So kann es nicht weitergehen

Ausgangslage

Die Welt ist ohne Zweifel in Aufruhr. Unversöhnliche Standpunkte stehen einander gegenüber und bekämpfen sich praktisch unbegrenzt. Einen wirklichen Ausweg kennt jede Seite immer nur im Rahmen ihrer eigenen Vorstellungen – die andere Seite muss klein beigeben, sagt man. Das sind ja ganz offensichtlich keine Auswege, sondern nur Wege zu immer weiteren Kämpfen und Katastrophen. Und immer neue, immer größere Gegensätze werden beschworen, in denen sich die Parteien über die Erde hin zu vernichten trachten können: in bezug auf den Zustand der Erde als Wohnort für Pflanzen, Tiere und Menschen, in bezug auf das Wirtschaften der Menschen und ihre Lebensmöglichkeiten auf der Erde, in bezug auf dasjenige, was jede Partei als Menschlichkeit ansieht, und so weiter, und so fort. Wo ist da ein Ausweg, oder ein Weg zur Überwindung der Situation zu sehen?

Was am meisten auffallen kann, das ist die Ausschließlichkeit (im wörtlichen Sinne), mit der die unterschiedlichen Gruppen von Akteuren ihre Auffassungen zur Geltung bringen wollen. Immer wird der andere, der Gegner oder Feind, als unmenschlich, unwert, böse, zerstörerisch oder anderweitig nicht zur eigenen Art gehörig gekennzeichnet. So sind aus der in Europa derzeit herrschenden Sicht die Angehörigen östlicher Gesellschaften entweder unmenschliche Apparatschiks, Diktatoren, bornierte Ideologen, menschheitszerstörende Aggressoren oder eben von diesen grässlichen Monstern versklavte arme Individuen; aus der Sicht östlicher Gesellschaften stellt sich dies ganz anders dar, da ist es eine im Westen rücksichtslos herrschende, das Daseinsrecht aller anderen Menschen missachtende egoistische sogenannte „Elite“, die die Menschheit durch ihre Uneinsichtigkeit und Unersättlichkeit an den Rand der Gesamtvernichtung im Atomkrieg treibt. Die „integralen Nationalisten“ der Ukraine – die Verehrer des unter dem nationalsozialistischen Regime brutal mordenden Stepan Bandera – die inzwischen die ukrainische Rasse per Gesetz als über allen anderen stehend erklärt haben und Russen nur „abschießen wollen wie Schweine“ (Originalton eines ukrainischen Funktionärs) – haben Förderer in aller Welt, und werden dort als „Vorkämpfer westlicher freiheitlicher Ideologie“ dargestellt. Ebenso gilt auf der anderen Seite der im Krieg gefallen Soldat der Ukraine nicht als Mensch, sondern als Sache, die man „vernichtet“ hat. Schon mehren sich Stimmen in den Kreisen der Befürworter der russischen Seite, die Ukrainer wegen der von ihnen vollführten Brutalitäten als „Untermenschen“ bezeichnen.

Wer so redet, handelt auch so. Alle Gründe, die von der einen oder anderen Seite geltend gemacht werden, mögen ihre Berechtigung haben; es ist aber einerlei, aus welchem Blickwinkel man immer die andere Seite zu entmenschlichen trachtet. Die Sichtweisen sind insofern gleich, als sie immer die andere Seite ausschließen, für ungültig erklären und nicht als einen für Menschen möglichen Gesichtspunkt akzeptieren wollen.

Um solche Akzeptanz wird man allerdings nicht herumkommen. Erstens zeigt man sich selber durch diese Ausschließerei um nichts besser als die andere Seite, und zweitens wird es nicht angehen, dass nur eine Gruppe Menschen ihre Gesichtspunkte für allgemeingültig allen anderen aufzwingt. Dafür sind wir einfach zu viele auf der Erde. Und meint man denn wirklich, dass man die Hälfte, oder – wie ja manche Transhumanisten meinen oder wünschen (siehe Yuval Harari) – 80 % der Menschheit ausrotten sollte, damit der Rest dann so leben kann wie er will? Was für eine Art „Menschen“ ist dann dieser Rest?

Nein, so wird es nicht gehen. Das haben die Menschen seit Jahrhunderten versucht: immer die „Anderen“ auzurotten, zu drangsalieren, zu versklaven oder anderweitig „unberücksichtigt“ zu lassen. Heute würde dieser Versuch zu irgendeinem Zeitpunkt der Eskalation unweigerlich zum Ende aller Menschen führen. So kann es eben nicht weitergehen.

Warum?

