Schicksal und Freiheit – Tore der Zukunft

Schicksal und Freiheit erscheinen uns zunächst wie unversöhnliche Gegensätze – das Schicksal zwingt uns unerbittlich, und die Freiheit will allen Zwang unwirksam machen. Die Ereignisse der Zeit, in der wir leben, geben zu einer solchen Ansicht vielfach Anlass. Dass Schicksal und Freiheit nicht wirklich Gegensätze sind, und dass beide uns vielmehr Eingangstore zu einer Zukunft werden können, in der die beiden Seiten des menschlichen Lebens, auf die diese Worte verweisen, sich ergänzen und zu einer neuen Gegenwart des Menschen im Weltgeschehen führen können, soll in den hier geschilderten Denkwegen aufgewiesen werden.

Daraus ergibt sich zugleich ein Hinweis auf die Rolle des Denkens im heutigen Menschen: für das Eindringen in geistige Zusammenhänge ist zunächst nichts als dieses Denken selber notwendig; „Geistesschau“ im Sinne sogenannter „Hellsichtigkeit“ muss dafür nicht in Anspruch genommen werden. Dieses Thema soll in späteren Beiträgen weiter ausgearbeitet werden.

Schicksal

Was wir im Laufe unseres Lebens in der Welt erleben, kann ganz unterschiedliche Formen annehmen, Formen, die uns gefallen oder missfallen, mit denen wir uns leichter oder schwerer verbinden können und die uns mehr oder weniger Freude oder Leid bereiten. Damit ist aber nur eine Art „Außenseite“ der erlebten Tatsachen und Verhältnisse angedeutet. Was unsere Erlebnisse viel fundamentaler in zwei grundsätzlich verschiedene Arten gliedert, ist der jeweilige Quell ihres Auftretens.

Im Schicksal begegnen können uns Gegenstände und Verhältnisse der Außenwelt ebenso wie solche, die unserer eigenen seelisch-geistigen Innenwelt entstammen. Süchte, Sehnsuchten, Strebensrichtungen, Erkenntnisweisen, Gewohnheiten und vieles mehr liegen in uns genauso als Gegebenheiten vor wie die Verführungen und Notwendigkeiten der uns umgebenden Welt. All dies, was uns im Erleben auf bestimmte Wege lenkt, macht unser Geschick aus, im Wortsinne also das, was für uns passend und geeignet scheint und als solches uns „geschickt“ wird, oder – anders gesagt – was „Gott“ oder „die Vorsehung“1 uns als zu Erlebendes auferlegt. Wir umfassen es mit dem Worte „Schicksal“.

Einer Auffassung, die nur dasjenige, was uns in der äußeren, durch unsere Sinne erlebten Welt begegnet, als „Schicksal“ ansehen möchte, sei entgegengehalten, dass zunächst unsere inneren, geistig-seelischen Lebensverhältnisse ebenso unausweichlich vorbestimmt sind wie diejenigen der Außenwelt; erst mit zunehmender Bewusstwerdung lernen wir nach und nach, die gegebenen Verhältnisse umzugestalten, innen wie außen. Es bleibt aber allzeit genügend Unbearbeitetes auf allen Lebensgebieten übrig, um das „Schicksal“ als eine gleichermaßen innerlich wie äußerlich auftretende, das ganze Leben hindurch vorhandene Tatsache anzusehen.

Als „Schicksal“ kann also die Gesamtmasse all desjenigen angesehen werden, was uns im Gang des Lebens im Gegebenen vorgesetzt ist und uns bestimmt. Umfang und Charakter dieses Gegebenen können sich im Laufe unseres Lebens – auch durch unsere eigenen Aktivitäten – fortlaufend verändern. Dennoch bleibt immer ein Anteil an Lebenseinflüssen, die wir nicht oder kaum vorhersehen und kontrollieren können. Das „Schicksal“ tritt uns gleichsam in unausweichlicher Notwendigkeit entgegen; sein Quell scheint uns unzugänglich und kaum beeinflussbar.

