Dieser Leib ist aus Stoffen und Kräften der Welt auferbaut und damit wie alles in der Welt vergänglich. Ohne den Leib haben wir aber vorerst keine Möglichkeit des Welterlebens. Insofern geht also die individuelle Welt eines jeden Erdenmenschen mit seinem Tod unter, löst sich auf.

Der Bemühungen, diesen persönlichen Weltuntergang zu verhindern, aufzuschieben, aus dem Bewusstsein zu verdrängen oder in etwas Wünschenwertes umzudeuten, gibt es viele. Dazu gehören die Verkündigungen von einem Eingang ins göttliche Paradies, in Gottes Schoß mit dem Tode ebenso wie die transhumanistischen3 Vorstellungen von der Dauerhaftmachung des persönlichen menschlichen Bewusstseins durch dessen Übertragung auf (als dauerhaft angenommene) Maschinen. Auch manche Rücksichtslosigkeit im ungezügelten Genießen des einzelnen Augenblicks, oftmals gesteuert durch die Hingabe an die Befriedigung von Trieben, die an das Dasein der Welt gebunden sind, hat hier ihren Ursprung. Genauso sind manche einflussreiche, oftmals fanatisierende Ideologien hier zu nennen, die der Sucht des Menschen entspringen, das Lebensregiment dem Tode in der Welt zu entreißen.

Grundsätzlich kann gesagt werden, dass alle derartigen Bemühungen illusionär sind. Denn auch das gewöhnliche Denken der heutigen Menschen ist ein Weltprodukt und trägt damit den Keim des Todes in sich. Wie viele scheinbar gnadenbringende Einrichtungen haben die Menschen aus solchem Denken nicht schon erschaffen, die aber dann allesamt über kurz oder lang entweder den Gang alles Irdischen genommen haben, also abgestorben, vergangen sind, oder den Menschen einem Regiment übermächtiger Weltendauer unterwerfen und damit seine Weiterentwicklung beschädigen oder unmöglich machen.

Die Tatsache, dass alles Weltensein zu seiner Zeit absterben muss, setzt nämlich die andere voraus, dass dieses Weltensein in ständigem Wandel ist, aus sich heraus sich entwickelt, also lebt. Ohne Leben kein Tod, und ohne Tod kein Leben. Wo der Mensch durch seine Taten in der Welt sein eigenes Leben den Regularien der Welt unterwerfen will durch Schaffung bürokratisch-mechanischer oder maschineller Weltprozesse, die ihn dann selber bestimmen, arbeitet er selber mit an seinem eigenen Tod. Alle solche Vorhaben zielen nämlich darauf, den Menschen nach den Regeln seines eigenen gewordenen, von der Welt bestimmten Denkens ewig, dauerhaft zu machen. Diese Regeln sind aber aus dem Erleben der absterbenden Welt gewonnen, und können daher nichts Anderes, als ein totes, ohne Entwicklung sich selber immer gleich reproduzierendes Maschinensein hervorbringen. Auf diese Weise geht aus dem Streben nach dem ewigen Leben des Erdenmenschen sein eigener Weltentod hervor, als dauernde Wiederholung des ewig Gleichen.

Was ist der Mensch?

Nun kann man aus dieser Betrachtung bereits eines lernen: indem das erlebende Ich des Menschen in die Welt tritt, und diesen Prozess nach und nach beobachten und begreifen lernt, erfährt es wohl eine Menge über das Weltendasein, nichts jedoch über sich selbst als derjenige, der in dieses Weltendasein mit der Geburt eintritt und es mit dem Tode wieder verlässt. Wer ist dann dieser individuelle Mensch, der sich selber Ich nennt und durch sein Weltensein hindurchgeht? Woher stammt er? Hat er eine Bestimmung, die in ihm selber liegt, oder erschöpft sich diese Bestimmung in dem Durchgang durch das Welten-Dasein? Solche Fragen können demjenigen aufgehen, der die Welt und sein eigenes Erleben darin unvoreingenommen beobachten und durchdenken will.

Wer mit der Frage nach sich selbst beginnt umzugehen, kann sich zunächst ein Grundsätzliches klarmachen: die Erkenntnis der Welt, wie sie uns gegenübertritt, geht zunächst von etwas Gegebenem aus, von den Inhalten unserer Sinneswahrnehmung vor allem, deren exaktes Zustandekommen wir aber genauso wenig unmittelbar gegeben haben, wie es eben bei allen Weltgegenständen ist. Wir nehmen die Erkenntnisinhalte wahr, ihr Entstehen und ihr Zusammenwirken entzieht sich der Wahrnehmung. Was wir darüber aussagen können zu ihrer Erklärung, tragen wir selber durch unsere Tätigkeit an die Gegenstände heran, fügen es ihnen hinzu.

Das ist bei der Auseinandersetzung mit der Frage nach uns selbst, nach dem Menschen also, grundsätzlich anders. Hier haben wir kein unmittelbar gegebenes Objekt, an dem wir ansetzen können. Als der Wahrnehmende und Denkende im Erkenntnisprozess treten wir als Subjekt auf, als Tätiges, das in Form unserer Gedanken und Vorstellungen sich selber erst Inhalte schaffen muss, bevor etwas erklärt werden kann. Bevor wir etwas über uns selber aussagen können, müssen wir schon etwas getan haben, nämlich den Inhalt der Aussage hervorgebracht haben.

Das ist ja bei allen Erklärungen so – auch gegenüber den Gegenständen der Sinneswelt –, aber deren Objekte sind uns gegeben und wir können unser Gedankenschaffen an ihnen überprüfen. Die Gegenstände der Sinneswelt sind uns aber nur als Ergebnis, als Werk gegeben, nicht jedoch ihr Entstehungsprozess. Das ist beim Denken über uns selbst anders: hier ist das Ergebnis nicht vorgegeben, dafür können wir aber dessen Entstehungsprozess verfolgen, denn wir sind ja selber mit unserem Tun daran beteiligt. Sowohl die Art des Hervorbringens von Vorstellungen und Gedanken als auch die Beurteilung ihres Entstehungsprozesses und ihrer Ergebnisse hängt von unserer eigenen Beteiligung daran ab.

Ist also zwar das Bewusstsein von uns selbst als einer erlebten Welt gegenüberstehendes Wesen eine gegebene Tatsache, die auch von der Sinneswelt zunächst abhängt, so schafft unser Denken über uns selbst Inhalte, die aus uns selber hervorgehen, von uns geschaffen sind und insofern nur noch mittelbar von der Existenz der Sinneswelt abhängig sind, indem sie nämlich das Bewusstsein von uns selbst für ihre Entstehung voraussetzen, nicht aber explizit die Sinneswelt als solche.

Damit schaffen wir in unserem Denken und Erkennen eine innere, geistige Welt mit, deren Entstehung in allen ihren Inhalten ohne unsere Beteiligung nicht möglich wäre. Die Inhalte dieser geistigen Welt bestehen daher gerade durch uns selber und unser Miterleben und Mitgestalten ihres Entstehungsprozesses. Ihre Beurteilung ergibt sich also nicht durch Vergleich des Ergebnisses mit dem zugehörigen gegebenen Objekt wie bei der Erkenntnis der Sinneswelt, sondern unmittelbar aus der Beobachtung ihres Werdens.

