Moralpredigten helfen nicht – was kann Mitteleuropa beitragen?

Eine ungeheure Welle moralischer Empörung rollt durch die Welt, insbesondere durch diejenigen Länder, die sich als dem sogenannten „Wertewesten“ zugehörig betrachten. In immer höheren Tönen verdammt man den russischen Aggressor, verbunden mit ebenso vielen Beteuerungen der eigenen moralischen Integrität.

Man täte vielleicht aber gut daran, ganz nüchtern zu erwägen, worüber man hier eigentlich spricht. In lapidarer Weise fasst das ein Wort von Egon Bahr zusammen: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“1 Und da der Krieg ja bekanntlich als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln angesehen wird, muss man diesen Satz wohl auch auf Kriege anwenden; hier liegt seine Gültigkeit ja sogar unmittelbar auf der Hand.

Seit Jahrzehnten wird die internationale Politik geprägt von wenigen großen und mächtigen Staaten: vor allem die USA mit ihrem Anspruch, die „einzige Weltmacht“ zu sein2, dann aber Russland, das sich nach seiner zeitweiligen Übernahme durch vom Westen gesteuerte Politiker wieder auf seine eigenen Grundsätze stellen will, und schließlich China. Europa, insbesondere Mitteleuropa spielt keine besondere Rolle, da es durch die von den USA dominierte NATO und durch Einbindung in von den USA gesteuerte Personal- und Organisationsstrukturen praktisch wenig oder kaum eigene, souveräne Entscheidungen treffen kann (bzw. durch die entscheidenden Personen überhaupt treffen will). Rein geografisch, aber auch im Hinblick auf die Geschichte ist für Europa das Verhältnis zwischen den USA und Russland prägend.

Da lohnt sich ein Blick auf die Interessen dieser beiden. Sie sind ja klar genug öffentlich formuliert und nachvollziehbar, ihre Hintergründe leicht ersichtlich.

Die USA sind – zumindest in ihrem Selbstverständnis – dasjenige Land, das die größten Erfolge in der Bemeisterung der äußeren Welt, zum Zwecke eines möglichst großartigen Lebens in dieser Welt errungen hat. Rein äußerlich ist dies auch stimmig, wenngleich in Rechnung gestellt werden sollte, welche Rolle dabei aus Europa „importierte“ hochkarätige Wissenschaftler besonders nach 1945 gespielt haben. Daraus ergab sich ein Lebensstil, der auch in Sachen Ressourcenverbrauch und Umweltzerstörung führend in der Welt ist. Dieser Lebensstil definiert aber das Selbstverständnis von „Great America“ maßgeblich mit, und ist deswegen etwas, worauf man nicht verzichten will – jedenfalls, was die wesentlichen, entscheidenden Kreise betrifft. Da die eigenen natürlichen, technologischen und menschlichen Ressourcen Nordamerikas dafür schon lange nicht mehr ausreichen, ist man dazu übergegangen, die Ressourcen eben auf dem Wege der heißen oder kalten Eroberung den Menschen anderer Weltgegenden wegzunehmen.

Das wird zwar immer schwieriger, da sich immer öfter die zu Erobernden wehren, mit der Folge höheren Aufwandes für die Eroberung, was wieder zusätzliche Ressourcen fordert; aber bisher hat es noch immer geklappt, insbesondere durch die Einbeziehung von Staaten (wie vielen der europäischen), die man hat veranlassen können, ihre eigenen Interessen denjenigen der USA unterzuordnen. Hierbei spielt das Moralisieren als psychologisches Massensteuerungsmittel eine große Rolle.

Kurz gesagt, liegt das Interesse der USA auf der Fortsetzung ihres zerstörerischen Lebensstiles (den sie möglicherweise in großen Teilen gar nicht als solchen erkennen!), wofür die Ressourcen (nicht die Menschen) anderer Länder benötigt werden. Menschen braucht man dafür nur insofern, als sie einem möglichst die Kastanien aus dem Feuer holen sollen; das ist ansonsten nämlich anstrengend und risikobehaftet, und man hält es daher mehr für andere Menschen geeignet als für Amerikaner, die ja auf ihrem eigenen Kontinent, weitab von den europäischen Konfliktfeldern leben.

Dieser Lebensstil als der eigentlich „beste“, die zugehörige Denkweise und die Akzeptanz für das Dominieren der USA wurde nach dem 2. Weltkrieg im 20. Jahrhundert gezielt in der Kultur West- und Mitteleuropas verankert3 und wirkt bis heute tiefgreifend fort4.

