Friesische Kultur heute
Natur und Kultur stehen polar zueinander
Als Kultur wird in der Regel die Gesamtheit der durch den Menschen gestalteten Dinge, Verhältnisse, Abläufe und Zielbestimmungen bezeichnet (mithin also die Gesamtheit der Äußerungen menschlichen Geistes), in Abgrenzung zur nicht vom Menschen beeinflussten Natur. Was aus Natur entsteht, kommt also ohne den Menschen aus; was vom Menschen als Kultur geschaffen wird, muss nicht notwendig die Natur berücksichtigen – wie wir heute ja plastisch erleben. So weit, so klar.
Kompliziert wird die Sache dadurch, dass der Mensch und seine Gestaltungsmöglichkeit zweifelsohne als auf natürlichem Wege entstanden angesehen werden kann, mithin der Kulturträger Mensch auch Angehöriger der Natur ist. Er hat nur eine besondere Eigenschaft – naturgegeben, sozusagen – die ihn von allen anderen „Naturprodukten“ unterscheidet: er kann über die naturgegebenen Verhältnisse hinausgehen, die Grenzen sprengen, kurz: er kann frei handeln.
Und: was für einen konkreten Menschen als Natur erscheint, kann ohne Weiteres längst umgestaltete, also denaturierte Lebenswelt sein, also längst – kultiviert. Die abstrakte, ideelle und damit so angenehm klare Unterscheidung von „Kultur“ und „Natur“ bietet also in der Wirklichkeit allerlei Tücken.
Natur und Kultur sind in
Entwicklung
Kultur hat insofern immer drei Aspekte: einen vergangenen (welche materiellen oder ideellen Kulturgüter sind schon da?), einen gegenwärtigen (handeln die gegenwärtigen Menschen überwiegend gestaltend – also kulturschaffend – oder bewahrend, also aus den gegebenen Natur- und Kulturanlagen heraus?), und einen zukünftigen (was streben die Menschen durch ihre Taten an?). In dieser dreifältigen Erscheinungsweise wird Kultur konkret geschichtlich fassbar. Was zu einer Zeit dem kultivierenden Tun der Menschen unterworfen wurde, erscheint später als – gleichsam – natürliche Anlage, als gegeben. Die freien Gestaltungsimpulse der Menschen werden also peu a peu, im Fortschreiten der Menschheit als Gesamtes den Naturgegebenheiten eingefügt.
Das ist auch der Grund, warum von „reiner Natur“ heutzutageeigentlich gar nicht mehr gesprochen werden kann. DieNaturverhältnisse sind als Ganzes und in sehr vielen Einzelheiten längst von menschlicher Kultur verändert. Die wirklich „unberührte Natur“ existiert insofern nicht mehr. Die sogenannten „Antworten der Natur“ auf die Eingriffe der Menschen dürften ebenso bereits diese Signatur tragen.
Freiheit ist Risiko und
überzeitlich
Das kultivierende Handeln der Menschen ist, insofern es seinem freien Gestalten und nicht instinkthaftem Ausleben gegebener, „natürlicher“ Anlagen entspringt, immer mit hohem Risiko behaftet. Freiheit besteht nämlich gerade darin, über das („natürlich“) Gegebene hinausgehen zu können, dessen Grenzen zu sprengen und damit Neues zu schaffen. Wer dies tut, lädt die Verantwortung für die Folgen auf seine eigenen Schultern. Vielleicht liegt darin ein Grund dafür, dass so viele Menschen sich nach Autoritäten sehnen, die ihnen sagen, was „richtig“ und „falsch“ ist? Wollen die Menschen lieber unfrei sein – also auch die Verantwortung nicht tragen, sozusagen „verantwortungslos“ bleiben? Aber man vergesse nicht: auch die Entscheidung für Autorität und gegen Verantwortung fällt der Mensch selber.
Freiheit fordert immer den Mut zur Verantwortung, den Mut auch, trotz Einsicht in die eigene Unvollkommenheit sich selbst die Leitlinien des Handelns zu geben, und dann auch die Stärke, die Folgen zu tragen. Das kann nur gelingen, wenn die Einsicht in die eigene Unvollkommenheit den Respekt vor den Werken der Altvorderen genauso einschließt wie die Achtung der freien Tat des Mitmenschen.
Verliert der Freie den Respekt vor den Werken seiner Vorfahren, kann sein Handeln zu blinder Willkür führen; fehlt die Achtung vor dem anderen Freien, wird aus dem Ringen um das Beste für alle der Kampf um die Macht. Jede Macht schafft aber auf der anderen, „ohnmächtigen“ Seite Unfreiheit, jede Willkür hier schafft dort neues Getriebensein. Freiheit ist daher immer auch Risiko und in Gefahr, sich selbst zu zerstören.
Eine Kultur der Freiheit muss darum – will sie Bestand haben – alle drei Aspekte einschließen: den vergangenen, den gegenwärtigen und den zukünftigen. Konkret also den Respekt vor der Tradition der Freiheit, die Achtung vor dem anderen Freien im aktuellen Zusammenwirken und schließlich den Mut, die Folgen des so Errungenen auch zu tragen. Eine Kultur der Freiheit ist dann zeitlos, überzeitlich, eben frei – auch frei von der Zeitgebundenheit.
