Von der Rettung der Welt

Heilsam ist nur, wenn
im Spiegel der Menschenseele
sich bildet die ganze Gemeinschaft;
und in der Gemeinschaft
lebet der Einzelseele Kraft.

Dies ist das Motto der Sozialethik
Rudolf Steiner1

Von der Rettung der Welt
und der Dreigliederung des sozialen Organismus

„Die Welt“ als das Ganze der mir gegenüberstehenden Gegebenheiten ist eine in sich in unterschiedlichen Regionen oder „Welten“ gegliederte, wie ich in Heft 11 von „DIE LAHNUNG – Mitteilungen für individuelle Entwicklung und Lebenskunde“ aufzuzeigen versuchte2. Sie erscheint der Betrachtung durch den heutigen Menschen als fertiges, feststehendes Werk, das dem Walten von Lebensprozessen entsprossen ist; diese wiederum sind Ausdruck eines zielgerichteten Wollens (nicht unbedingt bewusst oder gar selbstbewusst) – ich schrieb damals auch von Intentionen als geistige Tatsachen, die gleichsam Offenbarung dieses Wollens sind; schließlich findet sich das Wesen allen Geschehens in einer geistigen Region, in der es keinerlei Differenzierung räumlicher oder zeitlicher Art gibt, in der aber doch alles zugleich als Möglichkeit angelegt ist. Dieser letzteren Region gehört auch das Ich des Menschen an, insofern es diese „Welten-Anschauung“ in sich realisiert und so zum Träger der Selbst-Bewusstwerdung des betrachteten Welt-Ganzen wird.

Der Mensch ist also in diesem Sinne einerseits letztes „Werk“ in einer aufeinanderfolgenden Reihe von sich entwickelnden Gegebenheiten, und demgegenüber zugleich das erste Werk, das seinen eigenen Ursprung in sich hervorzubringen in der Lage ist, zunächst in einer abstrakt anmutenden geistig-denkerischen Innenschau auf sein eigenes Erleben der Welt. Damit ist aber in ihm im Prinzip – das heißt in der Form des Selbstbewusstseins – zugleich der Ursprung des Ganzen gegeben.

Dieser Ursprung ist im noch undifferenzierten Sein nicht in der Lage, sich seiner selbst bewusst zu werden. Dazu muss er sich offenbaren – was das Auftreten einer ersten Trennung von Wahrnehmungsinhalt (den eigentlichen Offenbarungsinhalten) und wahrnehmendem Wesen (als Offenbarung des Wollens, dass nämlich Wahrnehmung sein möge) einschließt. Offenbarung ist also unmöglich ohne Wirksamkeit in dem Sinne, dass sie als Voraussetzung und Folge gleichermaßen ihre eigene Entgegennahme einschließt. Die Offenbarung läuft in die Intention zur Schaffung eines wahrnehmenden Wesens ein, welche wiederum in Ihrer Wirkung ein solches Wesen hervorbringt – als Werk.

Rudolf Steiner schildert drei Formen des Seins: des wesenhaften, noch undifferenzierten, unentwickelten (Steiner nennt es auch „involvierten“) Seins; des sich offenbarenden, also sich entwickelnden („evolvierenden“) Lebens; und schließlich der dadurch bewirkten gestalteten Form. Diese Dreiheit nennt er die drei Logoi, oder auch die Dreifaltigkeit aus Vater, Sohn oder Wort, und Heiligem Geist3.

Erst im Menschen, als letztem Werk dieses Evolutionsprozesses, tritt ein gänzlich vom Vater unabhängiges Wesen auf, das also notwendig die Trinität der drei Logoi als unmittelbar Gegebenes verlieren musste; nur durch diese Unabhängigkeit kann der Mensch ein vollgültiges, selbständiges Spiegelbild des Urgrundes sein: der Mensch als Gottes Bild.

Es ist sprechend, wie Steiner als erste Schöpfung der Allmacht das Chaos bezeichnet, das „Tohuwabohu“ des alten Testamentes also. Erst im zweiten Schritt, im eigentlichen Evolutionsprozess, wird alles nach Maß und Zahl geordnet („All-Weisheit“), um schließlich im dritten Schritt, in der „All-Liebe“ vom Prinzip der Sympathie (Anziehung) und Antipathie (Abstoßung) durchdrungen zu werden4.

Wir, als Gesamtheit der Menschen, sind nun als Gewordene jeder einzelne Bild des Urgrundes. Was im Vater noch als Chaos, als Ungeordnetes doch aber Eines war, ist im Menschen nun in der Mannigfaltigkeit, im chaotischen Durcheinanderwirken der Einzelmenschen anfällig für den Zerfall, die Zerstörung, ist dem Tode verfallen. Die menschliche Gesellschaft ist insofern ja auch Bild der Zerstörung des einheitlichen Ganzen, denn was Mensch ist, tritt in der Vielheit auf. Erst wenn der einzelne Mensch in die Lage kommt, sich selber als einen gültigen Ausdruck der geistigen Urform „Mensch“ zu verstehen, die doch in jedem einzelnen Exemplar den Vatergott spiegelt, und darin den Aufruf erkennen kann, die ihm geschenkte All-Liebe zur Erlösung der Welt zu verwenden, kommt neues Leben in das ansonsten ersterbende Werk hinein.

Um diesen Schritt gehen zu können, braucht der Mensch allerdings – und genau in diesem Punkte – Anleitung und Hilfe. Diese wurde ihm zuteil, als der Vatergott sich im Sohn – dem Weltenwort – verhüllte, und sich so seinem Spiegelbilde – dem Menschgeist – offenbarte im Christus5. Geht der Mensch also erkennend, das heißt, dem Gegebenen Begriffe entgegentragend, mit dem Christusereignis um, so kann er dadurch den Sinn seines eigenen Daseins erfahren. Damit macht er sich zum Offenbarer des in ihm selbst gespiegelten ersten Logos, des Vaters, und stellt sein Tun (zum Beispiel im Begriffe-Bilden) dadurch in den Dienst der zweiten Logos, des Christus, der erst geordnet Leben und Entwicklung dem Chaos hinzufügt.

Aus diesem inneren Entwicklungsschritt kann darum eine Ordnung des äußeren Chaos im Zusammenwirken der Menschen hervorgehen. Diese Ordnung muss dann so sein, dass sie ein Spiegelbild dessen gibt, was der Mensch im Blick auf sein eigenes gewordenes Sein im Geiste als sich selber erkennen kann. Dieser Blick fällt letztlich auf das Bild der drei Logoi, wie sie sich im heutigen Menschen als Werk darleben, aber so, dass es den Charakter des Selbstbewusstseins bekommt. Der Mensch tritt also hier als darum Ringender auf, sich selbst als Evolution des Göttlichen zu erleben.

Was Rudolf Steiner als „Dreigliederung des sozialen Organismus“ beschrieb, die notwendig in das Leben der Menschen unserer Zeit hineinkommen müsse, ist also kein irgendwie ausgedachtes System zur Erlangung eines möglichst glücklichen Lebens für alle, sondern ein auf ernster Selbsterkenntnis des Einzelnen fußender Schritt hin zur Erlösung aller Wesen, aller Welt. Rudolf Steiner beschreibt diese Situation auch so: „Das Wort verhüllt sich im Geist und offenbart sich dem Vater“6. Wie sich der Vatergott im Christus verhüllte um sich dem ins Werk gefallenen (Menschen-)Geist zu offenbaren, so verhüllt sich nun der Christus-Sohn – das Wort – im Geist, also im Menschen, um sich dem Vater zu offenbaren. Das ist die wahre Bedeutung des paulinischen Wortes: „Nicht ich, der Christus in mir“!

Wer also aus der Erkenntnis der im eigenen Wesen sich realisierenden Trinität heraus sein Leben bewusst zur Offenbarung des Christus macht, der sich im egoistischen, an der Sinnenwelt hängenden Einzel-Ich verhüllt, wird zum wahren Mitarbeiter der Schöpfung im Werk Gottes. Ganz konkret bedeutet dies, seinen inneren lebendigen Geist-Anblick der Trinität zum Ausgangspunkt seines Handelns zu machen, sein eigenes Geistesleben also zu befreien von den Egoismen und Gewohnheiten der eigenen gewordenen Person, und so zu einem lebendigen, konkreten menschlichen Quell einer wirklich frei errungenen „Dreigliederung des sozialen Organismus“ zu werden. Die von Rudolf Steiner immer wieder als unverzichtbarer Anfang einer sozialen Umgestaltung geforderte „Schaffung eines freien Geisteslebens“ wird auf diese Weise konkret und kann sofort, von jedem Einzelnen in Angriff genommen werden.

Selbsterkenntnis wird so zur Christuserkenntnis, von der aus die All-Liebe des Menschen in die werdende Menschheit einströmen kann; nur die Erkenntnis ermöglicht die richtige Unterscheidung. Der Einzelne, der im Anderen wie in sich selbst den verhüllten Christus erkennt, kommt zu einer anderen Auffassung vom Recht im sozialen Leben, als sie allen denkbaren Utopien eignet; dort ist Recht immer nur möglich als verabredetes, dann aber über jedem Einzelnen stehendes, festes Regelwerk, das der Gewalt zu seiner Durchsetzung bedarf. Der durchchristete Mensch bedarf keiner Gewalt, um dem anderen – Christusträger wie er selber – menschenwürdig zu begegnen.

Gewiss wird ein solcher Zustand der menschlichen Gesellschaft, der letztlich alles geschriebene Recht überflüssig macht, noch lange auf sich warten lassen7. Entstehen kann er aber dennoch nur, wenn die Wenigen, die heute schon aus christlicher Selbsterkenntnis im sozialen Miteinander zu leben versuchen, nicht nachlassen in ihrem Streben, und vor allem die Erkenntnisgrundlagen für ein wirklich lebendiges „demokratisches“ Miteinander immer mehr Verbreitung finden. Dreigliederung entsteht im sozialen Organismus nicht durch Anwendung irgendwelcher Systeme, sondern durch ernste Arbeit jedes Einzelnen an sich selbst. Darin liegt die „Gleichheit“, die die Menschen im Rechtsleben erfahren können.

Und schließlich, wenn der christlich erkennende Mensch sich dem allen Menschen eigenen Welten-Erden-Wesen zuwendet, so wird ihm das jedem Wesen angemessene Teilen dessen, was allen gemeinsam aus der Schöpfung des Vaters zukommt, eine Selbstverständlichkeit sein. In gemeinsamer Arbeit im Weltenlaufe all die Dinge, die aus dem ursprünglich göttlichen Leben ebenso wie der Mensch selbst in die Werkwelt gefallen und so dem Wirken des „widerrechtlich Fürsten der Welt“ anheimgefallen sind, in den eigenen Geist aufzunehmen durch eine geistgemäße Wissenschaft, und sie so schon in der Erkenntnis einer ersten Erlösung zuzuführen, wird die gemeinsame Richtschnur wirklich „brüderlichen“ Handelns der Menschen werden. Nur, was ich wirklich kenne und um seiner selbst willen achte, kann ich in meinem Handeln angemessen würdigen; das gilt für Menschen ebenso wie für Tiere, Pflanzen, Steine, die Elemente ebenso wie alle geistigen Wesen, die den Erscheinungen der Werkwelt zugrundeliegen.

Genau wie bei der „Schaffung eines freien Geisteslebens“ kommt es also im Rechts- und Wirtschaftsleben auf den Einzelnen an, auf seinen Erkenntnismut, sein Erkenntnisschaffen. Weil die Menschen nicht erkennen, was in jedem Einzelnen veranlagt ist als Richtschnur eines wirklich menschenwürdigen Umganges miteinander, bleibt das Chaos bestehen und geht nicht über in ein geordnetes Miteinander. Jeder Einzelne, der aus Erkenntnis zu handeln versucht, ändert das Ganze. Nur so kann die Welt gerettet werden aus der Erstarrung in zerstörerischen Machtkämpfen, die aus triebhaften, dumpfen oder ideologisch-maschinenhaftem Egoismus entstehen müssen. Leitschnur kann dabei der Blick auf die drei Logoi in ihrer Realisierung im selbsterkennenden Menschen werden.

Also: frisch ans Werk?

© Stefan Carl em Huisken 2023

1Steiner, Rudolf: Wahrspruchworte. GA 40. – Dornach, 1975. S. 256.

2em Huisken, Stefan Carl: Was ist die Welt? – In: DIE LAHNUNG, Nr. 11, S. 7 ff. Hier auf der Website unter https://emhuisken.de/was-ist-die-welt/

3vgl. Steiner, Rudolf: Bewusstsein – Leben – Form. Grundprinzipien der geisteswissenschaftlichen Kosmologie. GA 89. – Dornach, 2015. S. 237. .pdf im Internet: https://odysseetheater.org/GA/Buecher/GA_089.pdf

4vgl. ebd., S. 238

5vgl. ebd.

6ebd.

7Ebenso wie umgekehrt der Hereinbruch der römisch-juristischen Denkweise ins Germanische z.B. bei den Friesen erst spät dazu führte, dass lebendig gefühltes und in der Gemeinschaft praktiziertes Recht überhaupt aufgeschrieben wurde.


Cover Wahnsinn und Denken Offenbarung des Menschen Rettung der Welt

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Wozu braucht man den Darwinismus?

Charles Darwin Darwinismus
Charles Darwin

Die Vorstellung, dass jedes höher entwickelte Wesen im Gang der Entwicklung durch eine Art „Naturzüchtung“ im sogenannten „Kampf ums Dasein“ erst entstanden ist, weil es dabei eben sich stärker zeigte als seine Konkurrenten, ist so recht nach dem Geschmack bestimmter parasitär gestimmter Menschengruppen, die ihre vorrangige Aufgabe darin sehen, andere Menschen zu beherrschen zum Zwecke der Ausbeutung. Ein solches Bild der Entwicklung, in dem immer der Stärkere den Schwächeren besiegt und verdrängt, hat – wenn es als gültig angesehen werden soll – allerdings gewisse Voraussetzungen, die kaum jemand wirklich in Rechnung zieht oder gar öffentlich benennt.

Bereits Ende des 19. Jahrhunderts, als ein solches Menschenbild, das ja auf der Grundlage von Charles Darwins Buch „Über die Entstehung der Arten“ aufgekommen ist, immer größere Bedeutung gewann, wussten klar denkende Menschen von diesen Voraussetzungen und den damit verbundenen Folgen. So zitiert Rudolf Steiner 1904 in seinem Aufsatz „Über moderne naturwissenschaftliche Anschauungen“1 den Forscher W.H. Rolph, der bereits 1884 schrieb:

„Erst durch die Einführung dieser Unersättlichkeit wird das Darwinistische Prinzip der Vervollkommnung im Lebenskampfe annehmbar. Denn nun erst haben wir eine Erklärung für die Tatsache, dass das Geschöpf, wo immer es kann, mehr erwirbt, als es zur Erhaltung seines Status quo bedarf: dass es im Übermaß wächst, wo die Gelegenheit dazu gegeben ist. … Während es also für den Darwinisten überall da keinen Daseinskampf gibt, wo die Existenz des Geschöpfes nicht bedroht ist, ist für mich der Lebenskampf ein allgegenwärtiger. Er ist eben primär ein Lebenskampf, ein Kampf um Lebensmehrung, aber kein Kampf ums Dasein.“2

Damit wird gleichzeitig klar: wer unersättlich ist, braucht den Lebenskampf, um seine Unersättlichkeit auszuleben und sie dabei auch noch als eine für den Menschen unausweichliche Naturnotwendigkeit hinzustellen. Und auch „rein menschlich“, moralisch sozusagen, steht er fein da: er ist ja nicht schuld an den Folgen, das ist eben alternativlose Naturnotwendigkeit.

Solche ausweglosen Situationen, in denen „höhere Gewalt“ dieses oder jenes alternativlos erzwingt – so wird es uns jedenfalls von gewissen tonangebenden Kreisen immer wieder eingehämmert – kennen wir aus der Gegenwart und unmittelbaren Vergangenheit ja zur Genüge. Dass die Sache vielfach nicht recht schlüssig scheint, bemerken allerdings auch immer mehr Menschen. Und dann sucht man die Schuldigen, die „bösen Menschen“ (die „bösen Darwinisten“?), denn wenn man die mit der moralischen Keule auf dem Umwege der Mobilisierung der Massen dann aus ihren Positionen vertrieben hat, so meint man, wird alles besser. Ist das wirklichkeitsnäher als das „Darwinistische Prinzip der Vervollkommnung im Lebenskampfe“?

Was man dabei übersieht, ist dies: man versucht im „Kampf ums Dasein“, im „Lebenskampfe“ nun eben auch mitzuspielen, nur von vermeintlich „höherer moralischer Warte“ aus. Die zugrundeliegende Ideologie – den „Darwinismus“ als solchen, mehr oder weniger simplifiziert – zieht man nicht in Zweifel. Man macht einfach im„Lebenskampf“ mit und bestätigt so durch die Tat dessen daseinsbeherrschende Macht, die – wie ja schon Rolph erkannte – letztlich untrennbar mit der menschlichen Unersättlichkeit verbunden scheint. Aber ist das überhaupt so?

Gewiss: die Exzesse kolonialistischer Kriege, die menschenverachtenden Wirtschaftssysteme sind ja ebenso vorhanden wie die sexuellen und drogenstimulierten Ausschweifungen mancher derzeit die Weltenlenkung darstellenden Figuren. Und dass die Unersättlichkeit parasitierender Triebtäter vor allem aus Übersee nahe daran ist, die menschliche Zivilisation insgesamt zu vernichten, kann ohne gezieltes Wegsehen und Weghören kaum noch jemand ernsthaft ableugnen. Allerdings: die Situation ist nicht ausweglos.

Abgesehen davon, dass sich das gesamte darwinistische Denkmodell ziemlich problemlos anhand von Tatsachen widerlegen lässt3, kann man solch eine Sachlage auch so lakonisch kommentieren wie Rudolf Steiner das obige Zitat von W.H. Rolph schon 1904: „Nur natürlich ist es, daß sich bei solcher Lage der Tatsachen die Einsichtigen gestehen: Die materialistische Gedankenwelt taugt nicht zum Aufbau einer Weltanschauung. Wir dürfen, von ihr ausgehend, nichts über die seelischen und geistigen Erscheinungen aussagen.“4

Die Unersättlichkeit des Menschen (eine „seelische Erscheinung“ also) ist ja nur für denjenigen eine Art unausweichlicher Zwang, der sie in seinem Denken zu einem solchen macht. Das ist dann ein Denken, das hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt und leugnet, dass es sich selber zu steuern in der Lage ist. Das wäre ja ein unbequemer Weg, auf dem man selber Verantwortung für die eigene Weltanschauung übernehmen müsste, frei und ohne Scheuklappen, selber denkend. Was daraus als Taten erflösse, müsste der Einzelne dann auch selber verantworten. Das will er allerdings vielfach nicht, und so bastelt man sich lieber ein Welt- und Menschenbild, in dem die Freiheit des Menschen zugunsten reiner Triebtäterschaft (seien es sogenannten „höhere moralische“ oder „niedere“ Triebe) zurücktritt und die Schuld daran dann weiterhin anderen – Gott, irgendeinem „Gegner“ oder eben der „unausweichlichen Weltgesetzlichkeit“ – zugeschoben werden kann.

Wer diese Situation nachhaltig durchdenkt, und daraus auch Konsequenzen ziehen will, kann gar nicht anders, als sich selber – und damit den Menschen schlechthin – als Geistwesen anzusehen, das sich selbst verloren hat und nun vor der Aufgabe steht, sich selber wiederum – dann allerdings bewusst und frei – unter Kontrolle zu bekommen.

Darum ist es in der derzeitigen Weltlage gar nicht die erste Frage, was konkret zu tun sei, sondern vielmehr, wie jeder Einzelne (und nach und nach immer mehr davon) erst einmal zur Einsicht kommen könne in die Grundlagen seines Handelns. Handeln wir wirklich selber oder überlassen wir die Steuerung unseres Willens dunklen Trieben, zu deren freier Verwendung? Oder, anders gesagt: Wer bestimmt unser Handeln – das eigene ICH oder ein dunkles Triebwesen?

Der „man“, der sich nicht einmal selber benennen mag, nicht einmal den eigenen Namen kennt, der ICH heißt, braucht den Darwinismus zur Rechtfertigung seiner Freiheits-Unwilligkeit, also seiner Bequemlichkeit. Der freie Mensch lehnt ein solches Denken in „Unausweichlichkeiten“ ab, denn es hindert ihn an der eigenen Höherentwicklung im Dienste der (eigenen) Menschlichkeit.

© Stefan Carl em Huisken 2023

1Steiner, Rudolf: Lucifer – Gnosis. Grundlegende Aufsätze zur Anthroposophie 1903-1908. GA 34. – Dornach, 1987, S. 457ff

2Zitiert nach Steiner ebd., S. 464

3Vgl. zum Beispiel Delor, Andreas: Atlantis aus aktueller hellsichtiger und naturwissenschaftlicher Sicht. Band 5a. – Borchen, 2018. S. 6ff

4Steiner, Rudolf: ebd.


Cover Wahnsinn und Denken Menschen-Werden

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Wie wird der Mensch?

„O Mensch, erkenne dich selbst!“ – so tönte es dem Sucher aus den alten Mysterien entgegen. Da der Mensch als Werdender aber niemals gleich bleibt, sondern immer in Entwicklung ist, kann er sich selber nur verstehen, indem er sein eigenes Werden geistig umfasst.

Das innere Erkenntnislicht entsteht aus dem Selbst-Bewusst-Werden des Menschen als einem aus dem Weltganzen gleichsam „Hinausgeworfenen“, der die Welt verloren hat und den die Welt verloren hat, und der aus alldem, was er in seinem (seelischen) Innenwesen finden kann, diesen Verlust als seinen eigenen Anfang erleben lernt, indem er seine Situation in seiner Seele anschauen lernt, bedenken lernt, mit seinem inneren Denk-Seelenlicht bescheint. Er bemerkt: Ich bin anders als die Welt, „mein Reich ist nicht von dieser Welt“.

Indem der Mensch so in innerer Besinnung auf diesen „Hinauswurf“ sein eigenes Werden nachvollziehen lernt, wendet sich der Geist, der Mensch und Welt als polar sich tragende Einheit umfasst, aus dem Menschen zur Welt, fügt dieser Welt damit etwas Neues, aus ihm selber Stammendes hinzu, und muss doch gleichzeitig bemerken, dass, was er gerade hervorbrachte, ihm im selben Augenblick wieder entgleitet. Seinen eigenen geistigen Erkenntnisprozess kann der Mensch nicht festhalten, so wie es auch der Gottesgeist mit dem seinigen nicht konnte, da dieser Prozess in ständiger Wandlung ist und nur im Tun vorhanden und anschaubar.

Zwischen Welt und Geist weben also Kräfte, welche aus beiden in unterschiedlicher Weise hervorgehen, die Einheit des jeweils individuellen Menschen. Indem der Mensch als irdisches Einzelwesen in diese gleichsam kosmische Polarität und damit als Mittelpunktswesen seines eigenen, umfassenden Seins in den Raum der Welt gestellt ist, wird er zum Träger des Ausgleichs zwischen Außenwelt und Seelengründen. Vom kosmischen Schicksal ergriffen und in diesen Mittelpunkt gestellt, findet er sich auf der Suche nach dem rechten Greifen des Ausgleichs, nach demjenigen, worin sich nach Schillers Worten Anmut und Würde ausdrücken können: der Kunst und dem Spiel.1

Der einzelne individuelle Erdenmensch, so, wie er aus dem kosmischen Schicksal heraus geworden ist als ein Mittelpunktswesen des Universums, erwacht für sein eigenes Sein, und wird dadurch zugleich diesem Mittelpunkts-Sein gerecht, indem er in seinem eigenen Erwachen die eigene, in ihrem ganzen Umfang ihm noch unbewusste Göttlichkeit bemerkt. So kann er ahnen und schauen, wie aus dem Kosmos heraus dieses ganz dem Kosmos entfremdete Wesen seiner selbst, aus sich selbst heraus, zunächst in strenger innerer Denk- oder Meditations-Arbeit den Gedanken des kosmischen Wesens und Werdens hervorzubringen beginnt, der ihm selber immer mehr zur Stütze seines eigenen Seins wird. Dadurch wird er unabhängig vom kosmischen Werden, kann aus sich selbst heraus den Weg der Freiheit betreten.

Aber er muss ertragen, dass alles, was er sich und dem Weltenprozess aus sich selber hingibt, im Augenblick der ersten Wahrnehmung des gerade Gegebenen ihm entfällt, das Leben verliert, aus einem Ergebnis seiner eigenen Entwicklung zu einem Hindernis für das Weiterschreiten wird; der Mensch schafft sich also selber Widerstände, an deren Überwindung er dann zu wachsen hat2. So wird er von einem Geschöpf des Lebens zum Mit-Schöpfer, zu einem fortlaufend sich höher entwickelnden Quell des Lebens. Der Mensch selber wird dadurch zum Quell der Lebenskraft, einem Quell, der aus dem eigenen fortwährenden Schaffen heraus nach und nach zum verlässlichen Bestandteil des lebendigen Weltganzen werden kann, da er seine Kraft eben aus sich selbst, aus dem Beobachten des eigenen Tuns immer neu zu schöpfen lernt.

Was der Mensch in der Welt schafft, unterliegt deren Gesetzen in dem Augenblick, wo es der Welt übereignet wird. Macht sich der Mensch als schaffender Kräftequell aber selbst zum Gegenstand, der ihm schließlich im Weltganzen gegenübertritt, so schenkt er sein Leben gleichsam weg, geht selber durch den Tod, verändert dieses Weltganze damit aber so, dass er ihm neues Leben einhaucht. Sein eigener Zeitenstrom des Lebens gliedert sich dem kosmischen Entwicklungsstrom ein, verrinnt in diesem. Damit werden beide – Erdenmenschenwerden und kosmisches Werden – nach und nach eines. Indem der Mensch sein eigenes Selbst-Werden der Welt schenkt, soweit er dies sich selber gegenüberstellen kann, ist er dem Weltenwerden einverwoben3.

Damit tritt er ein in den geistigen „Raum“, dem das Werden entstammt. Was der Mensch im Bewusstwerden des eigenen Wesens erschafft, wird Bestandteil des Ewigen im Weltganzen. Sein eigenes Menschsein wird damit Ausdruck und untrennbarer Bestandteil des geistigen Seins und Werdens im Ganzen der göttlichen Schöpfung; seiner Aufgabe als Mittelpunkt und Schau-Platz des Weltenwerdens kann der Mensch so gerecht werden. Dass er selber die Welt und die Welt ihn verlor, ist damit Voraussetzung für beider neue Belebung und Auferstehung in die Zukunft hinein.

Kein Mensch ohne die Welt, aber auch keine Welt ohne den Menschen.


Im Erdendasein des Christus Jesus wurde daher gleichsam exemplarisch das Wesen Gottes als Urheber aller Werdekraft, aller Weltenziele und aller Weltobjekte im Rahmen des Weltenwerdens durch den Menschen Jesus und den ihm einverleibten Christus all den „Hinausgeworfenen“, den „verlorenen Seelen“ ganz handfest als Auftrag und Verheißung gezeigt: werde wie er, indem du ihn in dir wirken lässt (also: in Form deines eigenen, freien Lebens-Werdens). Nur im Rahmen der Gesamtbewegung der Menschenentwicklung bekommt dieses Ereignis einen Sinn. Indem wir lernen, im „Buch des Lebens“ zu lesen, also in den in unserem Denken erfassten Bewegungen der Lebensvorgänge, bekommen einzelne Tatsachen so ihren guten Sinn.


Auch mit den Worten, die aus dem lebendigen Schaffen des Dichters heraus bis zu toten Buchstaben auf Papier geronnen sind, ist es so. Ihren wirklichen Sinn bekommen sie nur, wenn wir Zugang finden zu den sie hervorbringenden lebendigen Denk- und Lautbewegungen – niemals aus dem einzelnen Wort heraus oder gar aus dem, was wir gewohnheitsmäßig mit ihm verbinden.

Und auch die Sprache des Schicksals folgt diesem Gesetz: nicht die „Worte“, hier also die einzelnen Ereignisse im Gang des Lebens lassen uns diese Sprache verstehen; es sind erst die Bewegungen, welche die Abfolge der Ereignisse in unserem Leben veranlassen, durch die wir die Bedeutung der Ereignisse ermessen lernen. Wie im ewigen Gesetz von Leben und Tod, aus dem wiederum neues Leben aufsteigen soll, der Menschengeist sich selbst erschafft und sein Leben der Welt übergibt, so gibt die Sprache des Schicksals zwischen Sterben und Auferstehung dem Menschen erst den Sinn seiner selbst.

© Stefan Carl em Huisken 2023

1vgl. Schiller, Friedrich: Über Anmut und Würde. In: Schiller, Friedrich: Schriften. Schillers Werke. Band 4. – Frankfurt a.M. 1966, S. 141ff, besonders S. 170ff

2Tat dies der Gott nicht in ähnlicher Weise? Vgl. den Aufsatz „Wer ist Gott?“, https://emhuisken.de/wer-ist-gott/

3An einer eher praktischen Frage habe ich dieses Sich-Einverweben in den Weltenstrom ein wenig erörtert in meinem Artikel „Was hilft die Aufregung? – Die Kräfte wirksam nutzen“, hier: https://emhuisken.de/das-boese-was-hilft-die-aufregung-die-kraefte-wirksam-nutzen/


Cover Wahnsinn und Denken Menschen-Werden

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Was ist die Welt?

Was für eine überflüssige Frage, mag mancher denken, das ist doch ganz klar! Dass diese Frage vielleicht nicht gar so überflüssig ist, sondern vielleicht zu interessanten und wichtigen Einsichten führen kann, soll mit diesem kleinen Aufsatz versuchsweise dargelegt werden.

Zunächst: was jedem Einzelnen von uns als Welt sinnlich wahrnehmbar gegenübersteht, hat den Charakter des Gewordenen, bis zum derzeitigen Zustand Fertiggestellten, und als solches zunächst also Unveränderlichen – das in der Vergangenheit liegende Werden kann nicht mehr so beeinflusst werden, dass die vorliegende Erscheinung der Welt eine andere wird. Soll etwas anders werden, muss der vorliegenden Welt ein neuer Werdeprozess hinzugefügt werden, der dann einen veränderten Zustand der Welt zur Folge hat. Es muss also zunächst der Summe der bisherigen Werdevorgänge eine neuer Vorgang hinzugefügt werden.

Dies kann uns aufmerken lassen: der aktuelle Zustand der wahrnehmbaren Welt ist ein fester, gegebener. Jede Veränderung kann nicht aus diesem Zustand selbst erfolgen, denn dieser ist eben Zustand. Und Zustande sind Ergebnisse von Vorgängen, welche aus sich selber heraus niemals Zustände sein können, sondern diese eben hervorbringen. Prozesse als solche können also keine wahrnehmbaren Gegenstände der Sinneswelt sein, also geworden, sondern sie sind geradezu das Werden selbst.

Der sinnlich wahrgenommene Welt-Zustand kann also niemals aus sich selbst heraus Veränderung erfahren, sondern nur aus dem Reich der Zeitgestalten heraus, das heißt, der sich im zeitlichen Ablauf formenden Intentionen. Um Missverständnissen vorzubeugen: mit dem Wort „Intention“ wird hier nicht bloß auf bewußte Zielorientierungen hingedeutet, sondern einfach auf die Tatsache, dass jedem zeitlichen Ablauf das Erreichen irgendeines Zieles eignet, sei es vorher oder nachher oder gar nicht erkannt. Sobald der Ablauf beginnt, wirkt also wie aus der Zukunft heraus eine „Intention“.

Jede Veränderung des Weltzustandes hat damit ihren Ausgangspunkt außerhalb der Summe der im Weltzustand zusammengefassten Einzel-Gegenstände und Verhältnisse. Das Reich des Werdens ist ein anderes als dasjenige des Seins. Schon in den Wortklängen drückt sich das aus: durch das Walten der Intentionen entsteht die Welt in ihrer jeweiligen Verfassung.

Es ist wichtig zu bemerken, dass nur die gewordene, also „seiende“ Welt mit Sinnen wahrgenommen werden kann. Das Werden nehmen wir nicht direkt wahr, wir konstatieren es nur anhand der Unterschiede der aufeinanderfolgenden Welt-Zustände, im Rahmen unseres Mit-Erlebens. Das Werden ist also nicht Bestandteil der Sinneswelt, sondern formt diese, ist ihr in gewissem Sinne „übergeordnet“. Die Gesamtheit solcher Werdevorgänge bezeichnen wir in der Regel als das „Leben der Welt“; sofern diese Vorgänge uns als Person betreffen, als unser eigenes Leben1. Kurz und gut: der Welt eignet ein Leben, das aber, da es als Auslöser immer neuer Welt-Zustände fungiert, der aktuell seienden Sinneswelt offenbar übergeordnet ist. Dieses Leben ist selber ein Nicht-sinnliches, das man aufgrund der genannten Überordnung auch ein Übersinnliches, also Geistiges nennen könnte.

Noch „geistiger“ in diesem Sinne ist die den Lebensprozeß bestimmende Intention. Sie schließt den gesamten Prozeßverlauf einschließlich seines Anfangs- und Zielzustandes ein, ist also sozusagen ein „das Leben Bewirkendes“ und damit noch „übersinnlicher“ als das Leben selbst. Die Intention ist damit Offenbarung eines Wollens2, eines Willens also, der sich bereits ein Ziel gesucht hat.

Jede Zustandveränderung in der Sinneswelt ist damit ein im Übersinnlichen wurzelndes Offenbaren eines Wollens durch eine Intention, die das Walten des Lebens so bestimmt, dass eine gerichtete Zustandsveränderung in der sinnlich wahrnehmbaren Welt stattfindet. Wollen, Intention und Leben sind übersinnliche Entitäten, die für den Einzelnen daher nicht unmittelbar gegeben, sondern nur durch eigene Anstrengung denkend erfassbar sind3.

In einem umfassenderen Sinne kann man nun auch die ganze Summe der sinnlichen Welt-Erscheinungen zusammen mit den darin waltenden Lebensprozessen und Intentionen als „Welt“ bezeichnen, insofern sie uns in der inneren Anschauung gegenübertritt, also gleichsam „wahrgenommen“ wird. Denn auch der Intentionen- und Lebensprozess-Vorrat, der zu dem jeweils gegebenen Zustand der Erscheinungswelt gehört, ist in gewissem Sinne ein „Gewordenes“, wenngleich durch seinen übersinnlichen Charakter nicht unveränderlich, sondern in ständiger Entwicklung begriffen; bezogen auf einen bestimmten Weltzustand ist er aber ein Gewordenes. Es gibt also ganz offenbar ein noch höheres Reich außer den Sinneserscheinungen, den übergeordneten Lebensprozessen und den darin waltenden Intentionen als Ausdruck gerichteten Wollens, ein Reich, von dem aus die Gesamtheit von Zuständen, Prozessen und Intentionen beobachtet werden kann.

Bis zu diesem Punkt gekommen, scheint es auch berechtigt, in gewisser Weise von unterschiedlichen „Welten“ zu sprechen: der äußeren Welt der sinnlich-physischen Körper, der Welt der Lebensprozesse, die vielfach auch die „ätherische Welt“ genannt wird, und die Welt, aus der als Offenbarungen eines Wollens die Intentionen stammen, die in den Lebensprozessen wirken. All diesen Welten gehört der Mensch an mit dem Teil seiner Gesamtwesenheit, der ihm das Leben in der Welt vermittelt. Dadurch, dass er sich aber diesen drei Welten gegenüberstellen und dadurch einen Gesichtspunkt einnehmen kann, der über sie hinausgeht, erweist er sich gleichzeitig als Angehöriger desjenigen Reiches, das diese drei Welten umfasst und sich dadurch ihnen übergeordnet zeigt.

Sind schon die Regionen der Lebensprozesse und Intentionen als übersinnliche gewissermaßen ein „Geistiges“, so kann man diejenige Welt, aus der erst Wollen und Intentionen hervorgehen, und der der Mensch angehört, als die „eigentliche geistige Welt“ bezeichnen. In ihr wurzelt der Mensch mit seinem Ich, das sich durch sein leiblich-seelisches Leben in der Welt ausprägt. So kann er auch seine Intentionen dem Weltenwerden einverleiben.

Nun ist es aber eine Tatsache, dass die jeweilige bewusstwerdende Kombination von Intentionen, Lebensprozessen und Weltgegenständen, die für einen Menschen seine Welt bedeutet, vollkommen individuell, für jeden Menschen einzigartig ist. Was in ihm von der Gesamtheit dieser Welten bewusst, und was unbewusst auftritt, ist für jeden Menschen individuell verschieden. Dennoch kann gesagt werden, dass alle Menschen in dieser Hinsicht in derselben Welt leben. Denn auch das, was einem Menschen unbewusst bleibt – in den meisten Fällen also wohl der überwältigend große Teil der Bestandteile dieser drei Welten – gehört zu ihm, ganz individuell.

Ebenso, wie man unzweifelhaft wissen kann, dass der Bewusstseinsinhalt eines jeden Menschen ein einzigartiger, individueller ist, muss gesagt werden, dass der Inhalt eines jeden menschlichen Unbewussten völlig individuell ist; ebenso wie jeder Mensch nur einen individuellen Teil der ihm gegenüberstehenden Welten mit seinem Bewusstsein umschließt, ist der aus seinem Bewusstsein ausgeschlossene Teil des gesamten Weltenseins ein völlig individueller. Damit steht immer das Weltganze jedem einzelnen Menschen als Teil seinen ureigensten Wesens gegenüber; lediglich die Verteilung von Bewusstem und Unbewusstem ist bei jedem Menschen verschieden.

Man kann also insofern sagen, dass es eine wie auch immer geartete Welt ohne den Menschen gar nicht geben kann, denn ohne ein ihr gegenüberstehendes Ich, das ihre Existenz in allen Facetten umgreift, kann ihr Vorhandensein oder Nichtvorhandensein gar nicht festgestellt, allenfalls vermutet oder geglaubt werden. Damit ist ja nicht gesagt, dass die Welt (oder die Welten) nur von des Menschen Gnaden und von ihm bewusst oder unbewusst erzeugt würden; nur, dass es eine Welt ohne den Menschen nicht geben kann, ebenso wie ohne Welt kein Mensch existieren könnte. Beide gehören untrennbar zusammen.

Diese Zusammengehörigkeit von Welt und Mensch ist eine polare: was ihm als Welt gegenübersteht, bekommt seine Impulse aus der Region, der der Mensch entstammt, dem Reich des Geistes also. In diesem Reich des Geistes selbst kann es zunächst keine Intentionen, Lebensprozesse und Sinnesobjekte in Form von Wahrnehmungen von etwas Gewordenem geben; sie gehen ja gerade aus diesem Reich hervor und stellen sich ihm im Menschen gegenüber. Dieses „Gegenüberstehen im Sein“ ist also die Sache der Welt. Was oben als eine Art übersinnlicher Welten bezeichnet wurde, umfasst insofern immer nur diejenigen Prozesse und Intentionen, die sich bereits in der Schaffung eines bestimmten Zustandes ausgewirkt haben; die aktuell wirksamen Prozesse und Intentionen wirken ja gerade auf diesen gegenwärtigen Welt-Zustand ein, stehen ihm insofern gegenüber, so lange, bis sie sich ihm sozusagen „einverleibt“ haben.

So umschließt das Reich des Geistes alles Weltensein, denn ohne dieses Geistesreich des Ur-Wesenhaften wäre die Welt nicht; ohne die Welt aber hätte der Geist kein Feld, auf dem er sich seiner selbst bewusst werden könnte. Keine Weltgesamtheit ohne den – sagen wir es nur frei heraus: göttlichen – Geist, aber auch kein Geistbewusstsein ohne Welt. Jeder individuelle Mensch kann insofern als eine einzigartige Variante dieses Verhältnisses von Gott und Welt angesehen werden.

Man könnte auch sagen: Gott ist der Geist der Welt, in ihm hat alles Weltensein sein Urwesen, auch dasjenige des Menschen. Bezüglich des heutigen Menschen4 muss man sagen, dass er ganz grundsätzlich ein Werdender ist auf dem Wege immer umfassenderer Erkenntnis der Welt, aus der er lernen muss, das göttliche Urwesen immer mehr mit sich selber übereinstimmend zu erleben, damit also den unbewussten Teil seiner Welt immer weiter in einen bewussten umzuformen, indem er nach und nach „Denkorgane“ entwickelt, durch die er Übersinnliches in seine Anschauung aufnehmen kann; jedenfalls dann muss er dies lernen, wenn er nicht bei seinem erreichten Erkenntnisstand verbleiben und nur aus diesem heraus sein Leben fristen will.

Gleichzeitig ist aber der Mensch dasjenige Wesen, das im Prinzip, in seiner geistigen Konfiguration dem göttlichen Geiste gleicht, und das dadurch zum Werkzeug des Fortschrittes der Bewusstwerdung der gesamten Welt werden kann. Ohne ein solches Werkzeug-Wesen müsste Gott sozusagen darauf verzichten, sich seiner selbst bewusst zu werden. Hier gilt es: „Und Gott schuf dem Menschen zu seinem Bilde“ – das ist gleichermaßen Vermächtnis und Aufgabe für den Menschen.

Wenn also heutzutage aus Bereichen heraus, die den meisten Menschen unbewusst bleiben, zunehmend zerstörerische Tendenzen sich im gewohnten, gewordenen Leben der Welt geltend machen, ist es vielleicht überlegenswert, dort zu suchen, wo diese Tendenzen entspringen, und sich zu fragen, welche Intentionen aus der göttlich-geistigen Welt wohl darin walten, dass dem Menschen sein gewohntes Leben in der Welt zunehmend sauer wird, und dies gerade und vorwiegend durch diejenigen Dinge und Prozesse, die er selber in die Welt gesetzt hat unter der Verheißung einer Art ewigen, bequemen Schlaraffenland-Lebens.

Wer nicht selber mitwirkt an der Bewusstwerdung Gottes durch den Menschen in der Welt, indem er sich zurücklehnt, sich mit dem schon Erreichten zufriedengibt und ansonsten „Gott lenken“ lässt, seine eigene Welt also nicht durch eigene Erkenntnisarbeit immer mehr mit Bewusstsein durchdringen will, muss damit rechnen, dass die ursprünglichen göttlichen Intentionen in seiner individuellen menschlichen Welt so wirken, dass sie ihm die Folgen seines Tuns nachhaltig zu Bewusstsein bringen, dann allerdings ohne die Beteiligung des Menschen, weil der ja eben nicht mitwirkt.

Ohne Gott („Geisterreich“) keine Welt, ohne Welt aber auch kein Mensch. Und ohne die Mitwirkung des Menschen dann irgendwann keine Welt, und damit auch kein Mensch. Die Menschen-Welt trägt in sich die göttliche Intention der Bewusstwerdung, der sich der einzelne Mensch wohl widersetzen kann – aber mit welchen Folgen?

Die Welt scheint also für jeden Einzelnen vielleicht mehr zu bedeuten, als er sich derzeit eingesteht. Darauf wollte dieser kleine Aufsatz hinweisen.

© Stefan Carl em Huisken 2023

1Inwieweit diese Aussage evtl. im Hinblick auf technische Gegenstände modifiziert werden muss, ist andernorts zu erörtern.

2wiederum: nicht unbedingt eines irgendwie bewussten Wollens.

3Es kann sich durch ausreichende Übung des eigenen Denkens durchaus eine Art „Wahrnehmung“ solchen übersinnlichen Entitäten ergeben; sie fallen im Augenblick der Wahrnehmung in den Bereich des Gewordenen hinein. Auch ein Werdeprozeß kann in diesem Sinne „geworden“ sein, indem er immer wieder unverändert abläuft, gleichsam automatisch, maschinell.

4Für andere Zeitepochen ist durchaus ein anderes Verhältnis von Mensch und Welt denkbar.


Cover Wahnsinn und Denken Welt

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Wer ist Gott?

Ein mir sehr nahestehender Mensch, der durchaus genialische Züge hatte, sehr viel weiter dachte als viele andere und aus diesen Eigenschaften heraus künstlerisch tätig war – er malte, schrieb, erzählte Geschichten, verfasste Lieder und war im „Brotjob“ journalistisch tätig – pflegte auf die Frage nach Gott das Folgende zu antworten, sinngemäß:

„Mit Gott habe ich nichts zu tun. Entweder er ist allwissend, allweise, allmächtig – dann ist er für mein begrenztes Auffassungsvermögen zu groß, unfassbar, so dass ich mit ihm nichts anfangen kann. Oder er ist bloß mein Gedanke, dann ist er aber mir untertan und daher irrelevant, der Mühe nicht wert. Also habe ich mit ihm nichts zu tun.“

Dieser Mensch, der so dachte, ist an dem zugrunde liegenden Problem letztlich so nachhaltig gescheitert, dass er nur noch aus dem Leben scheiden konnte. Das hat ihn aber natürlich keinen Schritt weiter gebracht im Sinne einer Lösung.

Denn: wie, wenn er nun wirklich den allweisen, allmächtigen Gott gar nicht fassen konnte? Dann könnte er doch gar nicht beurteilen, ob er ihn fassen könnte in seinem Denken? Dann fehlte ihm doch der Urteilsmaßstab? Oder hat er da – unbemerkt – doch schon gleich sein eigenes Urteil über die eigene Begrenztheit Gott untergeschoben?

Und: wie, wenn er nun diesen Gott eben nur so denken könnte, wie er sich selber erkennt, nämlich begrenzt? Dann wäre Gott ihm ja „zu klein“ – ist er sich selber zu klein gewesen? War denn daran gar nichts zu ändern?

Man sieht schon an diesen relativ überschaubaren Fragen, wie sehr auch ein sonst klarer und scharfer Denker Wesentliches übersehen kann.

Die Sache hat ihren Ursprung darin, dass eben sowohl „Gott“ als auch „Ich“ als ein Statisches, also gleichsam „Fertiges“ gedacht werden – also ein Begrenztes. Das sind aber beide nicht; zumindest bei mir selber kann ich ja beobachten, dass ich mich entwickle, anders werde, vielleicht von Zeit zu Zeit sogar ein bisschen weiser – gottähnlicher? Da ich aber zunächst mich als Geschöpf ansehen muss von Mächten, die zu einem relevanten Teil außerhalb meines Bewusstseins liegen, von Mächten also, die ich einmal summarisch auch als „Gott, der Unbegriffene“ oder einfach als „Götter“ bezeichnen könnte, gleichzeitig aber die Entwicklungsfähigkeit grundsätzlich in mir angelegt ist, kann diese Fähigkeit – jedenfalls, soweit ich sie mir nicht eindeutig selber angeeignet habe – nur von eben diesen Mächten in mich gelegt worden sein. Sie müssen sie also besitzen, oder zumindest besessen haben, als sie diese Fähigkeit in mir anlegten. Damit sind aber sowohl „Gott“ bzw. die „Götter“ als auch ich im Grundsatz unbegrenzt, denn Entwicklung aus sich selbst heraus kennt erst einmal keine prinzipiellen Grenzen.

Warum also sollte nicht Gott mich als begrenztes Wesen in seine Allmacht aufgenommen haben? Denn wie entstehen Allmacht und Allweisheit? Nur aus begrenzter Macht und Weisheit, die sich selber aus sich selbst entwickeln. Woher sollte Gott seine Allweisheit und Allmacht haben als aus sich selbst? Es kann kein Wesen über ihm geben, sonst wäre er ja eben nicht – Gott, der Allweise und Allmächtige.

Also schuf er den Menschen zu seinem Bilde. Und das Bild musste alles in sich tragen, was Gott ausmacht, aber so, dass das Bild zugleich all dies erst noch aus sich selber entwickeln musste: die Allweisheit und Allmacht zum Beispiel. Denn sonst wäre es ja nicht das Bild Gottes.

Gott ist frei – Allweisheit und Allmacht sind bloß Attribute dieser Freiheit. Und zugleich ist er der Träger der Allliebe, denn er schenkt seine Freiheit, mit der Allweisheit und Allmacht, seinem Bilde, gibt sein Bestes hin. Aber er schenkt es so, dass sein Bild von alledem nichts kennt, nichts weiß, sich die Erkenntnis und das Wissen erst erarbeiten muss – als eben etwas Begrenztes, aber Entwicklungsfähiges. Den Menschen also, uns selber hat er dann erschaffen. Und der trägt in sich, in jedem Exemplar, den Gott, als Gedanken, als Bild, als Antrieb, als Wille also, als Ziel seines Wollens.

Ist der Mensch bereit, den Gott in sich, in seiner Welt, in jedem anderen Menschen so zu lieben, dass er bereit ist, seine eigene Entwicklung dem Gotte, dem anderen Menschen als Bild des Gottes, ja, auch sich selbst als Gottes Bild zu opfern, so wird er seinem göttlichen Kern und Ursprung gerecht, realisiert durch sich, was er erst werden soll.

Lehnt der Mensch sich aber bequem zurück, dann muss er damit rechnen, dass Gott es ihm gleich tut. Indem der Mensch also seine eigene Entwicklung nicht selber erringen will, sondern sie sich vom Gotte schenken lassen, so wird er erleben, wie der Gott ihn, den Menschen, gleichgültig verschmähen wird, ebenso wie der Mensch es verschmäht, sich dem Gotte hinzugeben.

Wenn der Gott sich durch den Menschen selber neu erschaffen will, so muss er seine Freiheit und damit Allweisheit und Allmacht dem Menschen schenken, in Allliebe. Und dann ist es am Menschen, ob er diese Allliebe erwidern will, in der Hingabe an sein Schicksal, das ihm den Gott vorstellt. Tut er das nicht, dann vernichtet er zugleich sich selber, denn wo kein Mensch, der den Gott erschaffen will, in fortwährender Selbstentwickelung, da ist auch kein Gott, der sich zum Menschen machen will.

So ist das eben mit der Freiheit. Sie kann sich nur in Liebe zum Fremden selbst erschaffen, oder sie zerstört sich selbst.

Der Mensch, den ich eingangs schilderte, hat diesen grundlegenden Gedanken der Entwicklung nicht denken können. Sonst hätte er im Leben – also in seiner Entwicklung in der Welt – bleiben können. Was in ihm noch lag an möglichen Liebestaten in der Welt – und ich bin sicher, das war noch viel –, ist nun für dieses sein Leben und das seiner Zeitgenossen zunächst verloren. Aber es ist ja nicht weg, einfach weg. Es ist jetzt dort, wo eben sein Unbewusstes lag, das Unbewusstsein der grenzenlosen Entwicklung – in uns allen also, die wir doch Tag für Tag im Alltag uns ähnlich benehmen wie dieser Mensch, indem wir überall Grenzen sehen, die wir nicht übersteigen zu können vermeinen.

Eine dieser Grenzen ist der Tod – aber woher wollen wir eigentlich wissen, dass der Tod eine absolute Grenze ist, nicht nur eine Schwelle, die wir im Entwicklungsgang von Zeit zu Zeit zu überschreiten haben, ebenso wie die Geburt? Wenn unsere Entwicklungsmöglichkeit vorhanden ist, wir also prinzipiell grenzenlos, dann können wir uns auch in unser und des Gottes Ewigkeit hinein entwickeln, also: Gott werden, allweise und allmächtig. Und Gott erschuf den Tod. Also steht er über ihm. Auch wenn der Tod – das eigene Geschöpf – ihm erst die Möglichkeit des ewigen Lebens in der Auferstehung verschafft. Und daran sind wir Menschen nicht ganz unbeteiligt.

Ein Beweis, dass Menschen auch im Tode noch ihre Entwicklungsimpulse fassen können, ist diese kleine Erzählung und Erörterung. Weil der Mensch, von dem ich ausging, so war, wie er war, und danach handelte, entstand dieser kleine Aufsatz. Ohne diesen Menschen wäre das wohl nicht in der gleichen Weise geschehen. Da hat der „Tote“ wohl durch mich seinen Ausdruck gesucht; einen eigenen Leib in der Welt hat er ja gerade nicht zur Verfügung, um das hier Dargestellte zu erleben, zu denken, zu schreiben. – Sind die Toten eigentlich wirklich tot, also „aus der Welt“?

Und ja. ist Gott tot? Haben wir etwas damit zu tun?

© Stefan Carl em Huisken 2023


Cover Wahnsinn und Denken Gott

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Geistwesen Mensch

Ein etwas ungehöriger Aufruf

Es ist sinnlos, es leugnen zu wollen: der Mensch ist ein Wesen, dessen Urkern Geist ist, nur Geist und nichts anderes. Macht er sich Gedanken über seine Substantialität, so sind diese Gedanken eben – Geist. Oder woraus bestehen Gedanken sonst? Wenn wir glauben, Gedanken seien nur eine Illusion und eigentlich elektrische Ströme im Gehirn, so ist eben dieser Glaube – ja, was denn, nichts als Geist! Denn erst müssen die Gedanken über elektrische Ströme, Gehirn usw. gebildet werden, durch den Menschen, ehe wir daran glauben können. Und sie sind unsichtbar, nicht-sinnlich, un-sinnlich. Im Übrigen genauso wie der (gedachte!) Strom, den auch niemand sehen kann, betasten, sinnlich erkunden; man kann nur messen (oder spüren), was man für seine Wirkung hält aufgrund dieser oder jener Theorie, die eben jemand – gedacht hat. Es hilft also nichts: wenn wir versuchen, des Menschen innerstes Wesen zu ergründen, eben das, was gerade im Ergründen-Wollen tätig wird, finden wir nur Geist.

Sicher, der Mensch hat allerlei andere Dinge, die er sein Eigen nennt – Leib, Welt, Seele, Gefühle, Gedanken, Ideale, Vorlieben, Abneigungen etc. pp. –, und davon sind einige sehr handfest und materiell. Aber lange nicht alle. Oder haben Sie schon mal eine Wut gestreichelt? Na also, auch beim Haben ist lange nicht alles geist-los, manches sogar reiner Geist, wie z.B. die Wut – oder die Gedanken, siehe oben.

Warum aber diese Auseinandersetzung überhaupt? Nun, ganz einfach. Der Mensch will doch wissen, wer er ist, wo er herkommt und wohin er geht. Darüber ist uns allen eingetrichtert worden, dass wir z.B. aus organischer Materie entstanden sind, mehr oder weniger zufällig, und beim Tode würde diese wieder zerfallen, und dann sind wir eben einfach weg. In der Kirche gibt es vor allem über das Letztere noch andere Geschichten, aber bei denen wird dann gleich dazu gesagt, dass man das alles nicht wissen könne und daher eben glauben müsse. Aber woher wissen das dann die, die uns das erzählen? Können die uns nicht viel erzählen, was dann vielleicht – o Schreck – am Ende gar nicht wahr ist? Im Ergebnis wird uns also eingetrichtert, dass wir eine zufällige, also sinnlose Zusammenballung organischer Materie sind, die eben kommt und geht, egal. Und wer das nicht glauben will, glaubt eben den Priestern und lässt sich von denen gängeln, einfach weil das vielleicht besser gefällt. Einen Sinn im eigenen Leben kann man so jedenfalls nicht wirklich finden.

Bemerkt der Mensch aber, dass er ein Geistwesen ist (und – konsequent gedacht – dann alle anderen Menschen ebenso wie Tiere, Pflanzen, Steine, Engel, Teufel, Seelenregungen, Gedanken, Ideen, Irrtümer, Wahrheiten, Lügen und so weiter auch), dann hat er sofort andere Möglichkeiten, sich über das eigene Woher und Wohin aufzuklären. Denn er weiß jetzt eines: alles, was er da finden kann bei seiner Suche, ist ebenso wie er selber Geist. Alle Teufel, alle Götter, alle Schöpfungstaten usw. sind Glieder derselben geistigen Welt, in der der Mensch jeden Tag und jede Nacht lebt, und der er nicht entfliehen kann, weil es grundsätzlich gar keine andere Welt gibt. Alles, was ist, entstammt für uns heutige Menschen in dem Augenblick, wo wir es erkennen, uns selber, unserer Welt, also: der geistigen Welt. Es gibt kein Entrinnen.

Dafür aber grandiose Erkenntnismöglichkeiten. Denn wenn ich die Situation, die ich so feststelle, weiter durchdenke, finde ich nach und nach die Elemente, die dazu geführt haben, dass ich mir jetzt über mich als Geistwesen klar werde. Ich finde also durch mich, selber, ohne Gängelpriester, Wege zur allmählichen Erkenntnis meines realen Ursprunges. Der reale Ursprung meiner Selbst ist nämlich da, wo ich beginne, über mich, den Menschen, nachzudenken, und dieses Nachdenken auch bemerke. Die Erzählungen von Zusammenballungen organischer Materie als von meinem Ursprung sind Geschichten von Gängelpriestern der materialistischen Welttheorien des 19. Jahrhunderts, die man mir bloss eingebläut hat. Vielleicht wusste man es einfach nicht besser. Warum solche Theorien vielleicht daneben auch eine Zeitlang notwendig waren, darüber vielleicht ein anderes Mal.

Für jetzt reicht erst einmal die Feststellung: der Mensch – also ich – ist/bin ein Geistwesen unter vielen anderen Geistwesen. Mein Ursprung ist nur im Geiste fassbar, daher also geistig. Dann wird es meine Zukunft wohl auch sein. Also auf, lasst uns die Zukunft ergründen – im Geiste!

© Stefan Carl em Huisken 2023


Cover Wahnsinn und Denken Geistwesen

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




So kann es nicht weitergehen

Ausgangslage

Die Welt ist ohne Zweifel in Aufruhr. Unversöhnliche Standpunkte stehen einander gegenüber und bekämpfen sich praktisch unbegrenzt. Einen wirklichen Ausweg kennt jede Seite immer nur im Rahmen ihrer eigenen Vorstellungen – die andere Seite muss klein beigeben, sagt man. Das sind ja ganz offensichtlich keine Auswege, sondern nur Wege zu immer weiteren Kämpfen und Katastrophen. Und immer neue, immer größere Gegensätze werden beschworen, in denen sich die Parteien über die Erde hin zu vernichten trachten können: in bezug auf den Zustand der Erde als Wohnort für Pflanzen, Tiere und Menschen, in bezug auf das Wirtschaften der Menschen und ihre Lebensmöglichkeiten auf der Erde, in bezug auf dasjenige, was jede Partei als Menschlichkeit ansieht, und so weiter, und so fort. Wo ist da ein Ausweg, oder ein Weg zur Überwindung der Situation zu sehen?

Was am meisten auffallen kann, das ist die Ausschließlichkeit (im wörtlichen Sinne), mit der die unterschiedlichen Gruppen von Akteuren ihre Auffassungen zur Geltung bringen wollen. Immer wird der andere, der Gegner oder Feind, als unmenschlich, unwert, böse, zerstörerisch oder anderweitig nicht zur eigenen Art gehörig gekennzeichnet. So sind aus der in Europa derzeit herrschenden Sicht die Angehörigen östlicher Gesellschaften entweder unmenschliche Apparatschiks, Diktatoren, bornierte Ideologen, menschheitszerstörende Aggressoren oder eben von diesen grässlichen Monstern versklavte arme Individuen; aus der Sicht östlicher Gesellschaften stellt sich dies ganz anders dar, da ist es eine im Westen rücksichtslos herrschende, das Daseinsrecht aller anderen Menschen missachtende egoistische sogenannte „Elite“, die die Menschheit durch ihre Uneinsichtigkeit und Unersättlichkeit an den Rand der Gesamtvernichtung im Atomkrieg treibt. Die „integralen Nationalisten“ der Ukraine – die Verehrer des unter dem nationalsozialistischen Regime brutal mordenden Stepan Bandera – die inzwischen die ukrainische Rasse per Gesetz als über allen anderen stehend erklärt haben und Russen nur „abschießen wollen wie Schweine“ (Originalton eines ukrainischen Funktionärs) – haben Förderer in aller Welt, und werden dort als „Vorkämpfer westlicher freiheitlicher Ideologie“ dargestellt. Ebenso gilt auf der anderen Seite der im Krieg gefallen Soldat der Ukraine nicht als Mensch, sondern als Sache, die man „vernichtet“ hat. Schon mehren sich Stimmen in den Kreisen der Befürworter der russischen Seite, die Ukrainer wegen der von ihnen vollführten Brutalitäten als „Untermenschen“ bezeichnen.

Wer so redet, handelt auch so. Alle Gründe, die von der einen oder anderen Seite geltend gemacht werden, mögen ihre Berechtigung haben; es ist aber einerlei, aus welchem Blickwinkel man immer die andere Seite zu entmenschlichen trachtet. Die Sichtweisen sind insofern gleich, als sie immer die andere Seite ausschließen, für ungültig erklären und nicht als einen für Menschen möglichen Gesichtspunkt akzeptieren wollen.

Um solche Akzeptanz wird man allerdings nicht herumkommen. Erstens zeigt man sich selber durch diese Ausschließerei um nichts besser als die andere Seite, und zweitens wird es nicht angehen, dass nur eine Gruppe Menschen ihre Gesichtspunkte für allgemeingültig allen anderen aufzwingt. Dafür sind wir einfach zu viele auf der Erde. Und meint man denn wirklich, dass man die Hälfte, oder – wie ja manche Transhumanisten meinen oder wünschen (siehe Yuval Harari) – 80 % der Menschheit ausrotten sollte, damit der Rest dann so leben kann wie er will? Was für eine Art „Menschen“ ist dann dieser Rest?

Nein, so wird es nicht gehen. Das haben die Menschen seit Jahrhunderten versucht: immer die „Anderen“ auzurotten, zu drangsalieren, zu versklaven oder anderweitig „unberücksichtigt“ zu lassen. Heute würde dieser Versuch zu irgendeinem Zeitpunkt der Eskalation unweigerlich zum Ende aller Menschen führen. So kann es eben nicht weitergehen.

Warum?

Woran liegt es denn – einmal versucht, gewissermaßen „von oben“ auf die Verhältnisse zu blicken – dass diese Kämpfe so zerstörerisch immer weiter eskalieren, und nirgends ein wirklicher Ausweg sichtbar ist?

Es liegt vielleicht – wie bei fast allem, was wir heute erleben – an den einzelnen Menschen und ihren persönlichen Auffassungen, Wünschen und Absichten. Soll eine solche Feststellung nicht einfach nur abstraktes Gejammer sein, so wird sie konkretisiert werden müssen; das soll nun hier versucht werden.

Einig sind sich doch alle Seiten immer darin, dass sie selber, und nur sie selber die Wahrheit vertreten, wissen, wie ein gutes Leben des Menschen auszusehen hat und so weiter. Dabei geht der Zeitgenosse ganz unwillkürlich von den Gedankenformen aus, die er als unserer Zeit entsprechend eingeprägt bekommen hat. Und diese Gedankenformen laufen eben darauf hinaus, dass der einzelne, im Erdenleben stehende Mensch nur diese eine irdische Existenz hat, und mit deren Ablauf auch seine eigene Individualität erledigt ist.

Solch eine Haltung hat ja ihre Berechtigung, wissen wir doch nur dadurch, dass wir uns einer ohne unser bewusstes Zutun gegebenen Außenwelt gegenüber erleben, überhaupt von unserer eigenen Existenz. Und dieses Wissen ist uns lieb und teuer – wir wollen es auf keinen Fall missen, warum wir uns auch an diese eine Existenz klammern und nicht vor ihr lassen wollen. Und zu dieser Existenz gehören eben auch die eigenen Meinungen, Wünsche und Absichten, die man darum auch in diesem einen Leben realisieren möchte.

Damit ist aber notwendig der Einzelne zu einem gewissen Egoismus verdammt. Denn auch, wenn er sich „philanthropisch“ gebärdet, tut er das in der Regel nicht, weil er andere über sich selber stellt, sondern weil er selber gut und moralisch sein will, also den eigenen Auffassungen von Moral entsprechen. Womit er wieder in den eigenen Meinungen von „Gut“ und „Böse“ gefangen ist.

Man kann ja gar nicht abstreiten, dass die vielen Vorschläge – von welcher Seite auch immer – wenn sie zu einer allgemeinen Auffassung aller Menschen würden, vielleicht hilfreich und gut wären. Aber sie sind eben nicht allgemeine Auffassung aller, und lassen sich auch nicht allen anderen aufzwingen, wie viel man das auch versucht. Damit wird klar, dass all diese Denksysteme Utopien sind, ideal gedachte Systeme, die immer nur für den Teil der Menschheit Gültigkeit haben, der unter ihrem Einfluss steht. Damit sind all diese Systeme Ideologien: Versprachlichungen von Ideensystemen, die irgendwer irgendwann ausgedacht hat und die nun alle anderen beglücken sollen. Damit verkennen alle diese Denksysteme aber notwendig die Tatsache, dass sie eben nicht alleine sind auf der Erde. Das Paradies lässt sich wohl denken, aber nicht auf der Erde realisieren. Jeder Versuch einer solchen Realisierung kann nicht anders als egoistisch sein – für einen Einzelnen, eine Gruppe, einen Teil der Menschheit eben. Ideologien sind also die Grundlage für den Illusionismus und die Brutalitäten, die die Menschheit derzeit zu zerreißen scheinen.

Unsere Welt ist in diesem Sinne durch-ideologisiert.

Geht es anders?

Wie aber kann der Einzelne sich zu einem Gesichtspunkt aufschwingen, der das Ganze der Menschheit einschließt und die einzelne, persönliche, individuelle Handlung von dort aus betrachtet und beurteilt?

Wer nur genügend will, kann das leisten – der Mensch ist in seinen Gedankenbildungen frei. Wer also will, kann den Versuch machen, sich selber als ein Glied in der Gesamtentwicklung der Menschheit zu betrachten, und zwar als dasjenige Glied, in dem die Gesamtmenschheit und ihre Entwicklung ins Bewusstsein treten kann. Ob er sich so betrachtet, ist seine eigene Entscheidung, die jeder Mensch insbesondere bei vorbehaltloser Anschauung des zerstörerischen Charakters aller ideologischen Einzelgesichtspunkte auch treffen kann.

Was uns in der Regel hindert, einen solchen Gesichtspunkt für uns selber einzunehmen, ist die Bindung an die eigene, als einzig angenommene irdische Existenz. Denn die würde dann ja eventuell vom übergeordneten Gesichtspunkt aus sich ganz anders darstellen als ich es gewohnt bin – vielleicht viel weniger bedeutend, als ich mich selber immer gefunden habe, oder – vielleicht noch beängstigender – viel bedeutender (und darum noch viel wichtiger als alle anderen ….).

Vor allem wäre dann ja sozusagen die Grundlage weg, auf der ich immer alle Verantwortung auf die Urheber der mich jeweils tragenden Ideologie abwälzen kann. Und – das mag sehr ketzerisch klingen, gilt bei genauer Betrachtung aber uneingeschränkt – auch die Auffassung, dass der Mensch nur eine Existenz habe und diese sich in seinem materiellen Sein erschöpfe (alles Seelische und Geistige insofern nur ein Ergebnis materieller Prozesse sei und damit sekundär) ist eine Ideologie. Allein die Tatsache, dass man zur Formulierung dieser Auffassung das Denken benötigt – also durch Denken die Determiniertheit des Denkens feststellen will – zeigt, auf welchem Terrain man ist. Da ist ziemlich viel Glatteis. Warum kommt denn das determinierte Denken darauf, sich selber als determiniert anzusehen? Warum soll die Materie sich als allein gültiges Sein zeigen, indem sie im Menschen das Denken erzeugt, durch das sie diese Alleingültigkeit feststellt? Da haben wir manchen Zirkelschluss.

Wenn aber meine bisherige Art zu denken – immer bestimmt durch Auffassungen, die mir durch die Verhältnisse der Welt eintrainiert sind von Geburt an – nicht weiterführt, und wegen ihrer Bindung an den irdischen Einzelmenschen notwendig egoistisch und zerstörerisch werden muss, wo finde ich dann einen sicheren Halt? – Gar nicht. Den muss ich mir selber geben. Das ist eben der Charakter der Freiheit, dass sie sehr anstrengend ist, weil man alle Grundlagen selber immer wieder neu auferbauen muss.

Das ist auch etwas, was es für z.B. mittelalterliche Menschen gar nicht gab. Damals war die Welt nicht in derselben Weise materialistisch durchideologisiert wie heute. Auch viele östliche Gesellschaften leben heute noch in ganz anderen Verhältnissen als wir westlich ge- oder verbildete Menschen. Wenn wir auf dieser Erde zusammen leben wollen, müssen wir einander verstehen, und „Verstehen“ bedeutet eben für verschiedene Menschen auch Verschiedenes. Ist nicht die Auffassung allgemein vorherrschend, wir Heutige allein hätten der Weisheit letzten Schluss gefunden, viel mehr jedenfalls als unsere Vorfahren? Sind wir nicht einfach nur ganz anders als sie, und können sie erst wieder verstehen, wenn wir uns in ihre Art des Verstehens hineindenken können?

Und ein Weiteres ist zu bedenken. Wer sich als Glied einer Entwicklung betrachtet, orientiert sein Urteil an einem Prozess, dessen Gesamtheit sich ihm erst nach und nach aus seinen eigenen Verständnisbemühungen ergibt. Ein solcher Mensch schafft also maßgeblich an seinen eigenen Urteilsgrundlagen mit, kennt sie darum genauer und kann sie von den einzelnen Objekten und den an sie geknüpften Sympathien und Antipathien loslösen. Dadurch kann er sich selber zum Objekt werden und bei ausreichender Bemühung auch wahrheitsgemäßer beurteilen lernen. Manch einer fürchtet sich davor – also vor sich selber, ungeschminkt betrachtet. Die Verlässlichkeit des eigenen Urteils gewinnt aber dadurch.

Freiheit

Die Freiheit, in die der Einzelne gestellt ist in unserer Zeit, existierte für unsere Vorfahren gar nicht in derselben Weise. Darum waren die Gesellschaften der Vergangenheit auch anders konfiguriert. Sie waren darum nicht schlechter oder besser als unsere heutige – für uns Heutige würden sie vielleicht gar nicht mehr passen, das stimmt – sondern einfach nur für andere Menschen. Die Menschen entwickeln sich ja auch durch die Jahrhunderte und Jahrtausende.

Und für uns heutige ist eben die Freiheit, selber für das eigene Denken einzustehen und es zu verantworten, ein Ergebnis der Verhältnisse. Wir können ja sehen, dass keine der Parteien für die ganze Menschheit spricht. Wenn wir diesen Gesichtspunkt geltend machen wollen, den der Gesamtmenschheit, können wir damit nur bei uns selber anfangen, aus freiem Wollen. Diese Freiheit schließt aber zweierlei ein:

  • die Einsicht, dass jeder andere Mensch prinzipiell in derselben Lage ist in Punkto Freiheit
  • die Einsicht, dass jede Ablehnung der eigenen Freiheit und der an sie gebundenen Absichten zu eben jenen Sichtweisen – Ideologien – gehört, die andere Menschen-Meinungen ausschließen müssen, notwendig also gegen die Freiheit aller Andersmeinenden gerichtet sein muss. Es gibt in diesem Zusammenhang auch eine Ideologie der „Meinungsfreiheit“, die darin besteht zu sagen, dass es eben keine Wahrheit gibt, nur Meinungen; eine solche Ansicht rechtfertigt darum die derzeitige Menschheitssituation, in der sich eben die Meinungen durch Macht bekämpfen, und erklärt sie für dauerhaft unvermeidbar. Wenn nun jemand sagt, Machtdemonstration sei in diesem Fall nicht zulässig, stellt er wieder seine persönliche Auffassung von Moral über die des Anderen, der vielleicht meint, Meinungen könnten sich nur durch Machtausübung und Erfolg oder Misserfolg im Leben als wahr oder unwahr herausstellen. Das hilft also auch nicht weiter. Nur die Freiheit gibt einen Ausgangspunkt, der keinen anderen ausschließt.

Es handelt sich also um eine Grundsatzentscheidung, entweder aus freier Entscheidung sich (die aktuelle irdische Person) zum Funktionär der Entwicklung der Gesamtmenschheit zur Freiheit zu machen, oder die eigenen, irdischen Parteiinteressen über andere, widerstrebende Interessen zu stellen.

Freiheit ist anstrengend, wie schon gesagt.

Übersicht schafft Zusammenhang

Denkt man genau, so wird schnell klar, dass mit Einbeziehung der Freiheit jeder Mensch in seiner Gänze nur verstanden werden kann, wenn er nicht auf einen irdischen Lebenslauf (und schon gar nicht auf das dabei stattfindende Innenleben der Seele) begrenzt gedacht wird, sondern seine Voraussetzungen (äußerlich-leiblich, seelisch, geistig) ebenso wie die Wirkensfolgen durch seine Taten (ebenso äußerlich-leiblich, seelisch, geistig) ihm auch zugerechnet werden. Der Gedanke einer – wie immer im Einzelnen auch gedachten – wiederholten Verkörperung der menschlichen Individualität wird damit unabweisbar. Unvollkommenheiten und Misserfolg in diesem einen irdischen Leben können dann in anderem Licht erscheinen.

Eine Tat ist es dann auch, ob sich ein Mensch entscheidet, sich auf die Suche nach seiner wahren Aufgabe im Menschheitsganzen zu machen, indem er sich frei macht von den Vorbetern der verschiedenen kirchlichen, wissenschaftlichen und anderen ideologischen Denksysteme und Schulen. Es kostet diese Entscheidung jeden Tag immer wieder Kraft, die vor allem dafür aufgewendet werden muss, das eigene Denken, Fühlen und Tun daraufhin zu durchleuchten, ob es wirklich eigenes ist, oder doch nur wieder Nachgeplapper welcher Ideologie auch immer.

Jeder Einzelne kann diese Kraft aber aufbringen, sie ist in uns allen angelegt. Wir müssen sie nur gebrauchen, üben, immer weiter entwickeln.

Vollmenschliche Zukunft

Der Weg in eine vollmenschliche Zukunft der Menschheit insgesamt geht damit durch den frei und bewusst sich in den Dienst an dieser Zukunft stellenden individuellen Menschen, der damit einem allgemeinen Gesetz dient, ohne ihm unterworfen zu sein, ohne also seine Freiheit einzubüßen. Der Mensch ist in diesem Sinne die Auflösung des Dilemmas, in das er hinein gestellt ist.

Der einzelne Mensch, der sich darum bemüht, erkennt von dieser Warte aus den auch irdisch-persönlichen Wert seiner individuell erlebten Welt – einschließlich aller darin vorkommenden Menschen* – für die eigene Weiterentwicklung ebenso wie für diejenige aller anderen. Und er kann dabei lernen einzusehen, wie ohne den frei denkenden Menschen – also konkret ohne ihn selber – keine vollmenschliche Entwicklung in die Zukunft hinein möglich ist. Sonst regieren weiter Ideologien über die Menschen, bis hin zur völligen Zerstörung.

So wie bisher kann es eben nicht weitergehen.

© Stefan Carl em Huisken 2022

*In gewissem Sinne kommen ganz grundsätzlich ja mittelbar alle Menschen in jeder individuellen Lebenswelt vor. Der Einzelne ist sich ihrer nur in unterschiedlichem Grad bewusse, je nachdem sie ihm näher oder ferner stehen.



Cover Wahnsinn und Denken Ideologien

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Über die Notwendigkeit des Weltunterganges

Vorbemerkung – über das Umdenken

In unserer Zeit häufen sich die Stimmen, die ein grundsätzliches Umdenken fordern, eine ganz neue Grundlage für die Gestaltung des äußeren Lebens der Menschen. Die alte Art, darüber zu denken, sei abgelebt und zeige ja an ihren Folgen, dass sie den Anforderungen, die mit dem Ziel eines menschenwürdigen Lebens für alle verbunden sind, nicht gerecht werden könne.

Einer solchen Auffassung kann man ja nur zustimmen. Dass das alte Denken und die daraus hervorgegangene Einrichtung des Lebens nicht mehr taugt, ist offensichtlich. Allein die Frage, wie denn so ein grundsätzliches Umdenken möglich wird, findet in all den Beteuerungen seiner Notwendigkeit kaum eine Antwort.

Die alte Art der Weltgestaltung hat abgelebt, also gehen wir daran, eine neue, dem Menschen und seinem Geist gemäße aufzubauen. Einen Beitrag, vielleicht den entscheidenden Beitrag dazu lieferte Rudolf Steiner mit dem Aufbau der anthroposophischen Geisteswissenschaft. Kaum ein Kulturimpuls der neueren Zeit ist so entschieden von den Vertretern des überkommenen Wissenschaftsbetriebes ebenso wie von christlichen und anderen Religionsgemeinschaften abgelehnt und bekämpft worden – und wird es noch. Man sieht daran: nichts ist den Menschen so unbequem, ja unannehmbar, wie die Forderung, sich selbst und seine Art des Umganges mit der Welt radikal in Frage zu stellen und neu zu gestalten; genau darum ging es aber Rudolf Steiner.

Dennoch finden manche Ergebnisse anthroposophischer Geisteswissenschaft immer wieder neue Freunde: in der Medizin, der Pädagogik, der Landwirtschaft, den Künsten und in anderen Bereichen nimmt man die Anregungen gerne auf. Denn da hat man Rezepte, so glaubt man, die man nutzen kann, um nur ein bisschen etwas anders zu machen, damit das Leben angenehmer wird.

Aber so wird natürlich aus dem von Rudolf Steiner angestrebten Umdenken nichts. Wenn umgedacht werden muss, ganz grundlegend, dann ist mit kosmetischen Maßnahmen wie den genannten Rezepten nichts getan. Auch diese Rezepte werden nur so lange ein wenig funktionieren, wie in ihnen der Geist der anthroposophischen Geisteswissenschaft oder zumindest ein Rest seiner Tradition waltet. Die Entkräftung vieler anthroposophischer Initiativen im Leben der Welt wird immer offensichtlicher; von manchen ihrer Vertreter wird sogar aktiv die Anpassung an die Gebräuche der gewordenen Lebenswelt gefordert und gefördert. Man will also der immer mehr krisengeschüttelten Lebenswelt der Menschen einen neuen, aufbauenden Impuls einflößen, indem man sich an sie anpaßt. Das kann nicht funktionieren.

Versucht man dagegen, die Lösung scheinbar vordringlicher äußerer Probleme zurückzustellen, um zunächst an die Wurzel zu gehen und die Methoden solcher Problemlösung in Frage zu stellen zugunsten grundsätzlicher Erwägungen über den Menschen und sein Weltendasein, wird man leicht als weltferner Spintisierer angesehen, der das wirklich praktische Leben nicht achtet. Ein bisschen hat diese Haltung etwas von Bertold Brechts paradigmatischem Ausspruch: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“. Man mache also – egal wie – erst einmal den Menschen das Leben erträglich bis angenehm, dann werden sie schon die Motivation und die Kraft zum Umdenken aufbringen – so übersetze ich mir das.

Was aber, wenn die Lösung der lebenspraktischen Probleme nicht gar mehr gelingt ohne ein grundsätzliches Umdenken, vielleicht auch diesen Satz von Brecht betreffend? Wie, wenn unter dem Einfluss der mit Brechts Ausspruch verbundenen Ideologie dieses Umdenken schon lange unterdrückt wurde und nun inzwischen auch darum mehr als überfällig ist? Rudolf Steiner sah jedenfalls die anthroposophische Geisteswissenschaft als Impulsgeber für ein solches, schon lange überfälliges Umdenken.

Wer nun aber versucht, wirklich selbständig denkend die Wege solcher Geisteswissenschaft zu wandeln, sieht sich schnell mit der Aussage konfrontiert, diese Geisteswissenschaft sei unverständlich und daher wenig hilfreich; und man wendet sich wieder ihren „leichter verständlichen und nützlichen“ Ergebnissen zu. Dazu äußerte sich Rudolf Steiner unmissverständlich: „Es muß unsere Wissenschaft so sein, daß sie mehr Verstand notwendig macht, als man bisher anzuwenden gewohnt ist. Wenn man sagt, die Geisteswissenschaft kann man nicht verstehen, so liegt es aber nicht daran, daß man nicht genügend Verstand hat, sondern daß man nicht genügend Verstand anwenden will. Darüber möchte man sich gerne täuschen. Würde man so viel Verstand anwenden, wie der Mensch haute schon aufbringen kann, so würde man die Geisteswissenschaft schon verstehen.“1

Wer dazu neigt, in der anthroposophischen Geisteswissenschaft den unserer Zeit so offensichtlich notwendigen Impuls der Erneuerung des menschlichen Weltenlebens zu sehen, wird also gut beraten sein, wenn er sich in seinen Bemühungen um die Vertiefung der geistigen Grundlagen für eine Umkehr im menschlichen Weltenleben von solchen Einwänden wie den eben angedeuteten nicht von seinem Weg abbringen lässt. Wer die Lösungen für die Probleme, vor die eine immer mehr zerfallende, absterbende Welt den Menschen stellt, nicht in dieser Welt selbst, sondern in dem diese Welt tragenden und in ihr wirkenden Geist suchen will, wird sich unbeirrt zunächst in diesen Geist zu vertiefen haben da, wo er jedem Menschen heute zugänglich ist: im eigenen, individuellen Weltenleben des Ich, einem Leben, das allen Menschen heutzutage gemeinsam ist.

In diesem Sinne ist dieser kleine Aufsatz gedacht. Er soll einen möglichen Weg des grundstürzenden – und grundsätzlichen – Umdenkens aufzeigen, der den immer deutlicher werdenden Anzeichen des Unterganges derjenigen Welt, in der wir gewohnt sind zu leben, entgegengehalten werden kann. Wer sich ernsthaft bemüht, den hier angedeuteten Weg der Vertiefung zu beschreiten, wird beim Aufbringen der notwendigen Aufmerksamkeit bald bemerken, wie viele der getroffenen Aussagen – recht verstanden – unmittelbar lebenspraktische Hinweise geben können. Sie ergeben sich dann allerdings unmittelbar und selbständig aus dem Nachvollzug der geschilderten Denkwege, und erfordern keine vorgegebenen Rezepte, sondern folgen nur aus dem ernsthaften Erkenntnis-Suchen und Erkenntnis-Schaffen des individuellen, sich seiner selbst bewusst werdenden Menschen. Dem Leser sei in diesem Sinne viel Erfolg gewünscht.

Was ist die Welt?

Diese Frage beschäftigt seit Urzeiten die erkenntnissuchenden Menschen. Sie ist bis heute allerdings ungelöst und wird es vorerst wohl auch bleiben. Eine einmalige und dann dauerhaft gültige Lösung ist nämlich gar nicht möglich – die Zeiten ändern sich, und mit ihnen die Welt –, und wird darum hier auch gar nicht angestrebt. Was versucht wird, ist lediglich die Beschreibung einer heutzutage wohl für viele gültigen Situation, vom Gesichtspunkt des denkenden, um Wahrhaftigkeit bemühten Menschen.

Diesem Menschen tritt dasjenige, was er Welt zu nennen gewohnt ist, zunächst als in sich selbständig und vom Menschen unabhängig existierende Zusammenstellung von Gegenständen entgegen, die vom Menschen zwar in ihrer Existenz und in ihrem Zusammenwirken erlebt, aber vorerst nicht letztgültig und vollständig begriffen und erklärt werden können. Wir erleben in der Welt also unmittelbar ihre von uns selber unabhängige Existenz, nicht aber das Walten derjenigen Kräfte und Mächte, die ihren jeweiligen Zustand hervorbringen und bestimmen. Was wir erleben, ist also Werk, fertiges Ergebnis, nicht Wirken und auch nicht unmittelbare Offenbarung des in dieser Welt waltenden Wesens.

Nun hat diese von jedem Menschen individuell erlebte Welt als eines ihrer hervorstechenden Charakteristika die Eigenschaft, dass alles in ihr Vorkommende früher oder später abstirbt, ein Ende findet und vergehen muss, um einem Neuen Raum zu geben2. Dazu gehört letztlich auch unsere eigene erlebende Anwesenheit in dieser Erdenwelt, denn diese Anwesenheit ist daran gebunden, dass wir einen Leib haben, durch den wir erleben und wirken können. Dieser Leib ist aus Stoffen und Kräften der Welt auferbaut und damit wie alles in der Welt vergänglich. Ohne den Leib haben wir aber vorerst keine Möglichkeit des Welterlebens. Insofern geht also die individuelle Welt eines jeden Erdenmenschen mit seinem Tod unter, löst sich auf.

Der Bemühungen, diesen persönlichen Weltuntergang zu verhindern, aufzuschieben, aus dem Bewusstsein zu verdrängen oder in etwas Wünschenwertes umzudeuten, gibt es viele. Dazu gehören die Verkündigungen von einem Eingang ins göttliche Paradies, in Gottes Schoß mit dem Tode ebenso wie die transhumanistischen3 Vorstellungen von der Dauerhaftmachung des persönlichen menschlichen Bewusstseins durch dessen Übertragung auf (als dauerhaft angenommene) Maschinen. Auch manche Rücksichtslosigkeit im ungezügelten Genießen des einzelnen Augenblicks, oftmals gesteuert durch die Hingabe an die Befriedigung von Trieben, die an das Dasein der Welt gebunden sind, hat hier ihren Ursprung. Genauso sind manche einflussreiche, oftmals fanatisierende Ideologien hier zu nennen, die der Sucht des Menschen entspringen, das Lebensregiment dem Tode in der Welt zu entreißen.

Grundsätzlich kann gesagt werden, dass alle derartigen Bemühungen illusionär sind. Denn auch das gewöhnliche Denken der heutigen Menschen ist ein Weltprodukt und trägt damit den Keim des Todes in sich. Wie viele scheinbar gnadenbringende Einrichtungen haben die Menschen aus solchem Denken nicht schon erschaffen, die aber dann allesamt über kurz oder lang entweder den Gang alles Irdischen genommen haben, also abgestorben, vergangen sind, oder den Menschen einem Regiment übermächtiger Weltendauer unterwerfen und damit seine Weiterentwicklung beschädigen oder unmöglich machen.

Die Tatsache, dass alles Weltensein zu seiner Zeit absterben muss, setzt nämlich die andere voraus, dass dieses Weltensein in ständigem Wandel ist, aus sich heraus sich entwickelt, also lebt. Ohne Leben kein Tod, und ohne Tod kein Leben. Wo der Mensch durch seine Taten in der Welt sein eigenes Leben den Regularien der Welt unterwerfen will durch Schaffung bürokratisch-mechanischer oder maschineller Weltprozesse, die ihn dann selber bestimmen, arbeitet er selber mit an seinem eigenen Tod. Alle solche Vorhaben zielen nämlich darauf, den Menschen nach den Regeln seines eigenen gewordenen, von der Welt bestimmten Denkens ewig, dauerhaft zu machen. Diese Regeln sind aber aus dem Erleben der absterbenden Welt gewonnen, und können daher nichts Anderes, als ein totes, ohne Entwicklung sich selber immer gleich reproduzierendes Maschinensein hervorbringen. Auf diese Weise geht aus dem Streben nach dem ewigen Leben des Erdenmenschen sein eigener Weltentod hervor, als dauernde Wiederholung des ewig Gleichen.

Was ist der Mensch?

Nun kann man aus dieser Betrachtung bereits eines lernen: indem das erlebende Ich des Menschen in die Welt tritt, und diesen Prozess nach und nach beobachten und begreifen lernt, erfährt es wohl eine Menge über das Weltendasein, nichts jedoch über sich selbst als derjenige, der in dieses Weltendasein mit der Geburt eintritt und es mit dem Tode wieder verlässt. Wer ist dann dieser individuelle Mensch, der sich selber Ich nennt und durch sein Weltensein hindurchgeht? Woher stammt er? Hat er eine Bestimmung, die in ihm selber liegt, oder erschöpft sich diese Bestimmung in dem Durchgang durch das Welten-Dasein? Solche Fragen können demjenigen aufgehen, der die Welt und sein eigenes Erleben darin unvoreingenommen beobachten und durchdenken will.

Wer mit der Frage nach sich selbst beginnt umzugehen, kann sich zunächst ein Grundsätzliches klarmachen: die Erkenntnis der Welt, wie sie uns gegenübertritt, geht zunächst von etwas Gegebenem aus, von den Inhalten unserer Sinneswahrnehmung vor allem, deren exaktes Zustandekommen wir aber genauso wenig unmittelbar gegeben haben, wie es eben bei allen Weltgegenständen ist. Wir nehmen die Erkenntnisinhalte wahr, ihr Entstehen und ihr Zusammenwirken entzieht sich der Wahrnehmung. Was wir darüber aussagen können zu ihrer Erklärung, tragen wir selber durch unsere Tätigkeit an die Gegenstände heran, fügen es ihnen hinzu.

Das ist bei der Auseinandersetzung mit der Frage nach uns selbst, nach dem Menschen also, grundsätzlich anders. Hier haben wir kein unmittelbar gegebenes Objekt, an dem wir ansetzen können. Als der Wahrnehmende und Denkende im Erkenntnisprozess treten wir als Subjekt auf, als Tätiges, das in Form unserer Gedanken und Vorstellungen sich selber erst Inhalte schaffen muss, bevor etwas erklärt werden kann. Bevor wir etwas über uns selber aussagen können, müssen wir schon etwas getan haben, nämlich den Inhalt der Aussage hervorgebracht haben.

Das ist ja bei allen Erklärungen so – auch gegenüber den Gegenständen der Sinneswelt –, aber deren Objekte sind uns gegeben und wir können unser Gedankenschaffen an ihnen überprüfen. Die Gegenstände der Sinneswelt sind uns aber nur als Ergebnis, als Werk gegeben, nicht jedoch ihr Entstehungsprozess. Das ist beim Denken über uns selbst anders: hier ist das Ergebnis nicht vorgegeben, dafür können wir aber dessen Entstehungsprozess verfolgen, denn wir sind ja selber mit unserem Tun daran beteiligt. Sowohl die Art des Hervorbringens von Vorstellungen und Gedanken als auch die Beurteilung ihres Entstehungsprozesses und ihrer Ergebnisse hängt von unserer eigenen Beteiligung daran ab.

Ist also zwar das Bewusstsein von uns selbst als einer erlebten Welt gegenüberstehendes Wesen eine gegebene Tatsache, die auch von der Sinneswelt zunächst abhängt, so schafft unser Denken über uns selbst Inhalte, die aus uns selber hervorgehen, von uns geschaffen sind und insofern nur noch mittelbar von der Existenz der Sinneswelt abhängig sind, indem sie nämlich das Bewusstsein von uns selbst für ihre Entstehung voraussetzen, nicht aber explizit die Sinneswelt als solche.

Damit schaffen wir in unserem Denken und Erkennen eine innere, geistige Welt mit, deren Entstehung in allen ihren Inhalten ohne unsere Beteiligung nicht möglich wäre. Die Inhalte dieser geistigen Welt bestehen daher gerade durch uns selber und unser Miterleben und Mitgestalten ihres Entstehungsprozesses. Ihre Beurteilung ergibt sich also nicht durch Vergleich des Ergebnisses mit dem zugehörigen gegebenen Objekt wie bei der Erkenntnis der Sinneswelt, sondern unmittelbar aus der Beobachtung ihres Werdens.

Je mehr solcher selbsterschaffener Geist-Inhalte der Mensch hervorbringt, desto mehr kann er sein Bewusstsein von sich selbst auf seine eigene schaffende Tätigkeit stützen und sich aus der Abhängigkeit im Erkennen von den Vorgaben der Sinneswelt lösen, also frei werden. Darin liegen Fluch und Segen zugleich. Der Segen ist das allmähliche Erlangen immer umfassenderer Freiheit im Erkennen. Der Fluch liegt in der Möglichkeit, diese Freiheit so zu nutzen, dass dabei die gegebene Sinneswelt den Motiven des eigenen Tuns untergeordnet wird.

Alle Utopien und Ideologien erliegen dieser Versuchung, den eigenen Zukunftswunsch den gegebenen Tatsachen überzuordnen und damit zu vergessen, woraus das Bewusstsein von uns selber ursprünglich gespeist wurde – nämlich aus dem Erleben der Sinneswelt. Damit stellt sich die Frage nach der Bestimmung des Menschen: ist er da, um seine eigenen, aus dem ja auch noch weitgehend unerkannten Inneren aufsteigenden Wünsche zu realisieren, indem er die gegebene Welt nur als Mittel seiner eigenen Macht betrachtet, oder ist er selber sozusagen das Mittel, das die Welt aus sich herausgesetzt hat, sich selber gegenüber gestellt hat, um sich selber durch den Menschen weiter zu entwickeln?

Notwendigkeit und Freiheit

Die umgebende Welt konfrontiert uns mit der Tatsache ihrer Vergänglichkeit und damit auch der Vergänglichkeit unseres eigenen, von der Existenz der Welt abhängigen Bewusstseins. Dieser Tatsache des Todes gegenüber kann also von Freiheit keine Rede sein. Wir sind hier der ehernen Notwendigkeit unterworfen, der gegenüber jede Auflehnung zwecklos ist.

In unserem Denken über uns selbst und in der Beobachtung der von uns selber ausgehenden Entstehungsprozesse unserer Gedanken und Vorstellungen bewegen wir uns demgegenüber in der Region der Freiheit, und dies umso mehr, als wir nach und nach lernen können, uns in unserem Selbstbewusstsein immer mehr auf diese selbsterschaffenen Prozesse zu stützen und uns so unabhängig zu machen von der Stütze, die uns die Sinneswelt sonst gibt.

Beide Reiche – die eherne Todesforderung der Sinneswelt, die letztlich nichts als erstorbene, fest gewordene Ergebnisse uns unmittelbar nicht gegebenen Werdens enthält, und das Reich des Lebens im Geiste, das aber in sich die Tendenz birgt, das eigene Schaffen der gegebenen Welt vorzuziehen und damit den eigenen Entstehungsgrund im Gegebenen zu leugnen – beide Reiche stehen sich so zuerst als Gegensätze gegenüber. Notwendigkeit des Todes in der Sinneswelt und Freiheit des Lebens im Geiste scheinen unvereinbar.

Wenn wir so denken, vergessen wir dabei unseren eigenen Beitrag: die Gegenüberstellung dieser beiden Seinsbereiche – Weltentod und Geistesleben – ist unser eigenes Werk im erkennenden Umgang mit den Tatsachen unseres Lebens. Die Unvereinbarkeit beider stellen wir fest aufgrund eigener, im Geiste von uns mitgestalteter Denkprozesse. Wenn wir dies bemerken, verhalten wir uns einer von uns selber geschaffenen Geisttatsache (Gedanke der Unvereinbarkeit von Notwendigkeit und Freiheit) gegenüber so, wie wir dies der Sinneswelt gegenüber gewohnt sind: wir vergleichen Denkprozess und Ergebnis und bemühen uns, beide in Übereinstimmung zu bringen. Dabei können wir feststellen, dass wir ein wichtiges Glied in der Kette noch übersehen haben.

Die Notwendigkeit des Weltenwerdens hat aus sich heraus ein Werk vollbracht – den seiner selbst sich bewusst werdenden Menschen –, das den Keim der Freiheit in sich birgt, in der Möglichkeit der Abkehr vom ersterbenden Werk und der Zuwendung zum lebendigen Schaffen. Was liegt aber dann dem Weltenwerden zugrunde als Garant des Selbstbewusst-Werdens des Menschen zu seiner Freiheit? Ist das nicht dieselbe geistige Welt des Schaffens und Hervorbringens, die wir Menschen im Gedankenschaffen in uns tragen und deren selbstbewusstes Glied wir werden können, je mehr wir uns auf diese lebendige Welt selber zu stützen lernen und damit von der gegebenen Sinneswelt uns unabhängig machen?

Der Versuch einer vorläufigen Antwort auf solche Fragen führt uns in den Bereich der tiefsten Urgründe des Menschenwesens. Was liegt der Welt der Sinneserlebnisse ebenso zugrunde wie der geistigen Welt unseres eigenen Erkenntnisschaffens? Es ist dies dasjenige Wesen, das als Urgrund unseres selbstbewussten Schaffens erst den Gegensatz von Weltobjekt und erkennendem Subjekt hervorbrachte, aus dem der freiheitssuchende Mensch hervorgeht. Dieser Mensch braucht daher zu seinem Dasein beide Seiten, um diese nach und nach in seine Freiheit aufzunehmen und in eine neue, ihrer selbst bewusste Einheit zu überführen, die sich dann aus ihrer Mitte heraus selber tragen kann.

Der Vater-Gott, der Welten-Urgrund also stellte sich im toten Werk seinem eigenen lebendigen, schaffenden Geist gegenüber und schuf sich so den Menschen-Sohn, der erst durch sich den unerbittlich waltenden Vater-Gott der Welt mit dem alles zu neuem Leben führenden Geist in sich zu einen vermag. So führt er im Sohn die Welt in den Geist, indem er den Geist der Welt in sich belebt, und den Geist in die Welt, indem er ihr sein Schaffen als Werk einfügt.

Dies kann mit Recht der Christus genannt werden, der erst durch das Auftreten des schaffenden Gottes in der Werkwelt sich mit dieser einte im Tode, und damit Ausgangspunkt zu einer Auferstehung der untergehenden Werkwelt zu neuem Leben im Geiste werden konnte. Dieser Geist des MENSCHEN-GOTTES, des Gottes-Menschen gibt in seinem Auftreten in der Werkwelt der Welt und dem aus ihr hervorgegangenen Menschen ihren Entwicklungs-Sinn.

Durch ihn ist der Vater-Gott, der Welt-Erschaffer von seinem Wirken durch die Welt zum Wirken durch jeden einzelnen Menschen, mithin durch die Menschheit als Ganzes übergegangen; er selbst, der Menschen-Gott wird im Menschen-Sohn zum Repräsentanten der Menschheit schlechthin. In jedem Einzelnen von uns lebt seitdem eine Variante dieses Menschheits-Repräsentierens, bewusst oder unbewusst.

Und weil so der innerste Kern aller individuellen Menschen ein einheitlicher, universeller ist, schließt er auch die Existenz der Welt und ihr Hervorbringen mit ein, ja, ist geradezu diese Welt, hat sich mit ihr geeint und wirkt daher durch sie. Jeder einzelne Mensch, der seinen innersten Kern sucht, kann sich sagen: das Einzigartige, Unverwechselbare, in dem meine Individualität besteht, liegt in meiner Welt! Indem ich mich meiner Welt hingebe, so wie der Christus sich der Erdenwelt als Ganzer einte, werde ich erst wirklich frei. Dann erst, im Einswerden mit der Welt nehme ich auch die Grundbedingung meiner Existenz, meiner Entwicklung zur Bewusstwerdung in mich auf, nämlich den Tod in der Welt, und schaffe damit einen Ausgangspunkt für ein zukünftiges, wahrhaft freies, geistiges Welten-Leben.

Worin liegt die Zukunft?

Meine Zukunft liegt daher in einem geistigen Leben, das seinen Gegensatz zur Welt nicht als Erleben eines dunklen Weltenzwanges ansieht, sondern darin gerade die Bedingung seines bewussten Menschenseins erkennt. Damit einher geht eine Veränderung im Leben, die radikaler nicht sein könnte: sahen wir zunächst unsere Individualität als eine welt-entsprungene an, die daher nur insofern frei sein kann, als dieser Ursprung es zuläßt, werden wir nun im Laufe der Entwicklung mehr und mehr zu Geistwesen, die ihren eigenen Weltenursprung einschließen und damit die wahre Freiheit nach und nach entstehen lassen können.

Die Führung des Lebens der Welt geht daher von der fremden, unerkannten Welt auf uns selber über, in vollem Bewusstsein. Vergessen wir aber nicht, was nötig dafür war, immer noch ist, und noch lange bleiben wird: der mehr oder weniger allmähliche, von Zeit zu Zeit aber auch sprunghaft voranschreitende Untergang der uns gegebenen, fremden Außenwelt, ihr Tod also, ihr Vergehen.

Dies kann man einerseits ganz individuell auf sich selbst beziehen. Indem ich die Welt verlasse, geht sie mir unter. Mein Dahinscheiden ist also identisch mit dem Untergang meiner individuellen Sinnes- und Erlebniswelt. Soweit diese Welt mir fremd geblieben ist, wird auch mein Geist-Erleben das Bewusstsein verlieren. Soweit ich diese Welt aber in liebender Hingabe mit mir vereint habe, also auch ihren geistigen Urgrund anstelle ihres äußeren Werk-Seins als Bedingung meines Selbst-Bewusstseins erkannt habe, habe ich mich unabhängig vom Gewordenen gemacht und kann mein individuelles Bewusstsein im Untergang der Welt aufrecht erhalten. Soweit ich also mich bewusst zum Ausdruck des Christus, des Menschheits-Repräsentanten gemacht habe, werde ich auch im Bewusstsein Anteil haben an der Auferstehung des Geistes aus dem Weltentode.

Ohne den Untergang derjenigen Welt, in der Leben und Tod sich bedingen, werde ich also des Ewigen nicht teilhaftig werden. In der Sinneswelt regieren die Lebenszyklen der Entwicklung zwischen dem sprießenden Keim und dem Vergehen; nur im Geiste können wir erleben lernen, wie aus Leben und Tod erst Entwicklung – also neues Leben – hervorgeht, können uns mit diesem Gang vereinen und so als Mitschöpfer in die ewige Entwicklung eintreten.

So wie dieser Vorgang im einzelnen irdischen Menschenleben sich ereignet, geschieht es auch in der ganzen Menschheit. Soweit, wie es Menschen gibt, die die Bedingungen der Weiterentwicklung der Menschheit und ihrer Welt in sich selber aus dem Geiste heraus erschaffen können, wird das dunkle Walten der fremd gewordenen Welt durch ein helleres, menschliches ersetzt. Das heißt aber im Umkehrschluß auch, dass die Bedrohung unserer Existenz durch den Weltuntergang, das Zerfallen, Vergehen derjenigen Welt also, die uns aus sich hervorgehen ließ und heute noch trägt, solange immer stärker und bedrängender werden wird, wie es diese geist- und weltentragenden Menschen-Söhne nicht gibt. Nicht der Weltentod, der Welt- Untergang ist also das eigentliche Problem, der Stein des Anstoßes, sondern die damit verbundene Bedrohung unserer Existenz. Diese hängt aber von unserem Umgang mit der aufgeworfenen Frage ab: sterben wir mit der Welt ab, oder erheben wir sie durch uns in den Geist?

Rudolf Steiner formulierte es einmal so: Es ist ein geheimnisvoller Zusammenhang zwischen dem, was menschliches Bewußtsein ist, und den zerstörerischen Kräften des Weltenalls, gerade den Untergangskräften des Weltenalls. (…) er besteht so, daß das eine als Ersatz für das andere auf der einen Seite dienen kann oder auf der anderen Seite dienen muß …“4. Der Weltuntergang kann also etwas Notwendiges sein, die Not, die mit ihm einhergeht, wenden, indem seine andere Seite auftritt: der Mensch als Welten-tragen-Wollender.

Irrtümer

Der im Vorstehenden umrissene Gedankengang kann nun vielfältige Irrtümer in das Bewusstsein treten lassen, die dazu führen können, dass das Erreichen des Ewigkeitszieles der bewussten Durchgeistigung von Erde und Mensch behindert und geschädigt wird. Einige davon sollen hier abschließend kurz angedeutet werden.

So kann der einzelne Mensch dazu neigen, seinen eigenen Beitrag als so unwesentlich anzusehen – aus der Erfahrung der dauernden Übermacht der Sinneswelt mit ihren Gesetzen –, dass er die mit seinem eigenen Beitrag verbundene Mühe nicht aufbringt. Wer sich so verhält, hat noch nicht genügend Verständnis erlangt für den grundsätzlich anderen Charakter der geistigen Welt, die sich in der Selbstbeobachtung des Menschen auftut, im Vergleich zur äußeren Sinneswelt, die uns gegeben ist. Auf die in der Vorbemerkung angeführte Aussage Rudolf Steiners über das Verstehen-Können und Verstehen-Wollen sei hier nochmals hingewiesen.

In der gegebenen Sinneswelt liegen die Dinge getrennt von einander vor uns, und das Gesetz der Menge regiert. Was mehr ist, wird diese Welt stärker prägen als das Wenige. Ganz anders im Geiste: hier lebt alles ineinander, geht auseinander hervor und eint sich aufs Neue. Bringt ein Einzelner Bewusstsein in bestimmte Verhältnisse hinein, so tut er dies zugleich für die ganze Menschheit – auch, wenn diese vielleicht zunächst nichts davon bemerkt. Was einer erkannt hat, ist damit für immer ein Erkanntes. Darum lebt ja auch jeder sein individuelles Leben, das ihm seine individuellen, konkreten Aufgaben stellt. Was also der eine nicht zu Bewusstsein bringt, bleibt als Erkenntnisaufgabe ungelöst, bis entweder er selber oder ein anderer die Lösung bringt. Es gibt darum ganz prinzipiell gar keinen unwesentlichen Beitrag zum Ganzen; jeder, auch der kleinste Beitrag ist wesentlich. Und alles, was der Einzelne aus sich heraus, frei gewollt leistet, kann ein solcher Beitrag sein.

Des Weiteren könnte man die Einsicht in die Notwendigkeit des Welt-Unterganges zum Anlass nehmen, nun gleich ganz vorsätzlich einmal „tabula rasa“ machen und selber den Schalter auf „Aus“ stellen zu wollen. Das ist aber genauso wie der vorher angesprochene Irrtum nur ein Ausfluss des Unwillens, die Arbeit, für die der Mensch im Weltenganzen einmal vorgesehen ist, auch auf sich zu nehmen. Den Schalter auf „Aus“ zu drehen, ist scheinbar leicht und schnell getan; die Welt in Hingabe an jedes kleine Weltenwerk nach und nach in den Geist zu führen, ist eine Aufgabe für lange Zeit, die dem Menschen daher schwer erscheint.

Den Schalter auf „Aus“ zu stellen, ist aber unwiderruflich; und der Mensch kann irren, wenn erglaubt, seine Entwicklungsaufgaben würden ihm schon von anderen abgenommen. Sind wir denn tatsächlich schon so weit entwickelt, dass wir auf den ständigen Zyklus von Leben und Tod in der Sinneswelt verzichten können? Warum erscheint uns dann immer noch der uns bedrohende Weltuntergang? Der Schalter auf „Aus“ – wäre das denn nicht derzeit auch der endgültige Menschheitstod?

Nein, die Vernichtung der Welt ist ja kein Sinn in sich; sie ist nur im Rahmen der Vergeistigung durch den Menschen not-wendig, und dies fordert eben jeden Einzelnen, der sich zum Repräsentanten reiner Menschlichkeit entwickeln will. Es geht nicht um den Tod an sich, sondern darum, den Welten-Tod in sich aufzunehmen, um ihn dadurch zum Geist hin zu überwinden.

Die Welt zu leugnen, sich von ihr loszusagen oder sie sogar mutwillig zerstören zu wollen um selber im Geiste von ihrem Walten frei zu werden, kann wohl persönlicher Wunsch sein. Aber in der Welt muss ein Gleichgewicht sein von Leben und Sterben. Wer sein inneres Leben nur für sich behalten will, entzieht es dem Welt- und Menschheitsganzen, und wirkt darum mit an dem Ungleichgewicht, das dort entsteht. Da nimmt man die eigene selbstbewusste Existenz als ein Geschenk des Weltenwerdens hin und gibt nichts zurück. Die ganze Welt als Werkzeug meiner Wünsche, indem ich sie mir aus dem Bewusstsein hinausschaffe, um (vermeintlich) von ihr frei zu werden?

Aber das Leben, das Er-leben ist in mir. Gebe ich es nicht der Welt, so erstarrt sie umso mehr im maschinellen Tode, in der automatischen Lebensimitiation. Ohne mein hingegebenes Miterleben der Welt stirbt sie ab – ohne dass darin die Not gewendet wird zum Geist, ohne Notwendigkeit also, nur aus reiner Willkür des sterblichen Erdenmenschen. Diese Willkür ist auch ein Irrtum. Denn der Mensch, der ihm erliegt, ist noch nicht frei geworden von dieser Welt, für diese Welt, und wird mit ihr im selbstgeschaffenen Strudel untergehen.

Man muss sich der Idee erlebend gegenüberstellen können, sonst gerät man unter ihre Knechtschaft.“5

Leben in der Liebe zum Handeln, und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime der freien Menschen.“6


Aphoristische Ergänzungen zum Thema

I

Der Tod ist not-wendig. Wird er nicht im Leben selbst vollzogen, so zwingt er von außen. Er muss erkannt werden als der Schlüssel zum Leben. Wer sich selbst erstirbt, zum Sterben bringt, wird sich auferstehen sehen. – Die Rede ist nicht vom „Selbstmord“ –

Was ist mein Wille? Welches Wesen spricht da in mir? Wer lebt in all den Ideen, Willensimpulsen, Gefühlen, die mich durchziehen?

Wer ist dann Volk, Familie, Menschheit, Ich? Sie alle leben in mir, durch meine Welt offenbart. Aber ich erkenne sie nur, wenn ich ihre Sprache erlausche.

Jeder Gedanke ist Wesen. Jeder Weltgegenstand spiegelt Wesen. Jeder Stoff ist Geist – in Stoffesform. Treten wir ein in den Chor der Wesen.

Hören wir, was sie sprechen. Hören wir ihr Urteil, in den Ereignissen der Zeit. Lassen wir unser Wünschen fahren – treten wir machtlos, wie wir sind, aber voller Mut und Lebensliebe alldem entgegen, was uns in den Strudel der Zerstörung ziehen will. Christus in uns – der Welt der Teilung gegenüber. Werden wir zum Quell der Heilung.

II

Deutschland kann nichts. Wer sich zum Deutschen macht, kann viel. Wer Michaels Ruf hört, geht ihm entgegen, ohne Furcht, in Liebe zum Menschen.

Dies Hören, dies Schreiten, diese Liebe sind seine Kraft, die er der Zukunft schenken wird.

Zögern wir nicht: wir alle sind Siegfried, wir alle können ihm die Erlösung schenken. Erlösung von schwerer Schuld, von Irrtum und Versagen.

So wird er uns vorangehen auf unserem Weg, zwischen Skylla und Charybdis, aber frei, den Sirenen trotzend, dem Gesang widerstehen. Beide Wege zugleich sind uns gegeben.

––––––––––––––––––––––

Die Welt zeigt außen, was wir innen leben. Nehmen wir die Führung in unsere Hände, jeden Augenblick, den wir leben.

III

Was uns umgibt, ist Wesen, ebenso wie alles, was in uns – in MIR – lebt. Wir sind Geist unter Geistern, und erleben uns doch in einem toten Schattenspiel.

Ja, meine Welt ist meine. Ich bin Wesen. Aus mir geht sie hervor. Aus ihr ging ich hervor – ihrem Wesen. So ist es, und so wird es erst einmal bleiben. Gehe ich mit meiner Welt um – innen und außen – so gehe ich mit mir um. Doch ich verstehe mich nicht, kenne meine Sprache nicht, mit der ich mich anrufe.

So soll ich etwas und kann es nicht. Nein, ich muss es tun und kann es nicht. Ich muss erst wachsen, doch wachse ich erst, wenn ich mir das Wachstum schenke, das ich nicht kenne, von dem ich nicht weiß.

Das ist unmöglich. Und doch: tagtäglich geschieht es. Lerne ich es hinnehmen. Lasse ich mich führen von mir. Nehme ich den Irrtum auf mich, den unvermeidlichen. Durch ihn lasse ich mich wachsen.

Wo der Irrtum stirbt, ersteht die Wahrheit zum Leben. Ich bin der Irrtum.
Sterbe ich, so steigt die Wahrheit auf – aber ohne mich, mein Tun, mein Wollen. Wo ich mir sterbe, lebe ich in der Wahrheit der Welt. Sterbe ich der Welt – die Welt mir – so lebe ich in mir in Wahrheit – aber ich suche die Welt, durch die ich zu mir sprechen kann.

Dass nicht ich, sondern andere die Welt in mir sprechen lassen, ist Lüge. In mir lebt der Gott, der Tropfen göttlichen Seins, der Herr ist allen Schicksals, der Sprache des Karma mächtig. Ich bin es selbst. Immer. Bis ans Ende aller Tage.

Das Fremdsein ist Lüge, geboren aus meiner Furcht vor mir selber. Ich bin unteilbar, „Individuum“. Und doch mir selber fremd geworden.

Stefan Carl em Huisken


1Rudolf Steiner: Die okkulte Bewegung im neunzehnten Jahrhundert und ihre Beziehung zur Weltkultur. GA 254. – Dornach, 1986, S. 187

2selbst für die ganze Erde geht die Geologie spätestens seit Eduard Süß (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Eduard_Suess) davon aus, dass die Erde sich in einem allmählichen Ab­sterbeprozess befindet. Vgl. dazu von Rudolf Steiner z.B. der Vortrag vom 7. Mai 1923 in Rudolf Steiner: Die menschliche Seele in ihrem Zusammenhang mit göttlich-geistigen Individualitäten. Die Verinnerlichung der Jahresfeste. GA 224. – Dornach, 1992, S. 144ff

3vgl. dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Transhumanismus und https://emhuisken.de/den-menschen-ueberwinden-transhumanismus-und-geist-erkenntnis/

4Rudolf Steiner: Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis. GA 177. – dornach, 1999, S. 17

5Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit. GA 4. Dornach, 1973, S. 271)

6ebd., S. 166


Den Text dieses Beitrages gibt es auch als gedrucktes Heft. => Hier können Sie es erwerben.


Cover Wahnsinn und Denken Umdenken Weltuntergang

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Ich hab mein Sach auf Nichts gestellt – Friesentreffen 2022

Im Nachklang eines inspirierenden Friesentreffens

„Ich hab‘ mein Sach‘ auf Nichts gestellt.
Juchhe!
Drum ist’s so wohl mir in der Welt.
Juchhe!
Und wer will mein Kamerade sein
Der stoße mit an, der stimme mit ein
Bei dieser Neige Wein“1

Die erste Zeile dieses Gedichtes von Johann Wolfgang von Goethe kam mir in den Sinn, als ich über das Friesentreffen am 6. Juni 2022 – dem Pfingstdienstag – am Upstalsboom bei Aurich nachsann. Und auch eine Ergänzung dieser ersten Zeile drängte sich mir auf:

Ich hab‘ mein Sach‘ auf Nichts gestellt,
nichts als den freien Menschen.

Auch wenn es in diesem Falle vielleicht nahe gelegen hätte zu sagen „… den freien Friesen“, so klang für mein Empfinden die allgemeine Formulierung mit dem „freien Menschen“ schlüssiger. Aber vielleicht ist der Unterschied zwischen beiden Formulierungen ja auch gar nicht so groß …

Bei dieser Versammlung beeindruckten mich zwei Redner besonders: Oebele Vries, Historiker und emeritierter Dozent der Rijksuniversiteit Groningen, und Christoph Schmidt, Direktor des Nordfriisk Instituut in Bredtstedt/Nordfriesland.

Upstalsboom bei Aurich Friesentreffen 2022

Oebele Vries rezitierte den Prolog und die ersten drei Küren der Friesen eindrucksvoll auf Altfriesisch (mit anschließender deutscher Übersetzung). Dabei kamen vor allem die Aussagen der 2. und 3. Küre und ihr Zusammenhang klar zum Ausdruck: sollte eines der verbündeten „sieben friesischen Seelande“ von einem Außenstehenden angegriffen werden, so würden die anderen sechs ihm beistehen, um seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu wahren, so die zweite Küre. Die dritte Küre sagt: sollte aber eines der Seelande ungerecht rauben oder morden, so sollten die anderen sechs das siebte zwingen, wiederum gerecht zu handeln.

Wer sich diese einfachen Regeln ein wenig besinnend „auf der Zunge zergehen lässt“, wird schnell bemerken, wie hier in einfachen und klaren Worten auch und gerade für unsere Zeit Wege aufgewiesen werden aus den Katastrophen des Umgangs der Staaten und Länder miteinander. Allerdings: es muss dabei sichergestellt werden, dass die Frage „gerechten“ oder „ungerechten“ Handelns Freund und Feind gegenüber aus gleichen Beurteilungsmaßstäben heraus entschieden wird. – Dafür trugen einst die gewählten Richter die Verantwortung.

