Anmerkungen zu einem Artikel von Wilfried Nelles1
In seinem Artikel mit dem Titel „Der künstliche Mensch“ im multipolar-Magazin geht der Autor auf Fragen ein, die sich sonst selten jemand veranlasst sieht, sie überhaupt zu stellen. Und er macht dabei deutlich, dass sehr, sehr viele Aspekte der weltgeschichtlichen Vorgänge der letzten zwei Jahre, die man bei einigermaßen realistischer Selbstbeurteilung nicht leicht (oder manchmal gar nicht) verstehen kann, von seinem in gewisser Hinsicht radikaleren Gesichtspunkt aus plötzlich erklärbar werden. Seiner Argumentation kann ich in weiten Teilen zustimmen, es ist auch gewissermaßen ein Genuss, in dem Wust der vermutenden, anklagenden, anpreisenden oder sonstwie dahinschlingernden Erklärungstexte zum Geschehen hier einen Artikel zu finden, der das Ziel von Anfang an im Auge hat, und daher sehr gut auf sich selber stehen kann.
Dennoch finde ich, dass der Autor an einer entscheidenden Stelle zu kurz gedacht hat. Seine Argumentation kann ich hier natürlich nicht adäquat „mal eben kurz“ referieren – es hat schon seinen Sinn, dass sein Artikel auch einen gewissen Umfang hat. Ich will daher nur auf einige wenige Punkte eingehen, die für meine Ergänzung wichtig sind.
1. Anlass
Eingangs schildert Nelles, wie er – angeregt durch das Auffinden einer Art Flugblatt bei seinem Bäcker, das den Psalm 912 wiedergab – darauf kommt, dass die heutige Erscheinungsform der sogenannten „Corona“-Krise alle Kennzeichen einer fehlgeleiteten Religiosität hat. Aus dem Psalm ergab sich für ihn: „Wer in Gott ruht, ist geschützt.“ Aber: „Unser heutiges Gebet ist ein anderes. Es richtet sich nicht an Gott, sondern an die Wissenschaft, im Fall Corona an die Impfung.“3. Ziel sei der Triumph über die Natur: „WIR besiegen den Tod, und zwar ganz im Diesseits.“4
Dann fasst Nelles noch kurz zusammen, dass ja dieser „Triumph“ eben nicht stattgefunden hat, dass die Versprechen der Wissenschaft Stück für Stück einkassiert werden mussten.
Die Darstellung ist treffend; hier bleibt von meiner Seite hinzuzufügen, dass dieses „Einkassieren“ ja mit der Berufung auf die „Wissenschaftlichkeit“ erfolgte, die eben ihre Ergebnisse revidieren muss, wenn neue Erkenntnisse hinzukommen. Dieses Argument fußt auf dem seit Kant ja fast unumstößlich geltenden „wissenschaftlichen Dogma“, dass eben – etwas lapidar ausgedrückt – die Wahrheit unerkennbar sei und daher der Mensch nur Theorien bilden und durch Experimentieren und Evaluieren bis zu einer gewissen Plausibilität vordringen könne. Darauf komme ich später zurück.
2. Worum es bei Corona geht
Im Kern – findet Nelles – geht es bei Corona wie bei vielen modernen Themen um die „Ersetzung des Menschen durch Maschinen – und zwar nicht nur, wie bisher, der menschlichen Muskelkraft, also des Körpers, sondern des Denkens, also des menschlichen Geistes.“5. Daraus entsteht eine Art „Heiliger Krieg“ um die „wahre“ Religion, der allerdings ein „unbewusster Krieg“6 bleibt. „Bei Corona handelt es sich um einen Gottesdienst.“7. Im Verlaufe dieses Krieges entstehen all die Verwerfungen, wie die Ausgrenzung Ungläubiger oder die „Pervertierung von Wissenschaft zum Dogma“8.
Der Abschnitt gipfelt in dem Satz: „Es geht darum, dass sich der moderne Mensch nicht mehr seiner Natur fügen, sondern sie seinem Willen unterwerfen will. Ich bestimme selbst, wer und was ich bin – das ist das moderne Credo.“9 Nelles verweist in diesem Zusammenhang auf Yuval Noah Hariri, der „den modernen Menschen daher »Homo Deus« [nennt], Gottmensch, weil er sich zum Schöpfer des Lebens machen will.“10
Der Argumentation kann ich weitgehend zustimmen. Ich merke hier aber an: die Sehnsucht des Menschen nach Freiheit, sein Freiheitsdrang, den er ja nun einmal auch hat, kann mit einer solchen Argumentation schnell abgewimmelt werden. Warum sollte der Mensch sich denn nicht zum Schöpfer des Lebens machen wollen, wenn er denn wüsste, wie Leben entsteht, und wirkliches Leben hervorbringen könnte, das mit dem schon vorhandenen zusammen schadlos bestehen kann – was ihm bis heute allerdings nicht einmal ansatzweise gelungen ist? Ich komme darauf zurück.
