Wie wird der Mensch?

„O Mensch, erkenne dich selbst!“ – so tönte es dem Sucher aus den alten Mysterien entgegen. Da der Mensch als Werdender aber niemals gleich bleibt, sondern immer in Entwicklung ist, kann er sich selber nur verstehen, indem er sein eigenes Werden geistig umfasst.

Das innere Erkenntnislicht entsteht aus dem Selbst-Bewusst-Werden des Menschen als einem aus dem Weltganzen gleichsam „Hinausgeworfenen“, der die Welt verloren hat und den die Welt verloren hat, und der aus alldem, was er in seinem (seelischen) Innenwesen finden kann, diesen Verlust als seinen eigenen Anfang erleben lernt, indem er seine Situation in seiner Seele anschauen lernt, bedenken lernt, mit seinem inneren Denk-Seelenlicht bescheint. Er bemerkt: Ich bin anders als die Welt, „mein Reich ist nicht von dieser Welt“.

Indem der Mensch so in innerer Besinnung auf diesen „Hinauswurf“ sein eigenes Werden nachvollziehen lernt, wendet sich der Geist, der Mensch und Welt als polar sich tragende Einheit umfasst, aus dem Menschen zur Welt, fügt dieser Welt damit etwas Neues, aus ihm selber Stammendes hinzu, und muss doch gleichzeitig bemerken, dass, was er gerade hervorbrachte, ihm im selben Augenblick wieder entgleitet. Seinen eigenen geistigen Erkenntnisprozess kann der Mensch nicht festhalten, so wie es auch der Gottesgeist mit dem seinigen nicht konnte, da dieser Prozess in ständiger Wandlung ist und nur im Tun vorhanden und anschaubar.

Zwischen Welt und Geist weben also Kräfte, welche aus beiden in unterschiedlicher Weise hervorgehen, die Einheit des jeweils individuellen Menschen. Indem der Mensch als irdisches Einzelwesen in diese gleichsam kosmische Polarität und damit als Mittelpunktswesen seines eigenen, umfassenden Seins in den Raum der Welt gestellt ist, wird er zum Träger des Ausgleichs zwischen Außenwelt und Seelengründen. Vom kosmischen Schicksal ergriffen und in diesen Mittelpunkt gestellt, findet er sich auf der Suche nach dem rechten Greifen des Ausgleichs, nach demjenigen, worin sich nach Schillers Worten Anmut und Würde ausdrücken können: der Kunst und dem Spiel.1

Der einzelne individuelle Erdenmensch, so, wie er aus dem kosmischen Schicksal heraus geworden ist als ein Mittelpunktswesen des Universums, erwacht für sein eigenes Sein, und wird dadurch zugleich diesem Mittelpunkts-Sein gerecht, indem er in seinem eigenen Erwachen die eigene, in ihrem ganzen Umfang ihm noch unbewusste Göttlichkeit bemerkt. So kann er ahnen und schauen, wie aus dem Kosmos heraus dieses ganz dem Kosmos entfremdete Wesen seiner selbst, aus sich selbst heraus, zunächst in strenger innerer Denk- oder Meditations-Arbeit den Gedanken des kosmischen Wesens und Werdens hervorzubringen beginnt, der ihm selber immer mehr zur Stütze seines eigenen Seins wird. Dadurch wird er unabhängig vom kosmischen Werden, kann aus sich selbst heraus den Weg der Freiheit betreten.

Aber er muss ertragen, dass alles, was er sich und dem Weltenprozess aus sich selber hingibt, im Augenblick der ersten Wahrnehmung des gerade Gegebenen ihm entfällt, das Leben verliert, aus einem Ergebnis seiner eigenen Entwicklung zu einem Hindernis für das Weiterschreiten wird; der Mensch schafft sich also selber Widerstände, an deren Überwindung er dann zu wachsen hat2. So wird er von einem Geschöpf des Lebens zum Mit-Schöpfer, zu einem fortlaufend sich höher entwickelnden Quell des Lebens. Der Mensch selber wird dadurch zum Quell der Lebenskraft, einem Quell, der aus dem eigenen fortwährenden Schaffen heraus nach und nach zum verlässlichen Bestandteil des lebendigen Weltganzen werden kann, da er seine Kraft eben aus sich selbst, aus dem Beobachten des eigenen Tuns immer neu zu schöpfen lernt.

