Mythen und Legenden – alt und neu

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„Mythen und Legenden entstehen im Unfertigen, Unscheinbaren, Versteckten, Unausgegorenen“ – so etwas lese ich gerade in der Zeitschrift „BEAT“ über das Geheimnis der legendären Techno- und Trance-Musikclubs. Aber wie soll es auch anders sein? Der „große Wurf“ entsteht nicht aus Business-Plänen und marktschreierisch angekündigten neuen „Geschäftsmodellen“. Wer will sich denn schon zum Lackel solcher Manipulationen machen – heutzutage? So gewinnt man keine „Fans“. Also, mit großspurigen Ankündigungen ist noch nichts erreicht. Nein – der „große Wurf“ entsteht aus dem, was es noch nicht gibt, aus dem Ausprobieren, dem lebendigen Gestalten aus einer neuen Idee. Und damit ist der „große Wurf“ eben zunächst unfertig, unausgegoren, kaum wahrnehmbar und oft sehr unscheinbar.
Da gibt es die „große Folksängerin“ Loreena McKennitt, die ja Mythen und Legenden – besonders auch über sich selbst – gerne pflegt. Was erzählt sie? Sie habe eben zu Anfang alles selber gemacht, wollte alles selber gestalten können, selber unter Kontrolle haben. Da hat sie Musik, Management, CD-Produktion bis hin zum Verkauf der CDs an die einzelnen Läden alles selber gemacht. Eine Legende? Haben Legenden nicht immer einen wahren Kern? Aber: wer das heutzutage nachzumachen versucht, wird wohl ebenso Schiffbruch erleiden wie jeder, der den amerikanischen Traum – vom Tellerwäscher zum Millionär in zehn Jahren – heute durch Nachmachen zu verwirklichen sucht.
Der „große Wurf“ braucht eben die neue Idee, das ganz eigene, das Noch-nie-Dagewesene, und das finden wir – ja wo denn? Richtig: nicht da, wo sich alle Welt schon tummelt, auch nicht da wo wir mehr oder weniger gut „abkupfern“. Jeder findet dies nur bei sich selbst, in sich selbst, in der Welt, die er in sich selber zu beleben weiß: in den eigenen Ideen, im eigenen Denken, Vorstellen, Gestalten. Und das kann man nicht mit Netz und doppeltem Boden (also: mit Businessplan und Erfolgsversicherung, wie es die Banken ja so gerne haben). Leider hat man dann auch das volle Risiko: wenn der Wurf dann nicht gar so groß wird, fallen die Folgen genauso auf einen selbst zurück wie im Falle eines Riesenerfolges.
Aber es reicht auch nicht, nur auf sich selbst, die kleine Alltagsperson zu bauen. Wenn ich nichts zu sagen habe, was auch andere interessiert, bleibe ich notwendig im Bereich der Gute-Nacht-Geschichten – Mythen und Legenden entstehen daraus nicht. Wann also wird es ein neuer Mythos, eine neue Legende?
Ein Blick auf die Funktionen von Mythen und Legenden im menschlichen Zusammensein hilft vielleicht weiter: wozu verwenden die Menschen Mythen und Legenden, oder auch: wozu haben sie sie verwendet? In der Vergangenheit war es sicher so, daß Mythen und Legenden Orientierung gaben, Orientierung in der unübersichtlichen Welt des lebendigen Werdens, des seelischen und Geistigen, was wir nicht so einfach mit den Sinnen fassen können, und was wir auch nicht gewohnt sind, in Begriffe zu fassen (wir versuchen es zwar immer wieder, aber … lassen wir das, jeder kennt es: denn erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt, und drittens ganz gewiss). Daraus wurden in der Vergangenheit dann allerlei Moralgebote, Gesetze, Regeln im menschlichen Zusammenleben, Dogmen und was weiß ich noch alles. Aber: wer will heute – Hand aufs Herz! – ganz aus seinem Inneren heraus, nur weil er es ganz selber will und nicht weil er es meint zu müssen, solchen Regelsystemen „Untertan“ sein? Da gibt es die Blitzer-Warner, die verboten sind und vielleicht doch erlaubt werden sollen (wer benutzt sie nicht?), das Verbot am Steuer mit dem Handy zu telefonieren, die Steuergesetzgebung, den Zölibat – nur um einige sehr unterschiedliche Besipiele zu benennen. Wie viele Menschen wollen da wirklich ganz aus sich heraus diesen Regeln immer folgen und – TUN ES DANN AUCH? Ich belasse es einmal bei der Frage ….
Nein, heutzutage haben wir so viele alte Mythen und Legenden, die uns keine wirkliche Regulierung unseres äußeren Lebens mehr bringen, einfach weil jeder SEINE Mythen und Legenden hat – da können wir also von all den (für sich genommen ja faszinierenden und oft beeindruckenden) überlieferten Erzählungen nicht mehr viel erwarten.
Also auf zu neuen Ufern: erzählen wir selber NEUE Geschichten – aber wovon denn dann? Von den Dingen eben, die unsagbar sind, die ganz uns selber gehören, von den ich nur selber weiß – und doch weiß es jeder Mensch in sich selber genauso wie ich -, und die normalerweise nicht in die Worte wollen, weil die Worte gewohnt sind, nur das schon Vorhandene, Altbekannte wiederzugeben. Da müssen wir dann die Worte anders verwenden – als Hinweise, als Beschreibungen von inneren Bildern, als Erzählungen aus einem (geistigen) Land, das wir selber auch erst tastend zu erkunden beginnen. Der Songwriter Joshua Carson erzählt auf seiner Website in einem Video, wie er erst lange gemeint hat, seine eigenen Lieder seien nicht gut genug, und deshalb nachgesungen hat, was andere schon geschrieben haben. Aber erst als er anfing, seine eigenen Lieder zu singen, kam die Sache richtig ins Leben. Für manchen ist der Mann inzwischen Legende.
Mythen und Legenden entstehen nun einmal im Unausgegorenen, Unfertigen, Unscheinbaren und Versteckten. Und den „großen Wurf“ kann man dabei leider nicht minutiös planen. Man muss mit dem Werfen anfangen, schauen, was dabei herauskommt, vielleicht auch mehrmals erst üben – und vielleicht auf die Nase fallen. Und wenn dabei keine neuen Mythen und Legenden entstehen, sondern nur Gute-Nacht-Geschichten? Warum ist das schlecht? Brauchen wir die nicht auch?

(c) Em Huisken 2012

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