3. Den Menschen gegen die Natur immunisieren
Nelles stellt hier fest, dass der gesamte Prozess darauf abzielt, „mit technischen Mitteln einen Damm gegen die Natur zu errichten, darum, den Menschen gegen die Natur zu immunisieren. Nicht, dass dies allen oder auch nur den meisten Akteuren bewusst wäre – es ist der ganz überpersönliche Geist unserer Zeit, der hier am Werk ist. Er setzt sich ganz unbewusst durch, weil wir gar nicht mehr anders denken können.“11 Da sage ich nur: d’accord, genau das ist es! Wir können gar nicht mehr anders! Es geht darum, Krankheit, Leid und Tod zu überwinden, die eben auch Bestandteil der Natur sind, und das mit rein technologischem Denken
Nelles sieht darin den „finale[n] Countdown einer Geschichte, die schon im 8. Jahrhundert mit der Christianisierung der germanischen »Heiden« und der Auslöschung ihres mythischen Glaubens begann, sich in der Verfolgung von »Hexen« und Ketzern fortsetzte, dann mit der Aufklärung in ihr scheinbares Gegenteil umschlug und zunächst die moderne Wissenschaft und in ihrem Gefolge Technik und Industrie hervorbrachte.“12 Wiederum schön beschrieben!
Aber zwei Anmerkungen hätte ich doch: warum nennt er das Verhältnis der germanischen „Heiden“ mythischen Glauben? Könnte es nicht genauso gut sein, dass diese Germanen ein wirkliches spirituelles Wissen hatten, das in der Überlieferung für uns (unter anderem durch Kant aufgeklärte?) Geister nur eben wie ein bisschen kindlicher Aberglaube erscheinen muss? Und zum Zweiten: Das System der Priesterherrschaft, verbunden mit der Verfolgung Andersdenkender ist keineswegs eine Erfindung des sogenannten „Christentums“. Die Entstehung lässt sich viel eher im alten Ägypten oder Mesopotamien ansiedeln, wie Lewis Mumford in seinem monumentalen Werk „Mythos der Maschine“ breit dargelegt hat13. Das System ist also älter, viel älter.
Nelles Darlegungen zu diesem Abschnitt laufen auf einige sehr wichtige Sätze hinaus, die ich deswegen hier im Zusammenhang zitiere: „Auch dem Buddha ging es um die Frage, wie Krankheit, Leid und Tod überwunden werden können. Buddhas Antwort lautet, dass man erkennen müsse, dass das »Ich«, das sich mit dem menschlichen Körper, der physischen Existenz, identifiziert, eine Illusion ist, dass alles, was wir »die Welt« und auch unser Ich oder Selbst nennen, nur eine vorübergehende Manifestation des einen und ewigen Geistes ist, und dass das Leid endet, wenn man dies erkennt. Er hat dies nicht als Theorie oder Philosophie oder Theologie formuliert, sondern es war, soweit man den historischen Zeugnissen entnehmen kann, seine persönliche Erfahrung und Erkenntnis, seine »Erleuchtung«. Bei Jesus ist es die Liebe, die Leid und Tod überwindet. Bei beiden geht es aber nicht um den physischen Tod – der bleibt, aber er zählt nicht mehr. Wenn ich im Innersten erkannt habe, dass alles Geist („Gott“) und das menschliche Leben (die Welt) nur eine vorübergehende Erscheinung dieses Geistes ist, den man auch Gott oder Bewusstsein nennen kann, hat der Tod, wie es in einem österlichen Kirchenlied heißt, »keinen Stachel mehr«. Dann ist man frei.“14
Diese Sätze mögen etwas Wirkliches schildern, sie sind aus meiner Sicht aber unvollständig. Denn sie enthalten nichts, was dem Menschen in irgendeiner Weise Freiheit ermöglichen würde. Die Wahrheit ist im Sinne dieser Sätze eben eine feststehende, der der Mensch sich zu fügen hat. Es wäre ja – wenn man den Buddha einmal auf die Sitze treiben wollte – eigentlich ganz egal, ob die Welt untergeht. Sie ist ja sowieso bloss eine Illusion. Und – auch etwas auf die Spitze getrieben – was ist eigentlich Liebe? Wenn sie nicht bloss irgendein Habenwollen sein soll, sondern wirklich Liebe um des Geliebten willen, dann muss sie ganz vom Zentrum meiner selbst ausgehen, und setzt insofern Freiheit voraus. Andernfalls praktiziert der Mensch göttlich fremdgesteuerte Selbstliebe des Gottes für seine Schöpfung. Wie aber kann dann Freiheit entstehen? Und schließlich: wie erkennt der Mensch, dass „alles Geist (Gott) ist“? Was ist also Geisterkenntnis im Unterschied zu Glaube? 15Ich komme darauf zurück.