Friesische Freiheit ist
Ausdruck eines Ideals
Die friesische Kultur der Freiheit, die sogenannte „Friesische Freiheit“ bildet einen der herausragendsten Inhalte friesischer Überlieferung (siehe => hier). Sie bestand in einer Organisation des gesellschaftlichen Lebens, die – entsprechend den Möglichkeiten der damaligen Zeit – der Realisierung individueller Freiheit einen förderlichen Rahmen bieten sollte und konnte. Das freie Zusammenwirken selbständiger Landgemeinden, in dem Subsidiarität und freie Zusammenarbeit auf Augenhöhe grundlegend waren, bot ein Gegenbild zum damals (und bis heute?) ansonsten vorherrschenden Kult von gottgleichem Führertum (Expertentum, Priestertum, Politikertum …), Untertanenwesen und hierarchischer Weisung.
Bis in die Formulierungen der friesischen Rechtssatzungen ist das spürbar: „Dies sind die Überküren aller Friesen. Erstens, dass sie einmal im Jahre am Dienstag in der Pfingstwoche zu Upstalsboom zusammenkämen und dass man dort alle Rechte bespräche, die die Friesen halten sollten. Wenn irgendjemand ein besseres (Recht) wüsste, sollte man das weniger richtige aufgeben und das bessere befolgen.“ (Emsiger Recht)
Es sind dies „Küren“, dem Wortsinne nach also selbstgewähltes (erkorenes) Recht. Und es spricht von Gleichheit im freien Wettstreit um das Bessere („Wenn irgendjemand …“). Solche Formulierungen machen deutlich, warum diese Art friesisches Recht alle Aspekte einer Freiheitskultur beinhaltet:
- den Respekt vor den Leistungen der Vorfahren, die dieses Recht errichteten;
- die Achtung vor dem Anderen, der zur Verbesserung für alle beitragen kann;
- dem Mut, die Folgen der eigenen Setzungen auch zu tragen („… das bessere befolgen“).
Die friesische Kultur, so, wie sie sich in der Vergangenheit realisieren konnte, trug also die Charakteristika überzeitlicher Freiheitskultur in sich.
Friesische Kultur tut heute
Not
Wir Heutige blicken – oft erstaunt, ehrfurchtsvoll, manchmal begeistert – zurück auf Dokumente einer Zeit, die äußerlich viel mehr von den unmittelbaren, naturgegebenen Lebensnotwendigkeiten geprägt und damit unfreier erscheinen kann als unsere heutige. Gewiss, wir haben uns von vielen äußeren Naturprägungen sehr weit emanzipiert – aber mit welchen „Nebenwirkungen“?
Haben wir denn Respekt vor den Werken der Altvorderen? Wenn wir das etwas weiter fassen wollen: haben wir Respekt vor der Schöpfung, die unsere Altvorderen und deren Werke aus unserer heutigen Sicht ja einschließen muss? Haben wir Achtung vor dem Anderen, der in freiem Wettstreit um das Beste seinen Beitrag zur Entwicklung von Erde und Menschheit bringen will? Oder, konkreter gefasst: was gilt uns die Sichtweise des Anderen – ist sie uns Anregung bei der Suche nach dem Besten, oder wird sie zum Gegenstand von Marketingmaßnahmen, Desinformation und Lügen, zum Zwecke ihrer Beseitigung, damit die eigene Machtausübung nicht behindert wird? Und schließlich: wie ist das mit Freiheit und Verantwortung – oder Autoritätshörigkeit und Verantwortungslosigkeit?
Friesische Kultur heute, erfasst als überzeitlicher, ideeller Kulturkern, kann daher im ehrenden Rückblick auf die Werke der Ahnen (friesisches Recht und die dazugehörige Gesellschaftsorganisation), in Achtung vor dem anderen Freien (der auch aus seiner Freiheit heraus – Unfreiheit wählen kann!), und im vollen Mut und Vertrauen auf die Stärke des eigenen Kulturimpulses (Stärke – nicht Macht und Gewalt!) stolz und aufrecht einen sehr, sehr notwendigen Beitrag zur Gestaltung der Zukunft liefern. Soll die Zukunft nicht nur aus der Verwahrlosung einstmals großer Leistungen der Menschheit bestehen, braucht sie solche freien und mutvollen Beiträge.
Nur dann kann die Zukunft wirklich Kultur haben, d.h. aus menschlichem Geist
Gestaltetes. Die Alternative wäre, es darauf ankommen zu lassen, ob die Natur nach dem Wüten menschlicher Willkür noch die Kraft hat, die dann verbleibenden Reste menschlicher Kultur nach und nach zu assimilieren, aufzulösen, zu vernichten. Aber da wären die Menschen dann nicht mehr dabei. Eine Entwicklungschance für Mensch und Natur wäre dann vergeben.
Stärken wir darum die friesische Kultur, und vertreten sie mutvoll in die Zukunft hinein.
Eala frya Fresena!
©
Stefan Carl em Huisken 2019