Wer ist Mitglied der allgemeinen anthroposophischen Gesellschaft? – Eine Stellungnahme
Vorbemerkung: Für manchen Leser, der mit Fragen der anthroposophischen Gesellschaftsbildung nicht oder wenig vertraut ist, mögen die folgenden Ausführungen seltsam, überflüssig oder unverständlich klingen. In diesem Fall ist es das Einfachste, nicht weiter zu lesen. Falls aber doch Fragen entstehen, kann man sich gerne an mich wenden.
Das Nachdenken über die Existenz oder Nichtexistenz der allgemeinen anthroposophischen Gesellschaft, die zu Weihnachten 1923/24 in Dornach unter der Leitung von Rudolf Steiner begründet wurde, zieht sich ja durch die Jahrzehnte seit diesem Gründungsakt. Daran knüpft sich auch die Frage nach der Mitgliedschaft in dieser Gesellschaft. Der Versuch, diese Fragen nach der heutzutage üblichen Methode der Interpretation vergangener Prozesse anhand von Zeugenaussagen und vorhandenen Dokumenten zu entscheiden, hat vor allem zu Einem geführt: einer Vielzahl möglicher Standpunkte, die mehr oder weniger – meist weniger bis überhaupt nicht – vereinbar erscheinen und sich teilweise heftig bekämpfen.
Meine eigenen Überlegungen und Erfahrungen dazu mögen ja vielleicht für den Einen oder Anderen von Interesse sein, weswegen ich hier eine Art Essenz davon referiere. Dabei muss ich auch einiges Persönliche mitteilen; ich tue dies nur, um daran aufzuzeigen, wie sich die zugrunde liegenden geistigen Verhältnisse gleichsam symptomatisch im Leben aussprechen können.
Mitte der 1970er Jahre mit der Anthroposophie in Berührung gekommen, war ich sofort unheilbar infiziert; die Anthroposophie ist seitdem untrennbares, prägendes Glied meines Lebens. Durch Andreas Delor zur Anthroposophie gebracht, begegnete ich bald eindrucksvollen Persönlichkeiten wie Gerhard Kienle, Heinz und Christel Frankfurt, Christof Lindenau, und dann auch – wiederum durch Andreas Delor vermittelt – Sigurd Böhm, dessen kompromissloses Denken mich zu den eigenen Wurzeln rief, was dann letztlich auch dazu führte, dass ich wieder aus seinem Umkreis entfernt wurde.
Sobald ich von der Weihnachtstagung 1923/24 erfahren hatte, betrachtete ich mich wie selbstverständlich mit denjenigen Menschen geistig verbunden, die daran teilnehmend damals den „Grundstock“ der anthroposophischen Gesellschaft gebildet hatten. In den Schicksalsfügungen, die mich immer tiefer in die Anthroposophie leiteten, sah ich einen Ausdruck des „Willkommensgrußes“ in ihrem Kreis. Dieser „Grundstock“ und die freie Zuordnung des Individuums zu ihm ist für mich eine geistige Tatsache, die unauslöschlich Bestand hat.
Der äußeren Institution – den entsprechenden Vereinen in der Schweiz und in Deutschland – stehe ich sehr distanziert gegenüber. Ich sehe sie als vergängliche Zeiterscheinungen, die mit der geistigen Realität zu einem großen Teil nicht übereinstimmen.
Die Begegnung mit Bernd Lampe führte zu dem Wunsch, an den von ihm geleiteten Hochschulstunden teilzunehmen. Dies war aus den Verhältnissen der Zeit heraus (1990er Jahre) nur möglich durch eine Beitrittserklärung zur Anthroposophischen Gesellschaft und in der Nachfolge durch Aufnahme in die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft auf entsprechenden Antrag.
Weder auf der rosa noch auf der blauen Karte steht irgendein Hinweis auf den Charakter der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft oder der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland als Verein, d.h. einer äußeren Institution, die der jeweils am Ort gültigen Rechtsordnung unterworfen ist. Auch die damals verwendeten Beitrittsformulare enthielten solche Hinweise nicht. Inwiefern stillschweigendes Einvernehmen zum Beitritt in solche Vereine von irgendwem vorausgesetzt wurde, vermag ich nicht zu sagen. Mein Einverständnis zu einem entsprechenden Vereinsbeitritt habe ich jedenfalls niemals gegeben.
In der Folge habe ich nach meinen Möglichkeiten Beiträge an den für mich relevanten Zweig Friesland geleistet; diese Beiträge waren von mir so gewollt und bedurften keiner Mitglieds- oder Finanzordnung irgendeines Vereines.