4. Der Gott im Menschen
Wieder ganz nachvollziehbar ist es, wenn Nelles sagt: „Der Krieg gegen die Natur ist unser christliches Erbe, das die Wissenschaft, allem vordergründigen Rationalismus und Atheismus zum Trotz, nur fortführt. Der Mensch hat die Schöpfung zu seinem Projekt, mehr noch: zu seinem Daseinszweck gemacht. … Wir haben Gott zwar abgeschafft, haben ihn uns im Geiste unterworfen, aber indem wir dies taten, ist er unbemerkt in uns hineingeschlüpft. Anstatt ihn losgeworden zu sein, beherrscht er uns nun von innen: Wir müssen wie Gott sein, und das Instrument dafür ist die Wissenschaft. … Die Natur-Wissenschaft ist keine Arbeit mit der Natur …, kein Versuch, sich durch ihr tieferes Verständnis besser in sie einzufügen, sondern ein Angriff gegen sie. Damit ist sie aber auch ein Angriff auf den natürlichen Menschen.“16
Ein Aspekt fehlt mir dabei allerdings: ist denn die Art, wie Natur-Wissenschaft heutzutage betrieben wird – auf der Grundlage des Kantschen Axioms, dass die Wahrheit eben nicht erkennbar sei – die einzig mögliche? Oder hat Kant möglicherweise etwas übersehen, und sein Axiom stimmt überhaupt nicht? Gibt es vielleicht eine Natur-Wissenschaft, die mit der Natur arbeitet, und die sich nicht von einem ehemaligen Gott beherrschen lässt, sondern von uns selber vollständig bewusst ausgeht?
5. Was wir bekämpfen, sind wir selbst
Wie schon eingangs gesagt, es gibt wirklich nicht viele Artikel, die sich zu derartigen Einsichten aufschwingen und diese auch wirklich schlüssig darzulegen verstehen. Der in der Überschrift genannte Satz wird von Nelles erläutert, indem er darauf hinweist, dass wir selber ja Bestandteil der Natur sind, und in unserem Krieg gegen die Natur darum sozusagen uns selber töten; und wenn wir so weitermachen, gibt es zwar irgendwann noch Überlebende, aber die werden keine Menschen mehr sein, sondern Maschinenwesen17.
Er schildert dann, dass für uns der Gott aus den genannten Gründen eben tot ist, nicht mehr existent, aber da der Mensch offenbar ohne einen Gott nicht leben kann, sich der heutige Mensch eben selber zum Gott erklärt. Und damit wird dasjenige, was dieser Mensch dann aus seinem eigenen „göttlichen Ratschluß“ tut zur unwiderlegbaren Wahrheit, und alles, was heutige Wissenschaft auf der Grundlage Kants als Theorien, als Diskurs, als Zweifel braucht, um überhaupt ihre Berechtigung zu haben, wird über den Haufen geworfen. Interessant ist, dass er die Rolle der Priester, die dem einfachen Volk die Wahrheiten zu verkünden haben, bei den Journalisten sieht; ich hätte sie zumindest auch – wenn nicht überwiegend – bei denjenigen Wissenschaftlern gesehen, die sich zum Rechtfertigungswerkzeug politischer Absichten machen. Das ist aber nur ein Detail.
