Was ist die Welt?

Was für eine überflüssige Frage, mag mancher denken, das ist doch ganz klar! Dass diese Frage vielleicht nicht gar so überflüssig ist, sondern vielleicht zu interessanten und wichtigen Einsichten führen kann, soll mit diesem kleinen Aufsatz versuchsweise dargelegt werden.

Zunächst: was jedem Einzelnen von uns als Welt sinnlich wahrnehmbar gegenübersteht, hat den Charakter des Gewordenen, bis zum derzeitigen Zustand Fertiggestellten, und als solches zunächst also Unveränderlichen – das in der Vergangenheit liegende Werden kann nicht mehr so beeinflusst werden, dass die vorliegende Erscheinung der Welt eine andere wird. Soll etwas anders werden, muss der vorliegenden Welt ein neuer Werdeprozess hinzugefügt werden, der dann einen veränderten Zustand der Welt zur Folge hat. Es muss also zunächst der Summe der bisherigen Werdevorgänge eine neuer Vorgang hinzugefügt werden.

Dies kann uns aufmerken lassen: der aktuelle Zustand der wahrnehmbaren Welt ist ein fester, gegebener. Jede Veränderung kann nicht aus diesem Zustand selbst erfolgen, denn dieser ist eben Zustand. Und Zustande sind Ergebnisse von Vorgängen, welche aus sich selber heraus niemals Zustände sein können, sondern diese eben hervorbringen. Prozesse als solche können also keine wahrnehmbaren Gegenstände der Sinneswelt sein, also geworden, sondern sie sind geradezu das Werden selbst.

Der sinnlich wahrgenommene Welt-Zustand kann also niemals aus sich selbst heraus Veränderung erfahren, sondern nur aus dem Reich der Zeitgestalten heraus, das heißt, der sich im zeitlichen Ablauf formenden Intentionen. Um Missverständnissen vorzubeugen: mit dem Wort „Intention“ wird hier nicht bloß auf bewußte Zielorientierungen hingedeutet, sondern einfach auf die Tatsache, dass jedem zeitlichen Ablauf das Erreichen irgendeines Zieles eignet, sei es vorher oder nachher oder gar nicht erkannt. Sobald der Ablauf beginnt, wirkt also wie aus der Zukunft heraus eine „Intention“.

Jede Veränderung des Weltzustandes hat damit ihren Ausgangspunkt außerhalb der Summe der im Weltzustand zusammengefassten Einzel-Gegenstände und Verhältnisse. Das Reich des Werdens ist ein anderes als dasjenige des Seins. Schon in den Wortklängen drückt sich das aus: durch das Walten der Intentionen entsteht die Welt in ihrer jeweiligen Verfassung.

Es ist wichtig zu bemerken, dass nur die gewordene, also „seiende“ Welt mit Sinnen wahrgenommen werden kann. Das Werden nehmen wir nicht direkt wahr, wir konstatieren es nur anhand der Unterschiede der aufeinanderfolgenden Welt-Zustände, im Rahmen unseres Mit-Erlebens. Das Werden ist also nicht Bestandteil der Sinneswelt, sondern formt diese, ist ihr in gewissem Sinne „übergeordnet“. Die Gesamtheit solcher Werdevorgänge bezeichnen wir in der Regel als das „Leben der Welt“; sofern diese Vorgänge uns als Person betreffen, als unser eigenes Leben1. Kurz und gut: der Welt eignet ein Leben, das aber, da es als Auslöser immer neuer Welt-Zustände fungiert, der aktuell seienden Sinneswelt offenbar übergeordnet ist. Dieses Leben ist selber ein Nicht-sinnliches, das man aufgrund der genannten Überordnung auch ein Übersinnliches, also Geistiges nennen könnte.

Noch „geistiger“ in diesem Sinne ist die den Lebensprozeß bestimmende Intention. Sie schließt den gesamten Prozeßverlauf einschließlich seines Anfangs- und Zielzustandes ein, ist also sozusagen ein „das Leben Bewirkendes“ und damit noch „übersinnlicher“ als das Leben selbst. Die Intention ist damit Offenbarung eines Wollens2, eines Willens also, der sich bereits ein Ziel gesucht hat.

Jede Zustandveränderung in der Sinneswelt ist damit ein im Übersinnlichen wurzelndes Offenbaren eines Wollens durch eine Intention, die das Walten des Lebens so bestimmt, dass eine gerichtete Zustandsveränderung in der sinnlich wahrnehmbaren Welt stattfindet. Wollen, Intention und Leben sind übersinnliche Entitäten, die für den Einzelnen daher nicht unmittelbar gegeben, sondern nur durch eigene Anstrengung denkend erfassbar sind3.

In einem umfassenderen Sinne kann man nun auch die ganze Summe der sinnlichen Welt-Erscheinungen zusammen mit den darin waltenden Lebensprozessen und Intentionen als „Welt“ bezeichnen, insofern sie uns in der inneren Anschauung gegenübertritt, also gleichsam „wahrgenommen“ wird. Denn auch der Intentionen- und Lebensprozess-Vorrat, der zu dem jeweils gegebenen Zustand der Erscheinungswelt gehört, ist in gewissem Sinne ein „Gewordenes“, wenngleich durch seinen übersinnlichen Charakter nicht unveränderlich, sondern in ständiger Entwicklung begriffen; bezogen auf einen bestimmten Weltzustand ist er aber ein Gewordenes. Es gibt also ganz offenbar ein noch höheres Reich außer den Sinneserscheinungen, den übergeordneten Lebensprozessen und den darin waltenden Intentionen als Ausdruck gerichteten Wollens, ein Reich, von dem aus die Gesamtheit von Zuständen, Prozessen und Intentionen beobachtet werden kann.

Bis zu diesem Punkt gekommen, scheint es auch berechtigt, in gewisser Weise von unterschiedlichen „Welten“ zu sprechen: der äußeren Welt der sinnlich-physischen Körper, der Welt der Lebensprozesse, die vielfach auch die „ätherische Welt“ genannt wird, und die Welt, aus der als Offenbarungen eines Wollens die Intentionen stammen, die in den Lebensprozessen wirken. All diesen Welten gehört der Mensch an mit dem Teil seiner Gesamtwesenheit, der ihm das Leben in der Welt vermittelt. Dadurch, dass er sich aber diesen drei Welten gegenüberstellen und dadurch einen Gesichtspunkt einnehmen kann, der über sie hinausgeht, erweist er sich gleichzeitig als Angehöriger desjenigen Reiches, das diese drei Welten umfasst und sich dadurch ihnen übergeordnet zeigt.

Sind schon die Regionen der Lebensprozesse und Intentionen als übersinnliche gewissermaßen ein „Geistiges“, so kann man diejenige Welt, aus der erst Wollen und Intentionen hervorgehen, und der der Mensch angehört, als die „eigentliche geistige Welt“ bezeichnen. In ihr wurzelt der Mensch mit seinem Ich, das sich durch sein leiblich-seelisches Leben in der Welt ausprägt. So kann er auch seine Intentionen dem Weltenwerden einverleiben.

Nun ist es aber eine Tatsache, dass die jeweilige bewusstwerdende Kombination von Intentionen, Lebensprozessen und Weltgegenständen, die für einen Menschen seine Welt bedeutet, vollkommen individuell, für jeden Menschen einzigartig ist. Was in ihm von der Gesamtheit dieser Welten bewusst, und was unbewusst auftritt, ist für jeden Menschen individuell verschieden. Dennoch kann gesagt werden, dass alle Menschen in dieser Hinsicht in derselben Welt leben. Denn auch das, was einem Menschen unbewusst bleibt – in den meisten Fällen also wohl der überwältigend große Teil der Bestandteile dieser drei Welten – gehört zu ihm, ganz individuell.

Ebenso, wie man unzweifelhaft wissen kann, dass der Bewusstseinsinhalt eines jeden Menschen ein einzigartiger, individueller ist, muss gesagt werden, dass der Inhalt eines jeden menschlichen Unbewussten völlig individuell ist; ebenso wie jeder Mensch nur einen individuellen Teil der ihm gegenüberstehenden Welten mit seinem Bewusstsein umschließt, ist der aus seinem Bewusstsein ausgeschlossene Teil des gesamten Weltenseins ein völlig individueller. Damit steht immer das Weltganze jedem einzelnen Menschen als Teil seinen ureigensten Wesens gegenüber; lediglich die Verteilung von Bewusstem und Unbewusstem ist bei jedem Menschen verschieden.

Man kann also insofern sagen, dass es eine wie auch immer geartete Welt ohne den Menschen gar nicht geben kann, denn ohne ein ihr gegenüberstehendes Ich, das ihre Existenz in allen Facetten umgreift, kann ihr Vorhandensein oder Nichtvorhandensein gar nicht festgestellt, allenfalls vermutet oder geglaubt werden. Damit ist ja nicht gesagt, dass die Welt (oder die Welten) nur von des Menschen Gnaden und von ihm bewusst oder unbewusst erzeugt würden; nur, dass es eine Welt ohne den Menschen nicht geben kann, ebenso wie ohne Welt kein Mensch existieren könnte. Beide gehören untrennbar zusammen.

Diese Zusammengehörigkeit von Welt und Mensch ist eine polare: was ihm als Welt gegenübersteht, bekommt seine Impulse aus der Region, der der Mensch entstammt, dem Reich des Geistes also. In diesem Reich des Geistes selbst kann es zunächst keine Intentionen, Lebensprozesse und Sinnesobjekte in Form von Wahrnehmungen von etwas Gewordenem geben; sie gehen ja gerade aus diesem Reich hervor und stellen sich ihm im Menschen gegenüber. Dieses „Gegenüberstehen im Sein“ ist also die Sache der Welt. Was oben als eine Art übersinnlicher Welten bezeichnet wurde, umfasst insofern immer nur diejenigen Prozesse und Intentionen, die sich bereits in der Schaffung eines bestimmten Zustandes ausgewirkt haben; die aktuell wirksamen Prozesse und Intentionen wirken ja gerade auf diesen gegenwärtigen Welt-Zustand ein, stehen ihm insofern gegenüber, so lange, bis sie sich ihm sozusagen „einverleibt“ haben.