Woran liegt es denn – einmal versucht, gewissermaßen „von oben“ auf die Verhältnisse zu blicken – dass diese Kämpfe so zerstörerisch immer weiter eskalieren, und nirgends ein wirklicher Ausweg sichtbar ist?

Es liegt vielleicht – wie bei fast allem, was wir heute erleben – an den einzelnen Menschen und ihren persönlichen Auffassungen, Wünschen und Absichten. Soll eine solche Feststellung nicht einfach nur abstraktes Gejammer sein, so wird sie konkretisiert werden müssen; das soll nun hier versucht werden.

Einig sind sich doch alle Seiten immer darin, dass sie selber, und nur sie selber die Wahrheit vertreten, wissen, wie ein gutes Leben des Menschen auszusehen hat und so weiter. Dabei geht der Zeitgenosse ganz unwillkürlich von den Gedankenformen aus, die er als unserer Zeit entsprechend eingeprägt bekommen hat. Und diese Gedankenformen laufen eben darauf hinaus, dass der einzelne, im Erdenleben stehende Mensch nur diese eine irdische Existenz hat, und mit deren Ablauf auch seine eigene Individualität erledigt ist.

Solch eine Haltung hat ja ihre Berechtigung, wissen wir doch nur dadurch, dass wir uns einer ohne unser bewusstes Zutun gegebenen Außenwelt gegenüber erleben, überhaupt von unserer eigenen Existenz. Und dieses Wissen ist uns lieb und teuer – wir wollen es auf keinen Fall missen, warum wir uns auch an diese eine Existenz klammern und nicht vor ihr lassen wollen. Und zu dieser Existenz gehören eben auch die eigenen Meinungen, Wünsche und Absichten, die man darum auch in diesem einen Leben realisieren möchte.

Damit ist aber notwendig der Einzelne zu einem gewissen Egoismus verdammt. Denn auch, wenn er sich „philanthropisch“ gebärdet, tut er das in der Regel nicht, weil er andere über sich selber stellt, sondern weil er selber gut und moralisch sein will, also den eigenen Auffassungen von Moral entsprechen. Womit er wieder in den eigenen Meinungen von „Gut“ und „Böse“ gefangen ist.

Man kann ja gar nicht abstreiten, dass die vielen Vorschläge – von welcher Seite auch immer – wenn sie zu einer allgemeinen Auffassung aller Menschen würden, vielleicht hilfreich und gut wären. Aber sie sind eben nicht allgemeine Auffassung aller, und lassen sich auch nicht allen anderen aufzwingen, wie viel man das auch versucht. Damit wird klar, dass all diese Denksysteme Utopien sind, ideal gedachte Systeme, die immer nur für den Teil der Menschheit Gültigkeit haben, der unter ihrem Einfluss steht. Damit sind all diese Systeme Ideologien: Versprachlichungen von Ideensystemen, die irgendwer irgendwann ausgedacht hat und die nun alle anderen beglücken sollen. Damit verkennen alle diese Denksysteme aber notwendig die Tatsache, dass sie eben nicht alleine sind auf der Erde. Das Paradies lässt sich wohl denken, aber nicht auf der Erde realisieren. Jeder Versuch einer solchen Realisierung kann nicht anders als egoistisch sein – für einen Einzelnen, eine Gruppe, einen Teil der Menschheit eben. Ideologien sind also die Grundlage für den Illusionismus und die Brutalitäten, die die Menschheit derzeit zu zerreißen scheinen.

Unsere Welt ist in diesem Sinne durch-ideologisiert.

Geht es anders?

Wie aber kann der Einzelne sich zu einem Gesichtspunkt aufschwingen, der das Ganze der Menschheit einschließt und die einzelne, persönliche, individuelle Handlung von dort aus betrachtet und beurteilt?

Wer nur genügend will, kann das leisten – der Mensch ist in seinen Gedankenbildungen frei. Wer also will, kann den Versuch machen, sich selber als ein Glied in der Gesamtentwicklung der Menschheit zu betrachten, und zwar als dasjenige Glied, in dem die Gesamtmenschheit und ihre Entwicklung ins Bewusstsein treten kann. Ob er sich so betrachtet, ist seine eigene Entscheidung, die jeder Mensch insbesondere bei vorbehaltloser Anschauung des zerstörerischen Charakters aller ideologischen Einzelgesichtspunkte auch treffen kann.

Was uns in der Regel hindert, einen solchen Gesichtspunkt für uns selber einzunehmen, ist die Bindung an die eigene, als einzig angenommene irdische Existenz. Denn die würde dann ja eventuell vom übergeordneten Gesichtspunkt aus sich ganz anders darstellen als ich es gewohnt bin – vielleicht viel weniger bedeutend, als ich mich selber immer gefunden habe, oder – vielleicht noch beängstigender – viel bedeutender (und darum noch viel wichtiger als alle anderen ….).