Freiheit

Ganz anders dagegen tritt dasjenige auf, was wir als unsere eigenen Taten der schicksalsbestimmten Innen- und Außenwelt entgegentragen. Auch wenn wir in vielen Fällen nicht genau sagen können, wie und warum wir gerade so und nicht anders handeln, so ist doch immer eines klar: es sind unsere eigenen Taten, wir stecken darin, sie gehen von uns selber aus, und wir selber sind Quell des Geschehens. Ohne uns selber – das ist unmittelbar einsichtig – fänden diese Taten nicht gleichermaßen statt.

Insofern knüpft sich heutzutage immer der Gedanke der Freiheit an alle Taten, die wir zu vollbringen trachten. Wohl sind wir uns in der Regel darüber im Klaren, dass unbemerkt Einflüsse aus anderen Quellen als uns selber uns zu dieser oder jener Tat veranlassen können; unbezweifelt bleibt dabei jedoch (wenn wir einmal von direkt krankhaften Situationen absehen), dass wir selber der Täter und damit für das Geschehen verantwortlich sind.

Nur – wer ist das eigentlich genau: ich selber? Diese Frage – einmal aufgetaucht – kann sich schnell zu einer der bestürzendsten Verunsicherungen ausweiten, die wir je erlebt haben. Natürlich, jeder von uns weiß dies oder jenes aus Erfahrung über sich selber zu sagen. Auch diverse Theorien über das Wesen des Menschen können zunächst den Anschein erwecken, die Frage nach uns selbst neutralisieren zu können. Es liegt aber im Wesen von Theorien als in sich gedanklich feststehender Erklärungssysteme, dass sie jederzeit vom konkreten Leben in Frage gestellt werden können (und werden!). Das weist uns darauf hin, dass die Frage nach uns selber eine ist, für deren Beantwortung niemals Sicherheit zu erlangen ist. Eben dies ist uns Garant der Freiheit; wären wir etwas Definierbares, Feststehendes, so wären wir nur eine Variation des Notwendigen. Für Freiheit bliebe da kein Raum. Wir würden dann zu einem Gegenstand, der uns wie die innere und äußere Welt im Sinne des Schicksales gegeben wäre, und an dem wir nichts verändern könnten.

Es stimmt ja, dass der Quell unseres Schicksales uns selbst erschaffen hat, wir uns sozusagen selber ein „Gegebenes“ sind. Dieser Quell hat aber auch die Tatsache über uns verhängt, dass wir mit unserem Ich zugleich den Urgrund des Freiheitsgedankens in uns tragen. Dadurch, dass wir den wahren Quell unserer selbst ebensowenig erlebend kennen wie den Quell unseres Schicksales (den man in der Regel „Gott“ oder ähnlich zu nennen pflegt), herrscht in der Frage der Selbsterkenntnis dieselbe Unsicherheit wie gegenüber der erlebten Innen- und Außenwelt.

Aber es gibt einen Unterschied: die Welt begegnet mir gleichsam „gottgegeben”, ohne dass ich unmittelbar etwas daran tun kann. Meine eigenen Taten sind aber ohne mich selber gar nicht denkbar. Darin liegt meine Freiheitsmöglichkeit: ich stecke in jeder meiner Taten zumindest mit-bestimmend darinnen.

„Freiheit“ ist also etwas, was mir nicht gegeben ist in derselben Weise wie die mich umgebende Welt, oder meine Talente, mein Leib, meine Wünsche und Ziele. Freiheit entsteht immer erst im Rahmen meiner Mitwirkung am Geschehen, nach Maßgabe meines Bewusstseins über die Quellen und Motive meines Handelns.

Ich und Person

So sind in jedem von uns zwei Seiten des Lebens ineinander geflochten: die schicksalhaften, gleichsam aus unentrinnbarer, meist unerkannter Notwendigkeit hervorgehenden Gegebenheiten einerseits, und die aus der Erkenntnisunsicherheit heraus von uns selber bestimmten, auf Freiheit orientierten eigenen Taten. Beide Seiten haben Anteil an dem, was wir sind und was wir werden können.