Je mehr solcher selbsterschaffener Geist-Inhalte der Mensch hervorbringt, desto mehr kann er sein Bewusstsein von sich selbst auf seine eigene schaffende Tätigkeit stützen und sich aus der Abhängigkeit im Erkennen von den Vorgaben der Sinneswelt lösen, also frei werden. Darin liegen Fluch und Segen zugleich. Der Segen ist das allmähliche Erlangen immer umfassenderer Freiheit im Erkennen. Der Fluch liegt in der Möglichkeit, diese Freiheit so zu nutzen, dass dabei die gegebene Sinneswelt den Motiven des eigenen Tuns untergeordnet wird.

Alle Utopien und Ideologien erliegen dieser Versuchung, den eigenen Zukunftswunsch den gegebenen Tatsachen überzuordnen und damit zu vergessen, woraus das Bewusstsein von uns selber ursprünglich gespeist wurde – nämlich aus dem Erleben der Sinneswelt. Damit stellt sich die Frage nach der Bestimmung des Menschen: ist er da, um seine eigenen, aus dem ja auch noch weitgehend unerkannten Inneren aufsteigenden Wünsche zu realisieren, indem er die gegebene Welt nur als Mittel seiner eigenen Macht betrachtet, oder ist er selber sozusagen das Mittel, das die Welt aus sich herausgesetzt hat, sich selber gegenüber gestellt hat, um sich selber durch den Menschen weiter zu entwickeln?

Notwendigkeit und Freiheit

Die umgebende Welt konfrontiert uns mit der Tatsache ihrer Vergänglichkeit und damit auch der Vergänglichkeit unseres eigenen, von der Existenz der Welt abhängigen Bewusstseins. Dieser Tatsache des Todes gegenüber kann also von Freiheit keine Rede sein. Wir sind hier der ehernen Notwendigkeit unterworfen, der gegenüber jede Auflehnung zwecklos ist.

In unserem Denken über uns selbst und in der Beobachtung der von uns selber ausgehenden Entstehungsprozesse unserer Gedanken und Vorstellungen bewegen wir uns demgegenüber in der Region der Freiheit, und dies umso mehr, als wir nach und nach lernen können, uns in unserem Selbstbewusstsein immer mehr auf diese selbsterschaffenen Prozesse zu stützen und uns so unabhängig zu machen von der Stütze, die uns die Sinneswelt sonst gibt.

Beide Reiche – die eherne Todesforderung der Sinneswelt, die letztlich nichts als erstorbene, fest gewordene Ergebnisse uns unmittelbar nicht gegebenen Werdens enthält, und das Reich des Lebens im Geiste, das aber in sich die Tendenz birgt, das eigene Schaffen der gegebenen Welt vorzuziehen und damit den eigenen Entstehungsgrund im Gegebenen zu leugnen – beide Reiche stehen sich so zuerst als Gegensätze gegenüber. Notwendigkeit des Todes in der Sinneswelt und Freiheit des Lebens im Geiste scheinen unvereinbar.

Wenn wir so denken, vergessen wir dabei unseren eigenen Beitrag: die Gegenüberstellung dieser beiden Seinsbereiche – Weltentod und Geistesleben – ist unser eigenes Werk im erkennenden Umgang mit den Tatsachen unseres Lebens. Die Unvereinbarkeit beider stellen wir fest aufgrund eigener, im Geiste von uns mitgestalteter Denkprozesse. Wenn wir dies bemerken, verhalten wir uns einer von uns selber geschaffenen Geisttatsache (Gedanke der Unvereinbarkeit von Notwendigkeit und Freiheit) gegenüber so, wie wir dies der Sinneswelt gegenüber gewohnt sind: wir vergleichen Denkprozess und Ergebnis und bemühen uns, beide in Übereinstimmung zu bringen. Dabei können wir feststellen, dass wir ein wichtiges Glied in der Kette noch übersehen haben.

Die Notwendigkeit des Weltenwerdens hat aus sich heraus ein Werk vollbracht – den seiner selbst sich bewusst werdenden Menschen –, das den Keim der Freiheit in sich birgt, in der Möglichkeit der Abkehr vom ersterbenden Werk und der Zuwendung zum lebendigen Schaffen. Was liegt aber dann dem Weltenwerden zugrunde als Garant des Selbstbewusst-Werdens des Menschen zu seiner Freiheit? Ist das nicht dieselbe geistige Welt des Schaffens und Hervorbringens, die wir Menschen im Gedankenschaffen in uns tragen und deren selbstbewusstes Glied wir werden können, je mehr wir uns auf diese lebendige Welt selber zu stützen lernen und damit von der gegebenen Sinneswelt uns unabhängig machen?

Der Versuch einer vorläufigen Antwort auf solche Fragen führt uns in den Bereich der tiefsten Urgründe des Menschenwesens. Was liegt der Welt der Sinneserlebnisse ebenso zugrunde wie der geistigen Welt unseres eigenen Erkenntnisschaffens? Es ist dies dasjenige Wesen, das als Urgrund unseres selbstbewussten Schaffens erst den Gegensatz von Weltobjekt und erkennendem Subjekt hervorbrachte, aus dem der freiheitssuchende Mensch hervorgeht. Dieser Mensch braucht daher zu seinem Dasein beide Seiten, um diese nach und nach in seine Freiheit aufzunehmen und in eine neue, ihrer selbst bewusste Einheit zu überführen, die sich dann aus ihrer Mitte heraus selber tragen kann.

Der Vater-Gott, der Welten-Urgrund also stellte sich im toten Werk seinem eigenen lebendigen, schaffenden Geist gegenüber und schuf sich so den Menschen-Sohn, der erst durch sich den unerbittlich waltenden Vater-Gott der Welt mit dem alles zu neuem Leben führenden Geist in sich zu einen vermag. So führt er im Sohn die Welt in den Geist, indem er den Geist der Welt in sich belebt, und den Geist in die Welt, indem er ihr sein Schaffen als Werk einfügt.

Dies kann mit Recht der Christus genannt werden, der erst durch das Auftreten des schaffenden Gottes in der Werkwelt sich mit dieser einte im Tode, und damit Ausgangspunkt zu einer Auferstehung der untergehenden Werkwelt zu neuem Leben im Geiste werden konnte. Dieser Geist des MENSCHEN-GOTTES, des Gottes-Menschen gibt in seinem Auftreten in der Werkwelt der Welt und dem aus ihr hervorgegangenen Menschen ihren Entwicklungs-Sinn.

Durch ihn ist der Vater-Gott, der Welt-Erschaffer von seinem Wirken durch die Welt zum Wirken durch jeden einzelnen Menschen, mithin durch die Menschheit als Ganzes übergegangen; er selbst, der Menschen-Gott wird im Menschen-Sohn zum Repräsentanten der Menschheit schlechthin. In jedem Einzelnen von uns lebt seitdem eine Variante dieses Menschheits-Repräsentierens, bewusst oder unbewusst.

Und weil so der innerste Kern aller individuellen Menschen ein einheitlicher, universeller ist, schließt er auch die Existenz der Welt und ihr Hervorbringen mit ein, ja, ist geradezu diese Welt, hat sich mit ihr geeint und wirkt daher durch sie. Jeder einzelne Mensch, der seinen innersten Kern sucht, kann sich sagen: das Einzigartige, Unverwechselbare, in dem meine Individualität besteht, liegt in meiner Welt! Indem ich mich meiner Welt hingebe, so wie der Christus sich der Erdenwelt als Ganzer einte, werde ich erst wirklich frei. Dann erst, im Einswerden mit der Welt nehme ich auch die Grundbedingung meiner Existenz, meiner Entwicklung zur Bewusstwerdung in mich auf, nämlich den Tod in der Welt, und schaffe damit einen Ausgangspunkt für ein zukünftiges, wahrhaft freies, geistiges Welten-Leben.

Worin liegt die Zukunft?