Dem steht im wiedererstarkten Russland ein ganz anderes Welt- und Menschenbild gegenüber. Der russische Präsident Putin und weitere Angehörige der russischen Regierung formulierten es aus, im Dezember 2021 zunächst in einem umfassenden Vorschlag zur vertragsmäßigen Friedenssicherung in Europa und der Welt. Näher am persönlichen Empfinden und gerade im Zusammenhang mit den Vorgängen und Auseinandersetzungen in der Ukraine sprach Wladimir Putin davon. Ich zitiere hier eine Meldung der russischen Agentur Sputnik vom 10. März 2022:

Russland kann nicht in „gedemütigtem Zustand“ existieren – Putin

Nach Ansicht des russischen Präsidenten nehmen viele Länder einen untergeordneten Platz ein und treffen alle Entscheidungen unter Berücksichtigung der Meinung „ihres Souveräns“. Russland könne sich eine solche Position allerdings nicht leisten.

»Wir alle wissen gut, dass sich viele Länder bereits daran angepasst haben, mit gebeugten Rücken und alle Entscheidungen ihres Souveräns 20 Mal treffend zu leben. Russland kann in einem solchen Zustand, einem erbärmlichen, gedemütigten Zustand nicht existieren.«“5

Man sieht deutlich: hier geht es um ganz andere Interessen als Ressourcenbeschaffung und Ähnliches. Wladimir Putin spricht das Gefühl der eigenen Würde an, des Geachtet-Werdens, das durch das Verhalten der USA, die die in den russischen Vertragsvorschlägen formulierten Sicherheits-Interessen schlicht unberücksichtigt gelassen haben, verletzt wurde. So musste man in Russland annehmen, was ja auch vielfältig im Westen angedeutet und formuliert wurde, dass man eben im Westen kein Interesse an den Bewohnern Russlands und ihrer Souveränität im eigenen Land hat, sondern nur an ihren Bodenschätzen, an denen Russland ja reich ist. Das Verhalten der USA in den letzten Jahrzehnten (siehe Syrien, Irak, Iran, Libyen, Jugoslawien, Afghanistan) legt eine solche Annahme nahe; in der Denkweise des Westens erobert sich der Mensch seine Würde ja gerade durch seine Freiheit, nach Gutdünken schalten und walten zu können.

Nun soll an dieser Stelle eben deutlich werden, dass moralische Argumentationen hier gar keinen Sinn haben. Jede Seite hat ihre eigene Auffassung von Moral, und diese Auffassungen sind unvereinbar: der Nützlichkeitsmoral des Westens, der vor allem fragt, wie ihm der andere für seine Interessen dienen kann, steht die Auffassung vom souveränen Menschen gegenüber, dem einfach durch seine Existenz die Würde eignet.

Insbesondere der Nützlichkeitsgedanke hat erst einmal gar keinen Bezug zu irgendetwas Moralischem, ist durch sich selber a-moralisch. Aber die Art, wie Russland seine Sichtweise vertritt, will ja die eigene, immanente Moralität (das, was man unter Menschenwürde versteht) niemandem aufzwingen; sie wird als eigenes Interesse gleichsam neutral dem anderen Interesse gegenüber gestellt. Diese beinahe religiös anmutende Vorstellung von Würde hat etwas Ehrwürdiges, Konservatives: die Idee der individuellen Freiheit, wie sie im Westen im Vordergrund steht, ist damit nicht leicht vereinbar, rangiert doch die Lebensmöglichkeit des Volkes, der Nation, die Würde der Gesamtheit „Russland“ über dem einzelnen Individuum. Möglichkeiten für Missverständnisse sind hier viele.

Was wir in den Weltvorgängen derzeit erleben, ist das Aufeinanderprallen beider geistig so verschiedenen Interessenssphären. Im Osten versteht man aufgrund des eigenen Menschenbildes sehr gut, wie der westliche Mensch in seiner Nützlichkeitsorientierung denkt. Das nimmt man ihm nicht grundsätzlich übel, besteht aber auf einem Interessensausgleich. Der westliche Mensch hat es schwerer. „Menschenwürde“ ist ihm etwas, was mit materiell fassbarer Nützlichkeit für das irdische (Wohl-)Leben erst einmal nichts zu tun hat; man erringt sie doch erst durch Erfolg im materiellen Leben. Daher liegt es nahe, solche Begriffe wie „Würde“ vor allem psychologisch als Werkzeuge zur Durchsetzung eigener Interessen anzusehen (mit Moral kann man viele Menschen lenken) – und auf diese Art die andere Seite völlig misszuverstehen.