Es ist ja unbezweifelbar: was ich heute tue, ist morgen bereits Bestandteil des allgemeinen Geschehens geworden, das durch seine Folgen gewissermaßen unerbittlich nunmehr seine Anerkennung als Bestandteil der im Schicksal fortwirkenden Kraft fordert. Was getan ist, ist geschehen. Die Vergangenheit können wir nicht ändern, und war die Tat zum Zeitpunkt ihrer Ausführung noch so frei. Nun zwingt sie durch ihre Folgen.

So entsteht nach und nach ein Teil der mir zu Anfang noch gänzlich fremd gegenüber stehenden Schicksalswelt, mit dem ich fest verbunden bin, da ich mitgestaltend daran beteiligt war.

Alles, was an Bildungseinflüssen auf mich eingedrungen ist in der Form, dass es mein Mittun forderte – egal, ob ich es im Augenblick des Geschehens verstanden habe oder nicht – wird dadurch zu einem Teil meines Tuns in der Zukunft. Wie ich gehandelt habe in der Vergangenheit, prägt wie durch einen Übungseffekt die Art meines Handelns heute und in Zukunft mit. Diesen Teil unseres Lebens in der Welt können wir auch unsere Person nennen.

Wo ist der Unterschied zwischen mir und meiner Person2? Das Wort sagt es bereits: das lateinische per-sonare bedeutet soviel wie „hindurchklingen“. Durch all meine Taten klingt also immer auch dasjenige mit, was mich aus Schicksalseinflüssen und eigenen (mehr oder weniger freien) Taten bis hierher gestaltet hat. Ich handele insofern durch meine Person; sie ist mein Werkzeug, durch das ich meine Willensimpulse im Tun mit der Schicksalswelt verbinden kann.

Die Person selbst kann insofern niemals frei sein. Sie ist bestimmt von den Einflüssen des Schicksals und von mir. Die Frage der Freiheit stellt sich daher nur für das menschliche Ich selber: wieviel Bewusstsein kann es im Augenblicke der Tat, das heißt also seines Wirkens durch die Person, von den Quellen und Motiven haben, aus denen dieses Tun hervorgeht? Wieweit lässt andererseits das Ich die Person gleichsam automatisch aus ihren gewordenen Bedingungen heraus wirken? Man sollte sich da nichts vorlügen: die Entscheidung, nicht selbst aus der Freiheit-tragendenden Unsicherheit heraus seine Person zu steuern, ist selber auch eine Tat, und wer so handelt, bleibt für sein Tun – hier in Form des Nicht-selber-tun-Wollens – verantwortlich.

Ein – ideal gedacht – freier Mensch hätte daher seine eigene Person im Sinne einer Selbsterziehung so gestaltet (und würde sie weiter so gestalten), dass bei jedem Geschehen bewusst entschieden würde, wo der Person – oder im weiteren Sinne dem Weltgeschehen – ein Weiterlaufen aus dem schon Erworbenen heraus „erlaubt“ würde, und wo der freie Mensch selber die Zügel in die Hand nimmt.

Ich und Welt

Was hier als Person beschrieben wurde, ist also gleichsam ein besonderer Weltgegenstand, der nicht rein aus der „göttlichen Vorsehung“, also unabhängig von meinem bewussten Einfluss entstanden ist, sondern mein Mitgestalten einbezieht. Nichtsdestoweniger ist diese Person zu jedem Zeitpunkt Bestandteil des Gewordenen, also aktuell desjenigen, was in einem bestimmten Zeitpunkt mein Schicksal ausmacht. Zu einem Teil habe ich da mein Schicksal mitgestaltet.

Das ist aber nur derjenige Teil der Welt, an dem ich meine Mitwirkung und ihre Ergebnisse im Prinzip selber beobachten und berücksichtigen kann. Ein anderer Teil meines Tuns prägt sich ja nicht in Veränderungen meiner eigenen Lebenskonfiguration aus, sondern in Ergebnissen und Taten, die sich mehr oder weniger von mir und meinem Leben ablösen und gleichsam „ihre eigenen Wege“ im Weltgeschehen gehen.

