Souverän entkernt – ein Kommentar

image_printFür längere Texte empfehle ich vorherigen Ausdruck

Mit unserer Demokratie steht es nicht zum Besten, meint mancher. Schließlich sollte doch diese Form der Organisation gesellschaftlichen Lebens dafür sorgen, dass das Volk durch sie seinen Willen zum Ausdruck bringen und zum Maßstab gesellschaftlichen Handelns machen könnte. Genau das geschieht ja nur sehr eingeschränkt. Einmal alle vier Jahre darf man für die eine oder andere Gruppe stimmen, die einem sagt, was aus ihrer Sicht das Richtige ist. Je nach Anteil der Stimmen entsendet dann die eine Gruppe mehr, die andere weniger ihrer Funktionäre in den Bundestag, das Parlament.

Schon dies ist fragwürdig, denn ich kann ja meinen Willen gar nicht zum Ausdruck bringen, liegen doch die Programme der Parteien schon vor der Wahl fest. Allerdings: die sprechen auch nicht unbedingt von den wirklichen Vorhaben der betreffenden Gruppierungen. Vergleicht man Versprechen (vor der Wahl) und Realität (nach der Wahl), ergeben sich in der Regel eklatante Unterschiede. Vielfach drängt sich der Verdacht auf, die Versprechen vor der Wahl seien – wie vieles andere im Tun und Lassen mancher Funktionäre – vor allem aus marketingtechnischen Überlegungen hervorgegangen, seien also – kurz gesagt – zum Zweck der Manipulation des Wählerverhaltens ersonnen. Denn es wird ja nicht mir und allen anderen ein Weg eröffnet, meinen Willen zur Geltung zu bringen, sondern mir ein Auswahlmenü von bitteschön zu wollenden Rundumkonzepten vorgelegt. Da fühle ich mich dann irgendwie wenig als Teil eines Souveräns.

Natürlich, ich könnte auch einer der zur Auswahl stehenden Gruppierungen beitreten und dort versuchen, etwas zu bewirken. Wie aber, wenn ich gar nicht Partei im Sinne irgendeines Programms sein wollte, gar nicht unbedingt mein persönliches Interesse als hauptsächliche Richtschnur hätte, sondern vielleicht gerade in der Zersplitterung in Meinungscliquen („Parteien“) eine Abkehr von ehrlicher Suche nach dem für alle Seiten Besten sähe? Wie, wenn ich davon ausginge, dass es eine (immer zeitgebundene) Wahrheit gäbe, die bei ernsthafter und aufrichtiger gemeinsamer Suche auch wenigstens annäherungsweise zur Grundlage des Handelns werden könnte? Nicht, dass ich so eine Wahrheit wüsste – die weiß jeder Parteivertreter für sich ja schon – aber eine ehrliche gemeinsame Suche müsste doch eher verbinden können, Streit und damit verbundene Reibungsverluste vermeiden helfen und damit die Effektivität gemeinschaftlichen Handelns verbessern können? Also, in eine Partei zu gehen, ist wohl auch kein Weg.

Außerdem: das hätte auch keinen Zweck. Denn der Hinweis, die gewählten Abgeordneten wären nur ihrem Gewissen verantwortlich, ist ja leeres Gerede. Erstmal sind sie dem Parteiprogramm verantwortlich, sonst kommen sie gar nicht an die Abgeordnetenposition (welche „Ochsentour“ das ist und wie wenig individuelles Gewissen dabei gefragt ist, davon haben genügend Menschen berichtet). Und dann geht es im Parlament ja auch nicht darum, gemeinsam im Ringen um den besten Weg in jedem einzelnen Fall zu suchen, überzeugen zu wollen, sondern es geht um das „Regieren“. Und das kann man ja nur – unsere Spitzenpolitiker betonen es dauernd -, wenn vorher festliegt was die Abgeordneten der „Mehrheit“ bitteschön abzunicken haben. Und das haben vorher die, die gerne regieren möchten, untereinander schon abgemacht. Der Abgeordnete kann dann noch entscheiden (wenn er sich frei genug dazu fühlt ….), ob er diesen Vertrag mit unterschreiben will, diesen Vertrag, der sein Gewissen bindet, das Gewissen, das von seinen Führungskräften vorher beim Pokern um Posten und Pfründe schon verschachert wurde. Das Ergebnis ist: die paar anschließend Regierenden müssen passende Marketingmaßnahmen ergreifen, um die diversen Gewissen bei der einmaligen Entscheidung über „frei oder nicht frei“ entsprechend zu korrumpieren. Danach hat man dann ja einen Vertrag der zum Abnicken verpflichtet.