Meine Zukunft liegt daher in einem geistigen Leben, das seinen Gegensatz zur Welt nicht als Erleben eines dunklen Weltenzwanges ansieht, sondern darin gerade die Bedingung seines bewussten Menschenseins erkennt. Damit einher geht eine Veränderung im Leben, die radikaler nicht sein könnte: sahen wir zunächst unsere Individualität als eine welt-entsprungene an, die daher nur insofern frei sein kann, als dieser Ursprung es zuläßt, werden wir nun im Laufe der Entwicklung mehr und mehr zu Geistwesen, die ihren eigenen Weltenursprung einschließen und damit die wahre Freiheit nach und nach entstehen lassen können.

Die Führung des Lebens der Welt geht daher von der fremden, unerkannten Welt auf uns selber über, in vollem Bewusstsein. Vergessen wir aber nicht, was nötig dafür war, immer noch ist, und noch lange bleiben wird: der mehr oder weniger allmähliche, von Zeit zu Zeit aber auch sprunghaft voranschreitende Untergang der uns gegebenen, fremden Außenwelt, ihr Tod also, ihr Vergehen.

Dies kann man einerseits ganz individuell auf sich selbst beziehen. Indem ich die Welt verlasse, geht sie mir unter. Mein Dahinscheiden ist also identisch mit dem Untergang meiner individuellen Sinnes- und Erlebniswelt. Soweit diese Welt mir fremd geblieben ist, wird auch mein Geist-Erleben das Bewusstsein verlieren. Soweit ich diese Welt aber in liebender Hingabe mit mir vereint habe, also auch ihren geistigen Urgrund anstelle ihres äußeren Werk-Seins als Bedingung meines Selbst-Bewusstseins erkannt habe, habe ich mich unabhängig vom Gewordenen gemacht und kann mein individuelles Bewusstsein im Untergang der Welt aufrecht erhalten. Soweit ich also mich bewusst zum Ausdruck des Christus, des Menschheits-Repräsentanten gemacht habe, werde ich auch im Bewusstsein Anteil haben an der Auferstehung des Geistes aus dem Weltentode.

Ohne den Untergang derjenigen Welt, in der Leben und Tod sich bedingen, werde ich also des Ewigen nicht teilhaftig werden. In der Sinneswelt regieren die Lebenszyklen der Entwicklung zwischen dem sprießenden Keim und dem Vergehen; nur im Geiste können wir erleben lernen, wie aus Leben und Tod erst Entwicklung – also neues Leben – hervorgeht, können uns mit diesem Gang vereinen und so als Mitschöpfer in die ewige Entwicklung eintreten.

So wie dieser Vorgang im einzelnen irdischen Menschenleben sich ereignet, geschieht es auch in der ganzen Menschheit. Soweit, wie es Menschen gibt, die die Bedingungen der Weiterentwicklung der Menschheit und ihrer Welt in sich selber aus dem Geiste heraus erschaffen können, wird das dunkle Walten der fremd gewordenen Welt durch ein helleres, menschliches ersetzt. Das heißt aber im Umkehrschluß auch, dass die Bedrohung unserer Existenz durch den Weltuntergang, das Zerfallen, Vergehen derjenigen Welt also, die uns aus sich hervorgehen ließ und heute noch trägt, solange immer stärker und bedrängender werden wird, wie es diese geist- und weltentragenden Menschen-Söhne nicht gibt. Nicht der Weltentod, der Welt- Untergang ist also das eigentliche Problem, der Stein des Anstoßes, sondern die damit verbundene Bedrohung unserer Existenz. Diese hängt aber von unserem Umgang mit der aufgeworfenen Frage ab: sterben wir mit der Welt ab, oder erheben wir sie durch uns in den Geist?

Rudolf Steiner formulierte es einmal so: Es ist ein geheimnisvoller Zusammenhang zwischen dem, was menschliches Bewußtsein ist, und den zerstörerischen Kräften des Weltenalls, gerade den Untergangskräften des Weltenalls. (…) er besteht so, daß das eine als Ersatz für das andere auf der einen Seite dienen kann oder auf der anderen Seite dienen muß …“4. Der Weltuntergang kann also etwas Notwendiges sein, die Not, die mit ihm einhergeht, wenden, indem seine andere Seite auftritt: der Mensch als Welten-tragen-Wollender.

Irrtümer

Der im Vorstehenden umrissene Gedankengang kann nun vielfältige Irrtümer in das Bewusstsein treten lassen, die dazu führen können, dass das Erreichen des Ewigkeitszieles der bewussten Durchgeistigung von Erde und Mensch behindert und geschädigt wird. Einige davon sollen hier abschließend kurz angedeutet werden.

So kann der einzelne Mensch dazu neigen, seinen eigenen Beitrag als so unwesentlich anzusehen – aus der Erfahrung der dauernden Übermacht der Sinneswelt mit ihren Gesetzen –, dass er die mit seinem eigenen Beitrag verbundene Mühe nicht aufbringt. Wer sich so verhält, hat noch nicht genügend Verständnis erlangt für den grundsätzlich anderen Charakter der geistigen Welt, die sich in der Selbstbeobachtung des Menschen auftut, im Vergleich zur äußeren Sinneswelt, die uns gegeben ist. Auf die in der Vorbemerkung angeführte Aussage Rudolf Steiners über das Verstehen-Können und Verstehen-Wollen sei hier nochmals hingewiesen.

In der gegebenen Sinneswelt liegen die Dinge getrennt von einander vor uns, und das Gesetz der Menge regiert. Was mehr ist, wird diese Welt stärker prägen als das Wenige. Ganz anders im Geiste: hier lebt alles ineinander, geht auseinander hervor und eint sich aufs Neue. Bringt ein Einzelner Bewusstsein in bestimmte Verhältnisse hinein, so tut er dies zugleich für die ganze Menschheit – auch, wenn diese vielleicht zunächst nichts davon bemerkt. Was einer erkannt hat, ist damit für immer ein Erkanntes. Darum lebt ja auch jeder sein individuelles Leben, das ihm seine individuellen, konkreten Aufgaben stellt. Was also der eine nicht zu Bewusstsein bringt, bleibt als Erkenntnisaufgabe ungelöst, bis entweder er selber oder ein anderer die Lösung bringt. Es gibt darum ganz prinzipiell gar keinen unwesentlichen Beitrag zum Ganzen; jeder, auch der kleinste Beitrag ist wesentlich. Und alles, was der Einzelne aus sich heraus, frei gewollt leistet, kann ein solcher Beitrag sein.

Des Weiteren könnte man die Einsicht in die Notwendigkeit des Welt-Unterganges zum Anlass nehmen, nun gleich ganz vorsätzlich einmal „tabula rasa“ machen und selber den Schalter auf „Aus“ stellen zu wollen. Das ist aber genauso wie der vorher angesprochene Irrtum nur ein Ausfluss des Unwillens, die Arbeit, für die der Mensch im Weltenganzen einmal vorgesehen ist, auch auf sich zu nehmen. Den Schalter auf „Aus“ zu drehen, ist scheinbar leicht und schnell getan; die Welt in Hingabe an jedes kleine Weltenwerk nach und nach in den Geist zu führen, ist eine Aufgabe für lange Zeit, die dem Menschen daher schwer erscheint.

Den Schalter auf „Aus“ zu stellen, ist aber unwiderruflich; und der Mensch kann irren, wenn erglaubt, seine Entwicklungsaufgaben würden ihm schon von anderen abgenommen. Sind wir denn tatsächlich schon so weit entwickelt, dass wir auf den ständigen Zyklus von Leben und Tod in der Sinneswelt verzichten können? Warum erscheint uns dann immer noch der uns bedrohende Weltuntergang? Der Schalter auf „Aus“ – wäre das denn nicht derzeit auch der endgültige Menschheitstod?