Vor allem wäre dann ja sozusagen die Grundlage weg, auf der ich immer alle Verantwortung auf die Urheber der mich jeweils tragenden Ideologie abwälzen kann. Und – das mag sehr ketzerisch klingen, gilt bei genauer Betrachtung aber uneingeschränkt – auch die Auffassung, dass der Mensch nur eine Existenz habe und diese sich in seinem materiellen Sein erschöpfe (alles Seelische und Geistige insofern nur ein Ergebnis materieller Prozesse sei und damit sekundär) ist eine Ideologie. Allein die Tatsache, dass man zur Formulierung dieser Auffassung das Denken benötigt – also durch Denken die Determiniertheit des Denkens feststellen will – zeigt, auf welchem Terrain man ist. Da ist ziemlich viel Glatteis. Warum kommt denn das determinierte Denken darauf, sich selber als determiniert anzusehen? Warum soll die Materie sich als allein gültiges Sein zeigen, indem sie im Menschen das Denken erzeugt, durch das sie diese Alleingültigkeit feststellt? Da haben wir manchen Zirkelschluss.

Wenn aber meine bisherige Art zu denken – immer bestimmt durch Auffassungen, die mir durch die Verhältnisse der Welt eintrainiert sind von Geburt an – nicht weiterführt, und wegen ihrer Bindung an den irdischen Einzelmenschen notwendig egoistisch und zerstörerisch werden muss, wo finde ich dann einen sicheren Halt? – Gar nicht. Den muss ich mir selber geben. Das ist eben der Charakter der Freiheit, dass sie sehr anstrengend ist, weil man alle Grundlagen selber immer wieder neu auferbauen muss.

Das ist auch etwas, was es für z.B. mittelalterliche Menschen gar nicht gab. Damals war die Welt nicht in derselben Weise materialistisch durchideologisiert wie heute. Auch viele östliche Gesellschaften leben heute noch in ganz anderen Verhältnissen als wir westlich ge- oder verbildete Menschen. Wenn wir auf dieser Erde zusammen leben wollen, müssen wir einander verstehen, und „Verstehen“ bedeutet eben für verschiedene Menschen auch Verschiedenes. Ist nicht die Auffassung allgemein vorherrschend, wir Heutige allein hätten der Weisheit letzten Schluss gefunden, viel mehr jedenfalls als unsere Vorfahren? Sind wir nicht einfach nur ganz anders als sie, und können sie erst wieder verstehen, wenn wir uns in ihre Art des Verstehens hineindenken können?

Und ein Weiteres ist zu bedenken. Wer sich als Glied einer Entwicklung betrachtet, orientiert sein Urteil an einem Prozess, dessen Gesamtheit sich ihm erst nach und nach aus seinen eigenen Verständnisbemühungen ergibt. Ein solcher Mensch schafft also maßgeblich an seinen eigenen Urteilsgrundlagen mit, kennt sie darum genauer und kann sie von den einzelnen Objekten und den an sie geknüpften Sympathien und Antipathien loslösen. Dadurch kann er sich selber zum Objekt werden und bei ausreichender Bemühung auch wahrheitsgemäßer beurteilen lernen. Manch einer fürchtet sich davor – also vor sich selber, ungeschminkt betrachtet. Die Verlässlichkeit des eigenen Urteils gewinnt aber dadurch.

Freiheit

Die Freiheit, in die der Einzelne gestellt ist in unserer Zeit, existierte für unsere Vorfahren gar nicht in derselben Weise. Darum waren die Gesellschaften der Vergangenheit auch anders konfiguriert. Sie waren darum nicht schlechter oder besser als unsere heutige – für uns Heutige würden sie vielleicht gar nicht mehr passen, das stimmt – sondern einfach nur für andere Menschen. Die Menschen entwickeln sich ja auch durch die Jahrhunderte und Jahrtausende.