Mal eine Frage: wo ist da der Wille des Souveräns irgendwie relevant? Jaja, natürlich, als Gegenstand von Marketingmaßnahmen, alle vier Jahre einmal. Alles Weitere machen die Funktionäre der „Mehrheit“ dann unter sich aus. Diese „Mehrheit“ regiert dann – eh – wie bitte, die „Mehrheit“? Ja, die Mehrheit der Regierenden, die regiert, mit Hilfe von vertraglich gebundenen Abnickern, die aufgrund ihrer Abnickeignung mittels „Marketingmaßnahmen“ (=Propaganda) an die entsprechende Stelle gelotst wurden. Funktioniert doch prima, das System, oder? Und was die dann „Regierenden“ eigentlich wollen und tun, und warum, und wofür, und für wen vor allem, na, da verdienen dann die Marketinginstitute wieder gut daran. vielleicht spenden sie dann auch der richtigen Partei hinterher. Oder haben schon, vorher.
Der eigentliche Souverän jedenfalls wie er immer beschworen wird, das „Volk“, die „Menschen“, sind dann nur noch eine Black Box, bei der man für jeden erwünschten (Wahl-)Output nur noch den passenden (Propaganda-)Input finden muss. Eine Hohlform also, schön leicht zu verzehren, wie kernlose Mandarinen. Entkernt eben.

Anderes ist auch möglich: die Schweiz beispielsweise handelt anders. Ich bin weit davon entfernt, alles gut zu finden, was die Schweizer entscheiden. Aber einen Vorzug haben sie: die Entscheidungen kommen auf eine Weise zustande, die in den meisten Fällen eine sachbezogenen Willensäußerung des Bürgers ermöglicht, auch im Einzelfall. Und die Exekutive (deutsch: das Ausführungsorgan) hat eben auszuführen, was auf parlamentarischem oder direkt-demokratischem Wege entschieden ist. Darum braucht diese Exekutive auch keine Mehrheit, um zu „regieren“, sondern setzt sich aus Menschen zusammen, die ganz unterschiedliche Weltsichten vertreten können. Die müssen sie dann im Zusammenwirken mit den anderen Exekutiv-Mitgliedern eben zurücknehmen hier und da, produktiv resignieren sozusagen, immer von Fall zu Fall, um Willen des Ganzen, und nach dem Willen des Souveräns.

Der Deutsche scheint das nicht zu können. Er braucht eine „stabile Mehrheit“ um zu „regieren“. Vorher kann man gar nichts tun. Schon gar nicht den Souverän fragen, was er wolle – nachher käme etwas anderes heraus, als man sich vorgenommen hat? Vielleicht möchte aber der Souverän einfach nur ehrlich um das Wohl Aller besorgte Menschen, denen er zutrauen kann, dass sie ihr Bestes tun, gewissenhaft und fleißig. Und die dies dann auch erkennbar tun. Für alle – im Land, auf der ganzen Welt. Die dann in jedem einzelnen Fall ehrlich um die beste Lösung ringen, und aufgrund des gemeinsamen Ringens jedesmal ihr Gewissen sprechen lassen, wenn etwas entschieden werden muss. So könnte ja der jetzt gewählte Bundestag (2017) längst an der Arbeit sein und wichtige Entscheidungen treffen. Und er könnte auch aus seiner Mitte diejenigen Menschen bestimmt haben, die am besten geeignet scheinen, den immer wieder neu bestimmten Willen der Abgeordneten, die für die Menschen in ihrem Wahlkreis sprechen, wirkungsvoll zur Geltung zu bringen. Das wäre real.

Aber es wäre wohl zu viel Arbeit, oder zu viel Risiko, oder würde Parteispenden gefährden – von denen lebt man schließlich – oder, oder. Geht jedenfalls nicht, auf keinen Fall, alternativlos. Regieren geht in Deutschland anders: man hat den Souverän ja schon ganz souverän entkernt. Dafür regiert man ihn jetzt.

© Stefan Carl em Huisken 2017

Ein Kommentar

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .