Wer ist Gott?

Ein mir sehr nahestehender Mensch, der durchaus genialische Züge hatte, sehr viel weiter dachte als viele andere und aus diesen Eigenschaften heraus künstlerisch tätig war – er malte, schrieb, erzählte Geschichten, verfasste Lieder und war im „Brotjob“ journalistisch tätig – pflegte auf die Frage nach Gott das Folgende zu antworten, sinngemäß:

„Mit Gott habe ich nichts zu tun. Entweder er ist allwissend, allweise, allmächtig – dann ist er für mein begrenztes Auffassungsvermögen zu groß, unfassbar, so dass ich mit ihm nichts anfangen kann. Oder er ist bloß mein Gedanke, dann ist er aber mir untertan und daher irrelevant, der Mühe nicht wert. Also habe ich mit ihm nichts zu tun.“

Dieser Mensch, der so dachte, ist an dem zugrunde liegenden Problem letztlich so nachhaltig gescheitert, dass er nur noch aus dem Leben scheiden konnte. Das hat ihn aber natürlich keinen Schritt weiter gebracht im Sinne einer Lösung.

Denn: wie, wenn er nun wirklich den allweisen, allmächtigen Gott gar nicht fassen konnte? Dann könnte er doch gar nicht beurteilen, ob er ihn fassen könnte in seinem Denken? Dann fehlte ihm doch der Urteilsmaßstab? Oder hat er da – unbemerkt – doch schon gleich sein eigenes Urteil über die eigene Begrenztheit Gott untergeschoben?

Und: wie, wenn er nun diesen Gott eben nur so denken könnte, wie er sich selber erkennt, nämlich begrenzt? Dann wäre Gott ihm ja „zu klein“ – ist er sich selber zu klein gewesen? War denn daran gar nichts zu ändern?

Man sieht schon an diesen relativ überschaubaren Fragen, wie sehr auch ein sonst klarer und scharfer Denker Wesentliches übersehen kann.

Die Sache hat ihren Ursprung darin, dass eben sowohl „Gott“ als auch „Ich“ als ein Statisches, also gleichsam „Fertiges“ gedacht werden – also ein Begrenztes. Das sind aber beide nicht; zumindest bei mir selber kann ich ja beobachten, dass ich mich entwickle, anders werde, vielleicht von Zeit zu Zeit sogar ein bisschen weiser – gottähnlicher? Da ich aber zunächst mich als Geschöpf ansehen muss von Mächten, die zu einem relevanten Teil außerhalb meines Bewusstseins liegen, von Mächten also, die ich einmal summarisch auch als „Gott, der Unbegriffene“ oder einfach als „Götter“ bezeichnen könnte, gleichzeitig aber die Entwicklungsfähigkeit grundsätzlich in mir angelegt ist, kann diese Fähigkeit – jedenfalls, soweit ich sie mir nicht eindeutig selber angeeignet habe – nur von eben diesen Mächten in mich gelegt worden sein. Sie müssen sie also besitzen, oder zumindest besessen haben, als sie diese Fähigkeit in mir anlegten. Damit sind aber sowohl „Gott“ bzw. die „Götter“ als auch ich im Grundsatz unbegrenzt, denn Entwicklung aus sich selbst heraus kennt erst einmal keine prinzipiellen Grenzen.

Warum also sollte nicht Gott mich als begrenztes Wesen in seine Allmacht aufgenommen haben? Denn wie entstehen Allmacht und Allweisheit? Nur aus begrenzter Macht und Weisheit, die sich selber aus sich selbst entwickeln. Woher sollte Gott seine Allweisheit und Allmacht haben als aus sich selbst? Es kann kein Wesen über ihm geben, sonst wäre er ja eben nicht – Gott, der Allweise und Allmächtige.

Also schuf er den Menschen zu seinem Bilde. Und das Bild musste alles in sich tragen, was Gott ausmacht, aber so, dass das Bild zugleich all dies erst noch aus sich selber entwickeln musste: die Allweisheit und Allmacht zum Beispiel. Denn sonst wäre es ja nicht das Bild Gottes.