Das gesamte Szenario von Fragen um die Mitgliedschaft begann zu brodeln, als Anfang der 2000er Jahre finanzielle Unregelmäßigkeiten im Verein der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland auftauchten. In der Folge suchte und fand ich Möglichkeiten, Beiträge auch wirtschaftlicher Art zu demjenigen zu leisten, was mir als der geistige Sinn der anthroposophischen Arbeit in der Gesellschaft vorschwebte.
In einem Briefwechsel mit verschiedenen Personen im Arbeitszentrum Nord, in der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland und im Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft in Dornach wurden dann einige Feststellungen getätigt, die von niemandem ausdrücklich bestritten wurden:
- Ich bin Mitglied der am 28. Dezember 1923 begründeten Anthroposophischen Gesellschaft und auf dieser Grundlage Mitglied der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft.
- Ich bin niemals Mitglied eines anthroposophischen Vereines – weder im ehemaligen Bauverein (heute AAG e.V. in der Schweiz) noch im Großverein AGiD e.V. in Stuttgart geworden. Insofern konnte ich auch dort nicht austreten, und satzungsgemäße Rechte und Pflichten dieser Vereine betrafen und betreffen mich nicht.
Bemerkenswert ist, dass in vielen der Schreiben immer wieder die Frage der finanziellen Mitgliedsbeiträge in den Vordergrund gerückt wurde. Ist die Mitgliedschaft in der Anthroposophischen Gesellschaft für die Verfasser solcher Schreiben vorrangig eine Frage finanzieller Art? Dieser Eindruck konnte dabei entstehen.
Die Mitgliedschaft in der anthroposophischen Gesellschaft, die ja nach Rudolf Steiners Worten nichts mit Vereinsmäßigem zu tun habe, entsteht also durch den freien Zusammenschluss von Individuen, dessen Vollzug äußerlich durch eine Mitgliedskarte dokumentiert ist. Ein Ausscheiden kann daher ebenso nur im Einvernehmen erfolgen, weswegen die ursprünglichen Statuten auch keinen Ausschlußparagrafen enthielten. Bei einem äußeren Verein, dessen Interessen als irdisches Rechtsinstitut ja über den Interessen des einzelnen Mitgliedes rangieren können, ist ein solcher Ausschluss möglich.
Bezüglich eines Ausschlusses aus der Freien Hochschule muss die Frage aufgeworfen werden, welche der jeweils am Goetheanum tätigen Personen sich als fähig und berechtigt ansehen konnte bzw. kann, einen solchen Schritt als Massnahme der Leitung der Hochschule wirksam zu vollziehen. Soweit ich weiß, hat Rudolf Steiner vor seinem Hingang keinen Nachfolger benannt. Wer kann also hier in seinem Sinne handeln?
Die Begründung der anthroposophischen Gesellschaft durch den „Grundstock“ zu Weihnachten 1923/24 ist also eine geistige Tatsache, die nicht ausgelöscht werden kann. Die nachträgliche Zuordnung eines individuellen Menschen zu diesem „Grundstock“ (einschließlich derjenigen, die ihm nachträglich angewachsen sind) ist eine Frage des freien Individuums an diesen „Grundstock“; eine lebenswirksame Antwort kann der heutigen Situation entsprechend (viele der ursprünglichen Mitglieder des „Grundstockes“ haben ihr irdisches Leben bereits beendet) nur auf dem Wege von Schicksalsfügungen im Leben des fragenden Menschen gegeben werden. Einzelne oder mehrere Vertreter irgendeines Vereines können wohl Mitwirkende in solchen Schicksalsfügungen sein (z.B. Unterschriften auf Mitgliedskarten leisten), niemals aber ohne das Einverständnis des Betroffenen, allein aus ihren Gesichtspunkten heraus, die Ergebnisse solcher Fügungen für ungültig erklären.
Kurzum, mir scheint in der gesamten Diskussion um diese Fragen oftmals die Unterscheidung zwischen geistigen Tatsachen, die aufgrund wirksam vollzogener Handlungen entstanden sind, und äußeren Verwaltungsakten, die doch – wenn sie als voll berechtigt gelten wollen – immer nur Ausdruck geistiger Realitäten sein können, nicht klar genug zu Bewusstsein gebracht zu werden.
Nur der Vollständigkeit halber sei zum Abschluss darauf hingewiesen, dass Rudolf Steiner vielfältig und immer wieder darauf aufmerksam machte, dass geistige Initiativen, wenn sie zu irdischen Institutionen werden, verkannt werden und sich in ihr Gegenteil verkehren müssen. Beides gut voneinander zu unterscheiden, und die äußere Institution, wenn sie ihrem Zweck nicht mehr angemessen dient, aufzugeben oder wenn möglich gänzlich neu zu fassen scheint für manche Menschen schwer oder gar nicht denkbar. Notwendig könnte es trotzdem sein.
© Stefan Carl em Huisken 2022
Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart habe ich dargestellt in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können.