Oft genug kann es vorkommen, dass mir später im Leben Folgen meiner eigenen Taten begegnen, die ich als solche gar nicht sofort erkenne und die daher zunächst ungeschmälert den Eindruck als „vom Schicksal über mich verhängt“ auf mich machen. Erst wenn ich ihnen erkennend nachgehe, kann ich in ihnen freilegen, wie und wodurch ich sozusagen selber einen „Schicksalszwang“ über mich selber ausgeübt habe.

Wie aber ist es dann mit allen anderen Ereignissen, die mir im Schicksal als Weltvorgang begegnen, und deren Quell ich erst einmal gar nicht kenne? Leben darin – neben den ursprünglichen, anfänglichen „Schöpfer-Taten Gottes“ – nicht auch die Folgen der Taten unendlich vieler anderer Menschen, die in all den Äonen vor mir und auch heute, gleichzeitig mit mir gelebt haben und leben? Bin ich dadurch nicht unausweichlich verbunden mit allen anderen Menschen, die je auf der Erde gelebt haben und noch heute leben? Ist nicht – so angeschaut – jede meiner Taten auch mehr oder weniger schicksalsbildend für alle anderen Menschen?

Und ist nicht diese Welt, die ich erlebe, meine ganz individuelle, nur mir zu eigen und sonst niemandem? Geht es nicht jedem anderen Menschen im Grunde genauso wie mir? Dennoch: in den vielen unterschiedlichen, individuell erlebten Welten steckt eine gemeinsame Welt, in der, was der eine tut, auf den anderen wirkt und umgekehrt. Nur ist diese eine – ich nenne sie „wahre“ – Welt eine solche, die niemals ein einzelner lebender Mensch in ihrer Gänze erleben könnte – es sei denn, er wäre Gott.

Wollen wir als Menschen nun dieser „wahren Welt“ näherkommen, so bleibt nur ein Weg: und selber, unsere „Person“ immer mehr demjenigen ähnlich zu machen, was wir uns als den allwissenden, allmächtigen und allweisen Gott zu denken imstande sind. Nicht, um uns selber über diese „Wahre Welt“ zum Herrscher zu erheben, um sie unseren eigenen Wünschen also dienstbar zu machen. Das tun heutzutage viel zu viele Menschen, und es ist ein furchtbarer Quell von Leid und Unfreiheit. Wer sein Schicksal, in dem doch alle anderen Menschen auch vorkommen, nur den im eigenen Inneren als Gegebenes aufsteigenden, gewordenen Tendenzen überlassen will, löscht sich selber aus dem Weltgeschehen aus. Das läuft dann nur noch automatisch weiter, jedenfalls von mir und meiner freien Tat unbeeinflusst, das schon Geschehene fortsetzend in eine berechenbare Zukunft, in der das Ich des Menschen, das doch sein eigentlich Lebendiges und sich Entwickelndes ist, keine Rolle mehr spielt.

Je mehr Menschen so handeln, desto mehr wird allerdings die Welt auch bald keine Welt im bisherigen Sinne mehr sein, nur noch ein tot sich immer reproduzierender Mechanismus. Der Quell des Lebens, der heute dem Menschen in seinem Ich als Urgrund freier Taten übereignet ist, wird dann erlöschen. Wo es kein erlebendes Ich gibt, gibt es auch keinen zu erlebenden Schicksalsinhalt. Das alles ist dann durch ein feststehendendes, sich selber immer gleich wiederholendes Maschinenwesen ersetzt.

Wir können daran sehen: Ich und Welt, Freiheit und Schicksal können ohne einander nicht existieren. Das eine bedingt das andere, Freiheit braucht eherne Notwendigkeit für ihre Entfaltung und umgekehrt. Wie aber können so grundsätzliche Gegensätze miteinander existieren, die doch eigentlich unversöhnlich sind und gar nicht anders können, als einander auslöschen zu wollen?

Liebe

Die Vorstellungen, die wir uns im Verlaufe unseres Lebens als Zeitgenossen erworben haben, machen uns oftmals das Begreifen schwer. Wer nur fertige Begriffe sucht, die er auf das Weltgeschehen anwenden kann, macht sich zum Sklaven des Gewordenen. Wer ist es denn, um dessen Freiheit es geht?