Nein, die Vernichtung der Welt ist ja kein Sinn in sich; sie ist nur im Rahmen der Vergeistigung durch den Menschen not-wendig, und dies fordert eben jeden Einzelnen, der sich zum Repräsentanten reiner Menschlichkeit entwickeln will. Es geht nicht um den Tod an sich, sondern darum, den Welten-Tod in sich aufzunehmen, um ihn dadurch zum Geist hin zu überwinden.

Die Welt zu leugnen, sich von ihr loszusagen oder sie sogar mutwillig zerstören zu wollen um selber im Geiste von ihrem Walten frei zu werden, kann wohl persönlicher Wunsch sein. Aber in der Welt muss ein Gleichgewicht sein von Leben und Sterben. Wer sein inneres Leben nur für sich behalten will, entzieht es dem Welt- und Menschheitsganzen, und wirkt darum mit an dem Ungleichgewicht, das dort entsteht. Da nimmt man die eigene selbstbewusste Existenz als ein Geschenk des Weltenwerdens hin und gibt nichts zurück. Die ganze Welt als Werkzeug meiner Wünsche, indem ich sie mir aus dem Bewusstsein hinausschaffe, um (vermeintlich) von ihr frei zu werden?

Aber das Leben, das Er-leben ist in mir. Gebe ich es nicht der Welt, so erstarrt sie umso mehr im maschinellen Tode, in der automatischen Lebensimitiation. Ohne mein hingegebenes Miterleben der Welt stirbt sie ab – ohne dass darin die Not gewendet wird zum Geist, ohne Notwendigkeit also, nur aus reiner Willkür des sterblichen Erdenmenschen. Diese Willkür ist auch ein Irrtum. Denn der Mensch, der ihm erliegt, ist noch nicht frei geworden von dieser Welt, für diese Welt, und wird mit ihr im selbstgeschaffenen Strudel untergehen.

Man muss sich der Idee erlebend gegenüberstellen können, sonst gerät man unter ihre Knechtschaft.“5

Leben in der Liebe zum Handeln, und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime der freien Menschen.“6


Aphoristische Ergänzungen zum Thema

I

Der Tod ist not-wendig. Wird er nicht im Leben selbst vollzogen, so zwingt er von außen. Er muss erkannt werden als der Schlüssel zum Leben. Wer sich selbst erstirbt, zum Sterben bringt, wird sich auferstehen sehen. – Die Rede ist nicht vom „Selbstmord“ –

Was ist mein Wille? Welches Wesen spricht da in mir? Wer lebt in all den Ideen, Willensimpulsen, Gefühlen, die mich durchziehen?

Wer ist dann Volk, Familie, Menschheit, Ich? Sie alle leben in mir, durch meine Welt offenbart. Aber ich erkenne sie nur, wenn ich ihre Sprache erlausche.

Jeder Gedanke ist Wesen. Jeder Weltgegenstand spiegelt Wesen. Jeder Stoff ist Geist – in Stoffesform. Treten wir ein in den Chor der Wesen.

Hören wir, was sie sprechen. Hören wir ihr Urteil, in den Ereignissen der Zeit. Lassen wir unser Wünschen fahren – treten wir machtlos, wie wir sind, aber voller Mut und Lebensliebe alldem entgegen, was uns in den Strudel der Zerstörung ziehen will. Christus in uns – der Welt der Teilung gegenüber. Werden wir zum Quell der Heilung.

II

Deutschland kann nichts. Wer sich zum Deutschen macht, kann viel. Wer Michaels Ruf hört, geht ihm entgegen, ohne Furcht, in Liebe zum Menschen.

Dies Hören, dies Schreiten, diese Liebe sind seine Kraft, die er der Zukunft schenken wird.

Zögern wir nicht: wir alle sind Siegfried, wir alle können ihm die Erlösung schenken. Erlösung von schwerer Schuld, von Irrtum und Versagen.

So wird er uns vorangehen auf unserem Weg, zwischen Skylla und Charybdis, aber frei, den Sirenen trotzend, dem Gesang widerstehen. Beide Wege zugleich sind uns gegeben.

––––––––––––––––––––––

Die Welt zeigt außen, was wir innen leben. Nehmen wir die Führung in unsere Hände, jeden Augenblick, den wir leben.

III

Was uns umgibt, ist Wesen, ebenso wie alles, was in uns – in MIR – lebt. Wir sind Geist unter Geistern, und erleben uns doch in einem toten Schattenspiel.

Ja, meine Welt ist meine. Ich bin Wesen. Aus mir geht sie hervor. Aus ihr ging ich hervor – ihrem Wesen. So ist es, und so wird es erst einmal bleiben. Gehe ich mit meiner Welt um – innen und außen – so gehe ich mit mir um. Doch ich verstehe mich nicht, kenne meine Sprache nicht, mit der ich mich anrufe.

So soll ich etwas und kann es nicht. Nein, ich muss es tun und kann es nicht. Ich muss erst wachsen, doch wachse ich erst, wenn ich mir das Wachstum schenke, das ich nicht kenne, von dem ich nicht weiß.

Das ist unmöglich. Und doch: tagtäglich geschieht es. Lerne ich es hinnehmen. Lasse ich mich führen von mir. Nehme ich den Irrtum auf mich, den unvermeidlichen. Durch ihn lasse ich mich wachsen.

Wo der Irrtum stirbt, ersteht die Wahrheit zum Leben. Ich bin der Irrtum.
Sterbe ich, so steigt die Wahrheit auf – aber ohne mich, mein Tun, mein Wollen. Wo ich mir sterbe, lebe ich in der Wahrheit der Welt. Sterbe ich der Welt – die Welt mir – so lebe ich in mir in Wahrheit – aber ich suche die Welt, durch die ich zu mir sprechen kann.

Dass nicht ich, sondern andere die Welt in mir sprechen lassen, ist Lüge. In mir lebt der Gott, der Tropfen göttlichen Seins, der Herr ist allen Schicksals, der Sprache des Karma mächtig. Ich bin es selbst. Immer. Bis ans Ende aller Tage.

Das Fremdsein ist Lüge, geboren aus meiner Furcht vor mir selber. Ich bin unteilbar, „Individuum“. Und doch mir selber fremd geworden.

Stefan Carl em Huisken


1Rudolf Steiner: Die okkulte Bewegung im neunzehnten Jahrhundert und ihre Beziehung zur Weltkultur. GA 254. – Dornach, 1986, S. 187

2selbst für die ganze Erde geht die Geologie spätestens seit Eduard Süß (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Eduard_Suess) davon aus, dass die Erde sich in einem allmählichen Ab­sterbeprozess befindet. Vgl. dazu von Rudolf Steiner z.B. der Vortrag vom 7. Mai 1923 in Rudolf Steiner: Die menschliche Seele in ihrem Zusammenhang mit göttlich-geistigen Individualitäten. Die Verinnerlichung der Jahresfeste. GA 224. – Dornach, 1992, S. 144ff

3vgl. dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Transhumanismus und https://emhuisken.de/den-menschen-ueberwinden-transhumanismus-und-geist-erkenntnis/

4Rudolf Steiner: Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis. GA 177. – dornach, 1999, S. 17

5Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit. GA 4. Dornach, 1973, S. 271)

6ebd., S. 166


Den Text dieses Beitrages gibt es auch als gedrucktes Heft. => Hier können Sie es erwerben.