Wie schon gesagt, es geht hier nicht darum, die eine oder andere Denkweise zur „Richtigen“, „Besseren“ oder „Höheren “ zu erklären. Beide Denkansätze haben auf ihrem Felde ihre Berechtigung. Darum wird auch jeder Versuch, nur dem Einen oder dem Anderen zu folgen, auf die Dauer notwendig fruchtlos sein. Nein, es geht darum, in voller Achtung des Anderen aus den natürlichen, technologischen und menschlichen Ressourcen, über die jeder verfügt, für ALLE das Beste zu machen. Das geht nur in verlässlicher, vertrauensvoller Zusammenarbeit. Lügen und Missachtung des Anderen haben da keinen Platz und müssen durch das ständige Bemühen um Verstehen des Anderen ersetzt werden.

Vielleicht wäre es den europäischen Menschen, insbesondere ihren Entscheidungsträgern einmal nahe zu legen, sich auf die eigenen Möglichkeiten zu besinnen, die doch in der Vergangenheit aus vielfältigen Bindungen in beide Richtungen entstanden sind und den besonderen mitteleuropäischen Geist ausmachen; einen Geist, der beiden Seiten zu fehlen scheint.

Nur von hier aus kann das Eine mit dem Anderen zusammengeschaut werden, und so im Gespräch nach beiden Seiten die jeweils andere Seite verständlich gemacht werden. Dafür wäre es allerdings nötig, insbesondere das Nützlichkeitsdenken des Westens vorurteilslos anzusehen, und dabei die Verwendung moralischer Kategorien als psychologische Kampfmittel zu durchschauen; die Infiltration westlichen Denkens in die mitteleuropäische Kultur hat den Mitteleuropäern, besonders den Deutschen hier Hürden aufgerichtet. Vielen westlichen Menschen ist es eben nicht gegeben, Moralität als unverzichtbare Eigenschaft ihrer selbst zu sehen; und wenn, dann nur begrenzt auf den gänzlich privaten, religiösen Bereich.

Beide Seiten wirklich verstehen, ganz innerlich, kann wohl vor allem der mitteleuropäische Mensch. Er sollte diese Qualität, die ihn vom westlichen Nützlichkeitsdenken ebenso wie vom östlich-relgiös getönten Feiern der Menschenwürde unterscheidet, ja, die sich ihm vielleicht auch einfach durch seinen Lebensraum als Prellbock zwischen Ost und West ganz naturgemäß ergibt, stärker als seinen eigenen, mitteleuropäischen Beitrag zum Zusammenleben in der Welt einbringen, nüchtern, klar und ohne Moralpredigten ebenso wie ohne Machtgelüste. Beides hat in Mitteleuropa genügend Schaden angerichtet.

© Stefan Carl em Huisken 2022

1Sehr schön im Kontext dargestellt hier: https://schicketanz.eu/2016-08-egon-bahr-es-geht-um-interessen/

2Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft. – Rottenburg, Kopp Verlag, 2015

3ausführlich dazu Frances Stonor Saunders: Wer die Zeche zahlt … Der CIA und die Kultur im Kalten Krieg. – Berlin: Siedler Verlag, 2001

4wie Thomas Röper zum Thema „Corona“ ausführlich deutlich machen konnte: Thomas Röper: Inside Corona. Die Pandemie, das Netzwerk & die Hintermänner. – Gelnhausen: J-K-Fischer, 2022

5vgl. https://t.me/snanews_de vom 10. März 2022


Hier finden Sie geisteswissenschaftliche Beträge, die das hier besprochene Thema ergänzen und erweitern können:
https://emhuisken.de/wordpress/2022/02/furcht-und-angst-schluessel-zur-gegenwart-des-menschen/
(auch als Broschüre bestellbar: https://emhuisken.de/wordpress/produkt/die-lahnung-sonderheft-1-furcht-und-angst-schluessel-zur-gegenwart-des-menschen/)
ebenso mein Buch von 2021: https://emhuisken.de/wordpress/produkt/wahnsinn-und-denken-der-kampf-um-den-menschen/