Ist es die Gesamtheit meiner Wünsche und Vorlieben, die hier unbegrenzte Erfüllung sucht? Oder ist es ein Moralgesetz, im Innern auffindbar, das von mir Folgsamkeit verlangt, damit es frei wirken könne? In allen solchen Gedankengängen lebt nur ein Missverständnis dessen, was Freiheit sein kann. Freiheit braucht immer ein erlebendes Subjekt, dem sie zugeeignet werden kann. Weder meine Wünsche und Neigungen, noch ein Moralgesetz sind solche Subjekte: das kann nur das menschliche Ich sein.

Das erlebende Subjekt lebt aus der Existenz des erlebten Objekts, wie wir gesehen haben. Eines ist nicht ohne das andere. Das sich tätig erlebende Subjekt aber kennt sich selbst nicht – dann wäre es ja ein gegebenes, erlebtes Objekt. Es ist daher immer nur auf sich selber angewiesen, und gerade dadurch, in größter Unsicherheit – frei. Wie aber kann es selbst sich dann jemals in der Anschauung zu Bewusstsein kommen?

Der Weg dazu wurde auf einem begrenzten Feld schon aufgewiesen, in dem Prozess der Selbsterziehung im Gestalten der eigenen Person. Indem das freie Ich die eigene Person umgestaltet und so immer mehr zu einem Eigengeschöpf macht, wird diese Person immer geeigneter, in ihrem Erleben und Handeln sich von den Einflüssen der Vergangenheit zu befreien.

Nun kann es für eine solche „Handhabung“ der eigenen Person verschiedene Beweggründe geben. Es kann dies nämlich entweder erfolgen, um sich selber vom drückenden Erlebnis der Unfreiheit zu lösen, dem eigenen Drang zur Unbegrenztheit folgend, oder das Freiheitsstreben wird der Person zu eigen gemacht, um aller Unfreiheit und allem unbewussten, blinden Folgen den Einflüssen des Schicksals gegenüber das Ich und sein Streben nach Freiheit einzuverleiben. Die Freiheit des Ich wird dann eingesetzt, um allen anderen Tendenzen der Welt – die ja, wie schon angedeutet, aus dem gleichsam „göttlichen“ Schaffen ebenso wie aus den Taten aller Menschen als eine Notwendigkeit für den Menschen hervorgehen –, um diesen Tendenzen der Welt immer mehr die Freiheit einzupflanzen, ja, zu schenken.

Das Schicksal schenkte mir das Streben nach Freiheit und die grundsätzliche Möglichkeit zu ihrer Verwirklichung. Schenke ich sie aus freien Stücken weiter, in meinen Weltentaten, so wirke ich mit an der Befreiung der Welt und aller anderen Menschen.

Die eigene Freiheit zu verschenken, sich selber aus freien Stücken zum Helfer des Anderen auf seinem Wege zu sich selbst zu machen, ihm dafür zu dienen, das wird gewöhnlich mit dem Wort Liebe gefasst. Liebe und Freiheit können also gar nicht ohne einander auftreten; wirkliches Lieben um des Geliebten willen kann nur aus Freiheit hervorgehen, sonst wäre es nicht mehr als ein „Haben-Wollen“. Wirkliches Lieben schafft daher Freiheit – beim Geliebten.

Es ist darum bezeichnend, was eine sprachgeschichtliche Betrachtung des Wortes „frei“ ergibt. Es leitet sich ab von der (rekonstruierten) indogermanischen Stammsilbe *prijo- , die „lieb“ bedeutete. Das daraus gebildete gotische Wort frijōn hieß „lieben“, woraus sich das heute in seiner Bedeutung ja eingeschränkte Wort „freien“ ableitet. Im Angelsächsischen wurde daraus frēod für „Gunst“, das schon im Klang Ähnlichkeit zum daraus gebildeten „Friede“ zeigt. Freiheit, Liebe und Frieden sind also Wörter, die einer gemeinsamen sprachlichen Wurzel entstammen.3

„Liebe“ und „Freiheit“ waren also vor Urzeiten für die Menschen offenbar eines. Erst die neuere Zeit hat sie getrennt. Nun liegt es an uns, sie wieder zu einander zu bringen.