Grundlage des Ganzen – so findet Nelles – ist letztlich die Angst vor dem Tod. „Und diese Angst hat einen sehr, sehr tiefen Grund, nämlich den schon angesprochenen Tod Gottes.“18 Und damit ist der Tod für uns nicht zum Übergang in ein neues Sein im Schoße Gottes, sondern ein unwiderrufliches und absolutes Ende geworden. Da wir dies aber nicht aushalten können, müssen wir irgendwie ein Weiterleben organisieren, und zwar im Diesseits, denn etwas Anderes kennen wir nicht. „Und genau da funkt uns unsere Natur dazwischen. … Also müssen wir sie abschaffen. Überleben, »ewig« leben können wir nur als künstliche Wesen, als Plastikblumen, die nie verwelken, oder als virtuelle Kopien in einer virtuellen Welt. Das »ewige« Leben auf Erden kann nur ein totes Leben sein. Im Kleinen haben die Lockdowns uns das vorgeführt: Um nicht zu sterben, darf man sich nicht mehr bewegen.“19 Das ist sehr treffend beschrieben, vor allem der letzte Bezug zur aktuellen Situation.
Als Schlussergebnis kommt Nelles zu der Feststellung: „Wenn wir dies nicht wollen, gibt es nur einen Weg: Wir brauchen eine neue Spiritualität, wir müssen erkennen, dass wir nicht nur Körper, sondern auch – sogar zuallererst – Geist sind, und dass Leben und Tod nicht zwei, sondern eins sind. Es gibt das eine nicht ohne das andere. Wenn wir das sehen und im Geist zu Hause sind, sind wir geschützt. Der Psalm spricht die Wahrheit.“20
Ja, kann man ihm beinahe enthusiastisch zustimmen – wenn da nicht der letzte Satz wäre. Womit ich bei meiner Ergänzung angekommen bin.
6. Was ist der Mensch?
Was bei Nelles gar nicht genau geklärt wird, aber für die Beurteilung des Ganzen meiner Ansicht nach unverzichtbar ist, das ist die Frage, was eigentlich hier als „Mensch“ angesehen wird. Wenn schon das technologisch-mechanistische Menschenbild in Frage gestellt wird, das im Rahmen der Entwicklungen der letzten Jahrhunderte nun heute ja beinahe alleinherrschend ist, dann wäre doch eine Klärung schon notwendig, was der Mensch denn dann sein solle?
Nelles verweist darauf bloß implizit; ich lese aus seinen Darstellungen heraus, dass der Mensch eben ein Naturwesen ist, oder eine Schöpfung Gottes, das dann derzeit – so kann man annehmen – in eine Art Größenwahn verfallen ist und daher möglichst schnell wieder auf sein im göttlichen Naturplan vorgesehenes Maß zurückgestutzt werden müsse. Genaueres habe ich nicht gefunden; aber vielleicht habe ich auch nicht genau genug gelesen.
Falls ich richtig gelesen habe, kann ich dem Autor ja zustimmen, was die Analyse der Vergangenheit betrifft: der Mensch ist aus dem göttlichen oder natürlichen Zusammenhang gefallen, er kennt die Wahrheit nicht mehr, und in seiner Not ernennt er sich in seiner Unvollkommenheit jetzt zum neuen Gott. Das kann nicht gut gehen. Was aber nun?
Hier gibt es ja seit mehr als einhundert Jahren auch ganz andere Ansätze, die leider (auch durch manche „offizielle“ Vertreter dieser Richtung) in weitesten Kreisen nur völlig verzerrt und entstellt in die Öffentlichkeit dringen. Ich meine die anthroposophische Geisteswissenschaft Rudolf Steiners. Steiner hat bereits in seinen frühen philosophischen Werken21 das Kantsche Dogma von der Unerkennbarkeit der Wahrheit, das heißt ja auch von den unübersteiglichen Erkenntnisgrenzen des Menschen, abschließend widerlegt. Das hier referieren zu wollen, ist vollkommen unmöglich.
Letztendlich läuft es aber darauf hinaus, dass ja unbestreitbar ist, dass jede Erklärung des Daseins eines Menschen oder der Welt immer die Existenz eines erklärenden Denkens und eines Individuums, in dem sich dieses Denken zum Bewusstsein bringt, voraussetzt. Auch wenn ich also erkläre, der denkende, sich selber erlebende geistige Mensch sei gar kein selbständiges geistiges Wesen, sondern nur eine Illusion, die aus der Materie gleichsam „hervorschwitzt“, ist diese Erklärung eben eine, die nur durch einen denkenden Menschen erbracht werden kann, der sich damit sozusagen selber „wegerklärt“. Näheres dazu habe ich in meinem Buch zur aktuellen Menschheitskrise ausgeführt: „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“22.
Ausgehend von einem so aufgefundenen Primat des Geistes – zumindest von der Warte des Erkennenden Menschen aus – stellt sich dann die Frage nach dem Sinn der derzeitigen Situation der Menschheit noch einmal etwas anders. Vieles, was Nelles anführt, liegt ja völlig auf dieser Linie, und darum habe ich den Artikel auch erfreut gelesen. Nur bleibt bei ihm die Frage nach dem, was eine „neue Spiritualität“ denn sein könnte, leider unbeantwortet.
7. Neue Spiritualität
Denn die Konsequenz von Nelles – „Der Psalm hat recht“ – ist ja nichts anderes als der Rückgriff gerade auf eine alte Spiritualität, die eben mit zu den Gründen gehört, warum die Lage heute so ist, wie sie ist. Der helfende Gott, der den sündigen Menschen führt, der ist eben nicht mehr. Und ich denke nicht, dass man ihn zurückholen kann. Der Mensch ist frei geworden, auch zum Irrtum.
Warum kann man ihn nicht zurückholen? Man wird einen heutigen, selbständig denkenden Menschen, auch und gerade nach den Ereignissen der letzten zwei Jahre, nicht mehr leicht dazu bringen können, irgendwem einfach zu glauben. Das müsste er aber: der Bibel, dem Pfarrer, dem Imam, dem Professor, oder wem sonst auch. Sicher, derzeit glauben ja gerade viel zu viele alles Mögliche. Was aber, wenn die Sache auffliegt? Nein, der denkende Mensch will heute wissen, und zwar auch von dem, was nicht klar vor Augen liegt. Und das bedeutet, dass wir nicht nur eine irgendwie „neue Spiritualität“ benötigen, die sich eben geschützt glaubt, wenn man dem Psalm glaubt. Gott ist für die Menschen tot. Man erlebt ihn nicht mehr. Glaube als innere Stütze gegenüber der gottlosen Welt reicht für sehr viele Menschen nicht mehr aus.
Nein, wir brauchen sehr viel mehr, nämlich eine komplette Spiritualisierung der Wissenschaft. Und die wird nur gelingen, wenn der einzelne, individuelle, denkende Mensch erst einmal anfängt zu realisieren, dass er selber Geist ist, der derzeit eben in einem irdischen Leib auf der Erde herumläuft. Was vorher war (habe ich eventuell mein Schicksal, meine Aufgaben im Leben schon wie eine Art Vorhaben mitgebracht?) und was nachher sein wird (Fegefeuer, Himmel, Walhalla, oder was auch immer) kann ich erst lernen zu verstehen, wenn ich mich selber und mein Denken verstehen lerne. Vorher ist das nicht möglich. Aber ich kann vorher schon wissen – wenn ich mein unmittelbares Erleben nur ernst nehme, das nämlich ein geistiges ist, den materiellen Inhalten gegenüber – ich kann also vorher schon wissen, dass diese jetzt gerade von mir erlebte Welt nicht alles ist. Nur darf ich dabei eben nicht stehen bleiben, wie Kant und seine Nachfolger, sondern muss mich aufraffen zur eigenen Weiterentwicklung im Erkennen.
Und da bin ich eben mit Herrn Nelles nicht einig: der Psalm hatte recht für die Menschen vergangener Zeiten. Jetzt müssen wir eine neue Art Psalm zu singen lernen. Wir haben nämlich die Welt schon umgestaltet, sie ist gar nicht mehr die „natürliche“, das ist frommer Glaube. Um uns herum sind eine Vielzahl technischer Einrichtungen tätig, deren Wirkungen wir noch gar nicht überblicken, und die uns noch auf die Füße fallen werden. Wenn wir lernen wollen, damit umzugehen, werden wir uns ganz auf uns selber verlassen müssen. Allerdings: was die Vergangenheit betrifft, die uns in diese Welt befördert hat, da gilt eben, was der Psalm sagt.
Denken wir doch einmal weiter: wenn der Gott, der uns beschirmte, uns in diese Situation gebracht hat, in der wir sind: was wollte er damit von uns erreichen? Ich finde, es ist ein berechtigtes Anliegen in dem Willen, selber das Leben schaffen zu lernen. Nur wird es dazu nötig sein, erst einmal zu wissen, was Leben überhaupt ist, und auch zu verstehen, wie und warum wir als Menschheit an die Stelle gekommen sind, an der wir jetzt stehen. Und dann müssen wir Wege finden, wie wir unsere Erkenntnisgrenzen weiten können.
Wir stehen also vor zwei Möglichkeiten: entweder weiter so wie bisher; jeder sieht, dass er für sich das Beste herausschlägt, man lebt ja nur einmal – also gar nichts verstehen wollen – oder die Einsicht, dass wir selber nicht weiterkommen werden, wenn wir nicht die Welt um uns herum – und das bedeutet auch alle anderen Menschen – dabei mitnehmen. Wir werden uns also – sozusagen aus einer Art höherem Egoismus – liebevoll jeder Einzelheit des Lebens zuwenden müssen, um sie mitzunehmen auf unserem Weg in den Geist der Zukunft. Der Weg Buddhas ist nämlich auch ein alter: gar nicht erst ganz auf die Erde kommen zu wollen, da sie ja doch nur eine Illusion ist. Diesen Weg haben wir uns abgeschnitten. Wir können uns nämlich gar nicht mehr weiterentwickeln ohne die Welt. Unsere Taten sind längst Bestandteil der Welt und prägen sie. Und sie braucht uns jetzt. Unsere „Sünden“ werden wir schon selber abzutragen haben, indem wir uns umschaffen zu einem „neuen Menschen“.
Diesen Weg, der nicht auf ein „zurück zum leitenden Gott“ setzt, sondern auf die Kraft des freien Menschen (ohne die Freiheit hätten wir uns gar nicht derartig irren können – darum ist die materialistische Wissenschaft, die nichts vom Geiste weiß, als Durchgangsstation auch unumgänglich nötig gewesen), der in seinem Handeln Liebe entwickelt, stellt Rudolf Steiner in seinem Gesamtwerk dar. Ihm war zu keiner Zeit vorrangig wichtig, was an einzelnen Inhalten geistiger Tatsachen dargestellt wurde. Es ging immer zuerst um die Schaffung von Urteilsgrundlagen für eine wirkliche geisteswissenschaftliche Erkenntnis, eine solche also, die vollkommen vorurteilslos und kontrolliert an dem ansetzt, was der Mensch als geistiges Wesen im Geiste heutzutage unmittelbar erleben kann, und die eben dadurch den Weg in eine Spiritualisierung der Wissenschaft weisen kann.
© Stefan Carl em Huisken 2021
1https://multipolar-magazin.de/artikel/der-kunstliche-mensch, als pdf-Datei herunterladbar
2Wegen der Bedeutung, den der Psalm für das Ganze hat, hier der von Nelles zitierte Text ebd., S. 2:
„Wer im Schutz des Höchsten wohnt und ruht, im Schatten des Allmächtigen, der sagt zum Herrn: ‚Du bist für mich Zuflucht und Burg, mein Gott, dem ich vertraue.‘ Er rettet dich aus der Schlinge des Jägers und aus allem Verderben. Er beschirmt dich mit seinen Flügeln, unter seinen Schwingen findest du Zuflucht. Schild und Schutz ist dir seine Treue. Du brauchst dich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten, noch vor dem Pfeil, der am Tag dahinfliegt, nicht vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die wütet am Mittag …“
3ebd., S. 2 (alle Zitatnachweise beziehen sich auf die pdf-Datei)
4ebd., S. 3
5ebd.
6ebd., S. 4
7ebd., S. 3
8ebd., S. 4
9ebd., S. 5
10ebd.
11ebd., S. 6
12ebd., S. 7
13Mumford, Lewis: Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht. – Frankfurt a.M., Fischer Taschenbuch, 1977
14Nelles ebd., S. 7
15vgl. dazu von einem andere Ausgangspunkt aus zu „Transhumanismus und Geist-Erkenntnis“, https://emhuisken.de/den-menschen-ueberwinden-transhumanismus-und-geist-erkenntnis/
16ebd., S. 8
17vgl. hierzu auch im Folgenden den Schlussabsatz bei Nelles ebd., S. 8 ff
18ebd., S. 9
19ebd. S. 9 f
20ebd., S. 10
21„Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“, „Wahrheit und Wissenschaft“, „Die Philosophie der Freiheit“
22em Huisken, Stefan Carl: Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen. – Borchen, Ch. Möllmann, 2021, bestellbar =>hier; ebenso manche Artikel auf meiner Website www.emhuisken.de