Was der Mensch in der Welt schafft, unterliegt deren Gesetzen in dem Augenblick, wo es der Welt übereignet wird. Macht sich der Mensch als schaffender Kräftequell aber selbst zum Gegenstand, der ihm schließlich im Weltganzen gegenübertritt, so schenkt er sein Leben gleichsam weg, geht selber durch den Tod, verändert dieses Weltganze damit aber so, dass er ihm neues Leben einhaucht. Sein eigener Zeitenstrom des Lebens gliedert sich dem kosmischen Entwicklungsstrom ein, verrinnt in diesem. Damit werden beide – Erdenmenschenwerden und kosmisches Werden – nach und nach eines. Indem der Mensch sein eigenes Selbst-Werden der Welt schenkt, soweit er dies sich selber gegenüberstellen kann, ist er dem Weltenwerden einverwoben3.

Damit tritt er ein in den geistigen „Raum“, dem das Werden entstammt. Was der Mensch im Bewusstwerden des eigenen Wesens erschafft, wird Bestandteil des Ewigen im Weltganzen. Sein eigenes Menschsein wird damit Ausdruck und untrennbarer Bestandteil des geistigen Seins und Werdens im Ganzen der göttlichen Schöpfung; seiner Aufgabe als Mittelpunkt und Schau-Platz des Weltenwerdens kann der Mensch so gerecht werden. Dass er selber die Welt und die Welt ihn verlor, ist damit Voraussetzung für beider neue Belebung und Auferstehung in die Zukunft hinein.

Kein Mensch ohne die Welt, aber auch keine Welt ohne den Menschen.


Im Erdendasein des Christus Jesus wurde daher gleichsam exemplarisch das Wesen Gottes als Urheber aller Werdekraft, aller Weltenziele und aller Weltobjekte im Rahmen des Weltenwerdens durch den Menschen Jesus und den ihm einverleibten Christus all den „Hinausgeworfenen“, den „verlorenen Seelen“ ganz handfest als Auftrag und Verheißung gezeigt: werde wie er, indem du ihn in dir wirken lässt (also: in Form deines eigenen, freien Lebens-Werdens). Nur im Rahmen der Gesamtbewegung der Menschenentwicklung bekommt dieses Ereignis einen Sinn. Indem wir lernen, im „Buch des Lebens“ zu lesen, also in den in unserem Denken erfassten Bewegungen der Lebensvorgänge, bekommen einzelne Tatsachen so ihren guten Sinn.


Auch mit den Worten, die aus dem lebendigen Schaffen des Dichters heraus bis zu toten Buchstaben auf Papier geronnen sind, ist es so. Ihren wirklichen Sinn bekommen sie nur, wenn wir Zugang finden zu den sie hervorbringenden lebendigen Denk- und Lautbewegungen – niemals aus dem einzelnen Wort heraus oder gar aus dem, was wir gewohnheitsmäßig mit ihm verbinden.

Und auch die Sprache des Schicksals folgt diesem Gesetz: nicht die „Worte“, hier also die einzelnen Ereignisse im Gang des Lebens lassen uns diese Sprache verstehen; es sind erst die Bewegungen, welche die Abfolge der Ereignisse in unserem Leben veranlassen, durch die wir die Bedeutung der Ereignisse ermessen lernen. Wie im ewigen Gesetz von Leben und Tod, aus dem wiederum neues Leben aufsteigen soll, der Menschengeist sich selbst erschafft und sein Leben der Welt übergibt, so gibt die Sprache des Schicksals zwischen Sterben und Auferstehung dem Menschen erst den Sinn seiner selbst.

© Stefan Carl em Huisken 2023

1vgl. Schiller, Friedrich: Über Anmut und Würde. In: Schiller, Friedrich: Schriften. Schillers Werke. Band 4. – Frankfurt a.M. 1966, S. 141ff, besonders S. 170ff

2Tat dies der Gott nicht in ähnlicher Weise? Vgl. den Aufsatz „Wer ist Gott?“, https://emhuisken.de/wer-ist-gott/

3An einer eher praktischen Frage habe ich dieses Sich-Einverweben in den Weltenstrom ein wenig erörtert in meinem Artikel „Was hilft die Aufregung? – Die Kräfte wirksam nutzen“, hier: https://emhuisken.de/das-boese-was-hilft-die-aufregung-die-kraefte-wirksam-nutzen/


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