Das Schicksal frei gestalten

Worte verändern in der Regel ihre Bedeutung, indem sie Veränderungen im Bewusstsein der Menschen spiegeln. Wie lässt sich dies für die Auseinanderentwicklung der Bedeutungen von „Liebe“ und „Freiheit“ beschreiben? Warum stehen diese Worte heute für so verschiedene, ja gegensätzlich erscheinende Verhältnisse? Wie anders war das Erleben der Menschen in den alten Zeiten gegenüber der heutigen Zeit? Waren sie dem Geist der Freiheit und der Liebe näher als wir?

Vorstellbar wäre das. Vor Urzeiten erlebte der Mensch seine Umgebung noch als belebt von allerlei Wesen, sah sich eins mit ihnen und seiner Welt. Wir heutige betrachten uns ja in der Regel als völlig von den Anderen getrennte Wesen, jeder in seinen Leib eingeschlossen und von demjenigen abhängig, was diesen Leib betrifft; den Menschen als geistiges Wesen, unabhängig vom Leib, erleben wir nicht mehr unmittelbar, schon gar nicht eine wesenhafte Belebung unserer Umwelt. Mancher hält solche Vorstellungen auch für Einbildung.

Noch die Griechen sprachen allerdings von Gedanken als gegebenen (geistigen!) Realitäten, die sie wahrnahmen, und die darum überindividuell wahr sein konnten. Für uns Heutige ist das ungewöhnlich zu denken. Und doch: wie oben gezeigt wurde, führt folgerichtiges Denken zu der Einsicht, dass der Einzelne ohne liebendes Eingehen auf sein in der Welt sich aussprechendes Schicksal nicht zu wirklicher Freiheit, also zum Darleben seiner selbst kommen kann. Sein eigenes geistiges Wesen lebt sich also gewissermaßen mindestens zum Teil in der Außenwelt dar, genauer gesagt, in seinem Schicksal.

Vor Urzeiten, als die Sprache entstand, war wohl der Zusammenhang des Ganzen, von dem jeder Mensch nur ein Glied ist, und in dem der Eine nur leben kann durch den Anderen, den Menschen noch etwas Selbstverständliches. Aber das ergab sich auch so aus den Lebensbedingungen der Gemeinschaft, in der die Menschen lebten.

Aus dem Einzelnen, der sich als Glied der Gemeinschaft sah, entwickelte sich der individuelle Mensch in den Grenzen seinen persönlichen Leibes. War die Liebe bis ins Mittelalter noch die Freude an der Existenz des Anderen, so wird sie heute vor allem als Erfüllung eines (auch leiblichen) eigenen Begehrens aufgefasst. Der auf seinen Leib begrenzte Mensch tendiert zum Egoismus, wenn er zur Freiheit strebt.

Unser heutiger, eigentlich zeitgemäßer Weg zum Umgang mit der Welt, unserem Schicksal und dem Streben nach Freiheit fordert daher eine neue Grundlage. Notwendig ist dafür die Abkehr von geglaubten Inhalten, Moralideen und Theorien, und stattdessen das Ausgehen von demjenigen, was unser unmittelbares Erleben gibt: dem einzelnen Menschen, seinem Schicksal gegenüberstehend, gänzlich auf sein eigenes Denken und Handeln angewiesen. Will er zur Freiheit fortschreiten, so muss er sich aus sich selbst der Welt in Liebe handelnd hingeben, der Welt, durch die sein Schicksal spricht, und diese nach und nach in sein freies Handeln einbeziehen. Dadurch verbindet er seine Sehnsucht nach Freiheit und all das, was er durch die Verfolgung dieser Sehnsucht errungen hat, mit der Welt, und macht so sich selber – und die angestrebte Freiheit – zum Bestandteil des Welten-Schicksales (und damit auch seines eigenen). Dann erst wird ihm sein Schicksal auch so erscheinen können, dass es die Freiheit fördert und nicht einschränkt.