Und für uns heutige ist eben die Freiheit, selber für das eigene Denken einzustehen und es zu verantworten, ein Ergebnis der Verhältnisse. Wir können ja sehen, dass keine der Parteien für die ganze Menschheit spricht. Wenn wir diesen Gesichtspunkt geltend machen wollen, den der Gesamtmenschheit, können wir damit nur bei uns selber anfangen, aus freiem Wollen. Diese Freiheit schließt aber zweierlei ein:

  • die Einsicht, dass jeder andere Mensch prinzipiell in derselben Lage ist in Punkto Freiheit
  • die Einsicht, dass jede Ablehnung der eigenen Freiheit und der an sie gebundenen Absichten zu eben jenen Sichtweisen – Ideologien – gehört, die andere Menschen-Meinungen ausschließen müssen, notwendig also gegen die Freiheit aller Andersmeinenden gerichtet sein muss. Es gibt in diesem Zusammenhang auch eine Ideologie der „Meinungsfreiheit“, die darin besteht zu sagen, dass es eben keine Wahrheit gibt, nur Meinungen; eine solche Ansicht rechtfertigt darum die derzeitige Menschheitssituation, in der sich eben die Meinungen durch Macht bekämpfen, und erklärt sie für dauerhaft unvermeidbar. Wenn nun jemand sagt, Machtdemonstration sei in diesem Fall nicht zulässig, stellt er wieder seine persönliche Auffassung von Moral über die des Anderen, der vielleicht meint, Meinungen könnten sich nur durch Machtausübung und Erfolg oder Misserfolg im Leben als wahr oder unwahr herausstellen. Das hilft also auch nicht weiter. Nur die Freiheit gibt einen Ausgangspunkt, der keinen anderen ausschließt.

Es handelt sich also um eine Grundsatzentscheidung, entweder aus freier Entscheidung sich (die aktuelle irdische Person) zum Funktionär der Entwicklung der Gesamtmenschheit zur Freiheit zu machen, oder die eigenen, irdischen Parteiinteressen über andere, widerstrebende Interessen zu stellen.

Freiheit ist anstrengend, wie schon gesagt.

Übersicht schafft Zusammenhang

Denkt man genau, so wird schnell klar, dass mit Einbeziehung der Freiheit jeder Mensch in seiner Gänze nur verstanden werden kann, wenn er nicht auf einen irdischen Lebenslauf (und schon gar nicht auf das dabei stattfindende Innenleben der Seele) begrenzt gedacht wird, sondern seine Voraussetzungen (äußerlich-leiblich, seelisch, geistig) ebenso wie die Wirkensfolgen durch seine Taten (ebenso äußerlich-leiblich, seelisch, geistig) ihm auch zugerechnet werden. Der Gedanke einer – wie immer im Einzelnen auch gedachten – wiederholten Verkörperung der menschlichen Individualität wird damit unabweisbar. Unvollkommenheiten und Misserfolg in diesem einen irdischen Leben können dann in anderem Licht erscheinen.

Eine Tat ist es dann auch, ob sich ein Mensch entscheidet, sich auf die Suche nach seiner wahren Aufgabe im Menschheitsganzen zu machen, indem er sich frei macht von den Vorbetern der verschiedenen kirchlichen, wissenschaftlichen und anderen ideologischen Denksysteme und Schulen. Es kostet diese Entscheidung jeden Tag immer wieder Kraft, die vor allem dafür aufgewendet werden muss, das eigene Denken, Fühlen und Tun daraufhin zu durchleuchten, ob es wirklich eigenes ist, oder doch nur wieder Nachgeplapper welcher Ideologie auch immer.

Jeder Einzelne kann diese Kraft aber aufbringen, sie ist in uns allen angelegt. Wir müssen sie nur gebrauchen, üben, immer weiter entwickeln.

Vollmenschliche Zukunft

Der Weg in eine vollmenschliche Zukunft der Menschheit insgesamt geht damit durch den frei und bewusst sich in den Dienst an dieser Zukunft stellenden individuellen Menschen, der damit einem allgemeinen Gesetz dient, ohne ihm unterworfen zu sein, ohne also seine Freiheit einzubüßen. Der Mensch ist in diesem Sinne die Auflösung des Dilemmas, in das er hinein gestellt ist.

Der einzelne Mensch, der sich darum bemüht, erkennt von dieser Warte aus den auch irdisch-persönlichen Wert seiner individuell erlebten Welt – einschließlich aller darin vorkommenden Menschen* – für die eigene Weiterentwicklung ebenso wie für diejenige aller anderen. Und er kann dabei lernen einzusehen, wie ohne den frei denkenden Menschen – also konkret ohne ihn selber – keine vollmenschliche Entwicklung in die Zukunft hinein möglich ist. Sonst regieren weiter Ideologien über die Menschen, bis hin zur völligen Zerstörung.

So wie bisher kann es eben nicht weitergehen.

© Stefan Carl em Huisken 2022

*In gewissem Sinne kommen ganz grundsätzlich ja mittelbar alle Menschen in jeder individuellen Lebenswelt vor. Der Einzelne ist sich ihrer nur in unterschiedlichem Grad bewusse, je nachdem sie ihm näher oder ferner stehen.



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