Vielen Dank, Martin Barkhoff!

Der folgende Text entstand als Reaktion auf einen Artikel von Martin Barkhoff in Ein Nachrichtenblatt, Nr. 5/2023. Dieser Artikel steht natürlich hier nicht zur Verfügung, ist auch nicht einfach frei im Internet zugänglich. Da aber in meiner Ergänzung ganz allgemein Verständliches dargelegt wird, das auch – meiner Ansicht nach – notwendig ist zu sagen, stelle ich meinen Text hier zu Verfügung. Er wurde auch an „Ein Nachrichtenblatt“ versandt mit der Bitte um Veröffentlichung.

Selten ist es mir so gegangen wie mit Martin Barkhoffs Artikel „Was kommt nach der Demokratie? – Zukünftige anthroposophische Gesellschaften“ in ENB 5/2023, S. 6ff. War schon der Titel vielversprechend – ich hatte ja selber in zwei Beiträgen1 auf meine eher „individualistische“ Auffassung anthroposophischer Gesellschaftsbildung aufmerksam gemacht, besondern im Hinblick auf Rechtskonstrukte, wie die „Demokratie“ ja auch eines ist – so klang bei mir spätesten ab dem dritten Absatz des Barkhoffschen Textes ständig innerlich ein „Applaus, Applaus!“ beim Lesen mit. Und es kam der Gedanke auf: endlich sagt es mal einer, und einer, der vielleicht auch gehört wird! Herzlichen Dank, Martin Barkhoff!

Einen Aspekt möchte ich aber noch hinzufügen, der vor allem mit der Motivation desjenigen zu tun hat, der sich im Sinne der von Barkhoff geschilderten Art, sich zu assoziieren, zum „Instrument für das Erforderliche umformen“2 will. Er wurde von Rudolf Steiner im Jahre 1900 in seinem zweiteiligen Artikel „Der geniale Mensch“ in einer Art Rezension des gleichnamigen Buches von Hermann Türck formuliert3.

Nachdem Steiner sich im ersten Teil des Artikels mit der Frage auseinandergesetzt hat, was Genialität sei und wie sie im zeitgenössischen Bewusstsein begriffen werden kann, so kommt er im zweiten Teil zu einer ausführlichen Kritik der Türckschen Denkweise in dieser Sache.

Dazu zitiert er unter anderem den Satz von Türck: „Ist Genialität gleichbedeutend mit Objektivität oder Selbstlosigkeit, so wird das praktische Verhalten des genialen Menschen dahin zielen, alles, was zu tun ist, mit ganzer Seele zu tun, mit voller Hingabe an das Werk selbst, sei es, was es ist.“4 Dann macht er darauf aufmerksam, dass Türck offenbar übersieht, „daß diese Selbstlosigkeit dem Genie eine sich bis zur geistigen Wollust steigernde Befriedigung gewährt.“5 Er fährt dann fort:

„Ich bin von tiefem Mißtrauen erfüllt gegen die Menschen, die viel von Selbstlosigkeit, von Altruismus sprechen. Mir scheint,gerade diese Menschen haben kein rechtes Gefühl für das egoistische Behagen, das eine selbstlose Handlung gewährt. Die Menschen, die behaupten, man solle nicht an dem Zufälligen, Unwesentlichen, Zeitlichen des Daseins kleben bleiben, sondern nachdem Notwendigen, Wesentlichen, Ewigen streben: sie wissen nicht, daß das Zufällige und Zeitliche sich in Wirklichkeit von dem Ewigen und Notwendigen gar nicht unterscheidet. Und das genialische Verhalten ist gerade dieses, das aus dem Zufälligen, Unbedeutenden überall das Notwendige, Bedeutende hervorzaubert. Türck sagt: «Wo das persönliche Interesse, wo die Subjektivität,wo die Selbstsucht ins Spiel kommt, geht die Wahrheit zum Teufel. Sind also Selbstsucht, Subjektivität und Lüge verschwistert, so ist der Gegensatz der Selbstsucht, die Liebe, das reine sachliche Interesse, die Objektivität aufs engste verbunden mit der Wahrheit» (S. 4). Nein, und dreimal nein! Wo das persönliche Interesse, die Subjektivität, die Selbstsucht eines Menschen so veredelt sind, daß er nicht an der eigenen Person allein, sondern an der ganzen Welt Anteil nimmt, da ist allein Wahrheit; wo der Mensch so kleinlich ist, daß er nur durch Verleugnung seines persönlichen Interesses, seiner Subjektivität die großen Geschäfte der Welt zu besorgen vermag: da lebt er in der schlimmsten Daseinslüge.“6

Und etwas später:

„Nicht selbstlos soll der Mensch werden; das kann er nicht. Und wer sagt, er kann es, der lügt. Aber die Selbstsucht kann sich bis zu den höchsten Weltinteressen aufschwingen. Ich kann die Angelegenheiten der ganzen Menschheit besorgen, weil sie mich ebenso wie meine eigenen interessieren, weil sie zu meinen eigenen geworden sind. (…) Erweitert euer Selbst nur erst zum Welt-Selbst, und dann handelt immerzu egoistisch. Seid wie das Hökerweib, das Eier auf dem Markt verkauft. Nur besorgt nicht das Eiergeschäft aus Egoismus, sondern besorgt das Weltgeschäft aus Egoismus!“7