Cover Wahnsinn und Denken Umdenken Weltuntergang

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Was tun in der anthroposophischen Gesellschaft?

Vorbemerkung

Aufgrund meiner Stellungnahme zur Frage der Mitgliedschaft in der anthroposophischen Gesellschaft1 ergab sich die weiterführende Fragestellung, wie es nun möglich sein könnte, aus einer solchen Perspektive Schritte in die Zukunft auszumachen. Da scheint es mir angebracht, vorab wieder einmal auf eine der wichtigsten Handreichungen Rudolf Steiners zu Fragen der Zukunftsgestaltung im sozialen Feld hinzuweisen:

„Die Aufgaben, welche das soziale Leben der Gegenwart stellt, muß derjenige verkennen, der an sie mit dem Gedanken an irgendeine Utopie herantritt. Man kann aus gewissen Anschauungen und Empfindungen den Glauben haben, diese oder jene Einrichtungen, die man sich in seinen Ideen zurechtgelegt hat, müsse die Menschen beglücken; dieser Glaube kann überwältigende Überzeugungskraft annehmen; an dem, was gegenwärtig die «soziale Frage» bedeutet,
kann man doch völlig vorbeireden, wenn man einen solchen Glauben geltend machen will.“2

In den darauf folgenden Sätzen Rudolf Steiners, ja eigentlich im gesamten folgenden Buch geschieht nichts anderes, als diese Einleitungssätze immer weiter auszuführen und bis ins Einzelne hinein zu konkretisieren.

In meinem nun folgenden Versuch, einige Gedanken zu Schritten zu formulieren, die in der anthroposophischen Gesellschaft3 in die Zukunft hinein gegangen werden könnten, bemühe ich mich, diese Sätze Rudolf Steiners zu beherzigen. Angesichts meiner mangelnden Fertigkeit, jeden der Sätze mit umfangreichen Zitaten zu belegen, bin ich genötigt, meine Darstellung gleichsam „mehr aus dem einförmigen Umgang mit mir selbst als aus einer reichen Welterfahrung geschöpft oder durch Lektüre erworben“4 auf mein eigenes Denken zu stützen.

„Dreigliederung des sozialen Organismus“

Allzuleicht rutscht der strebende Mensch bei diesem Ausdruck in eine letztlich doch wieder utopistische Denkweise hinein, indem er versucht, Rudolf Steiners Ausführungen darüber irgendwie handlungsleitende Zielsetzungen und Konzeptionen zu entnehmen, durch die diese „Dreigliederung“ in der Welt geltend gemacht werden kann.

Aus meiner Sicht schildert Steiner nirgends derartige Zielsetzungen. Er beschreibt die vorhandene Dreigliederung in Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben der Menschen. Die Menschen lassen sich aber von überholten, angelernten Einheitsvorstellungen vom sogenannten „Sozialen“ bestimmen, wodurch die vorhandene, zugrundeliegende Dreigliederung nicht ins Bewusstsein kommt, und in der Folge immer mehr Unordnung und damit Krankheitserscheinungen von den Menschen in den sozialen Organismus hineingebracht werden. Die Dreigliederung ist also da, aber mangels Bewusstsein davon entsprechen die Handlungen der Menschen ihr nicht.

Wir sehen ja derzeit nur allzu deutlich, wie überall das Gegenteil des Nötigen geschieht, wenn zum Beispiel Verbrüderungen in ideologischen Zirkeln welcher Art auch immer im Verbund mit wirtschaftlicher Konkurrenz sich des äußeren Rechtes bedienen (dieses auch bestimmen), um die ihnen genehme Weltgestaltung allen anderen Menschen aufzuzwingen. Das hat ein einheitliches Zentrum in dem rein auf das Irdische und dessen abstrakt-ideologische Nutzung für das eigene Wohlergehen gerichtetenDenken, Fühlen und Wollen der heutigen Alltags-Egoisten – wozu wir uns wohl alle in gewissem Sinne zählen dürfen.

Aber das sind eben die Krankheitserscheinungen, die nur überwindbar werden, wenn sie als solche erkannt werden, und diese Erkenntnis sich im Bewusstseinsleben der Menschheit auch ausdrücken kann. Daran mitzuwirken, ist Aufgabe der anthroposophischen Gesellschaft – nicht irgendeiner äußeren Organisation (eines „Vereines“) also, sondern des Zusammenwirkens derjenigen Individualitäten, die sich darin zu einander gesellen. Dies kann nur gelingen, wenn dabei die vorhandene Dreigliederung des sozialen Organismus berücksichtigt wird.

Was kann das konkret heißen? Nichts anderes ist doch damit intendiert als ein Schritt zur Befreiung des Geisteslebens, welches konkret das lebendige Zusammenwirken geistiger Wesen (verkörpert oder nicht, vielleicht sogar menschlich oder nicht) im Sinne der freien Entfaltung der geistigen Tätigkeit all dieser Wesen ist. Wo mehrere Einzelne sich – frei! – in den Dienst anthroposophischer Geisteswissenschaft stellen, ist Aussicht auf einen Beitrag zur Gesundung des Ganzen. Denn es ist ja unabweisbar: wenn die Erkrankung des Ganzen nicht zunächst als solche erkannt wird, ist keine Aussicht auf Besserung.

Anthroposophische Gesellschaft

Der Zusammenschluss anthroposophisch Strebender in der anthroposophischen Gesellschaft ist insofern ein Glied des Geisteslebens, indem er in dem Zusammenwirken von Geistwesen welcher Art auch immer zum Zwecke der Pflege anthroposophischer Geisteswissenschaft besteht. Als solcher ist dieser Zusammenschluss Ergebnis des Zusammenfließens der konkreten Willensimpulse der Beteiligten, und also nur solange und in dem Maße überhaupt vorhanden, wie die beteiligten Wesen ihn vorantreiben und ihm ihre individuellen Kräfte zur Verfügung stellen. Jede andere Handhabung würde aus dem lebendigen Zusammenwirken der Geister eine vom äußeren irdischen Dasein bestimmte Art von „Maschine“ machen. Der Geist kann sich eben nur da geltend machen, wo er in der Freiheit leben kann. Das schließt allerdings immer auch die Möglichkeit des Scheiterns, des Absterbens und Neuerstehens ein. Der Tod gehört zum Leben, kein Leben ohne Tod. Zum Geistesleben gehört in diesem Sinne also auch das Absterben des lebendigen geistigen Impulses in das Äußere hinein.

Will ein solcher Zusammenschluss im irdischen Leben der Welt und der Menschen wirksam werden, indem er darin als Ausdruck seines Zweckes auftritt, so benötigt er selbstverständlich dafür Formen, die sowohl das äußere Zusammenwirken der Beteiligten beschreiben (Recht) als auch die irdischen Bedürfnisse der Beteiligten befriedigen (Wirtschaft). Nur müssen diese „Nebentätigkeiten“, die durch den Willen der Gesellschafter zum gemeinsamen Wirken erforderlich werden, aber jederzeit dem Charakter des Ganzen der Gesellschaft dienen, nämlich dem sich entwickelnden Menschengeist. Diese „Nebentätigkeiten“ können daher niemals – wenn sie dem frei gewählten geistigen Ziel der Pflege anthroposophischer Geisteswissenschaft dienen – diesem Ziel hinderlich werden, wie sehr dies auch äußerlich so scheinen mag.

Werden solche Tätigkeiten scheinbar hinderlich, so sind sie nicht weiter als Tätigkeiten der freien Geistgemeinschaft anzusehen, sondern sind offensichtlich „in andere Hände“ übergegangen. Dass sie selbst dann aber noch – indem sie äußerlich gesehen zerstörerisch wirken – ihrem ursprünglichen Ziel dienen können, erhellt sich aus der Tatsache, dass sie dadurch gerade zur Weiterentwicklung der Erkenntnis innerhalb der Geist-Gemeinschaft beitragen können; jedenfalls gilt dies dann, wenn die Geist-Gemeinschaft den Erkenntniswillen und die Erkenntniskraft aufbringt, dieses „Fremde“ in sich aufzulösen. Man kann an diesen „aus der Art geschlagenen“ Tätigkeiten eben lernen, wie der Geist nicht wirkt. Es ist hinzunehmen, wenn das eigene Tun sich im Werk verfestigt und abstirbt.

Wer möchte, kann in diesem Zusammenhang durchaus die Okkupation zentraler anthroposophischer Wirkungsstätten zum Beispiel durch Mormonen, Freimaurer, Jesuiten und abstrakte Akademiker wiedererkennen. So wirkt der ursprüngliche – freie – Zusammenschluss der Geistindividualitäten eben nicht mehr; dieser sucht sich dann andere Wirkungsstätten. „Wir betreiben hier aus Freiheit Anthroposophie, früher gemeinsam mit Dornach, nun nach der Okkupation eben ohne Dornach“ hörte ich letztens sinngemäß ein leitendes Mitglied in einem größeren anthroposophischen Kreis sagen.

Wirksam werden

Wirksam wird die anthroposophische Gesellschaft – so betrachtet – eben nicht, indem sie äußere Institute schafft, sondern indem Menschen und Geister frei gemeinsam agieren. Was diese Vielen (oder Wenigen) tun, tritt in der Welt auf in Allem, was diese Gesellschafter im Sinne ihrer Geistgemeinschaft in die Welt stellen so, dass es sich mit dem Tun Anderer verbindet, zu einem gemeinsamen „Werk“ zusammen „wirkt“.

Nun wird ja zumeist davon ausgegangen, dass bei solchem Zusammenwirken mit Anderen eben immer Kompromisse nötig sind. Kompromisse versteht dann Mancher als die Notwendigkeit, seinen „Standpunkt“ eben dem des Anderen anzunähern, also ein Stück weit seine eigenen Gesichtspunkte zu verlassen, ja vielleicht sogar „zu verraten“. Davon kann aber hier keine Rede sein. Ein Zusammenwirken mit Anderen aus Erkenntnis – und darum kann es ja hier nur gehen – schließt die Berücksichtigung von deren geistiger Aufgabe im Rahmen der Menschheitsentwicklung immer mit ein, jedenfalls dann, wenn es wie hier um die anthroposophische Gesellschaft als Akteur geht. Der Entwicklung feindliche Impulse können in diesem Zusammenwirken nur insoweit zur Geltung kommen, als das Bewusstsein für eine klare Erkenntnis der unterschiedlichen Intentionen nicht ausreicht.

Es kann also nur darum gehen, die anthroposophische Erkenntnisart immer weiter zu verstärken, so dass das zunächst Fremde in der Erkenntnis mit dem Eigenen zusammenkommen kann. Dann fließen wiederum Willensimpulse zusammen, aus freiem Antrieb, so dass jede Seite sich und das Ihrige darin wiederfinden kann. Anders ist Frieden heute gar nicht mehr möglich. Es geschieht nur das, was auch gewollt ist – bewusst von den Mitwirkenden aus, oder unbewusst durch sie hindurch.

Ein äußeres Zusammenwirken in der Welt der toten, erstarrten Institutionen erfordert daher umso mehr innere Kraft bei denjenigen, die aus dem Erstarrungstode des vormals lebendigen Geistes neues Leben erstehen lassen wollen; denn alles, was auf diesem Felde äußerlich erschaffen wird, tendiert zu einer toten, maschinellen Dauer, muss darum über kurz oder lang dem Herrn des Todes und der Materie anheimfallen, und also – vergehen. Das kann durchaus so weit gehen, dass das eigene, freie, lebendige Tun aus dem Geiste von den dann erstarrten Institutionen so aufgefasst wird, dass sie dieses Leben aus dem Geist für sich selber als zerstörerisch ansehen müssen, und es daher aufs Schärfste bekämpfen.

Man denke aber dabei an Rudolf Steiners Schilderung der damals noch unausgeführten Statue des Menschheitsrepräsentanten. Die rechte Hand der Menschengestalt weist auf Ahriman, dem diese Geste Anlass ist, sich selber an die Materie zu fesseln. Nicht der Christus tut dies, Ahriman fesselt sich selber. In ähnlicher Weise wird dort auch auf die erhobene linke Hand der Statue hingewiesen, deren Geste dazu führt, dass Luzifer sich die Schwingen bricht und stürzt.5

Wo also das Zerstörungspotential äußerer Institute zum Anlass genommen wird, sie äußerlich zu bekämpfen, ist man schon auf dem Holzweg, ebenso da, wo man sich von ihnen veranlassen lässt, die eigenen Erkenntniswege zu relativieren und damit „faule“ Kompromisse einzugehen. Weder zu bekriegen, noch sich vereinnahmen zu lassen, sondern immer wieder die geistige Freiheit zu erringen, die erst eigenständiges Leben ermöglicht, kann neues Leben in der äußeren Welt zur Wirkung bringen. Dafür kann es notwendig sein, Institutionen auch sterben zu lassen und in den Folgen ihres Vergehens neue Samen zu legen.

Tod und Auferstehung

Der Tod ist im Äußeren immer mit Auflösung verbunden, die im Inneren aber zu einer Verstärkung des Eigenlebens führen kann, immer gerade so weit, wie das Bewusstsein es tragen kann. Dem physischen Tod des Christus und seiner Auferstehung folgte der Tod des gegebenen, „instinktiven“ Geisterlebens der Menschheit, final im Denken im 19. Jahrhundert, und dann die Auferstehung des Geist-Erlebens durch das Wirken Rudolf Steiners im Beginn des 20. Jahrhunderts. Was jetzt im allmählichen Absterben der damals zunächst geschaffenen äußerlichen (rechtlichen und wirtschaftlichen) Lebensformen der anthroposophischen Gesellschaft geschieht, ist insofern eigentlich der „Beweis“, dass der lebendige Geist wirkt. Sonst würden die äußeren „anthroposophischen“ Institutionen weltweit angesehene, für alle Zeiten reibungslos funktionierende Wirkungsstätten sein – Wirkungsstätten desjenigen, was es eben in der wirklichen anthroposophischen Gesellschaft nicht geben kann. Seien wir froh, dass der Tod sich das Seine holt; aber lassen wir uns auch nicht verleiten, selbst Hand anzulegen bei diesem Sterbeprozess (vgl. das oben im Hinblick auf die Statue Gesagte).

Die Auferstehung erfolgt eben so, wie das in diesem Fall allein möglich ist: in den Einzelnen, die sich und ihre persönliche Wirkungsstätte in der Welt – ihre irdische, leibliche Person also – frei in den Dienst der Anthroposophie stellen wollen. In ihrem Zusammenwirken, in ihrem Wirken in den weiteren Verbindungen mit dem Weltgeschehen spricht sich das Leben des Geistes in der Anthroposophie aus. Anthroposophie und anthroposophische Gesellschaft leben eben nicht so in der Welt, dass sich der einzelne Anthroposoph davon tragen lassen kann. Sie leben nur dort und solange die einzelnen Anthroposophen selber sie tragen.

