Wettkampf der Illusionisten II

In diesem Jahr 2021 erleben wir in besonderer Schärfe das wiederkehrende Spektakel des Wettkampfes der Illusionisten: wer kann den Menschen am besten die Illusion einreden, gerade seine Utopie wäre Garant für eine sorgenärmere und damit bequemere Zukunft?

Utopien

Was uns da von den verschiedenen Seiten vorgelegt wird, sind nämlich durchgehend Utopien: Entwürfe einer Welt, die eben keine Wirklichkeit hat – also ein „Nicht-Ort“ ist1 und die Wirklichkeit darum auch nur eingeschränkt oder gar nicht zu berücksichtigen hat. In schönen Programmen wird da vorgestellt und ausgemalt, was angestrebt und erreicht werden soll. So entführt man die Menschen aus der häufig eher als unfreundlich erlebten Tatsachenwelt hinein in erspekulierte Paradiese dieser oder jener Art.

Gestritten wird dabei zwischen den Urhebern dieser Utopien gar nicht über den unwirklichen Charakter, der alle solche Entwürfe einander gleich macht, sondern tunlichst über die Inhalte der vorgestellten Zielperspektiven, also über die Frage, ob und warum dieser oder jener Utopie der Vorzug gegeben werden sollte. Wer da auf die Idee kommt, von Wirklichkeiten zu sprechen, die doch zunächst berücksichtigt werden müssten, wird wiederum unisono von allen Seiten des gleichen Besseren belehrt: was ist, zählt nicht, wohin wir wollen, ist allein von Bedeutung.

Illusion

Denn natürlich muss zuerst festgelegt werden, was man will (und wessen Ideen darüber die „besten“ sind), und dann erst erklärt werden, wie es realisiert werden soll. Auf diese Weise ist nämlich sichergestellt, dass der derzeit obwaltenden Wirklichkeit möglichst wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird. Diese Wirklichkeit ist nämlich ganz überwiegend das Ergebnis davon, dass immer wieder welchselnde Gruppen von Anhängern einer der möglichen Utopien dafür zu sorgen versuchen, dass gerade ihre Utopie eine möglichst weitgehende, idealerweise (wenn auch unerreichbar) für alle Menschen ausschließliche Gültigkeit bekommt. So kämpfen also die Utopisten um die Macht über die Menschen.

Und nun kommt das Entscheidende: wie kann man den Menschen möglichst effektiv klarmachen, dass die eigene Utopie alternativlos die allerbeste für die Menschheit ist, respektive dadurch natürlich auch und vor allem die angenehmste und bequemste für den angesprochenen Einzelnen? In früheren Zeiten hat man gemeint – oder zumindest diese Meinung propagiert – man müsse durch Argumente für oder gegen die größtmögliche Bequemlichkeit dieser oder jener Utopie für den Einzelnen die Menschen überzeugen, das heißt zu einer (scheinbar) freien und bewussten Entscheidung zwischen den Utopien veranlassen. Aber davon ist man inzwischen abgekommen: die Zahl der Menschen ist einfach zu groß, als dass man sich da effektiv um den Einzelnen und seine Argumente kümmern könnte.

Zum Glück haben wir ja in so glorioser Weise sogenannte Kommunikationsmittel oder Medien entwickelt, durch die man als Utopist möglichst viele Menschen gleichzeitig bedienen kann, praktischerweise mit eingeschränkten Möglichkeiten zur Rückfrage, dafür aber umso mehr Möglichkeiten zur Manipulation2. Wer das da gegebene Handwerkszeug am effektivsten zu nutzen versteht, also den Menschen am besten die Illusion einzureden vermag, die gerade vorgestellte Utopie sei für sie die beste, und man selber sei auch der Richtige, diese Utopie in Wirklichkeit zu verwandeln, hat dann in solchem Wettstreit gute Aussichten, Mehrheiten hinter sich zu versammeln. Nur: solche Mehrheiten basieren auf Illusionen über Utopien, und werden darum durch die Tatsachen früher oder später eingeholt. Aber das kann ein guter Illusionist der Masse natürlich lange, lange verbergen und sie so im Bann seiner Illusionen halten.

Wirklichkeit

Die Wirklichkeit ist allerdings eine andere. Sie besteht darin, dass so und so viele Menschen (auch die Illusionisten!) mit ebenso vielen individuellen Talenten, Wünschen und Ideen ihre Willensimpulse und Taten ineinander fließen lassen und daraus erschaffen, was sich als gemeinsame Zukunft dann zeigen wird. Dabei schließen sie sich zu kleineren oder größeren Gruppen zusammen, je nach der Übereinstimmung auf den einzelnen Feldern des Daseins. Und je nachdem, inwieweit der Eine auch die Möglichkeiten und Strebensrichtungen des Anderen berücksichtigt, entsteht daraus harmonisches Zusammenwirken oder Streit.

Das oben umrissene, derzeit weltweit herrschende System des Wettkampfes der Utopie-Illusionisten geht ja immer davon aus, dass der Vertreter eine Utopie (und/oder die damit verbundene Gruppe von Menschen) die für alle bestmögliche Zukunft anstrebt und darum recht hat. Was der andere vorschlägt, wird darum abgelehnt, wenn es den eigenen Vorstellungen zuwider läuft. Und schon geht es wieder nicht um die Wirklichkeit, sondern um die – vermeintlich – „beste“ Utopie, und, natürlich, um die Macht, die Utopie auch für alle verbindlich zur alles beherrschenden zu machen3.

Es ist dies einfach eine Zeitkrankheit, diese Sucht, der Wirklichkeit zu entfliehen und lieber um Utopien zu streiten. Seit Jahrzehnten, ja Jahrhunderten geht das schon so, und die Folgen sehen wir: kaum jemand interessiert sich für die Frage, was eigentlich Wirklichkeit ist, und mit welchen Problemen sie uns konfrontiert. Ganz schnell wird jedes Problem als Ergebnis einer falschen Utopie hingestellt. Dann ist ja immer der Andere schuld, der diese falsche Utopie vertritt, und man selber hat keine Verantwortung dafür.

So ist dann nach und nach niemand mehr für irgendetwas verantwortlich, und entsprechend ist dann ja auch kein Anlass da, etwa auftauchende Probleme einfach ganz praktisch einer Lösung zu zu führen. Stattdessen lässt sich trefflich darüber streiten, wer nach dem einen oder anderen utopischen Modell eine Lösung zu finden hätte. Das dauert dann erst einmal, und man braucht erstmal nichts Wirksames zu tun, für das man ja dann verantwortlich gemacht werden könnte. Nach einer Weile hat sich das Problem dann hoffentlich von selber gelöst, oder wird von der Diskussion um die „beste Lösung“ für andere, neu aufgetretene Probleme überlagert und dadurch aus dem Bewusstsein gedrängt4.

Das praktische Leben

Zugegeben, die vorstehende Schilderung ist unvollständig. Denn es gibt – immer noch? schon? – Menschen, die den Tatsachen ins Auge sehen und einfach anpacken, um die schwersten Probleme anzugehen. Nur: auch sie sind eingebunden in das alles beherrschende System des Kampfes der Ideologien und Utopien, orchestriert von der Verantwortungsscheu, ja oft Verantwortungslosigkeit, die sich in den Utopisten und ihren illusionistischen Machenschaften geltend macht.

Man wird durch die Vielfalt der von diesem System produzierten Probleme ja auch geradezu davon abgehalten, in der Wirklichkeit nach den Gründen für diese Probleme erkennend zu suchen. Mit dem Abarbeiten der schlimmsten Auswüchse hat man doch schon genug zu tun. Und so setzt sich der Kampf der Illusions-Utopien fort bis ins praktische Leben und sorgt selbst dafür, dass das schwerwiegendste Problem nicht bemerkt und darum natürlich auch nicht gelöst werden kann. Dieses Problem ist nämlich das System „Kampf der Illusionisten“ selbst. Erst wenn von diesem System abgegangen und die Wirklichkeit gemeinsam zum Ausgangspunkt gemacht wird, geht es voran.

Exkurs:

Hier stellt sich natürlich die Frage: was ist denn dann die „Wirklichkeit“? Sind die möglichen Antworten auf diese Frage nicht notwendig immer nur Bestandteile bestimmter Weltanschauungen oder eben Utopien? Das sind sie ganz sicher auch. Dass es dennoch einen Weg geben kann, aus dem Parteienstreit heraus und zur Erkenntnis einer gemeinsamen Wirklichkeit zu kommen, habe ich u.a. in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“ (Borchen: Ch. Möllmann, 2021, ISBN 9783899793352, bestellbar über www.emhuisken.de/shop) dargelegt. Noch sehr viel grundlegendere Einführungen und Denkwege zu diesem Thema finden sich in den Schriften Rudolf Steiners, vor allem „Die Philosophie der Freiheit“, „Wahrheit und Wissenschaft“ und „Grundlinien einer Erkenntnistheorie der goetheschen Weltanschauung“.

Vom Individuum aus

Ein wirklicher Ansatz zu einem Weg aus der Misere kann sich daher nur finden, wenn man die einzelnen, real vorhandenen Menschen in ihrer Individualität zum Ausgangspunkt nimmt anstelle irgendeiner Utopie, die ja immer bloß das Ergebnis von spekulierenden Tätigkeiten der einzelnen Individualitäten sind. Dann würde man vom konkreten Leben der Einzelnen im Rahmen ihrer Gruppe, ihres Landes, aber auch der Menschheit als Ganzes ausgehen statt von einem toten, feststehenden Ergebnis in Form eines Denkmodells oder eines Planes – einer Utopie eben. Kurz gesagt ginge man also aus von Leben statt Tod.

Das ist auch ganz konkret so zu verstehen. Das weltweite Parteienwesen im illusionistisch orchestrierten Kampf der Utopien verbreitet überall Tod und Sterben, bringt so die Menschheit als Ganzes und damit jeden Einzelnen immer näher an den kollektiven Selbstmord, die Erde als notwendigen Lebensraum des Menschen gleich mit eingeschlossen. Wer auch nur ein wenig seinen gesunden Menschenverstand nutzt, kann leicht einsehen, dass die Zeit der Herrschaft von Utopien und Ideologien eigentlich abgelaufen ist.

Zunehmend fühlen sich die Menschen unfrei, wenn sie einer irgendwie als alleingültig dargestellten Weltsicht folgen sollen; ganz konkret erleben wir das derzeit, wo die Unfähigkeit, mit unterschiedlichen Wirklichkeitsauffassungen umzugehen bzw. diese überhaupt zu berücksichtigen, bei den Regierungen der Welt grassiert. Stattdessen setzt man auf die Macht – direkte äußere (Polizei- oder Militär-)Macht oder die Macht massenpsychologisch konzipierter und durchgestalteter Medien-Manipulation.

Sicher, darin regieren Egoismen, auf allen Seiten. Aber das ist ja nurmehr normal. Die Menschen sind eben daran gewöhnt, nur im Rahmen „ihrer“ Utopie zu denken und zu handeln, und damit im Rahmen des Gesamtsystemes „Kampf der Utopien“ zu bleiben. Aber jeder, dem das Gefühl der Unfreiheit aufstößt, kann auch zu der Einsicht kommen, dass nur auf dem Weg der Einbeziehung des Anderen, Fremden in die eigenen Denkwege der schon lange vorhandenen Wirklichkeit, den Tat-Sachen also, entsprochen werden kann. Geschieht das nicht, geht also die Wirklichkeitsverweigerung zugunsten der diversen Utopien ungeschmälert weiter, so meldet sich die Wirklichkeit immer wieder mit neuen Problemen, die den allgemein herrschenden Utopismus und Illusionismus in Frage stellen.

Ent-Täuschung

So wird der Wettkampf der Illusionisten über kurz oder lang zu einer riesigen Ent-Täuschung führen müssen: zu Abkehr nämlich von den täuschenden Illusionen, die die Nebelwerfer der Utopisten ständig werfen. Schon im ganz „normalen“ Alltag von sogenannten „demokratischen Wahlen“ kennt man das: nach der Wahl passieren ganz andere Dinge, als die Wahlgewinner vor der Wahl versprochen haben.

Aber das ist ja auch klar: Utopisten können nur utopische Probleme per Illusionsmaschine – scheinbar! – lösen. Vor der Wirklichkeit versagen sie kläglich und können nur durch immer offener zutage tretendes Lügen im Verbund mit versteckter oder offener Gewalt eine Zeitlang den Schein wahren. Durch die lange Zeit des Herumstocherns in virtuellen, utopischen Problemen ist ja auch kaum noch jemand darin geübt, wirkliche Probleme an zu gehen.

Die Ereignisse der letzten Monate bieten uns nun eine Riesenchance: endlich die große Ent-Täuschung zu erleben. Aber man mache sich da nichts vor: da ist dann keiner besser oder schlechter dran. Wir alle sind ständig – im Großen wie im Kleinen – versucht, Ideologien und Utopien über die Wirklichkeit zu stellen.

Wir stehen eben allesamt – global, regional, individuell – erst am Anfang einer Zeit, in der die menschliche Wirklichkeit sich geltend machen und entfalten kann. Zu lange sind wir daran gewöhnt, uns von den Vertretern dieser oder jener Ideologie, Konfession oder Wissenschaftsrichtung autoritativ am Nasenring herumführen zu lassen. Da tut man dann gut daran, Rachegelüste und Schuldzuweisungen zugunsten der gemeinsamen Suche nach einem Ausgleich vergangener Fehltritte zurück zu stellen.

Sonst stelle ich nämlich meine – natürlich gerechte – Utopie der des Anderen, des Schuldigen gegenüber. Und dann sind wir alle zusammen wieder beim Alten, und keinen Schritt voran gekommen.

Epilog: über „Basisdemokratie“

Auf der Grundlage des vorstehend Dargestellten zeigt ein Blick auf das Parteienangebot zur anstehenden Bundestagswahl, dass es durchaus Neues gibt, zum Beispiel eine Partei, die sich besonders der sogenannten „Basisdemokratie“ verpflichtet fühlt. Ganz abgesehen von der Feststellung, dass einem dieses oder jenes im Programm dieser Partei sympathisch oder unsympathisch sein mag – ich gebe gerne zu, dass ich dort vieles Sympathische finde – muss doch die Frage gestellt werden: will man eine „Basisdemokratie“ im Sinne der vorstehend beschriebenen Orientierung an der lebendigen Wirklichkeit der zusammenlebenden Individuen verstehen, inwieweit kann dann eine Partei, mit Programm und durch das Wahlverfahren in das System des Kampfes der Utopien eingebunden, überhaupt ein Mittel sein, der tatsächlichen Lebenswwirklichkeit näher zu kommen?

Öffnet eine solche Partei nicht gerade denjenigen die Tür, die immer nur eine „neue, bessere“ Utopie realisieren wollen, und gibt sie nicht gerade dadurch der geballten Macht der Utopisten-Illusionisten den Hebel in die Hand, das grundlegende, notwendige Verlassen des Utopisten-Systems zu entkräften, zu korrumpieren und damit zu verhindern?

© Stefan Carl em Huisken 2021

P.S.: In ganz anderer Art mit dem gleichen Thema befasst sich der Artikel „Wettkampf der Illusionisten I“

1„Der Begriff leitet sich ab von altgriechisch οὐ ou „nicht“ und τόπος tópos »Ort, Stelle«, gemeinsam »Nicht-Ort«“ , siehe hier.

2Die Methoden sind ja allgemein bekannt: Weglassen von Wichtigem, Überbetonen von Nebensächlichkeiten, direkte Lügen, Verzerrungen, Einseitigkeiten etc. pp., alles unterstützt durch die teilweise an Hypnose grenzenden physiologischen Zwänge durch elektronische Medien, die dann Emotionalisierung und Streit fördern, und angeleitet durch differenziert ausgearbeitete Methoden massenpsychologisch konzipierter Steuerung. Man vergleiche zu diesem Thema z.B. Albrecht Müller: Glaube wenig. Hinterfrage alles. Denke selbst. Wie man Manipulationen durchschaut. – Frankfurt: Westend, 2019. ISBN 9783864892189; Website www.nachdenkseiten.de; Website www.anti-spiegel.ru (dort auch diverse Jahrbücher zur Medienkritik von Thomas Röper); Heinz Buddemeier: Illusion und Manipulation. Die Wirkung von Film und Fernsehen auf Individuum und Gesellschaft. – Stuttgart: Urachhaus, 1987. ISBN 9783878385110

3Wer ein bisschen genau denken kann, merkt schnell, dass sich alle Utopisten da selbst entlarven: die eigene Utopie muss ja dann auch für die „Gegner“ die beste sein, und diese „Gegner“ darum unberücksichtigt lassen. Womit sie wieder nicht die beste für alle sein kann, denn die „Gegner“ hatten da ja andere Vorstellungen ….

4Mir gehen bei diesem Thema immer die Berichte aus dem Ahrtal nicht aus dem Sinn …


Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart habe ich dargestellt in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.




Wettkampf der Illusionisten I

Der derzeitige Wahlkampf kann nicht anders bezeichnet werden: es kämpfen die Illusionisten der unterschiedlichen Couleurs um die besten Erfolge beim staunenden Publikum. Ob das aber der eigentliche, wirkliche Sinn dieser Veranstaltung ist, fragt kaum jemand. Es sind eben alles Illusionisten; da interessiert die Wirklichkeit eher weniger, vorsichtig ausgedrückt.

Wer sie sind

Egalweg wer auch immer, sie sind Menschen, die meinen, man müsse durch Propagierung der einen oder anderen Utopie die Menschen veranlassen, die jeweiligen Propagandisten in die weitgehend einflusslose Schwatzanstalt namens „Parlament“ zu befördern, mittels Stimmabgabe (wenn man die Stimme abgibt, hat man anschließend keine mehr …) im behördlich vorgesehenen Wahllokal oder per Briefwahl. Es ist natürlich die Rede von den sogenannten „Parteien“ und ihren „Kandidaten“.

So eine Aussage ist für manchen vielleicht harter Tobak, aber ich will versuchen zu begründen, warum ich das so formuliert habe.

Utopien und Parteien

Unser politisches System ist so angelegt, dass nicht bestimmten Menschen auf demokratischem Wege gezielte Mandate erteilt werden, sondern so, dass diese Mandate Ideologien oder Utopien erteilt werden, die jeweils durch eine Partei formuliert und vertreten werden. Als Utopien bezeichne ich hier alle Pläne, die einen bestimmten gesellschaftlichen Zustand als wünschenswert hinstellen und manchmal auch angeben, auf welchem Wege sie dort hin kommen wollen. Je umfassender der Plan, desto vollständiger auch die Utopie – also die Darstellung des angestrebten zukünftigen Zustandes. Eine Utopie ist also – so betrachtet – eine Art virtueller Realität, das notwendig erst einmal illusionäre Bild einer aufgrund bestimmter ideologischer Vorstellungen konstruierten Schein-Wirklichkeit, die zu einer Tatsache zu machen angestrebt wird (jedenfalls sagt man, dass man das wolle). Solche „Programme“ werden in der Regel von wenigen Menschen erarbeitet und „aufgestellt“, und anschließend von den anderen nur „abgesegnet“.

Parteien im Sinne des heutigen politischen Systemes können gar nicht anders, als zu allem und jedem auch irgendetwas zu sagen. Sie sollen ja den vorhandenen Staat regieren, und der ist eben so angelegt, dass er im Prinzip alles und jedes regeln können soll: Bildung, Wissenschaft, Gesundheit, Wirtschaft, etc. pp., eben alles. Und wenn eine Partei dann das Sagen hat, muss sie eben auch zu allem was sagen können. Das liegt ja auf der Hand. Und dazu braucht sie dann eben ihre Utopie. Nicht Fachkompetenz auf diesem oder jenem Gebiet, das ist etwas Anderes, Individuelles. Das könnten dann ja eigentlich auch nur Fachleute beurteilen. Darum geht es lieber um Utopien, Geschichten von Übermorgen, die versteht jeder. Und deswegen sind die Parteien und ihre Vertreter dann auch so wie sie sind: jeder malt das Rosarot dahin, wo er seine „Wähler“ vermutet, also deren spezielle Wünsche und Vorlieben.

Parteien und Kandidaten

Die Kandidaten der einzelnen Parteien werden (idealtypisch gedacht, was aber möglicherweise auch so eine Utopie sein kann) durch die Mitglieder der Parteien gewählt. Und die sind eben Mitglieder der Parteien, weil sie die jeweilige Utopie oder Ideologie unterstützen wollen. Und so werden also in der Regel diejenigen Kandidaten für die Wahl ins Parlament aufgestellt, die am meisten Aussicht auf Erfolg zu haben scheinen, wenn es um die Realisierung der jeweiligen Partei-Utopie geht. Die Kandidaten stellt man sich also als eine Art Ausführungsapparat für die jeweilige Utopie vor: möglichst ohne zu viel eigene Vorstellungen, die eventuell von der Parteilinie abweichen könnten. Also im Prinzip möglichst unindividuelle Menschen, sondern Gruppenfunktionäre.

Und die schließen sich dann wiederum zu bestimmten Gruppen zusammen, in deren Rahmen sie meinen, ihrer Utopie näher kommen zu können. Und stimmen im Parlament ab, was dann für alle gelten soll.

Das Ganze ist eine einzige Illusion

Was dabei nicht beachtet wird, ist die Wirklichkeit, in der die Menschen heute und schon eine ziemlich lange Zeit leben. Da tut nämlich im Prinzip nach Möglichkeit jeder, was er selber will und woran er Interesse hat. Und das kann wechseln, je nachdem, in welcher Lebenssituation man sich befindet. Wenn man zum Beispiel ins Parlament möchte, versucht man wie dargestellt Utopien zu „verkaufen“, den Leuten nahe zu bringen, damit sie einen wählen. Wenn man dann gewählt worden ist, braucht man ja die Leute nicht mehr, denn sie haben ja schon getan, was sie sollten, nämlich wählen. Jetzt kann man andere Interessen entwickeln oder verwirklichen wollen.

Das muss man gar nicht verurteilen. Es ist einfach die Realität: jeder tut nur noch das, was er selber will. Und die Utopien und die Propaganda dafür sind eigentlich nur Mittel, die bestimmte Menschen verwenden, um ihre Ziele zu realisieren. Das erleben wir doch derzeit ganz ausführlich: Politik wird als eine Sache des richtigen Marketing verstanden. Auch dagegen ist ja gar nichts einzuwenden, solange man ehrlich sagt, was es ist. Und wenn dann eine Mehrheit eben die besten Marketingleute über sich bestimmen lassen will, bitte. Das kann man dann nicht ändern.

Nur: vielleicht wäre es besser, auf die Menschen zu sehen, die man da wählt, und nicht auf die Utopien. Denn die Utopien können wechseln mit der jeweiligen Lebenssituation; oftmals ist das auch richtig so und notwendig. Manche Menschen wechseln Weltanschauungen wie die Hemden. Schon Adenauer sagte: „Was kümmert mich mein dummes Geschwätz von gestern“. Wenn man so jemanden wählt, dann wollte man das eben so. Man muss sie schon so sein lassen, wie sie eben sind. Wenn man die Gewählten nicht frei lässt, dann hat man sich selber Menschen als Vertreter gewählt, die unfrei sind, denn sie sind ja einer Ideologie und/oder Utopie verpflichtet, also sollen eigentlich nur Wirkapparat der Wähler ihrer Utopien sein.

Wollen wir denn wirklich, dass Gesetze und die Regelung aller staatlichen Angelegenheiten von schwachen, unfreien Menschen beraten und ausgeführt werden? Warum lassen wir uns immer über die Menschen täuschen? Und wenn nicht, dann versuchen wir sie zu zwingen, dass sie doch tun, was wir wollen. Selber tun ist uns nämlich oft zu anstrengend. Aber da müssen wir uns nicht wundern, was die Gewählten dann tun.

Es ist ja nicht anders zu erwarten, als dass diese Leute dann, wenn sie erstmal nahe an den „Futtertöpfen“ der Macht, des Einflusses und der üppigen Selbstversorgung angekommen sind, mehr und mehr auf ihre eigene Bequemlichkeit achten, und Ideologie eben Ideologie sein lassen, und Utopie Utopie – und natürlich: Wähler eben Wähler? Sie können sich mächtig fühlen, groß und bedeutend. Da bräuchte man eigentlich Menschen, die wirkliche selbständige Persönlichkeiten sind, als solche erkennbar, die solchen Anreiz nicht brauchen, weil sie sich selber schon genug sind – und könnte denen dann durch ein Mandat das Vertrauen aussprechen. Aber den Menschen, nicht den Ideologien.

Die Wirklichkeit

Dann wären wir nämlich bei der Wirklichkeit. Das sind zusammenwirkende selbständige Menschen, die für einander und mit einander arbeiten und dies unter anderem dadurch tun, dass begrenzte und widerrufliche Mandate erteilt werden. Freie Menschen wählen einen bestimmten freien Menschen aus, dem sie für einen bestimmten, umrissenen Zusammenhang das Vertrauen aussprechen, etwas für alle zu regeln. Und der muss dann frei handeln können, als freier Mensch, denn nur dann kann er auch all seine Qualitäten entfalten. Das ist eigentlich, was auch jetzt schon getan wird, nur eben ohne die Freiheit darin, bei vielen der Gewählten.

Diese Wirklichkeit wird nämlich durch eine Illusion verdeckt: indem den Menschen Utopien versprochen werden, Ideologien und Pläne propagiert, wird ihnen vorgegaukelt, sie hätten selber irgendeine Macht, indem sie zwischen den vorgegebenen „Parteiprogrammen“ auswählen können. Die werden aber dann sowieso nicht realisiert, weil die „Mehrheit“ in der Abstimmungsmaschine nicht erreicht wird und was derartige Ausreden mehr sind, oder ganz schlicht weil die Gewählten dann eben lieber etwas Anderes als versprochen machen wollen, aufgrund ihrer eigenen Einsichten und Wünsche.

Ja, die Menschen haben Macht. Aber es ist immer nur die Macht, die jeder einzelne hat, indem er seine Willensimpulse in das Ganze einfließen lässt. Und wer eben als Willensimpuls hat, dass er Utopien und Ideologien nachlaufen möchte, der wählt dann solche Schimären. Allerdings wundert er sich oftmals, wenn hinterher etwas ganz Anderes geschieht, weil eben Menschen handeln und nicht Ideologien.

Das kann nicht passieren, wenn einem Menschen im Vertrauen in ihn selbst ein Mandat erteilt wird. Dann weiß man vorher, dass der Mensch tun wird, was er für richtig hält. Man hat sich vorher mit ihm verständigt, so, dass man eben das Vertrauen in ihn fassen konnte. Und dann muss man ihn machen lassen, das weiß man vorher. Man hat lediglich die Möglichkeit, ihm das Mandat wieder zu entziehen, weil er sich nicht in der Lage oder willens zeigt, dem Mandat entsprechend zu handeln – diese Möglichkeit ist allerdings zwingend notwendig, fehlt aber heute fast überall. Und das weiß dann auch derjenige, der ein solches Mandat bekommt – so schnell kann man es ihm heutzutage nicht wieder nehmen …

Theater

Man findet Theaterspielen eben bequemer, auf beiden Seiten: als Schauspieler (man braucht da ja nicht zu zeigen, wer man wirklich ist) und als Zuschauer (da hat man zum Glück für nichts Verantwortung und darum immer einen Sündenbock parat). Nur dass dieses Theater dazu führt, dass sich der Club der Darsteller leicht absprechen kann, und darauf achten, dass auch wirklich nur Schauspieler dazu gehören – bessere oder schlechtere, je nachdem. Wodurch es dann für die Zuschauer immer schwieriger wird, die von ihnen selber erlebte tatsächliche Wirklichkeit im Tun dieser Darsteller wieder zu finden. Die haben ja auch gar keine Ahnung von dieser erlebten Zuschauer-Wirklichkeit. Sie erleben sie ja nicht, sondern gestalten sie, das ist ihr „Job“. Sie sind ja die Schauspieler, nicht die Zuschauer.

Und so laufen wieder alle hin in die Wahllokale, wählen ein Programm, von dem hinterher kaum etwas oder nichts umgesetzt wird – „es kam leider die Wirklichkeit dazwischen“ (also die Wirklichkeit der Interessen der Schauspielerclique) – und dann wählt man eben beim nächsten Mal eine andere Utopie, die dann das bessere Marketing hatte. Oder man lässt es sein, außer man kann Menschen erkennen, denen man Vertrauen schenken will. Nur leider ist solche Wahl im derzeit geltenden System eher nicht vorgesehen und daher kaum möglich ….

Was fehlt ist nur das Bewusstsein

Das Wichtigste, was in dem Ganzen fehlt, ist das allgemein verbreitete Bewusstsein davon, dass es so ist, wie es ist. Diese „Demokratie“ genannte Abstimmungsmaschinerie ist schon lange etwas Anderes, als wofür sie uns verkauft wird1. Je mehr Menschen dies begreifen, desto mehr Menschen können sich entsprechend verhalten. Was bedeutet, auf den Menschen zu sehen, den einzelnen Menschen. Also auch auf sich selber, sich selber ernst zu nehmen und sich nicht irgendwelche Scheinlösungen von irgendwem aufschwatzen zu lassen. Dann muss man sich allerdings entscheiden, selber zu denken, selber sich intensiv mit den Fragen und Problemen von Menschheit und Welt zu befassen, und diesem Befassen einen Platz im eigenen Leben einräumen, der seiner Bedeutung für das Ganze entspricht.

Das klingt jetzt sehr heroisch, ist es aber nicht. Es ist eigentlich nur der Aufruf, dem eigenen gesunden Menschenverstand zuzutrauen, dass er bei wirklicher Bemühung auch in der Lage ist, auftretende Probleme zu lösen. Dazu muss man sie nur erst ansehen, sich nichts vormachen, und dann immer nach den „Machern“ schreien, sondern vielleicht lieber selber das Risiko des Scheiterns eingehen, sich auf den ganz bestimmt langen, aber ganz sicher nicht langweiligen Lernweg machen. Da trifft man dann auch andere, die es genauso versuchen, und gemeinsam kann man vieles bewegen. Aber eben nur, wenn man will. Was Anderes tut nämlich sowieso keiner mehr.

© Stefan Carl em Huisken 2021

P.S.: In ganz anderer Art mit dem gleichen Thema befasst sich der Artikel „Wettkampf der Illusionisten II“

1vgl. dazu Rudolf Steiner über die „Demokratie“ in: Steiner, Rudolf: Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis. GA 177. Dornach, 1999. S. 264 ff; ausführlich zitiert und eingeführt in Stefan Carl em Huisken: Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen. – Borchen, 2021, Kapitel II. Das Buch ist erhältlich über www.emhuisken.de/shop. Vgl. auch Delaisi, Francis: La Democtratie et les Financiers. – Paris: La Guerre Sociale, 1910


Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart habe ich dargestellt in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.