Gott ist frei – Allweisheit und Allmacht sind bloß Attribute dieser Freiheit. Und zugleich ist er der Träger der Allliebe, denn er schenkt seine Freiheit, mit der Allweisheit und Allmacht, seinem Bilde, gibt sein Bestes hin. Aber er schenkt es so, dass sein Bild von alledem nichts kennt, nichts weiß, sich die Erkenntnis und das Wissen erst erarbeiten muss – als eben etwas Begrenztes, aber Entwicklungsfähiges. Den Menschen also, uns selber hat er dann erschaffen. Und der trägt in sich, in jedem Exemplar, den Gott, als Gedanken, als Bild, als Antrieb, als Wille also, als Ziel seines Wollens.

Ist der Mensch bereit, den Gott in sich, in seiner Welt, in jedem anderen Menschen so zu lieben, dass er bereit ist, seine eigene Entwicklung dem Gotte, dem anderen Menschen als Bild des Gottes, ja, auch sich selbst als Gottes Bild zu opfern, so wird er seinem göttlichen Kern und Ursprung gerecht, realisiert durch sich, was er erst werden soll.

Lehnt der Mensch sich aber bequem zurück, dann muss er damit rechnen, dass Gott es ihm gleich tut. Indem der Mensch also seine eigene Entwicklung nicht selber erringen will, sondern sie sich vom Gotte schenken lassen, so wird er erleben, wie der Gott ihn, den Menschen, gleichgültig verschmähen wird, ebenso wie der Mensch es verschmäht, sich dem Gotte hinzugeben.

Wenn der Gott sich durch den Menschen selber neu erschaffen will, so muss er seine Freiheit und damit Allweisheit und Allmacht dem Menschen schenken, in Allliebe. Und dann ist es am Menschen, ob er diese Allliebe erwidern will, in der Hingabe an sein Schicksal, das ihm den Gott vorstellt. Tut er das nicht, dann vernichtet er zugleich sich selber, denn wo kein Mensch, der den Gott erschaffen will, in fortwährender Selbstentwickelung, da ist auch kein Gott, der sich zum Menschen machen will.

So ist das eben mit der Freiheit. Sie kann sich nur in Liebe zum Fremden selbst erschaffen, oder sie zerstört sich selbst.

Der Mensch, den ich eingangs schilderte, hat diesen grundlegenden Gedanken der Entwicklung nicht denken können. Sonst hätte er im Leben – also in seiner Entwicklung in der Welt – bleiben können. Was in ihm noch lag an möglichen Liebestaten in der Welt – und ich bin sicher, das war noch viel –, ist nun für dieses sein Leben und das seiner Zeitgenossen zunächst verloren. Aber es ist ja nicht weg, einfach weg. Es ist jetzt dort, wo eben sein Unbewusstes lag, das Unbewusstsein der grenzenlosen Entwicklung – in uns allen also, die wir doch Tag für Tag im Alltag uns ähnlich benehmen wie dieser Mensch, indem wir überall Grenzen sehen, die wir nicht übersteigen zu können vermeinen.

Eine dieser Grenzen ist der Tod – aber woher wollen wir eigentlich wissen, dass der Tod eine absolute Grenze ist, nicht nur eine Schwelle, die wir im Entwicklungsgang von Zeit zu Zeit zu überschreiten haben, ebenso wie die Geburt? Wenn unsere Entwicklungsmöglichkeit vorhanden ist, wir also prinzipiell grenzenlos, dann können wir uns auch in unser und des Gottes Ewigkeit hinein entwickeln, also: Gott werden, allweise und allmächtig. Und Gott erschuf den Tod. Also steht er über ihm. Auch wenn der Tod – das eigene Geschöpf – ihm erst die Möglichkeit des ewigen Lebens in der Auferstehung verschafft. Und daran sind wir Menschen nicht ganz unbeteiligt.

Ein Beweis, dass Menschen auch im Tode noch ihre Entwicklungsimpulse fassen können, ist diese kleine Erzählung und Erörterung. Weil der Mensch, von dem ich ausging, so war, wie er war, und danach handelte, entstand dieser kleine Aufsatz. Ohne diesen Menschen wäre das wohl nicht in der gleichen Weise geschehen. Da hat der „Tote“ wohl durch mich seinen Ausdruck gesucht; einen eigenen Leib in der Welt hat er ja gerade nicht zur Verfügung, um das hier Dargestellte zu erleben, zu denken, zu schreiben. – Sind die Toten eigentlich wirklich tot, also „aus der Welt“?

Und ja. ist Gott tot? Haben wir etwas damit zu tun?

© Stefan Carl em Huisken 2023


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