Was kann das konkret bedeuten?

Daraus ergibt sich, dass es äußere Einrichtungen der Zusammenarbeit eben nur dann und nur insoferne geben kann, wie konkrete irdische Projekte verfolgt werden, in denen sich Mitglieder der anthroposophischen Gesellschaft wirkend betätigen. Letztlich ist dies der Grund dafür, dass manche sogenannte „anthroposophische Institution“ sich den Regeln der äußeren Welt völlig angeglichen hat, nachdem die sie tragenden („charismatischen“) Gründergeister sie verlassen haben. Diese Einrichtungen waren dann eben Instrumente, Werkzeuge des durch die Gründer wirkenden Geistes. Und wo keine Nachfolger sich finden, die das Bestehende aus ihrem Geiste aufgreifen und weiterentwickeln wollen und können (frei und individuell), stirbt das Bestehende. Es bleibt also vielleicht schon etwas bestehen, aber das ist dann tot, erstarrt und geistverlassen. Man sollte das nicht als etwas Schlimmes ansehen; der Tod gehört zum Leben. Schließlich hat zum Beispiel die erstarrte katholische Kirche doch auch dafür gesorgt, dass die Überlieferung des Ereignisses von Golgatha erhalten blieb.

Man wird also aus der Perspektive des Geisteslebens äußere Institutionen immer nur als Werkzeuge des Geistes ansehen können, die entstehen, leben und vergehen, aber niemals als in sich selber dauerhaft lebensfähige Systeme. Was so geschaffen wird, macht dann die eigenständige Rechts- und Wirtschaftsorganisation des Geisteslebens aus. Sie ist immer an die Lebenszyklen des Geistes in der Welt gebunden, aus dem sie hervorgegangen ist, das heißt also hier: an die sie tragenden individuell wirkenden Menschen.

Für mich wurde schon vor vielen Jahren klar, dass viele der tradierten „anthroposophischen Institutionen“ – also die äußeren anthroposophischen Vereine, aber auch die rechtlichen und wirtschaftlichen Verknüpfungen mit anderen Rechts- und Wirtschaftsinstituten in der Welt so, wie sie bestanden und bestehen, auf Dauer nicht lebensfähig sind. Wie man sehen kann, fallen sie ja nach und nach „feindlichen Übernahmen“ anheim oder verfallen, transformieren sich zu „ganz normalen“ Einrichtungen der heutigen Zeit. Inwieweit sich auf den Überresten ehemaligen anthroposophischen Lebens in der Welt Neues errichten lässt, wird sich aus der Kraft und dem Willen derjenigen ergeben, die sich solchen Aufgaben erkennend zuwenden wollen.

Wie das Karma wirkt, haben wir ohne Murren hinzunehmen; was daraus an Neuem entstehen kann, obliegt uns zu gestalten. Es gibt keine äußere Institution „Anthroposophie“, die uns trägt – wir sind sie selber, und sie ist und wird durch uns. Der äußere Niedergang ist bloß die Begleitmusik für das Entstehen neuen geistigen Lebens.

Nachbemerkung

Ja, wie denn nun? – mag der Leser fragen, der bis hierhin durchgehalten hat. Die Frage wird er sich wohl selber zu beantworten haben. Allerdings kann hier noch hingewiesen werden auf eine Ermahnung Rudolf Steiners für den Umgang mit den Einflüssen von Luzifer und Ahriman: der Mensch möge doch dem eigenen Denken gegenüber recht ahrimanisch sein und alles Gedachte erst der harten Prüfung an den Weltgesetzen unterwerfen, dagegen dem ahrimanischen Blendwerk der toten physischen Welt gegenüber doch luziferisch geprägte Liebe zu jeder Einzelheit der eigenen Welt walten lassen, im Versuch, sie zu verstehen.6 So sei man geschützt – so verstehe ich Steiners Ausführungen in diesem Zusammenhang – sowohl vor fantasierendem Irrlichtelieren im Denken wie auch vor Ignoranz und Dilettantismus im Umgang mit der Welt.

Worauf will ich damit hinweisen? Darauf, dass die Beachtung beider Teile dieser Ermahnung erst die Grundlage bildet für ein eingreifendes Wirken in der Welt aus dem Geiste heraus. Wer ahrimanische Institutionen, wie sie in der Welt nun einmal sind, für Aufgaben nutzen will, die sich aus dem Geist der Menschheitsentwicklung ergeben, wird die Gesetze der Welt so gut kennen müssen, dass er sie auch beherrschen kann. Wer seine Ideen, durch die er sich im Geiste finden will, vor dem Abgleiten in Wunschdenken beschützen will, wird sie an den Tatsachen des irdischen Lebens überprüfen und den Ausgang dieser Prüfung dann gelassen hinnehmen müssen.

In beiden Richtungen ist wohl in der Vergangenheit in der anthroposophischen Bewegung mancherlei versündigt worden; Kompetenz auf dem Felde der übernommen Aufgaben – ganz im traditionellen Sinne – und fester, wacher Tatsachenbezug in der Entwicklung des eigenen Denkens sind erforderlich. Wo beides (oder eines von beiden) nicht genügend vorliegt, wenn Institutionen aus dem Geist heraus in die Wirksamkeit in der Welt treten wollen, kann man vorhersehbar zumeist menschliche und wirtschaftliche Katastrophen erleben. Leidvolle Erfahrungen dieser Art liegen wohl für jeden genügend vor, auch im Rahmen der anthroposophischen Gesellschaft.

Was insbesondere den Umgang mit den ahrimanisch geprägten Einrichtungen der heutigen Welt betrifft, kann gar nicht genug darauf hingewiesen werden, dass weder der Verzicht auf die Klarheit äußerer Festlegung („das brauchen wir jetzt nicht festzulegen, das findet sich dann ganz lebendig“, oder „solche Festlegungen ignorieren wir einfach, sie sind nicht geistgemäß“) noch das Abwürgen jeder Lebensregung durch Vorschriften bis ins Kleinste (das kennen wir doch aus den letzten zwei Jahren zur Genüge) irgendwie weiterführt. Man muss Ahriman in seinem Wirken verstehen, ihn also im Detail kennenlernen, dann verliert er seine Kraft.

In besonderer Weise drückt dies ein Gedicht von Helmut Siegfried Unbehoven aus, das ich daher hier ergänzend anfügen möchte7:

Fürchte einzig des Dämons Lächeln,
Des Verfälschers tröstliche Glätte,
Des Lügners einleuchtende Wahrheiten,
Des Mörders Lebensklugheit,
Des Verräters daseinsbezwingende List,
Des Verleumders exakte Wissenschaft.

Fürchte nur des Dämons
Uralt unerkannte Gottähnlichkeit,
Die strahlende Maske,
Vielen tödlich.

Und fürchte ihn nicht!
Blick ihm ruhig ins trauernde Antlitz:
Von kalten Blitzen entzündet,
Gefurcht von Verachtung der Feigen,
Von Haß zerstört gegen
Einen ihm schweigenden Gott –
Blick ihm ruhig ins versteinerte Aug,
Immer steht er neben Dir.

Nicht schenkte ein Gott Dir sein Blut,
Daß in Furcht du erstarrst,
Leuchte dem Dämon zu späterer Erlösung,
Da er trug auch Dich,
Als Du ihm ähnlich warst.
Nun hilf ihm.