Steiners Artikel schließt mit den Worten:

„Es ist einfach nicht wahr, daß irgendein Mensch selbstlos sein kann. Wahr ist aber,daß seine Selbstsucht sich so veredeln kann, daß er Interesse nicht nur an seinen eigenen, sondern an den Angelegenheiten der ganzen Menschheit gewinnt. Predigt den Menschen nicht: sie sollen selbstlos sein, aber pflanzet in sie die höchsten Interessen, auf daß sich an diese ihre Selbstsucht, ihr Egoismus hefte. Dann veredelt ihr eine Kraft, die wirklich im Menschen liegt; sonst redet ihr von etwas, was es nie geben kann, was aber die Menschen nur zu Lügnern machen kann.“8

Gerade eine solche Betrachtung weist auch darauf hin, wie Steiners Stellungnahme gegenüber der Demokratie9 mit der Freiheits- und damit der Wahrheitsfrage zusammenhängt, die ja in in den ersten Heften 2023 von „Ein Nachrichtenblatt“ mehrfach ausführlich besprochen wurde.

Die Frage kann ja hier nicht sein, wer möglicherweise wie und warum einen Anspruch auf Wahrheit machen könne. Eine solche Frage lässt eher vermuten, es gehe dabei um eine Art „Richtigkeit“ inhaltlicher Aussagen.

Davon kann bei Steiner aber keine Rede sein. Da ist es eher die Frage, ob er in der Wahrheit ist, ob er wahr spricht. Man beziehe hierbei die oben bereits zitierten Worte Rudolf Steiners zur Wahrheitsfrage einmal auf seine eigene Tätigkeit in der Welt:

Wo das persönliche Interesse, die Subjektivität, die Selbstsucht eines Menschen so veredelt sind, daß er nicht an der eigenen Person allein, sondern an der ganzen Welt Anteil nimmt, da ist allein Wahrheit; wo der Mensch so kleinlich ist, daß er nur durch Verleugnung seines persönlichen Interesses, seiner Subjektivität die großen Geschäfte der Welt zu besorgen vermag: da lebt er in der schlimmsten Daseinslüge.“10

Nachbemerkung: Müssen wir nun alle Genies werden? Vielleicht schon. Dazu Steiner: „Man kann alles Wissen der Welt in seinem Kopfe herumtragen – wenn man keinen neuen Gedanken hat, hat man kein Genie. Und man braucht gar nicht viel zu wissen – wenn einem etwas einfällt, und sei es nur eine neue Art, sich die Kravatte zu binden, hat man etwas Genialisches an sich. Man darf nicht verkennen, daß in den großen Genies, auf denen der Fortgang der Kultur beruht, nicht eine besondere mystische Gabe vorhanden ist, sondern nur eine Steigerung derjenigen geistigen Fähigkeit die in jedem Neu-Ersinnen auftritt. Genie ist in diesem Sinne eine allgemein-menschliche Eigenschaft.“11

© Stefan Carl em Huisken 2023

1„Wer ist Mitglied der anthroposophischen Gesellschaft?“ – in ENB 14/2022, S. 14f (auf dieser Website =>hier) und „Freie Geistgemeinschaft oder äußere Institution?“ in ENB 22/2022, S. 9f (Auf dieser Website =>hier). Eine weitere Ergänzung dazu, die im ENB bisher leider nicht erscheinen konnte, findet sich auf meiner Website unter https://emhuisken.de/was-tun-in-der-anthroposophischen-gesellschaft/

2Barkhoff a.a.O., S. 6

3Rudolf Steiner: „Der geniale Mensch“ – In: Methodische Grundlagen der Anthroposophie. Gesammelte Aufsätze 1884-1901. – Dornach, 1989. S. 422ff

4zit. n. Steiner, a.a.O., S 428

5ebd, S. 428f

6ebd. S. 429

7ebd. S. 431f

8ebd., S. 432

9interessant dazu im Übrigen auch Rudolf Steiner am 28. Oktober 1917 in Dornach, in: Steiner, Rudolf: Die spirituellen Hintergrunde der äußeren Welt, S. 264 ff über das Buch von Francis Delaisi: La Democratie et les Financiers von 1910, in dem dieser unter anderem geschrieben habe, dass „es dem Großkapitalismus gelungen sei, aus der Demokratie das wunderbarste, wirksamste, biegsamste Werkzeug zur Ausbeutung der Gesamtheit zu machen“. Zur Implantation des Begriffes in das deutsche Kulturleben vgl. Frances Stonor Saunders: Wer die Zeche zahlt … Der CIA und die Kultur im Kalten Krieg. – Berlin: Siedler Verlag, 2001

10Rudolf Steiner: „Der geniale Mensch“. – a.a.O., S. 429

11ebd., S. 423


Cover Wahnsinn und Denken Selbstlosigkeit Barkhoff

Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart und der Bedeutung der Anthroposophie habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.