So umschließt das Reich des Geistes alles Weltensein, denn ohne dieses Geistesreich des Ur-Wesenhaften wäre die Welt nicht; ohne die Welt aber hätte der Geist kein Feld, auf dem er sich seiner selbst bewusst werden könnte. Keine Weltgesamtheit ohne den – sagen wir es nur frei heraus: göttlichen – Geist, aber auch kein Geistbewusstsein ohne Welt. Jeder individuelle Mensch kann insofern als eine einzigartige Variante dieses Verhältnisses von Gott und Welt angesehen werden.

Man könnte auch sagen: Gott ist der Geist der Welt, in ihm hat alles Weltensein sein Urwesen, auch dasjenige des Menschen. Bezüglich des heutigen Menschen4 muss man sagen, dass er ganz grundsätzlich ein Werdender ist auf dem Wege immer umfassenderer Erkenntnis der Welt, aus der er lernen muss, das göttliche Urwesen immer mehr mit sich selber übereinstimmend zu erleben, damit also den unbewussten Teil seiner Welt immer weiter in einen bewussten umzuformen, indem er nach und nach „Denkorgane“ entwickelt, durch die er Übersinnliches in seine Anschauung aufnehmen kann; jedenfalls dann muss er dies lernen, wenn er nicht bei seinem erreichten Erkenntnisstand verbleiben und nur aus diesem heraus sein Leben fristen will.

Gleichzeitig ist aber der Mensch dasjenige Wesen, das im Prinzip, in seiner geistigen Konfiguration dem göttlichen Geiste gleicht, und das dadurch zum Werkzeug des Fortschrittes der Bewusstwerdung der gesamten Welt werden kann. Ohne ein solches Werkzeug-Wesen müsste Gott sozusagen darauf verzichten, sich seiner selbst bewusst zu werden. Hier gilt es: „Und Gott schuf dem Menschen zu seinem Bilde“ – das ist gleichermaßen Vermächtnis und Aufgabe für den Menschen.

Wenn also heutzutage aus Bereichen heraus, die den meisten Menschen unbewusst bleiben, zunehmend zerstörerische Tendenzen sich im gewohnten, gewordenen Leben der Welt geltend machen, ist es vielleicht überlegenswert, dort zu suchen, wo diese Tendenzen entspringen, und sich zu fragen, welche Intentionen aus der göttlich-geistigen Welt wohl darin walten, dass dem Menschen sein gewohntes Leben in der Welt zunehmend sauer wird, und dies gerade und vorwiegend durch diejenigen Dinge und Prozesse, die er selber in die Welt gesetzt hat unter der Verheißung einer Art ewigen, bequemen Schlaraffenland-Lebens.

Wer nicht selber mitwirkt an der Bewusstwerdung Gottes durch den Menschen in der Welt, indem er sich zurücklehnt, sich mit dem schon Erreichten zufriedengibt und ansonsten „Gott lenken“ lässt, seine eigene Welt also nicht durch eigene Erkenntnisarbeit immer mehr mit Bewusstsein durchdringen will, muss damit rechnen, dass die ursprünglichen göttlichen Intentionen in seiner individuellen menschlichen Welt so wirken, dass sie ihm die Folgen seines Tuns nachhaltig zu Bewusstsein bringen, dann allerdings ohne die Beteiligung des Menschen, weil der ja eben nicht mitwirkt.

Ohne Gott („Geisterreich“) keine Welt, ohne Welt aber auch kein Mensch. Und ohne die Mitwirkung des Menschen dann irgendwann keine Welt, und damit auch kein Mensch. Die Menschen-Welt trägt in sich die göttliche Intention der Bewusstwerdung, der sich der einzelne Mensch wohl widersetzen kann – aber mit welchen Folgen?

Die Welt scheint also für jeden Einzelnen vielleicht mehr zu bedeuten, als er sich derzeit eingesteht. Darauf wollte dieser kleine Aufsatz hinweisen.

© Stefan Carl em Huisken 2023

1Inwieweit diese Aussage evtl. im Hinblick auf technische Gegenstände modifiziert werden muss, ist andernorts zu erörtern.

2wiederum: nicht unbedingt eines irgendwie bewussten Wollens.

3Es kann sich durch ausreichende Übung des eigenen Denkens durchaus eine Art „Wahrnehmung“ solchen übersinnlichen Entitäten ergeben; sie fallen im Augenblick der Wahrnehmung in den Bereich des Gewordenen hinein. Auch ein Werdeprozeß kann in diesem Sinne „geworden“ sein, indem er immer wieder unverändert abläuft, gleichsam automatisch, maschinell.

4Für andere Zeitepochen ist durchaus ein anderes Verhältnis von Mensch und Welt denkbar.


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