In seinem Grußwort machte dann Christoph Schmidt darauf aufmerksam, dass es für einen lebensvollen und entwicklungsfähigen Umgang miteinander weniger entscheidend sei festzustellen, was nun das „richtige“ oder „falsche“ Friesentum, oder die „wahre“ beziehungsweise die „unwahre“ friesische Sprache sei; darüber bestehen naturgemäß unterschiedliche Auffassungen und Erfahrungen, und keine davon könne einfach für „ungültig“ erklärt werden zugunsten einer anderen. Vielmehr sei es wichtig, dass jeder Einzelne seine Sache mit Einsatz und Tiefgang verfolge und dem anderen auch dessen Weg gönne und nicht abspreche. Im Ergebnis könne daher eigentlich nur jeder Mensch selber darüber entscheiden, ob er „Friese“ sei oder nicht, und inwieweit seine friesische Sprache eine wahre sei.

Mich erinnerte diese Aussage sofort an ein Wort Rudolf Steiners in seiner „Philosophie der Freiheit“: „Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime der freien Menschen.“2 Damit sei – so Rudolf Steiner – auch ein hinderliches Aufeinanderprallen und Missverstehen bei sittlich freien Menschen ausgeschlossen. Diese Worte Rudolf Steiners kann man – so meine ich – gerade in unserer Zeit nicht oft und tief genug durchdenken. Sie standen auch bei meinen früheren schriftlichen Versuchen zu Fragen des Friesentums3 und der friesischen Kultur4 im Hintergrund. Beide Artikel kann ich dem Interessierten daher hier zur (nochmaligen) Lektüre empfehlen; vielleicht können sie ja Hinweise geben für die noch bessere Fundierung des eigenen (friesischen?) Selbstverständnisses in der Welt.

Das eingangs zitierte Gedicht Goethes gibt im Übrigen Hinweise darauf, welche Folgen es haben kann, wenn man sich frei zu machen versteht von aller Lenkung und Stütze von Außen, wenn man also sozusagen „sein Sach‘ auf Nichts stellt“. Er spricht nämlich vom Willen zur Kameradschaft, der für den Zusammenklang – das „mit einstimmen“ – entscheidend ist. In den weiteren Strophen des Gedichtes schildert er, wie es ihm gegangen ist, als er hier und da in der Welt seine Stütze suchte. Die angedeuteten Folgen sprechen für sich. Auch dies Gedicht in Gänze sei daher zur Lektüre empfohlen.

© Stefan Carl em Huisken 2022

1vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Vanitas! vanitatum vanitas! – In: Goethes Werke. Bd. 1. – Bibliographisches Institut Leipzig, 1926. S. 70f

2Steiner, Rudolf: Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode. – Dornach, 1973, S. 166

3vgl. https://emhuisken.de/wordpress/2017/08/wer-ist-friese/

4vgl. https://emhuisken.de/wordpress/2019/07/friesische-kultur-heute/




Mein Dämon und ich – Poetisch-aphoristische Miszellen

Mein Dämon und ich

Poetisch-aphoristische Miszellen1

I

Aus dem Wörterbuch der Brüder Grimm:

dämon, m. genius. der griechische δαίμων bezeichnet einen bösen sowol als einen guten geist, einen schutzgeist: dem christenthum gegenüber trat er in die dunkelheit und treibt die menschen, über die er macht hat, zum bösen. doch nehmen ihn einzelne wieder im sinne der alten, besonders Göthe. (…)

unselige gespenster! so behandelt ihr
das menschliche geschlecht zu tausend malen:
gleichgültige tage selbst verwandelt ihr
in garstigen wirrwarr netzumstrickter qualen.
dämonen, weisz ich, wird man schwerlich los,
das geistig strenge band ist nicht zu trennen.“2

Versuchen wir einmal, Goethe ein wenig nachzueifern.

II

Einst waren wir eins, mein Dämon und ich.
Doch lebte er in mir, der Teiler, der Teufel,
Der mich von mir verbannte ins DA!
Nicht hier in mir allein zu leben
War mir vergönnt nun fürderhin.

Wir waren nun zwei, das HIER, das DA,
Und beide blind für das Ganze.
Denn jedes blickt nur auf sich, wenn es sucht,
Was vor Urzeiten das Eine war.

ICH kam aus der Welt, der Einen,
Aus der erst die Tat mich fallen ließ,
Die Tat, aus dem Ganzen die Zwei,
Aus dem Gott die Not und den Tod,
Das ICH und den Dämon werden zu lassen.

Der es gibt, der es nimmt, der es trägt sind drei
Doch nur zwei sind bemerkt: das ICH und die Welt.

ICH lebe, und lebe durch die Welt,
Sie gibt, was der Dämon mir schuf:
Mein Weg durch das Leben und ICH sind eins,
Und doch zwei im Gang der Tage.

Nehme ich hin, was der Dämon mir gibt,
So verlang ich von ihm, dass das Meine er trage.
Gelingt es? Kann ich das Ganze erneuern
Mit jedem Schritt, der dem Leben entstammt?
Oder reißt er mich mit, der Dämon, ins Dunkel,
Des Abgrunds, in dem sich das ICH verliert?
Oder stoße ich ihn, den Dämon, im Tod
Seiner Welt der ewigen Leere geweiht,
Von mir, der doch einstmals mein Eigen war?

Wohlan, die Not und der Tod sind Eins,
In MIR kann der Gott aufs Neue erstehen.
Wenn ICH nur will, beide nehme und trage,
Wird ihnen der Gott aufs Neue erscheinen.

Wer ist’s dann, der gab die Not und den Tod,
Wer ist’s, der aus Dreien das Eine formt,
Der es gab, der es trug, der es nahm?

Der im Ganzen aufs Neue sich selbst erschafft,
Und im Schaffen mich und den Dämon vereint.

III

Was den Dämon bewegt, kenne ich nicht.
Ich kann nur erleben, was er mir tut.
Er spricht durch mein Schicksal, die Welt zu mir.
Was ich tue, wird Seins mit dem Ende der Tat.
Er muss es tragen, so schwer es ihm fällt:
Er kann es nicht weigern.

Verfalle ich ihm, vergesse mich selbst,
So nimmt er es hin – bis in seinen Tod.
Der Herr des Todes wird es mir danken.

Verachte ich ihn, wird dasselbe geschehen:
Der Tod wird ihn greifen, ihn quälen, verzehren,
Und mit ihm auch mich, denn der Dämon ist mein.

Der einzige Weg, dem Tod zu entringen
Das ewige Leben – bin ICH, wenn in mir
In Freiheit die Liebe zum Dämon ersteht.

IV

Von Zeit zu Zeit, manchmal auch nur teilweise, bin ich besessen. Mein Dämon macht dann mit mir, was er will. Meine einzige Möglichkeit, ihm Einhalt zu gebieten, besteht in der geistesgegenwärtigen Einsicht, dass ich dann nicht Herr meiner Selbst bin.

Das ist zum Beispiel immer dann der Fall, wenn ich ohne weitere Überlegung einem eingeübten Vorurteil folge, oder einem Gefühl, das mir die Richtung meines Handelns vorgibt, oder aus eingeübter Routine handele. Immer dann regiert mich also mein Dämon, wenn ich nicht ganz wach und klar entscheide, was ich tun will, und dies mit dem Wissen, dass sonst mein Dämon für mich handeln wird. Alles also, was ich nicht ganz wach tue, nur deswegen, weil ICH es so und nicht anders will, aus Gründen, die ich überschaue und selber geprüft habe – all das tut eigentlich mein Dämon, der Geist, von dem ich dann besessen bin.

Wenn ich ehrlich bin, muss ich sogar zugeben, dass mein Dämon bei mir weitaus öfter „am Drücker“ ist als ich selber. Wie viele Dinge tue ich ohne weiteres Nachdenken, einfach, weil ich mich daran gewöhnt habe, sie so und nicht anders zu tun? Die tut nämlich eigentlich mein Dämon. Ob ich bei genauer Prüfung mit seinem Handeln einverstanden sein kann, entscheidet sich an der Frage seiner „Erziehung“: habe ich ihn, diesen Gewohnheitskerl, der sich auch mal gerne etwas einreden lässt – die Schulzeit lang ist ihm ja unendlich viel andressiert worden, von Anderen, nicht von mir, und danach ging es das ganze Leben so weiter – habe ich ihn also genügend dazu bewegt, meinen Wünschen und nicht den Einredungen aus der Welt zu folgen, verlässlich und sicher?

Das ist schon wieder so eine Ehrlichkeitsfrage: habe ich ihn wirklich gut genug „erzogen“, kann ich mich also auf ihn – auf meinen Dämon in mir – verlassen? Wenn nicht, dann tut er also öfter mal Anderes, als es eigentlich von mir gewollt wäre.

Für die Anderen um mich herum ist das selbstverständlich gar nicht auseinander zu halten. Für die Anderen ist es so, dass immer ICH verantwortlich bin für das, was durch mich geschieht. Da haben sie ja auch recht, im Prinzip. Wenn ich mich nämlich nicht auf mich – also meinen Dämon – verlassen könnte, läge es ja auch an mir, meiner schlechten „Dämonen-Erziehung“ sozusagen.

Wie dem auch sei, für mich halte ich mich an die Ehrlichkeit. Und die besagt, dass ich tagtäglich unendlich viele Dinge wie „instinktiv“ tue, ohne sie aktiv jetzt gerade aus mir heraus genau so zu wollen. Ich kann mir zwar für all diese Dinge im Nachhinein plausible Erklärungen zurechtlegen – aber ob die dann immer stimmen?

Wie kommt es eigentlich dazu, dass ich partiell „besessen“ bin? Bin nur ich es, oder geht es auch Anderen so, dass sie von Zeit zu Zeit gar nicht genau erklären können, wie und warum sie eine bestimmte Handlung jetzt gerade und genau so ausführen, wie sie es tun?

Kennen wir das nicht? – Ein Gespräch findet statt. Ein Mensch kommentiert mit Anwendung von gesundem Menschenverstand dieses oder jenes und beurteilt es sachkundig. Allerdings ist er in einer Lage, in der er durch Vorgaben von anderer Stelle anders handeln muss, als es sein eigenes gesundes Urteil eigentlich fordern würde. Solange das Gespräch im Allgemeinen bleibt, scheint alles zu einander zu passen. Sobald aber die Vorgaben in Frage gestellt werden, also eigenverantwortliches Handeln aufgrund gesunden Menschenverstandes zur Diskussion gestellt wird, läuft wie automatisch das Rechtfertigungsprogramm für das fremdbestimmte Handeln ab, und der gesunde Meschenverstand verschwindet. Wer handelt da eigentlich? Der Mensch selber, oder sein Dämon?

Mit den Dämonen ist es ja auch so eine Sache. Gewiss, jeder „erzieht“ seinen Dämon so gut es geht. Aber es gibt ja auch Einflüsse von außen, die darauf angelegt sind, unter Umgehung der Aufsicht des ICH dem Dämon etwas anzugewöhnen. Hypnose ist ein extremes Beispiel dafür; aber hypnoseähnliche Zustände und Wirkungen lassen sich vielfältig erzielen.

Wer zum Beispiel wochen- und monatelang bestimmte Aussagen im immer gleichen Wortlaut von allen Seiten vorerzählt bekommt, dabei zugleich durch Unklarheiten verunsichert und zusätzlich durch den Hinweis auf eine große Bedrohung in Angst und Schrecken versetzt wird, kommt in einen tranceartigen Zustand. Eine der wirkungsvollsten Methoden zur Hypnoseeinleitung ist die Herstellung von Konfusion, Desorientierung3. In einen solchen Zustand hinein „gehämmerte“ Aussagen werden vielleicht zwar vom Ich wahrgenommen, möglicherweise sogar kritisch beurteilt, kommen aber in der passenden Situation, durch einen Auslöser, wie eine alles eigene Denken hinwegspülende Woge aus dem Dämon heraus, bringen sich zur Geltung und handeln durch mich. Wer dann im Nachhinein wieder zur Besinnung kommt, wird nicht immer die Kraft und Möglichkeit haben, die Sache gerade zu rücken. Auch innerlich meldet sich ja der Dämon und streitet mit dem souveränen Ich4.

Vom Dämon, als einem „bösen“ Geist, wird gesagt: „Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er es am Kragen hätte“5. Was also unerkannt dem Dämon anerzogen wurde, tritt ja nicht in der Form auf: „Hallo, hier ist dein Dämon, ich regiere dich jetzt!”, sondern auch mir selber ebenso wie der Außenwelt gegenüber spielt er sich auf als – ICH.

Das kann er allerdings nur so lange, bis ich ihm auf die Schliche komme, da, wo er mich „am Kragen hat“. Das wird mir aber nur gelingen, wenn ich mir erst einmal eingestehe, dass ich eventuell – vielleicht auch nur temporär oder partiell – gar nicht zurechnungsfähig bin, nicht die Gewalt über mich habe, sondern eben „besessen“ bin.

Natürlich kommt dann wie zwanghaft – aus mir? aus meinem Dämon? – der Wunsch, den Kerl sofort und möglichst nachhaltig los zu werden. Nur: kann ich das? Wieviele Taten jeden Tag kann ich nur ausführen, weil er mir hilft? Alle Gewohnheiten mir – ihm – ganz neu anzuerziehen, ausgehend von „tabula rasa“, das geht doch gar nicht! Das Baby braucht doch erstmal den Dämon in der Welt um sich her, um überhaupt auf den Weg zu sich selber zu kommen! Und auch weiter, wenn ich ehrlich bin, wieviele gute und schlechte „Routinen“ hat mir mein Leben – mein Dämon in der Welt – einst anerzogen, und was wäre ich heute ohne all die Menschen, die mich, manchmal ohne es genau so zu wollen oder zu wissen, gefördert haben – direkt, oder indem sie mir Knüppel zwischen die Beine warfen, so dass ich daran wachsen konnte? All das gehört doch auch zu meinem „Dämon“! Nein, das geht nicht, den Dämon „abzuschaffen“.

Mein Dämon liegt zwar öfter überquer mit mir, aber ohne ihn kann ich wenig bis nichts. Ich brauche ihn einfach.

Also geht es nur anders. Ich kann versuchen, wacher und wacher zu werden dafür, wo und wann mein Dämon durch mich handelt und wo und wann etwas ganz allein aus mir, aus meinem Herzen kommt. Und überall, wo es dann Differenzen gibt zwischen ihm und mir – meinem Herzen also – kann ich suchen ihn zu verstehen. Nicht zu verstehen, warum er so ist wie er ist, sondern ihn selber zu verstehen, seine Sprache, durch die er mir und der Welt etwas sagen will. Dann können wir ins Gespräch kommen, und ich kann versuchen, ihn zu überzeugen. Nicht zu zwingen, mit Gewalt oder „Zuckerbrot und Peitsche“. Darüber lacht er nur, das kann er besser als ich.

Nein, ich meine wirkliches Verstehen. Möglicherweise hat er ja sogar recht, und ich muss mich ändern. Aber so haben wir doch beide eine Chance, sinnvoll unsere Aufgaben im Leben zu erfüllen. Und je mehr wir uns einig werden, desto mehr werde ich „zurechnungsfähig“, verantwortungsfähig für das, was ich tue. Nicht bloß vor der Welt, im Außen – da bin ich ja sowieso verantwortlich, auch für ihn und was er tut – sondern vor mir selber, selbst gewollt.

Frisch ans Werk?

V

Fürchte einzig des Dämons Lächeln,
Des Verfälschers tröstliche Glätte,
Des Lügners einleuchtende Wahrheiten,
Des Mörders Lebensklugheit,
Des Verräters daseinsbezwingende List,
Des Verleumders exakte Wissenschaft.

Fürchte nur des Dämons
Uralt unerkannte Gottähnlichkeit,
Die strahlende Maske,
Vielen tödlich.

Und fürchte ihn nicht!
Blick ihm ruhig ins trauernde Antlitz:
Von kalten Blitzen entzündet,
Gefurcht von Verachtung der Feigen,
Von Haß zerstört gegen
Einen ihm schweigenden Gott –
Blick ihm ruhig ins versteinerte Aug,
Immer steht er neben Dir.

Nicht schenkte ein Gott Dir sein Blut,
Daß in Furcht du erstarrst,
Leuchte dem Dämon zu späterer Erlösung,
Da er trug auch Dich,
Als Du ihm ähnlich warst.
Nun hilf ihm.

(Helmut Siegfried Unbehoven)

© für den Gesamtbeitrag Stefan Carl em Huisken 2021

1„Eine Miszelle (von lat. miscella ‚Gemischtes‘) ist generell ein Kurztext beliebigen Inhalts.“ Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Miszelle, abgerufen am 18.11.2021.

2„dämon“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/dwb/d%C3%A4mon>, abgerufen am 17.11.2021. Das enthaltene Zitat von Goethe stammt aus dem Faust II, 5. Akt.

3vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Konfusionstechnik

4vgl. über subliminale Botschaften z.B. Buddemeier, Heinz; Strube, Jörg: Die unhörbare Suggestion. Stuttgart: Urachhaus, 1989

5vgl. Goethe, Faust I, Mephistopheles in „Auerbachs Keller“


Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.