Liegt da nicht ein Gedanke nahe? Wenn ich selber ganz grundsätzlich die Möglichkeit habe, mich von allen Zwängen des Gewordenen zu lösen: ist das nicht der Beweis, dass ich unabhängig davon ein eigenes, geistiges Sein habe? Ist es dann nicht unabweisbar, von einem ewigen Kern meiner selbst zu sprechen, der vor dem Auftreten meiner gegenwärtigen irdischen Person schon da war und nach ihrem Ableben weiterbestehen wird? Bin ich selber in anderen Personen zu anderen Zeiten schon auf der Erde gewesen und werde es wieder sein? Dann wäre ich einer von den unzähligen Menschen, die vor meinem derzeitigen irdischen Dasein schon gelebt hätten, und meine damaligen Taten wären dem Weltgeschehen einverleibt. Was mir also als persönliches Schicksal begegnet: habe ich selber daran mitgewirkt, bin in manchen Fällen vielleicht selber der Ausgangspunkt von Ereignissen, die mich jetzt prägen?

Dann würde all das, was ich nun tue, Folgen tragen in der Zukunft, für alle Menschen und dann natürlich auch für mich in zukünftigen Leben. Mein mangelndes Freiheitsstreben, meine fehlende Liebe im Umgang mit der Welt, mit meinem Schicksal hätte Folgen, für mich, für die Anderen, denen ich begegne, für die Menschenwelt als Ganzes. Streben ich nur nach persönlicher Freiheit, dann überlasse ich die Welt dem ewig gleichen Maschinenwesen; dies wird dann in der Welt – und damit auch in meinem zukünftigen Erdenschicksal – immer stärker prägend werden und immer größere Anstrengungen von den Menschen fordern, die sich zur Freiheit und Liebe entwickeln wollen.

Die Liebe zur Freiheit des Einzelnen ohne die Liebe zur Freiheit aller Wesen in der Welt zerstört sich selbst. Der Mensch kann sich nur selber frei entwickeln, wenn er sein Schaffen zugleich der Entwicklung der Welt und aller Anderen zur Verfügung stellt. Dann erst wird er zum freien Mitgestalter seines Schicksales, im Verbund mit dem Schicksal der Welt und der Menschheit. Dann erst wird es ihm auch immer mehr möglich werden, im Fortgang durch die Erdenleben, in seinem Schicksal die Wirkung der eigenen, früheren Taten zu entdecken, ihr Verhältnis zum Ganzen der Menschheit und zu den einzelnen Menschen zu bestimmen, die ihm begegnen. Seine eigene Entwicklung und diejenige der Welt, in der er lebt, werden zunehmend zu Einem.

Vor Urzeiten empfand der Mensch sich wie von Gott schicksalhaft zum Aufgehen in der Gemeinschaft bestimmt; nunmehr kann er sich frei zum Mitgestalter des Schicksals aufschwingen, dem Ersterben der Welt im Immer-Gleichen neues Leben einhauchen und in der Liebe zum Leben der Welt seine eigene Freiheit finden.

© Stefan Carl em Huisken 2021

1Meinetwillen kann man diese Macht auch „Zufall“ nennen, wenngleich diese Benennung irreführend ist. Lebensprägend bleibt sie allemal.

2Rudolf Steiner spricht hier vom „niederen“ und „höheren“ Ich. Das „niedere“ Ich nenne ich Person.

3Dass wir heute ein zunächst einseitigeres Verständnis von Freiheit haben, und an die Stelle des Wortes „freien“ das „lieben“ getreten ist, hat mit der Bewusstseinsentwicklung der Menschheit zu tun. Darauf sei hier nur hingewiesen; die damit verbundenen Einzelheiten sprengen hier aber den Rahmen der Darstellung und müssen daher auf eine zukünftige Beschreibung warten.


Denkerische Grundlagen für meine Darstellungen zur Situation der Gegenwart habe ich veröffentlicht in meinem Buch „Wahnsinn und Denken. Der Kampf um den Menschen“, das Sie hier oder im Buchhandel bestellen können. Auch der oben angesprochene Weg der Selbsterziehung zur wahrer Erkenntnis wird darin angesprochen.