© Stefan Carl em Huisken 2022

1vgl. https://emhuisken.de/wordpress/2022/06/wer-ist-mitglied-der-allgemeinen-anthroposophischen-gesellschaft-eine-stellungnahme/, auch in: Ein Nachrichtenblatt 14/2022, S. 14f

2Steiner, Rudolf: Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft. – Stuttgart, 1920. S. 5

3Mit dem Ausdruck „anthroposophische Gesellschaft“ bezeichne ich hier ausschließlich den freien geistigen Zusammenschluss von Individualitäten (verkörpert oder nicht) zum Zwecke der Pflege der Anthroposophie. Nach Rudolf Steiners Worten sollte ja die anthroposophische Gesellschaft allem Vereinsmäßigen, d.h. also allem äußerlich Institutionellen ferne sein.

4vgl. Schiller, Friedrich von: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In ders.: Schriften. Schillers Werke, Bd. 4. – Frankfurt a.M., 1966, S. 193

5vgl. Steiner, Rudolf: Das Geheimnis des Todes. GA 159. – Dornach, 1980. S. 248f. Die Textstelle ist auch wiedergegeben in DIE LAHNUNG – Mitteilungen für individuelle Entwicklung und Lebenskunde, Nr. 7, Januar 2022, wo die hier besprochene Frage der Bildung von Geist-Gemeinschaften von anderen Gesichtspunkten aus ebenfalls erörtert wird.

6vgl. dazu Steiner, Rudolf: Die geistigen Hintergründe der sozialen Frage. – Dornach, 1989. 12. Vortrag, S. 211ff, dort auch viele weitere Hinweise zur Vertiefung der in diesem Artikel angeschnittenen Fragen.

7Das Gedicht kam zu mir durch Freunde, die einige Zeit lang mit Helmut Siegfried Unbehoven zusammengearbeitet haben. Unbehoven ist inzwischen verstorben. Trotz intensiver Bemühungen konnte kein Rechteinhaber ausfindig gemacht werden. Sollte also ein Leser Rechte an diesem Text haben und nachweisen können, bitte ich um Kontaktaufnahme mit mir über Email info@emhuisken.de.


Cover Wahnsinn und Denken anthroposophische Gesellschaft

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Ich hab mein Sach auf Nichts gestellt – Friesentreffen 2022

Im Nachklang eines inspirierenden Friesentreffens

„Ich hab‘ mein Sach‘ auf Nichts gestellt.
Juchhe!
Drum ist’s so wohl mir in der Welt.
Juchhe!
Und wer will mein Kamerade sein
Der stoße mit an, der stimme mit ein
Bei dieser Neige Wein“1

Die erste Zeile dieses Gedichtes von Johann Wolfgang von Goethe kam mir in den Sinn, als ich über das Friesentreffen am 6. Juni 2022 – dem Pfingstdienstag – am Upstalsboom bei Aurich nachsann. Und auch eine Ergänzung dieser ersten Zeile drängte sich mir auf:

Ich hab‘ mein Sach‘ auf Nichts gestellt,
nichts als den freien Menschen.

Auch wenn es in diesem Falle vielleicht nahe gelegen hätte zu sagen „… den freien Friesen“, so klang für mein Empfinden die allgemeine Formulierung mit dem „freien Menschen“ schlüssiger. Aber vielleicht ist der Unterschied zwischen beiden Formulierungen ja auch gar nicht so groß …

Bei dieser Versammlung beeindruckten mich zwei Redner besonders: Oebele Vries, Historiker und emeritierter Dozent der Rijksuniversiteit Groningen, und Christoph Schmidt, Direktor des Nordfriisk Instituut in Bredtstedt/Nordfriesland.

Upstalsboom bei Aurich Friesentreffen 2022

Oebele Vries rezitierte den Prolog und die ersten drei Küren der Friesen eindrucksvoll auf Altfriesisch (mit anschließender deutscher Übersetzung). Dabei kamen vor allem die Aussagen der 2. und 3. Küre und ihr Zusammenhang klar zum Ausdruck: sollte eines der verbündeten „sieben friesischen Seelande“ von einem Außenstehenden angegriffen werden, so würden die anderen sechs ihm beistehen, um seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu wahren, so die zweite Küre. Die dritte Küre sagt: sollte aber eines der Seelande ungerecht rauben oder morden, so sollten die anderen sechs das siebte zwingen, wiederum gerecht zu handeln.

Wer sich diese einfachen Regeln ein wenig besinnend „auf der Zunge zergehen lässt“, wird schnell bemerken, wie hier in einfachen und klaren Worten auch und gerade für unsere Zeit Wege aufgewiesen werden aus den Katastrophen des Umgangs der Staaten und Länder miteinander. Allerdings: es muss dabei sichergestellt werden, dass die Frage „gerechten“ oder „ungerechten“ Handelns Freund und Feind gegenüber aus gleichen Beurteilungsmaßstäben heraus entschieden wird. – Dafür trugen einst die gewählten Richter die Verantwortung.

In seinem Grußwort machte dann Christoph Schmidt darauf aufmerksam, dass es für einen lebensvollen und entwicklungsfähigen Umgang miteinander weniger entscheidend sei festzustellen, was nun das „richtige“ oder „falsche“ Friesentum, oder die „wahre“ beziehungsweise die „unwahre“ friesische Sprache sei; darüber bestehen naturgemäß unterschiedliche Auffassungen und Erfahrungen, und keine davon könne einfach für „ungültig“ erklärt werden zugunsten einer anderen. Vielmehr sei es wichtig, dass jeder Einzelne seine Sache mit Einsatz und Tiefgang verfolge und dem anderen auch dessen Weg gönne und nicht abspreche. Im Ergebnis könne daher eigentlich nur jeder Mensch selber darüber entscheiden, ob er „Friese“ sei oder nicht, und inwieweit seine friesische Sprache eine wahre sei.

Mich erinnerte diese Aussage sofort an ein Wort Rudolf Steiners in seiner „Philosophie der Freiheit“: „Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime der freien Menschen.“2 Damit sei – so Rudolf Steiner – auch ein hinderliches Aufeinanderprallen und Missverstehen bei sittlich freien Menschen ausgeschlossen. Diese Worte Rudolf Steiners kann man – so meine ich – gerade in unserer Zeit nicht oft und tief genug durchdenken. Sie standen auch bei meinen früheren schriftlichen Versuchen zu Fragen des Friesentums3 und der friesischen Kultur4 im Hintergrund. Beide Artikel kann ich dem Interessierten daher hier zur (nochmaligen) Lektüre empfehlen; vielleicht können sie ja Hinweise geben für die noch bessere Fundierung des eigenen (friesischen?) Selbstverständnisses in der Welt.

Das eingangs zitierte Gedicht Goethes gibt im Übrigen Hinweise darauf, welche Folgen es haben kann, wenn man sich frei zu machen versteht von aller Lenkung und Stütze von Außen, wenn man also sozusagen „sein Sach‘ auf Nichts stellt“. Er spricht nämlich vom Willen zur Kameradschaft, der für den Zusammenklang – das „mit einstimmen“ – entscheidend ist. In den weiteren Strophen des Gedichtes schildert er, wie es ihm gegangen ist, als er hier und da in der Welt seine Stütze suchte. Die angedeuteten Folgen sprechen für sich. Auch dies Gedicht in Gänze sei daher zur Lektüre empfohlen.

© Stefan Carl em Huisken 2022

1vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Vanitas! vanitatum vanitas! – In: Goethes Werke. Bd. 1. – Bibliographisches Institut Leipzig, 1926. S. 70f

2Steiner, Rudolf: Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode. – Dornach, 1973, S. 166

3vgl. https://emhuisken.de/wordpress/2017/08/wer-ist-friese/

4vgl. https://emhuisken.de/wordpress/2019/07/friesische-kultur-heute/